Aminas Restaurant - Michael Lüders - E-Book

Aminas Restaurant E-Book

Michael Lüders

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Beschreibung

In Bremen eröffnet eine Familie aus Marokko ein Restaurant und verzaubert einen märchenhaften Sommer lang ihre Gäste – bis Schatten diesen Ort des Glücks verdunkeln, am Ende aber die Liebe siegt. Es ist Liebe auf den ersten Blick, als der Student Alexander auf einem Bremer Wochenmarkt die schöne Jasmina entdeckt. Und nicht nur ihm ergeht es so in diesem wundersamen norddeutschen Sommer. Jasminas Mutter Amina eröffnet direkt am Lesumer Deich ein marokkanisches Restaurant, und während sie die Kundschaft mit orientalischen Köstlichkeiten verzaubert, entführt Vater Sid Mohammed die Gäste mit seinen Geschichten in eine ferne Wirklichkeit. Schnell ist Aminas Restaurant ein Wallfahrtsort für all jene auf der Suche nach sich selbst, nach ihren Träumen und Sehnsüchten. Doch nicht jedem gefällt dieser glückliche Ort, und eines Nachts kommt das böse Erwachen.

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Michael Lüders

Aminas Restaurant

Roman

 

 

 

Für Marlon

1

Ein zweites Mal wurde Alexander geboren, als er Jasmina und ihre Eltern auf dem Wochenmarkt unweit der Kirche einkaufen sah. Gewöhnt an das ruhige und beständige Leben in der Provinz, war er umso erstaunter über dieses ungewöhnliche Licht, das von ihnen ausging, diese strahlende Güte und Höflichkeit, die jeden erfasste, sobald er in ihre Nähe geriet. An den Ständen, wo sie Obst und Gemüse einkauften, Fisch und Käse, Honig und Oliven, eigentlich alles, was der Markt zu bieten hatte, abgesehen von Schweinefleisch, schienen die Menschen wie verzaubert zu sein. Sie hielten inne und warfen einen Blick auf die Fremden, einen langen, anhaltenden Blick voller Glückseligkeit. Es war, als habe der Alltag plötzlich keine Bedeutung mehr, als sei der Markt durch Zauberkraft in eine andere Welt geraten, als sei Lesum, dieser schöne, friedliche, manchmal etwas langweilige Stadtteil in Bremen-Nord, ein Teil des Orients geworden.

Das lag vor allem an Jasminas Vater, der aussah wie Omar Sharif in jüngeren Jahren, groß, schlank und stattlich. Er sprach gut Deutsch, mit einem weichen, sinnlichen, südländischen Akzent, begleitet von Gesten und einem Lächeln, das Steine hätte erweichen können. Um zu vermeiden, dass die Männer an den Marktständen ungehalten reagierten, wandte sich Jasminas Mutter an die Verkäufer. Sie trug ein rotes, brokatgesäumtes Gewand und ein Kopftuch, das sie nicht verhüllte, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit auf ihre hochgesteckten, ebenso vollen wie tiefschwarzen Haare lenkte. Fast konnte man glauben, sie wäre einem märchenhaften Traum entstiegen.

Alexander fragte sich, ob hier ein Film gedreht würde, als ihn Jasminas klarer Blick traf. Es war reiner Zufall, und sie wandte sich sofort wieder von ihm ab. Aber diese eine Sekunde genügte, um ein Feuer in ihm zu entfachen. Jasmina war in seinem Alter, Mitte zwanzig, und ihr bronzefarbenes Gesicht zeigte Neugierde ebenso wie Spott und eine tiefe Verletzbarkeit. Sie trug einen Korb mit den Einkäufen und hielt sich im Schatten ihrer Eltern. Unwillkürlich folgte er ihr, bis er ihrem Vater vor dem Stand mit mediterranen Spezialitäten geradewegs in die Arme lief.

»Ah, guten Tag«, sagte ihr Vater. »Sie sind von hier?«

Diese offene Art, mit der er angesprochen wurde, überraschte Alexander. Aber das war typisch für Sid Mohammed, wie sich später herausstellte. Er tat immer Dinge, mit denen er andere überraschte. Ein Charakterzug, den Alexander mehr und mehr zu bewundern lernte, diese Fähigkeit, mit einem unsichtbaren Zauberstab in den Lauf der Welt einzugreifen.

