Armageddon im Orient - Michael Lüders - E-Book

Armageddon im Orient E-Book

Michael Lüders

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Beschreibung

Das Atomabkommen mit dem Iran ist Geschichte: Die Zeichen stehen auf Sturm. Warum aber haben die USA es aufgekündigt, gegen den erklärten Willen der Europäer? Obwohl sich Teheran an alle Verpflichtungen hält? Worum geht es in diesem Konflikt? Um die Eindämmung eines "Schurkenstaats" oder aber die Vorherrschaft in der Region? Gewohnt anschaulich erklärt Michael Lüders die Hintergründe und macht deutlich: Ein Angriff auf den Iran hätte kein westlich orientiertes Regime in Teheran zur Folge, sondern Armageddon im Orient – mit katastrophalen Folgen auch für uns in Europa.
Der Orient kommt nicht zur Ruhe. Während die Kämpfe vor allem in Syrien andauern, nehmen Präsident Trump und seine Verbündeten den Iran ins Visier. Dahinter steht auch ein Machtkampf zwischen Riad, Tel Aviv und Teheran, der in die ganze Region ausstrahlt und sich der gewohnten Einteilung in «Gut» und «Böse» entzieht. Denn Saudi-Arabien führt im Jemen einen brutalen Bombenkrieg mit entsetzlichen Folgen für die Zivilbevölkerung. Michael Lüders beleuchtet die Hintergründe und macht deutlich, warum Washington einseitig Partei ergreift. Ein Blick hinter die Kulissen, der enthüllt, was leider nur allzu selten in der Zeitung steht.

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Michael Lüders

Armageddon im Orient

Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt

C.H.Beck

Zum Buch

Das Atomabkommen mit dem Iran ist Geschichte: Die Zeichen stehen auf Sturm. Warum aber haben die USA es aufgekündigt, gegen den erklärten Willen der Europäer? Obwohl sich Teheran an alle Verpflichtungen hält? Worum geht es in diesem Konflikt? Um die Eindämmung eines «Schurkenstaats» oder aber die Vorherrschaft in der Region? Gewohnt anschaulich erklärt Michael Lüders die Hintergründe der Krise zwischen Israel, Saudi-Arabien und dem Iran und macht deutlich, warum Washington einseitig Partei ergreift. Ein Blick hinter die Kulissen, der enthüllt, was leider nur allzu selten in der Zeitung steht.

Über den Autor

MICHAEL LÜDERS war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit». Er ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, in Nachfolge des verstorbenen Peter Scholl-Latour. Als Nahostexperte ist er häufiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: «Wer den Wind sät» (292018), «Die den Sturm ernten» (72017) sowie der Thriller «Never Say Anything» (52016).

Inhalt

Vorwort

Treibsand: Unter Gläubigen – Nicht Religion trennt Sunniten und Schiiten, sondern Machtpolitik

Die Bekenner der Einheit Gottes und die «Lügner»

Wie das Gute dem Bösen vorziehen?

Bitte keine Autos oder Radios!

Saudi-Arabien: Weinende Männer und ihre «Brüder» – Vom Schwerttanz zur Erdöl-Monarchie

Ein tödlicher Speerwurf und seine Folgen

Lawrence von Arabien spielt mit verdeckten Karten

Weinende Männer und was sie bewegt

Präsident Roosevelt verfällt saudischem Erdöl

Israel hofiert Khomeini: Nichts ist, wie es scheint – Über Intrigen in Zeiten, als der Iran noch kein «Schurkenstaat» war

Der Westen – «scheinheilig und bösartig»?

Eine Hand wäscht die andere

1979: Ein entscheidendes Jahr

Schmutzige Geschäfte

Saudi goes America: Waffen gegen Öl – Wie Saudi-Arabien (fast) ein Bundesstaat der USA wurde

Willkommen im Haus Saud

Die Saudis auf Einkaufstour

Milliardäre unter sich

Im Bann des Bösen: Regimewechsel in Teheran? – Warum ein Friedensangebot Washington empörte

Schach oder Monopoly?

Wer was zu sagen hat

Der Iran – ein Reich des Bösen?

Frieden? Nicht mit uns

Die Achse der Guten greift durch

Werte, Werte, Werte: Ein Blick hinter die Kulissen – Amerika hat Verständnis für saudische Terroristen, aber nicht für iranische Atome

Sonderflüge nach den Anschlägen von 9/11 – trotz Flugverbot

Regimewechsel in Teheran – los geht’s

Feindbilder rechnen sich

Frieden ist möglich

House of Cards: Unterwegs mit Jared Kushner – Trumps Schwiegersohn verwechselt den Nahen Osten mit seiner Luxusimmobilie

Tacheles reden

Legal, illegal – uns doch egal

Von bad guys und good guys

Warum Trump die Saudis so sehr mag

Was die Welt zusammenhält

House of Cards, Staffel zwei: Unterwegs mit Mohammed Bin Salman – Der saudische Kronprinz und wie er die Welt sieht

Die Ameise und der Adler

Sein oder Schein?

