Hybris am Hindukusch - Michael Lüders - E-Book

Hybris am Hindukusch E-Book

Michael Lüders

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach 9/11 stürzten die USA die Taliban in Kabul. Es war der Auftakt im «Krieg gegen den Terror». Allein in Afghanistan gab Washington dafür in 20 Jahren mehr als 2000 Milliarden Dollar aus. Doch jetzt sind die Taliban erneut an der Macht. Wie konnte es soweit kommen? Michael Lüders zieht eine schonungslose Bilanz des Desasters am Hindukusch und erklärt, warum der Westen dort scheitern musste. Es ist keine gute Idee, in Afghanistan einzumarschieren. Dagegen sprechen die Geografie und historische Fakten. Im 19. Jahrhundert erlitten die Briten dort die vielleicht größte Niederlage ihrer Kolonialgeschichte. In den 1980er Jahren scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, das Land zu unterwerfen. Diese selbstverschuldete Niederlage trug zu ihrem Untergang bei. Doch die USA und ihre Verbündeten haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ohne Plan und klare Ziele besetzten sie 2001 Afghanistan. Sie finanzierten ein korruptes Regime in Kabul, während Tausende Zivilisten bei Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien starben. Ein Land verändern zu wollen, ohne es zu verstehen – das ist Größenwahn. Hybris am Hindukusch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Lüders

Hybris am Hindukusch

Wie der Westen in Afghanistan scheiterte

C.H.Beck

Zum Buch

Nach 9/11 stürzten die USA die Taliban in Kabul. Es war der Auftakt im «Krieg gegen den Terror». Allein in Afghanistan gab Washington dafür in 20 Jahren mehr als 2000 Milliarden Dollar aus. Doch jetzt sind die Taliban erneut an der Macht. Wie konnte es soweit kommen? Michael Lüders zieht eine schonungslose Bilanz des Desasters am Hindukusch und erklärt, warum der Westen dort scheitern musste.

Es ist keine gute Idee, in Afghanistan einzumarschieren. Dagegen sprechen die Geografie und historische Fakten. Im 19. Jahrhundert erlitten die Briten dort die vielleicht größte Niederlage ihrer Kolonialgeschichte. In den 1980er Jahren scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, das Land zu unterwerfen. Diese selbst verschuldete Niederlage trug zu ihrem Untergang bei. Doch die USA und ihre Verbündeten haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ohne Plan und klare Ziele besetzten sie 2001 Afghanistan. Sie finanzierten ein korruptes Regime in Kabul, während Tausende Zivilisten bei Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien starben. Ein Land verändern zu wollen, ohne es zu verstehen – das ist Größenwahn. Hybris am Hindukusch.

Über den Autor

Michael Lüders war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Er ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, in Nachfolge des verstorbenen Peter Scholl-Latour. Als Nahost-Experte und Bestsellerautor ist er häufiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Tage des Zorns (2011) über die arabische Revolution und Iran – der falsche Krieg (22012), Wer den Wind sät (302021), Die den Sturm ernten (82021), Armageddon im Orient (32019), Die scheinheilige Supermacht (2021) sowie die Thriller Never Say Anything (52016) und Die Spur der Schakale (22020).

Inhalt

Vorwort

Die Russen kommen: Das Britische Empire und sein «Großes Spiel» in Afghanistan

Die Briten und ihre East India Company

Ein Fiasko kündigt sich an

Teile und herrsche: Die Durand-Linie

Hier das Café, dort die Reiterhorde

Ein Putsch und seine Folgen

Moskau trifft eine fatale Entscheidung

Die Sowjets kommen: Ein mörderischer Glaubenskrieg am Hindukusch

Washingtons Freunde in Saudi-Arabien und Pakistan

Was Wahhabiten glauben

Stinger-Raketen entscheiden den Krieg

Warlords zerstören das Land

«Robin Hood» schafft Ordnung: Der erste Siegeszug der Taliban

Wer ist Mullah Omar?