Er nickte. Ja, er sei aus Lesum. Sein Herz raste, und er hoffte, vor Jasmina bestehen zu können. Ihr Vater sah Alexander prüfend an und reichte ihm die Hand. Er heiße Sid Mohammed. Amina, seine Frau, und dies sei Jasmina, seine Tochter.

»Sehr erfreut«, sagte Alexander. »Sehr erfreut.« In Wirklichkeit war er nur eines, verwirrt.

»Wir sind aus Marokko. Aus Marrakesch. Wir wollen in Lesum ein arabisches Restaurant eröffnen«, sagte Sid Mohammed.

Das allerdings hielt Alexander für keine zündende Idee. In Bremen äße man Fisch oder Labskaus. Oder Frikadellen. Bratwürste. Erbsensuppe. Panierte Schnitzel mit Pommes. Kohl und Pinkel. Solche Sachen.

»Mag sein. Aber das wird sich ändern, glauben Sie mir. Denn die arabische Küche geht durch den Magen ins Herz. Sie verändert die Menschen, befreit die Seele.«

Jasmina lächelte, und ihr Lächeln machte Alexander auf der Stelle zu ihrem Gefangenen. Es war, als hätte er Couscous mit Datteln, Aprikosen und zartem Lammfleisch gegessen, Aminas Spezialität, mit der sie schon bald berühmt werden sollte. Nicht zu vergessen den braunen Zucker und die frische Minze, die Rosinen, Backpflaumen und ein bis zwei Limetten.

2

Hätte die Handbremse damals nicht versagt, würde es ihn nicht geben. Alexander verdankte sein Leben einem technischen Defekt. An einem heiteren Sommertag, neun Monate vor seiner Geburt, hatten seine Eltern einen Ausflug in Bremens Umgebung unternommen. Sie verbrachten einen fröhlichen und unbeschwerten Nachmittag in der Wiesenlandschaft der Wümme-Niederung, wo sie den Picknickkorb plünderten und auf der blau-weiß karierten Baumwolldecke Zärtlichkeiten austauschten. Doch alles in allem blieb Alexanders Mutter züchtig und keusch. Irgendwann zeichnete sein Vater seufzend und enttäuscht, die Hände in den Hosentaschen vergraben, in Gedanken den Lauf der Wümme nach, dieser torfig-trüben Wümme, die sich schließlich in die Lesum ergießt, diese wiederum in die Weser und weiter in die Nordsee – eine solchermaßen gewaltige Ballung von Flüssigkeit und Kraft mag ihn bewogen haben, sein Glück erneut zu versuchen.

Es geschah auf dem Rücksitz des roten Borgward Isabella, eines Oldtimers aus den sechziger Jahren, den Alexanders Vater von einem Freund geliehen hatte. Durchaus möglich, dass seine Mutter noch einen Rest Widerstand leistete, um ihrer katholischen Herkunft zu genügen. Der weitere Verlauf der Ereignisse bewies jedoch, dass seine Eltern sich nicht mehr lange mit Förmlichkeiten aufhielten. In der Hitze ihrer Leidenschaft auf dem ledernen Rücksitz, ganz in Weiß, löste sich gleichzeitig die Handbremse des Wagens. Gerade in dem Augenblick, als sein Vater sich zurückziehen wollte, stieß das ins Rollen geratene Fahrzeug gegen einen Baum. Durch den Aufprall wurde Alexanders Vater dorthin zurückgeworfen, von wo er eigentlich zu entkommen suchte: in den tiefen Schoß seiner Freundin, die ihren Sohn mit einem kreischenden »Oh, mein Gott!« empfing.

Alexander selbst erfüllte der Gedanke an diese ungewollte Insemination mit klammheimlicher Freude. Es gefiel ihm, dass er sein Leben einer Laune des Schicksals verdankte, einem technischen Defekt aus Altersschwäche. Und er leugnete nicht, dass er seine Eltern für die Poesie jenes Tages, die ihm den Eintritt ins Leben ermöglichte, schätzte und bewunderte. Alles im Leben war Behauptung, und Alexander zog es vor, weniger der Triebhaftigkeit des Augenblicks nachzugehen als vielmehr dem Zauber der Erinnerung an einen Spätnachmittag auf den weißen Ledersitzen eines roten Borgward Isabella, der sich in die Wümme-Niederung verirrte.