Katar: Noch ein Reich des Bösen

Goldfinger und die Fußball-WM

Washington, wir haben da ein Problem

MBS pokert um die Zukunft des Libanon

Die Ermordung Khashoggis: Pulp Fiction in Istanbul

Hungerspiele im Jemen: Das nächste Land wird zerstört – Showtime bei den Vereinten Nationen

Hoffnung wiederherstellen

«Die schlimmste humanitäre Katastrophe weltweit»

Keine Ahnung von nichts

Der Elefant und die Maus

Feindbilder festigen

Der Jemen ist nicht genug

Damaskus am Pranger: Wer schießt eigentlich auf wen? – Über den Wahnsinn als politische Methode

Über Macht, Moral und die Gewalt in Syrien

Nicht alle Syrer sind gegen Assad

Killing fields

Kriegsspiele

Die Karten werden neu gemischt

Der Countdown gegen den Iran läuft

Lieben lernen

Jesus und der dunkle Prinz: Syrien und das Ende des Atomabkommens – Wie die Regierung Trump zur Jagd auf die Ajatollahs bläst

Das Feuer an der Lunte

Es wird ernst

Fanatiker an der Macht

«Das ist Demokratie!»

Europa in der Falle

Was tun? Ein Ausblick

Anmerkungen

Treibsand: Unter GläubigenNicht Religion trennt Sunniten und Schiiten, sondern Machtpolitik

Saudi-Arabien: Weinende Männer und ihre «Brüder»Vom Schwerttanz zur Erdöl-Monarchie

Israel hofiert Khomeini: Nichts ist, wie es scheintÜber Intrigen in Zeiten, als der Iran noch kein «Schurkenstaat» war

Saudi goes America: Waffen gegen ÖlWie Saudi-Arabien (fast) ein Bundesstaat der USA wurde

Im Bann des Bösen: Regimewechsel in Teheran?Warum ein Friedensangebot Washington empörte

Werte, Werte, Werte: Ein Blick hinter die KulissenAmerika hat Verständnis für saudische Terroristen, aber nicht für iranische Atome

House of Cards: Unterwegs mit Jared KushnerTrumps Schwiegersohn verwechselt den Nahen Osten mit seiner Luxusimmobilie

House of Cards, Staffel zwei: Unterwegs mit Mohammed Bin SalmanDer saudische Kronprinz und wie er die Welt sieht

Hungerspiele im Jemen: Das nächste Land wird zerstörtShowtime bei den Vereinten Nationen

Damaskus am Pranger: Wer schießt eigentlich auf wen?Über den Wahnsinn als politische Methode

Jesus und der dunkle Prinz: Syrien und das Ende des AtomabkommensWie die Regierung Trump zur Jagd auf die Ajatollahs bläst

Karte

Für meinen Sohn Marlon

Möge Deine Welt eine friedliche sein

«Das Gegenteil von Wissen ist nicht Unwissen, sondern der Glaube zu wissen.»

Stephen Hawking

«Um politisch richtig zu handeln, muss man in jeder Lage immer nur das Niederträchtigste tun. Der Erfolg rechtfertigt im Nachhinein alles. Er adelt das ursprünglich Böse, bis es als das sittlich Wertvolle erscheint.»

Napoleon

«Wann wird Tag? O wann erwacht der milde Weltenfriede?»

Erich Mühsam

Vorwort

Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts – diese Einsicht Willy Brandts gerät in der heutigen Weltpolitik zunehmend in Vergessenheit. Vor allem der Konflikt mit dem Iran kann jederzeit zu einem Krieg führen, mit unabsehbaren Folgen. Das haben die Ereignisse im Juni 2019 dramatisch vor Augen geführt, als US-Präsident Donald Trump einen offenbar bereits erteilten Angriffsbefehl in letzter Minute zurückzog – da waren die Bomber angeblich bereits im Anflug auf den Iran.

Warum aber stehen die Zeichen auf Sturm, welche Akteure suchen warum den Showdown mit Teheran? Weshalb hat Trump im Mai 2018 das drei Jahre zuvor geschlossene Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt, obwohl die übrigen Mitunterzeichner es beibehalten wollten? Nämlich Russland, China, Deutschland, Großbritannien und Frankreich? Obwohl der Iran nachweislich alle Bestimmungen und Auflagen eingehalten hat? Wieso steht das Land am Pranger, gilt die Islamische Republik vielen im Westen, aber auch in Israel und den arabischen Golfstaaten, als das Böse schlechthin? Ist diese Feindseligkeit eine bloße Reaktion auf dessen als unbotmäßig empfundene Politik? Oder sind im Hintergrund ganz andere Kräfte am Wirken? Geht es möglicherweise darum, die unliebsame Regierung in Teheran durch eine nach dem Geschmack Washingtons zu ersetzen? Einmal mehr Regimewechsel zu betreiben?