Die Taliban setzen sich durch

Wie Mullah Omar regierte

Die Bedeutung der Burka

Die schwierige Wahrheit hinter dem Turban

Feministinnen, Pipelines und Terror: Die USA suchen ihren Weg

Werteorientierung

Tod oder lebendig

Verhandelt wird nicht: 9/11 und der «Krieg gegen den Terror»

Afghanistan first

Kein grünes Licht für den Angriff auf Afghanistan

«Die Ursünde»

Verblendung und schlichte Dummheit

Ein Haus, vom Dach her gebaut

Der Aufstand beginnt

Die Traumfabrik greift ein

Fast ein Country-Song: Warlords, Drohnen und Hollywood erschaffen eine schöne, neue Welt

Die Taliban rücken vor

Gar nichts ist gut

Eviva General Dostum!

Die im Dunkeln sieht man nicht

Geistergeld

Familienbande

Surge – die große Welle: Dollars ohne Ende, gefälschte Wahlen, noch mehr Soldaten

Etappenhengste und Asketen

Geld spielt keine Rolle

Highways nach Dubai

Die Herren helfen, wo sie können

Welches Wahlergebnis hätten ’S denn gern?

«Have a great day, buddy»

Ein deutsches Massaker: Oberst Klein und das laute Schweigen in Berlin

«Die Leute»

Eine mörderische Entscheidung

«Wächter der Freiheit»: Der zweite Siegeszug der Taliban

Eine Geisterarmee

Die Mutter aller Bomben

Großes Verdienstkreuz!

Die Macht des Faktischen

Die Taliban rücken vor

Gotteskrieger im Präsidentenpalast

Eine Niederlage wie in Vietnam

Shit happens?

«Sie sind tot»: Warum die Befreiung afghanischer Frauen und Killerkommandos für Washington zusammengehören

Die NATO macht der afghanischen Jugend den Weg frei

Wir helfen, wo wir können

Die Zukunft ist weiblich

Die Eliteeinheit 01

Den Gerichtshof «in der Wiege ersticken»

Zurück in die Vergangenheit? Die Taliban an der Macht

Wer hat was zu sagen?

Hardliner und Pragmatiker

Afghanen flüchten

Hier Rache, dort Geschäfte

Noch ist nichts entschieden

Epilog: Aus dem Desaster lernen

Anmerkungen

Karte

Für meinen Sohn Marlon

Das Sichtbare ist nur die Oberfläche

«Wir haben die Taliban vernichtet.»

George W. Bush, US-Präsident, Mai 2003

«Was die Zukunft der Vereinigten Staaten in Afghanistan anbelangt, so wird sie Feuer sein und Hölle, sie erwartet eine vernichtende Niederlage. Nicht anders, so Gott will, wie es vor ihnen den Sowjets und den Briten ergangen ist.»

Mullah Mohammed Omar, Begründer der Taliban

«Eine siegreiche Armee erzielt ihre Siege, bevor sie in die Schlacht zieht. Nur eine Armee, der die Niederlage bestimmt ist, kämpft in der Hoffnung auf einen Sieg.»

Sunzi, chinesischer General, Militärstratege und Philosoph, 6. Jh. vor Christus

«Realitätsverleugnung, die Quelle der Selbsttäuschung, spielt eine bemerkenswert große Rolle auf Regierungsebene. Wunschdenken führt dazu, die Faktenlage zu übersehen.»

Barbara Tuchman, Historikerin

Vorwort

Auf einmal waren sie da. An einem strahlend schönen Sonntag im Hochsommer, dem 15. August 2021, zogen die Taliban in den Präsidentenpalast von Kabul ein. Kampflos, als stünde ihnen der Sieg verdientermaßen zu, nach 20 Jahren Krieg gegen die USA und ihre Verbündeten, darunter Deutschland. Es war der längste Krieg, den Washington je geführt hat, länger noch als der Vietnam-Krieg. Gleichzeitig war es der längste Krieg auch der NATO, der erste zudem fernab der eigenen Landesgrenzen, fernab der Weiten zumal des «Nordatlantiks», den das Bündnis bereits im Namen trägt. Angefangen hatte er als Vergeltung für die Terroranschläge des 11. September 2001, allen voran in New York. Obwohl kein einziger der Attentäter aus Afghanistan stammte, erschien das Land am Hindukusch als das ideale Angriffsziel. Dort waren die Taliban an der Macht, weltweit geächtete Glaubenskämpfer, die Osama bin Laden Zuflucht gewährten. Das wirtschaftlich und politisch eng mit den USA verflochtene Saudi-Arabien anzugreifen, von wo 15 der 19 Attentäter stammten, oder gar Hamburg zu bombardieren, wo die Terrorzelle um Mohammed Atta die Anschläge vorbereitet hatte, wurde nicht ernsthaft erwogen. Es wäre auch die schlechtere Wahl gewesen. Nicht notwendigerweise aus Sicht der Afghanen, wohl aber aus der Washingtons (und einiger anderer).