So sehr hatte er diesen Zauber verinnerlicht, dass er ihn seinerseits auszuleben begann, noch bevor ihn die im Übrigen spärlichen Erzählungen seines Vaters zu den Anfängen führten. Seine ersten Liebeserfahrungen jedenfalls machte Alexander in einem Kastenwagen von Renault, der seiner Englischlehrerin gehörte.

3

Alles stimmte, angefangen mit dem Namen, dem Namen von Sid Mohammeds Frau: Amina. Das bedeutete »die Zuverlässige«, »die Treue«, »die Redliche«. Amina, wobei die Betonung auf der zweiten Silbe lag und das »i« lang gesprochen wurde: A-mii-na. Alexander ließ die Buchstaben über die Zunge gleiten wie ein Versprechen und staunte über die Weitsicht der beiden. Sie hatten sich den schönsten Platz am Ufer der Lesum ausgesucht, deren schlammige Fluten von einem Deich begrenzt wurden. Dort, wo bis vor kurzem ein Jachtklub gewesen war, gleich neben der selten genutzten Mole, verwandelte sich das ehemalige Vereinshaus in ein arabisches Restaurant. Äußerlich war es eher unscheinbar, ein rotes Backsteingebäude auf einer kleinen Anhöhe, das seine Geheimnisse erst offenbarte, nachdem der Besucher eingetreten war.

Sid Mohammed hatte das Grundstück zu einem vergleichsweise günstigen Preis erworben und die Mitglieder des Jachtklubs überredet, ihm und seiner Frau beim Ausbau zu helfen. Anfangs waren sie skeptisch, aber nachdem Amina für sie gekocht hatte, änderten sie ihre Meinung – unter der Bedingung, dass während der Bauarbeiten für die Verpflegung gesorgt würde. Es wurde ein großes Ereignis, schon in dieser frühen Phase. Amina war eine Verheißung, und wer einmal von ihren göttlichen Speisen gekostet hatte, wurde ein bekehrter Jünger. Mundfaule Norddeutsche, die mehr als drei Worte pro Stunde gemeinhin für Geschwätz halten, verwandelten sich über Nacht in sinnenfreudige Feinschmecker. Sie konnten stundenlang über die Saucen philosophieren, mit denen Amina ihre Lammfilets anrichtete.

In jenem Sommer entstand am Deich in Lesum neues Leben, geboren aus dem Mysterium der Kochkünste Aminas, die höflich alle Fragen nach den Rezepten überhörte. Allein die Art und Weise, wie sie den marokkanischen Pfefferminztee zubereitete, mit taufrischer Minze, einem Hauch Kardamom oder Zimt sowie einigen süßen Mandeln, die sich um die Minzblätter verteilten, serviert in kleinen, mit Blumenmotiven verzierten Teegläsern, war eine Offenbarung. Nach diesem Schai Nana spürte auch der übellaunigste Gast, dass seine Stimmung sich besserte, er freundlich wurde und sanftmütig. Anfangs glaubte Alexander, Amina würde ihren Speisen und Getränken ein wenig marokkanischen Hanf beimischen, um auf diese Weise das allgemeine Wohlbefinden zu steigern. Aber das war nicht der Fall. So einfach war ihr Geheimnis nicht zu ergründen.

 

Alexander pilgerte regelmäßig zu der neuen Kultstätte, vor allem in der Hoffnung, Jasmina anzutreffen. Sie aber beachtete ihn nicht weiter, half ihrer Mutter mit stoischem Gleichmut in der improvisierten Küche und sagte »Guten Tag«, wenn sie ihn sah, was sie allerdings zu jedem sagte, in demselben unbeteiligten Ton. Gewandt bewegte Jasmina sich hin und her, sie wusste genau, was zu tun war. Dennoch erschien es Alexander, als ginge sie das alles nichts an. Jasminas Mutter lächelte, sobald Sid Mohammed seinen neuen Freund überschwänglich in Empfang nahm, und ihr Lächeln verriet ihm, dass sie ihn für einen ebenso freundlichen wie unbedarften jungen Mann hielt.

»Alexander! Wie geht es dir?« Sid Mohammed war schnell dazu übergegangen, ihn zu duzen. Meistens nahm er ihn bei der Begrüßung in den Arm und gab ihm einen arabischen Bruderkuss auf die rechte und die linke Wange. Wenn er besonders guter Laune war, ergriff er Alexanders Hand und flanierte mit ihm über den Deich. Das sei im Orient nichts Ungewöhnliches, erklärte ihm Sid Mohammed. Ein Ausdruck von Freundschaft und Sympathie, mehr nicht. Alexander hatte gleichwohl Angst, Jasmina könnte ihn für schwul halten. Er wusste nichts von Sid Mohammed, seiner Herkunft und seiner Familie. Aber er fühlte sich unerklärlicherweise zu ihm hingezogen – wie von magischer Hand.

Alexanders Vater, der den Bremer Großmarkt leitete, hatte ihm erzählt, dass der Jachtklub das Vereinsgelände verkaufen wollte. Daraufhin hatte Alexander den Kontakt hergestellt, und Sid Mohammed war mit dem Preis einverstanden gewesen. Er versuchte gar nicht erst zu handeln, was Alexander sehr verwunderlich fand. Waren nicht gerade Araber geübt im Feilschen? Lebte der Basar nicht vom Handel? Sid Mohammed nickte und zahlte. Offenbar stammte er aus vermögenden Verhältnissen, und Geld spielte keine Rolle für ihn.

»Ziehe bitte keine voreiligen Schlüsse«, hatte Sid Mohammed gesagt. »Der einzige Reichtum, über den wir verfügen, ist unsere Erinnerung. Die Hoffnung, die sich wie durch ein Wunder erfüllt. Dass es Licht gibt am Ende dieser finsteren Nacht, die dir die Kehle zuschnürt und den Atem nimmt, bis du zu sterben glaubst.«

Manchmal sagte er geheimnisvolle Sätze wie diese, die schön waren, obwohl sie vom Schrecken handelten. Doch sobald ihn Alexander nach Einzelheiten fragte, wurde Sid Mohammed wortkarg. Dafür sei die Zeit noch nicht reif. Und außerdem »brauche ich die Sicherheit, dass du wirklich der Sohn bist, für den ich dich halte«. Solche Worte hatte Alexander noch nie gehört, und sie schmeichelten ihm. Mehr noch, er fühlte sich verpflichtet, Sid Mohammeds Erwartungen zu entsprechen. Und natürlich hoffte Alexander, dass sich die Zuneigung von Jasminas Vater im Laufe der Zeit auch auf sie selbst übertrug, sie ihm wenigstens signalisierte, dass es ihn gab.

»Erzähle mir von dir, Alexander. Du bist jung, du hast das Leben noch vor dir. Wie Jasmina. Was sind deine Pläne?«

Pläne hatte er nicht wirklich, er vertraute darauf, dass er seinen Platz im Leben finden würde. Nach dem Abitur hatte er erst einmal eine lange Reise gemacht, durch Amerika, Australien und Asien. Dabei lernte er eine gewisse Gelassenheit, vor allem in Asien. Er verstand, dass nicht alles im Leben, dass nicht jeder Tag zu planen oder einem Kalkül zu unterwerfen war. Manchmal geschahen Dinge, die schön sein konnten oder schrecklich und alles infrage stellten, was zuvor als richtig galt. Er lernte Arme kennen, die ihr Essen mit ihm teilten, und Reiche, die sich mit Hunden und Wachdiensten umgaben. Er traf Frauen, die sich verkauften, und solche, die ihm ihr Herz schenkten. Er versuchte, die fremden Kulturen zu verstehen, und schrieb auf, was ihm gefiel. Alexander beschloss, in seinem Leben nicht über Leichen zu gehen.

Über ein Jahr war er unterwegs, zweimal wurde er überfallen, wiederholt wurde er krank. Doch immer wieder gab es Menschen, die ihm halfen, und diese Erfahrung prägte ihn. Gute Menschen begegneten guten Menschen. Das hatte er oft gehört, in ganz verschiedenen Ländern. Und er verstand, dass es tatsächlich so war. Nach seiner Rückkehr begann er, Geowissenschaften zu studieren, in Bremen. »Weil ich wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält«, sagte er gern.

Natürlich hatte Alexander darüber nachgedacht, woanders zu studieren. Aber er hatte das Gefühl, dass seine Eltern ihn brauchten. Allein kamen sie nicht mehr miteinander aus. So konnte er, wenn er auch inzwischen im Steintor-Viertel wohnte, im Stadtzentrum, gelegentlich zu Hause vorbeischauen. Und er hatte nachgedacht über das Glück.