In der Tat gelang es bereits wenige Wochen nach 9/11, die Taliban in Kabul zu stürzen. Doch 20 Jahre später erfolgte ihr fulminantes Comeback, marschierten sie erneut und ohne nennenswerten Widerstand in die Hauptstadt ein. Was für ein unerhörter Vorgang: Guerilleros in Sandalen hatten die Weltmacht und ihre Juniorpartner besiegt. Parallelen zur amerikanischen Niederlage in Vietnam drängten sich auf. In den westlichen Hauptstädten, in den Reihen der NATO, in den Medien herrschte großes Erstaunen: Wie konnte das geschehen? Wo kamen die auf einmal alle her? In Wirklichkeit aber war der Siegeszug der Taliban alles anderes als eine Überraschung. Seit 2005 spätestens erschien eine Niederlage des Westens am Hindukusch sehr viel wahrscheinlicher als ein Sieg. Dieses Buch erzählt davon. Doch sahen Politiker wie auch Militärs wenig Anlass zu einer Kurskorrektur.

Der Westen ist in Afghanistan gescheitert wie vor ihm das britische Empire und die Sowjetunion. Der von Washington und seitens der NATO bis zuletzt verfolgte Plan, mit Hilfe einer Marionettenregierung in Kabul und westlich ausgebildeten Sicherheitskräften für Ruhe und Ordnung zu sorgen, konnte nicht aufgehen. Warum nicht, wird im Folgenden erklärt.

Auf das große Erstaunen folgte hektischer Aktionismus. Unvergessen die teils erschütternden Fernsehbilder ausreisewilliger oder flüchtender Afghanen, die vor dem Abzug der letzten westlichen Truppen zu Tausenden den Flughafen von Kabul zu erreichen suchten. In der Hoffnung, an Bord von Militärmaschinen, auch der Bundeswehr, irgendwie ins Ausland zu gelangen. Nach diesem globalen Medienereignis herrschte noch für einige Zeit Betroffenheit: Wie den zurückgelassenen Ortskräften helfen? Wie den Afghaninnen, die ein weiteres Mal einer ungewissen Zukunft entgegensehen?

Dann aber trat das Thema Afghanistan merklich in den Hintergrund, wurde es in Deutschland verdrängt von dem Bundestagswahlkampf, Corona, Regierungsbildung, Nabelschau, dem vertrauten Einerlei. Der verlorene Krieg wurde ad acta gelegt, obwohl er unbedingt der Aufarbeitung bedürfte. Zwar hat die Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, den Afghanistan-Einsatz umfassend aufzuarbeiten – ob solchen Ankündigungen auch nennenswerte Taten folgen, ist jedoch fraglich. Allein deswegen, weil SPD und Grüne die deutsche Afghanistan-Mission 2001 auf den Weg gebracht haben. Warum sollten sie sich selbst nachträglich in Frage stellen?

Gerade wir Deutschen, so überaus geschichtsbewusst, hätten allen Anlass, uns nicht zuletzt mit einem verdrängten Massaker in Afghanistan zu befassen: «Oberst Klein und das laute Schweigen in Berlin», lautet demgemäß eine Kapitelüberschrift.

Darüber hinaus stellen sich weitere, grundlegende Fragen: Wie sinnvoll sind Auslandseinsätze der NATO? Warum hat Berlin sein Engagement in Afghanistan nicht schon zehn Jahre früher beendet, wie etwa die Niederlande? Wenn NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach der Machtübernahme der Taliban zu erkennen gibt, man habe das alles so nicht erwartet – was sagt uns das über die Fähigkeiten des Militärbündnisses? Und was bedeutet eine solche gravierende Fehleinschätzung für den Umgang der NATO mit Russland oder China? Ist die Bereitschaft, das Vermögen und der Wille, die Realität auch dann zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie mit den eigenen Wunschbildern nicht übereinstimmt, in anderen Bereichen ausgeprägter? Das Buch geht auf diese und ähnliche Fragen ein.