»Am Ende meiner Reise kam ich nach Syrien, nach Damaskus«, erzählte er Sid Mohammed. »Dort, in der Altstadt, gleich neben den Mauern der mächtigen Omajjaden-Moschee, gibt es ein kleines Café. Jeden Abend füllte es sich mit jungen und alten Menschen, Männern wie Frauen. Sie wollten einem stadtbekannten Geschichtenerzähler zuhören. Es war ein großer, stattlicher Mann, vielleicht um die siebzig, und sein Gesicht bestand im Wesentlichen aus einem langen grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Wenn er kam, trank er einen Tee und bestellte eine Wasserpfeife. Danach setzte er sich auf einen Tisch und erzählte wortgewaltig von Liebe und Leidenschaft, von Treue und Verrat, von Abenteuern und dem richtigen Leben. Ich verstehe kein Arabisch, aber die Gäste haben mir seine Geschichten übersetzt. Außerdem hat er sie so anschaulich und gestenreich vorgetragen, dass ich am Tonfall ungefähr ermessen konnte, worum es gerade gehen mochte. Eines Abends kamen wir ins Gespräch, er konnte ein wenig Englisch. Der Mann war ein erfolgreicher Händler gewesen. Er hatte Geld und Einfluss. Aber das alles, sagte er, sei ohne Wert. Seine beiden Söhne seien nutzlose Müßiggänger und seine Frau habe sich nur noch für Empfänge und Galadiners interessiert. Da habe er sich von ihr scheiden lassen. Als er sich dann in seinem Haus umsah, stellte er fest, dass ihm nichts geblieben war von den Träumen seiner Jugend. Gewiss, er besitze Vermögen. Aber für ihn zähle allein, was Kopf und Herz bewege. Nur das sei von Bestand, alles andere flüchtig und nicht von Dauer. Das letzte Hemd habe nun mal keine Taschen. Und so sei er, ein zunehmend unglücklicher Alter, auf die Idee gekommen, all die Geschichten zu erzählen, die er im Laufe seines Lebens gehört hatte, während er in seinem Geschäft saß und die Kunden stundenlang mit ihm redeten, wie im Basar üblich. An meinem letzten Abend in Damaskus fragte ich ihn, was für ihn Glück bedeute. Er sagte: ›Glück kann alles sein und nichts. Eine Zahl, ein Geruch, ein Spiel. Ein Gesicht. Ein Lächeln. Für mich ist Glück, in meinem Garten unbegrenzte Weite zu atmen.‹«

Sid Mohammed lächelte, als er diese Worte hörte. »Wir werden uns gut verstehen, Alexander«, sagte er. »Du und ich und der Rest der Familie.«

4

Die Generalprobe vor Eröffnung des Restaurants führte Alexander und Jasmina erstmals näher zusammen. Sid Mohammed hatte mehrere arabische Küchenhilfen eingestellt, die er in einem Heim für Asylsuchende anwarb.

Tatsächlich war Sid Mohammed die treibende Kraft des ganzen Unternehmens, aber ohne Amina wäre er gescheitert. Ihre Rollenverteilung konnte klarer nicht sein. Amina war die Herrin der Küche, Sid Mohammed zuständig für das große Ganze. Er sorgte für die geeigneten Rahmenbedingungen, damit seine Frau ihr Talent voll entfalten konnte. Und das tat er weniger aus Pflicht als vielmehr aus Liebe. Die beiden erinnerten Alexander an zwei Schwäne, die mit ihrer übergroßen Nähe der Angst begegneten, auf schwarzem Wasser die Orientierung zu verlieren. Sid Mohammed und Amina waren die rechte und die linke Hand desselben Körpers, derselben Seele und desselben Geistes. Selbst wenn sie sich stritten oder einmal unterschiedlicher Meinung waren, gingen sie respektvoll miteinander um.

Nur Jasmina wirkte daneben verloren, wobei diese Verlorenheit vermutlich weniger an ihren Eltern lag. Alexander hatte eher den Eindruck, dass auch sie ihren Platz im Leben noch suchte und nicht wusste, welchen Weg sie einschlagen sollte.