Vieles liest sich geradezu surreal. Die Rolle Hollywoods etwa. Die Hingabe, mit der die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan so lange gefälscht wurden, bis das Ergebnis den maßgeblichen Entscheidern im Westen gefiel. Die Hofierung von Drogenbaronen und Warlords der übelsten Sorte – engen Partnern auch Berlins. Die unbändige Energie, mit der Washington hinter den Kulissen alle Hebel in Bewegung setzt, um ja nicht für amerikanische Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Weder in Afghanistan noch anderswo. Die gewaltige Kluft zwischen der moralischen Selbsterhöhung westlicher Akteure und der Realität ihrer Kriegsführung in Afghanistan, die Zehntausende Zivilisten das Leben gekostet hat – mit Wissen und Billigung der maßgeblichen Dienststellen.

Nicht zuletzt versteht sich das vorliegende Buch als Warnung. Vor dem, was geschieht, wenn der Tunnelblick das Denken ersetzt, wenn das Streben nach Vorherrschaft universelle humanitäre Werte missachtet und missbraucht. Dieser Krieg war in erster Linie ein Verbrechen an der afghanischen Zivilbevölkerung. Auch und vor allem deswegen haben nicht allein wir Deutsche allen Anlass zu Demut und Scham. Leider deutet nichts darauf hin, dass die Niederlage am Hindukusch zu einem Umdenken auf höchster Ebene geführt hätte, dort auch nur nachdenklich stimmen würde. Die nächsten Ziele befinden sich längst im Visier.

Das Mindeste, was wir uns selbst wie auch den Menschen in Afghanistan schuldig sind: Klartext zu reden und staatstragenden Beschönigungen oder Auslassungen nicht zu folgen, sie vielmehr kenntlich zu machen. Als Dienst an der Aufklärung. Nicht allein in Sachen Afghanistan.

Die Russen kommen: Das Britische Empire und sein «Großes Spiel» in Afghanistan

Afghanistans Schicksal ist seine Lage, seine Geografie. Mehr als 2500 Jahre diente das heutige Afghanistan als Durchgangsland für Eroberer aus allen Himmelsrichtungen, die es vor allem auf Macht und Beute im jetzigen Indien abgesehen hatten – angefangen mit Alexander dem Großen. In der Neuzeit wurde Afghanistan zum geostrategischen Spielball erst kolonialer, dann imperialer Interessen, zuletzt im Zuge der sowjetischen Besatzung und des «Krieges gegen den Terror» nach 9/11. Geografie ist der Schlüssel zum Verständnis des Landes – wer diesen Zusammenhang übersieht oder ignoriert, wie zuletzt die Militärplaner in Washington, versteht weder die Geschichte noch die Gegenwart der Region, auch nicht den Siegeszug der Taliban.

In Afghanistan geht das Iranische Hochland über in das Faltengebirge des Himalaja – der Hindukusch ist dessen westlicher Ausläufer. Die wenigen Landverbindungen, Flusstäler und Passstraßen sind Nadelöhre, gleichzeitig aber auch die wichtigsten Handelswege (Seidenstraße) und Invasionsrouten. Seit Alexander dem Großen sind alle Imperatoren auf denselben Wegen gekommen und auch wieder gegangen – meist unter großen Verlusten. Vor allem die Gebirgspässe erwiesen sich oft genug als Todesfallen, wobei sich Eiseskälte und Schnee als nicht weniger tödlich erwiesen denn Kampfhandlungen. Bis zum Ende der Kolonialzeit bestimmten drei rivalisierende Machtzentren das Schicksal Afghanistans: die nach Osten drängenden Perser im Westen, die nach Zentralasien vorstoßenden Inder (nach ihnen die Briten) im Osten und die in alle Richtungen ausgreifenden nomadischen Steppenkrieger im Norden (nach ihnen das Zarenreich). Die bei uns bekanntesten dieser Krieger und Heeresführer sind Timur und Dschingis Khan.