Amina ging vollständig in ihrer Arbeit auf und schien von einem unerschütterlichen Optimismus beseelt zu sein. In der Küche bewegte sie sich federleicht, wie eine Ballerina. Alles, was sie tat, war Teil einer Kochkunst, die mehr noch eine Lebenskunst war. Sie brauchte keine Kochbücher, sie verließ sich auf ihr Gespür und ihre Erfahrung. Hähnchen beispielsweise tauchte sie gern in eine würzige Marinade aus Knoblauch und gestoßenen Chilischoten, aus Salz und Pfeffer, Olivenöl und mildem Paprikapulver, aus Basilikum und Koriander, ließ die Flüssigkeit einziehen und grillte das Geflügel anschließend bei mittlerer Hitze. Das Fleisch zerging auf der Zunge und schmeckte nach Orient und Basar, nach Geheimnis und Versprechen. Aus den schlichtesten Zutaten komponierte Amina eine Symphonie für die Sinne, verwandelte Geflügel, Fisch oder Lammfleisch, Obst und Gemüse in Kompositionen, die an die Stillleben der frühen niederländischen Maler erinnerten.

Wenn Alexander sie in der Küche tänzeln sah, wurde er bisweilen melancholisch. Er wünschte, seine Mutter hätte ihr Leben mit derselben Entschlossenheit in die Hand genommen wie Amina, und er wünschte, sein Vater hätte seiner Mutter dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wie Sid Mohammed seiner Frau. Er wünschte, die beiden könnten die Zeit zurückdrehen bis zu ihrem Ausflug in die Wümme-Niederung, dem er sein Leben verdankte. Zurück zu jenen Anfängen, als die Zukunft noch vor ihnen lag, ein grenzenloser blauer Himmel mit weißen Kondensstreifen.

Alexanders Vater war als Leiter des Bremer Großmarkts Herr über Blumen, Obst und Gemüse, das im Überseehafen umgeschlagen wurde. Die Arbeit lag ihm, er konnte gut organisieren und behielt auch in schwierigen Situationen den Überblick. Zu Hause allerdings waren die Dinge längst außer Kontrolle. Nur selten gelang es ihm, den Dreck des Tages hinter sich zu lassen, die Intrigen und Lügen, mit denen er sich auseinandersetzen musste. Oft genug sprach er davon, alles hinzuwerfen, aber es blieb bei der Ankündigung.

Ein klassischer Auftritt seines Vaters im Wintergarten, wie so häufig erlebt, kurz vor Sonnenuntergang:

»Liebling, bleib sitzen. Es war ein scheußlicher Tag. Sei froh, dass du nichts mit diesem Irrsinn zu tun hast. Was hast du heute Schönes gemacht?«

Mutter (im Sessel sitzend, den Blick auf die Wiesen- und Weidelandschaft gerichtet, die sich fast einen Kilometer bis zum Deich erstreckte, von wo es, wendete man sich nach rechts, keine zweihundert Meter bis zu Aminas Restaurant waren): »Ich habe schon gegessen. Es ist noch Suppe in der Küche.«

Vater: »Danke, Schatz. Ich hab auch schon gegessen.«

Mutter: »Warst du wieder mit diesem Flittchen unterwegs?«

Vater (genervt): »Eva, wie oft soll ich es dir noch sagen. Frau Meißner ist meine Sekretärin, sie ist gut und verlässlich, und gelegentlich gehen wir zusammen essen. Sie, ich, die übrigen Mitarbeiter. Ist das so schwer zu verstehen?«

Mutter (erhebt sich missmutig aus dem Sessel): »Glaubst du wirklich, du kannst mich für dumm verkaufen? Ich sehe doch, wie deine Augen glänzen, wenn du mit ihr telefonierst.«

Vater (das Gesicht zunehmend versteinert): »Ist es dir lieber, wenn ich sie anbrülle?«

Mutter (fassungslos): »Ach, Volker, tu doch nicht so scheinheilig! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

Vater (geneigt, eine ehrliche Antwort zu geben): »Es ist jeden Abend dasselbe. Ich kann machen, was ich will. Du gibst mir keine Chance. Alles, was ich sage, ist falsch. Und wenn ich mit dir was unternehmen möchte, bist du müde oder hast keine Lust. Manchmal frage ich mich, warum wir uns das alles antun.«

Mutter (triumphierend): »Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch. Frau Meißner hat bestimmt eine wunderschöne Einzimmerwohnung mit Blick auf die Autobahn. Aber das kann dir glücklicherweise egal sein. Du brauchst das Bett ja sowieso nur zum Schlafen.«