Die grandiose landschaftliche Schönheit, die selbst die Schweiz oder Norwegen in den Schatten stellt, ist die eine Seite Afghanistans. Die Kehrseite sind die Unzugänglichkeit weiter Teile des Landes, ihre extreme Abgeschiedenheit und vielfach Rückständigkeit, vor allem aber die überaus harten Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Bergregionen, die oft genug über Subsistenzwirtschaft bis heute nicht hinausweisen. Wer etwa von Jalalabad aus Richtung Norden fährt, findet sich bald wieder in einer Welt, die sich seit der Zeit des Propheten Mohammed kaum verändert haben dürfte. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, nicht aus dem Wasserhahn jedenfalls, die Männer beackern das karge Land, meist mit bloßer Muskelkraft. Die Frauen hüten die schlichten Lehmhütten unscheinbarer Weiler und sind weitgehend unsichtbar, sie kümmern sich um das Essen und die Kinder. Die Straße ist gerade noch als staubige Piste zu erkennen, wenige Fahrzeuge verirren sich hierher. Es gibt weder Schulen noch ärztliche Versorgung, jedenfalls nicht unterhalb eines Tagesmarsches. Kaum jemand kann lesen und schreiben.

Aus dieser Geografie folgt zweierlei. Es ist relativ leicht, nach Afghanistan einzumarschieren. Das Land zu beherrschen dagegen erscheint auf Dauer unmöglich. Die Topografie des Landes eignet sich, anders als etwa im Irak oder in Syrien, hervorragend für einen endlosen Guerillakrieg. Wenn es in Afghanistan eines im Überfluss gibt, so sind es von Bergen gut geschützte Rückzugsräume. Gleichzeitig hat die Macht der Zentralregierung nie bis in die Tiefe der Provinzen gereicht. Die Bergwelten Afghanistans verhindern eine starke Zentralmacht ebenso wie fehlende staatliche Ressourcen. Gesellschaftlich wie politisch prägend sind Stämme und ethnische Gruppen, feudalstaatliche Verhältnisse haben sich vielfach bis heute bewahrt. Die Ersten, denen es jemals gelungen ist, das gesamte Land vollständig zu unterwerfen, sind die Taliban. Deren Machtbasis liegt jedoch nicht in Kabul oder den Städten, sondern im Hinterland.

Die Geschichte Afghanistans ist geprägt von dauerhafter Kriegsführung und Gewalt. Nicht allein mit Blick auf äußere Invasoren, auch untereinander bekämpften sich afghanische Akteure, im Wettstreit um Weide und Wasser, Vorherrschaft oder Beute. Einigkeit unter den Afghanen gab es, wie die jüngere Geschichte unterstreicht, vor allem dann, wenn es einer ausländischen Bedrohung entgegenzutreten galt. Diese Erfahrung machten nacheinander die Briten, die Sowjets und zuletzt die USA/NATO.

1747 hielten Vertreter der Abdali-Stammesgruppen unweit von Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, eine Ratsversammlung, eine Jirga, ab. Zu ihrem neuen Anführer wählten sie den gerade einmal 25-jährigen Ahmed Khan, was einigen Unmut hervorrief. Doch ein lokaler Heiliger bescheinigte ihm, die größte Persönlichkeit unter den Anwesenden zu sein, und setzte ihm ein Weizenbündel als Krone auf. Dieses Bündel fand später symbolisch Eingang in die afghanische Nationalflagge. Gleichzeitig ernannte der Heilige den Gekrönten zur «Durr-i-Durran», zur «Perle der Perlen», woraufhin die Abdali ihren Stammesnamen in Durrani änderten. Diese Krönungsszene gilt vielen Afghanen als Geburt des neuzeitlichen Afghanistans, wenngleich dessen heutige Grenzen erst später, Ende des 19. Jahrhunderts, gezogen wurden – maßgeblich von der britischen Kolonialmacht. Bis zum kommunistischen Staatsstreich 1973 und der Abschaffung der Monarchie sollten die Durrani, wenngleich seit 1842 in einer Nebenlinie, die Könige des Landes stellen. Die Durrani gehören zur größten ethnischen Gruppe der Paschtunen. Wie heute die mehrheitlich ebenfalls paschtunischen Taliban sahen auch sie keinen Anlass, Nicht-Paschtunen an der Macht zu beteiligen. Das betraf und betrifft vor allem Tadschiken, Usbeken und Turkmenen im Norden und Westen sowie die schiitischen Hazara im Zentrum, Nachfahren turko-mongolischer Invasoren und die einzigen Nicht-Sunniten in Afghanistan von demografischer Bedeutung. Die Paschtunen sprechen das indogermanische Paschtu, die übrigen Bevölkerungsgruppen überwiegend Dari-Persisch, neben ihren jeweiligen Regionalsprachen. Paschtu und Dari sind die beiden Amtssprachen im heutigen Afghanistan.

Ungeachtet der militärischen Erfolge Ahmed Khans, dessen Reich von Mashhad im Iran bis nach Delhi reichte und so auch das gesamte heutige Pakistan umfasste, war die Zeit plündernder Reiterheere abgelaufen. Europa stand am Vorabend der Industriellen Revolution, der Handel zwischen China und Europa verlagerte sich zunehmend auf die Weltmeere, während die jahrhundertelangen Überfälle auf die urbanen Zentren Zentral- und Mittelasiens weite Landstriche verwüstet und zerstört hatten. Auch die Seidenstraße war an Banditen gefallen und verlor ihre wirtschaftliche Bedeutung. Für knapp 100 Jahre war Afghanistan weitgehend sich selbst überlassen, interessierte sich die Weltpolitik nicht für das isolierte Bergland. Doch ihre Kampfbereitschaft und ihr Streben nach Autonomie gaben die afghanischen Stämme auch in dieser «Zwischenzeit» keineswegs auf – eine Folge nicht zuletzt ihrer vielfach noch nomadischen Lebensweise.

Die Briten und ihre East India Company

Bis die Briten aktiv wurden. Nach dem Verlust ihrer nordamerikanischen Kolonien und dem Sieg über Napoleon bei Waterloo 1815 richtete sich das Interesse Londons verstärkt auf Indien, der späteren Kronkolonie und wichtigsten Ressource der werdenden Weltmacht. Anders als frühere Eroberer, die mit Waffengewalt fremde Territorien unterwarfen, war das Geschäftsmodell des britischen Imperiums in Indien ein ganz anderes – dort setzte man auf die wirtschaftliche Durchdringung des Landes, mit brachialen, frühkapitalistischen Methoden, die jeden Konkurrenten vom Markt verdrängten, nötigenfalls unter Einsatz von Kriegsschiffen und Kanonenbooten. Großbritannien war damals die führende Seemacht. Die ersten, die das zu spüren bekamen, waren die Franzosen und die Portugiesen, die ihre Besitzungen in Indien bereits im späten 18. Jahrhundert aufgeben mussten.

Die entscheidenden Wegbereiter der britischen Unterwerfung Indiens waren Kaufleute und Großunternehmer, in Gestalt der Honourable East India Company. Sie interessierten sich vor allem für Rohstoffe, Gewürze und Tee und schafften es mittels einer ebenso durchdachten wie skrupellosen Politik des «teile und herrsche», mit nur wenigen Tausend Briten ein Hundert-Millionen-Volk zu unterwerfen. Insbesondere die Rekrutierung einheimischer militärischer Hilfstruppen, der Sepoys, erwies sich als kluger Schachzug. Jahrzehntelang blieb die Ostindien-Gesellschaft die treibende wirtschaftliche und politische Kraft. Britische Soldaten hielten sich im Hintergrund und griffen nur ein falls erforderlich, der Zustimmung Londons gewiss. Zugute kam diesen eng mit der britischen Oberschicht verwobenen Freibeutern, dass das muslimische Mogul-Reich in Delhi politisch in Trümmern lag und die Hindus noch nicht organisiert waren. Die Wirtschaft blieb die treibende Kraft britischer Kolonialpolitik in Indien bis zum landesweiten Aufstand von 1857. Nach dessen Niederschlagung wurden die territorialen Besitzungen der East India Company in die Kronkolonie Britisch-Indien überführt. Das Primat des Handelns verlagerte sich damit auf die Politik und lag nunmehr in Händen des britischen Vizekönigs, genannt Raj oder Viceroy, mit Sitz in Kalkutta.