Alexanders Mutter hatte ihr Studium abgebrochen und machte dafür ihren Mann verantwortlich. Einmal fragte Alexander sie, was sie eigentlich daran hindere, ihren Abschluss nachzuholen. »Es ist zu spät!«, rief sie verzweifelt. »Es ist zu spät.« Ihr Sohn dagegen fand, es sei nie zu spät, aber vermutlich fehlte es ihr an Selbstvertrauen. Das sagte er natürlich nicht. Es machte ihn nur traurig. Seine Eltern wohnten in einem alten Niedersachsenhaus am Deichweg, reetgedeckt und mit der Inschrift versehen: »Der Segen Gottes wohne in und über diesem Hause und in uns allen die darin wohnen. Den 12. Juli 1748«. Zwei hölzerne Pferdeköpfe zierten den über das Dach hinaus verlängerten Giebel. Eine Art Glücksbringer und Talisman, der bei seinen Eltern aber nicht verfing. Seine Mutter hatte das Haus geschmackvoll eingerichtet und einen wunderbaren Garten angelegt, der zum Flanieren und Träumen einlud. Büsche und Bäume hatte sie gepflanzt, einen Teich angelegt und Blumenbeete mit geometrischen Mustern in Form von Sternenbildern. Seine Mutter besaß so viel Fantasie und Tatkraft, wenn sie nur wollte.

Wie ganz anders dagegen waren Amina und Sid Mohammed. Sie hatten das leerstehende ehemalige Pfarrhaus hinter der Lesumer Kirche gemietet, das von der Straße her gut einzusehen war. Im Vorbeigehen warf Alexander oft einen verstohlenen Blick in die Wohnung, in der Hoffnung, Jasmina in der Küche oder im Wohnzimmer zu sehen. Wenn er tatsächlich ihre Silhouette erblickte, spürte er, wie sein Herz schneller zu schlagen begann.

 

Inzwischen waren die Umbauarbeiten abgeschlossen, und das »Amina« konnte seine ersten Gäste empfangen. Zunächst gelangte man in das Foyer. Es war dämmrig, von der Decke hingen zwei Kandelaber mit Kerzen. In die linke Wand war eine steinerne Sitzbank eingelassen, auf der ein schmaler roter Teppich und zahlreiche Sitzkissen in verschiedenen Farbtönen und orientalischen Mustern lagen. Davor standen mehrere kleine runde Schemel aus Holz, darauf Tabletts aus Messing mit zahlreichen Gravuren und arabischen Schriftzügen. Gegenüber war die Theke, an der Stirnseite führte eine Treppe hinauf in das Restaurant. Sid Mohammed hatte die Idee, dass Jasmina jeden Gast in Empfang nehmen, ihn zur Sitzbank geleiten und ein Willkommensgetränk reichen sollte. Entweder ein Glas Sekt, wahlweise pur oder mit einem Aprikosenextrakt, oder aber Schai Nana, den süßen marokkanischen Pfefferminztee. Anschließend würde Sid Mohammed den Gast in das eigentliche Restaurant hinaufführen, einen großen Saal, in dem bis zu einhundertzwanzig Gäste sitzen konnten.

An den Wänden standen Vitrinen, in denen Krummdolche, Schmuck, modische Accessoires aus arabischen Ländern und Bücher nordafrikanischer Schriftsteller in deutscher Übersetzung ausgestellt waren. Die braunen Tische und Stühle erinnerten Alexander an Pariser Bars aus den zwanziger oder dreißiger Jahren, wie er sie auf historischen Fotografien gesehen hatte. Weiße Tischdecken verliehen dem Raum zusätzliche Eleganz. Das cremefarbene Geschirr zeugte ebenso wie die eleganten Riedel-Gläser von einem exklusiven Geschmack. Auf den Tischen waren safrangelbe Linsen ausgestreut und ergossen sich in fantasievollen Mustern, in der Mitte stand jeweils eine rote Rose in einer Kristallvase. Von der Decke hingen mehrere Lampen aus Marokko, rot, grün und blau, Kombinationen aus dünnem Messing und Glas, rechteckig wie Erkerfenster. Sie gaben ein diffuses Licht, das eine angenehme, intime Atmosphäre verbreitete.