Parallel dazu verlief ein weiterer Geschichtsstrang, der schließlich zur militärischen Konfrontation in Afghanistan führte. Im 19. Jahrhundert expandierte das russische Zarenreich in Richtung Kaukasus und Turkestan, eroberte sukzessive die heutigen Staaten Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan (grosso modo die Nachfolgestaaten Turkestans) – ebenso Armenien, Aserbaidschan, Georgien. Sowohl das Osmanische Reich wie auch Großbritannien suchten dieses Vordringen militärisch zu verhindern, doch ohne Erfolg. Auch die russische De-facto-Niederlage im Krimkrieg (1853–​1856) änderte nichts am Vorstoß St. Petersburgs bis an den Pazifik und die Grenzen Chinas.

Nüchtern gesehen stand der russische Koloss auf tönernen Füßen. Die russische Armee konnte den schwerfälligen Osmanen Paroli bieten und die Reiterhorden mittelalterlicher Khanate im historischen Großraum Turkestans zerschlagen. Der überlegenen Waffentechnik und der Hochseeflotte der Briten aber hatte sie wenig entgegenzusetzen. Hätte in Whitehall, im Umfeld des britischen Verteidigungsministeriums, und in Westminster, in Parlament und Regierung, ein kühler, analytischer Geist geherrscht, wäre es vermutlich gar nicht erst zum «Great Game» gekommen. Als «Großes Spiel» wird der Wettstreit zwischen Russland und Großbritannien um Macht und Einfluss in Zentralasien bezeichnet, der geopolitisch fast das gesamte 19. Jahrhundert beherrschte. Ausgetragen wurde dieses Spiel vor allem in Afghanistan. Vereinfacht gesagt waren die Briten wie besessen von der Vorstellung, Russland könnte auf den Spuren turko-mongolischer Eroberer via Afghanistan in Britisch-Indien einfallen und London die Vorherrschaft in seiner Kronkolonie streitig machen oder sie zu destabilisieren suchen. Gewiss, russische Truppen standen am Amu Darya, dem Grenzfluss zwischen dem heutigen Tadschikistan und Afghanistan. Doch jeder Schritt darüber hinaus wäre auf eine Überdehnung russischer Kräfte hinausgelaufen, wie später die Sowjetunion erfahren musste. Selbst wenn ein russischer Zar mit dem Gedanken gespielt hätte, die Briten in Indien herauszufordern – militärisch wäre Russland dazu auf keinen Fall in der Lage gewesen. Dazu fehlten die wirtschaftlichen Mittel ebenso wie die politische Notwendigkeit: Das Zarenreich setzte auf die Konsolidierung seiner Macht- und Gebietsansprüche innerhalb der neu geschaffenen Landesgrenzen. Indien gehörte schlichtweg nicht zum eigenen Beuteschema. Russland hat nicht einmal den Versuch unternommen, dort destabilisierend einzugreifen.

Ein Fiasko kündigt sich an

Doch Politik lebt nicht von Rationalität allein. Mit der Folge, dass sich London den Luxus dreier militärisch vollkommen sinnloser Afghanistan-Kriege erlaubte, den ersten von 1839 bis 1842, den zweiten von 1878 bis 1880. Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges, 1919, kam noch ein dritter hinzu. Ausgangspunkt des ersten Krieges war die «gefühlte» Bedrohung der Briten durch Russland in Afghanistan. Konkret: Russischer Lobbyismus in Teheran und die Entsendung eines russischen Emissärs nach Kabul ließen in London die Alarmglocken schrillen – Gefahr in Verzug! Das Empire bedroht! Doch bereits dieser Feldzug gegen einen imaginären Feind, kein einziger russischer Soldat weit und breit, wandelte sich in kürzester Zeit in einen Krieg gegen Afghanistan und die Afghanen selbst. Den allerdings das Empire auf dramatische Weise verlor – die Niederlage von 1842 war die tödlichste und verheerendste, die das koloniale Großbritannien je erleben musste (abgesehen vielleicht vom Verlust der nordamerikanischen Kolonien). Was natürlich nach Rache verlangte und einen zweiten wie auch dritten Afghanistan-Krieg nach sich zog.