Die jetzige Krise hat eine lange Vorgeschichte, bei der die Saudi-Connection eine tragende Rolle spielt. Der Begriff bezeichnet die engen politischen und wirtschaftlichen Bande zwischen den USA und Saudi-Arabien, deren Geschäftsbeziehung bis heute wesentlich auf dem Tausch von Waffen gegen Erdöl beruht. Zu dieser Vorgeschichte gehört aber auch die israelische Haltung gegenüber Teheran, die zur Zeit Khomeinis erstaunlich pragmatisch war, danach aber in ihr Gegenteil umschlug. Das Image der Islamischen Republik ist seit der Revolution 1979 ein denkbar schlechtes, keineswegs unverschuldet von iranischer Seite. Sie zu dämonisieren fällt demzufolge leicht und bietet sich an – jedem Krieg geht die Verteufelung des vermeintlichen Gegners voraus.

Darauf hinzuweisen heißt im Umkehrschluss nicht, iranische Politik gutzuheißen oder ihr unkritisch zu begegnen. Gerade in Zeiten von fake news aber ist die sachliche Analyse ein zwingend gebotener Gegenentwurf zur Feindbild-Prosa. Sachlichkeit bedeutet auch, vorherrschende Meinungen und Gewissheiten infrage zu stellen, insbesondere auf die Einordnung der Konfliktparteien in «Gut» und «Böse» zu verzichten. In der Politik geht es jenseits von Rhetorik selten um Moral, vielmehr um Macht und Einfluss, die Durchsetzung von Interessen. Diese durchaus schlicht zu nennende Einsicht fällt vielen schwer, die sich einer wie auch immer verfassten «Wertegemeinschaft» zugehörig fühlen. Für sie mag das vorliegende Buch eine Herausforderung sein – aber die Zeiten, in denen wir leben, verlangen nach klaren Worten.

In der hiesigen Öffentlichkeit gilt der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran vielfach als ein religiöser: Sunniten gegen Schiiten. Ist das so? Handelt es sich tatsächlich um einen innerislamischen Dschihad? Oder wird hier ein Machtkampf entlang religiöser Bruchlinien ausgetragen? Zwischen Saudi-Arabien, der selbsternannten Schutzmacht der Sunniten, und dem schiitischen Iran?

Es gibt viele gute Gründe, die Politik Teherans anzuprangern. Warum aber gilt der Iran als Reich des Bösen, während die Kritik an saudischem (Fehl-)Verhalten vergleichsweise gemäßigt ausfällt, geschweige denn Konsequenzen hätte? Nicht einmal die weltweit mit Bestürzung aufgenommene Ermordung des saudischen Oppositionellen Jamal Khashoggi im saudischen Generalkonsulat von Istanbul, im Oktober 2018, scheint ernsthafte Folgen für Riad zu haben. Ganz anders die Causa Iran: Weshalb gibt es seit Jahren Streit um das iranische Atomprogramm? Allein um zu verhindern, dass «fanatische Mullahs» nach der Atombombe greifen? Oder geht es gleichermaßen darum, das einzig verbliebene Land im weiten Raum zwischen Marokko und Indien einzuhegen, dessen Politik sich nicht am Westen orientiert? Jedenfalls ist der Iran nach einer Phase der Beruhigung im Atomstreit seit der Präsidentschaft Trumps erneut ins Fadenkreuz geraten.

Die folgenden Kapitel zeigen die Zusammenhänge und Hintergründe auf, sie erzählen die Geschichte hinter den Schlagzeilen. Vieles erscheint unglaublich, etwa die Geschäfte beider Präsidenten Bush mit dem Haus Saud. Aber auch die Abenteuer Jared Kushners, des Schwiegersohns von Donald Trump, lesen sich wie eine Räuberpistole. Die Welt um uns herum ist aus den Fugen geraten, in jeder Beziehung. Der Konflikt um den Iran ist dabei ein entscheidender Brennpunkt. Vor allem deswegen, weil er den Weltfrieden ernsthaft bedroht.

Fangen wir also vorne an.

Treibsand: Unter Gläubigen

Nicht Religion trennt Sunniten und Schiiten, sondern Machtpolitik

Unsere Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, einer der unwirtlichsten Regionen der Erde. Im Sommer wird es dort bis zu 50 Grad heiß, während die Temperaturen nachts bis auf den Gefrierpunkt fallen. Seit der Zeit des Propheten Mohammed, des islamischen Religionsstifters, hatten sich die Lebensformen kaum verändert. Die meisten Menschen lebten entweder als Bauern in weit verstreut liegenden Oasen oder waren nomadische Viehzüchter. Deren wichtigstes Nutztier war das Kamel, das nötigenfalls tage- und sogar wochenlang ohne Wasser auskommt. Kamele dienten nicht allein als Transportmittel, sie waren gleichermaßen ein bedeutendes Handelsgut, auch in die Nachbarländer, ebenso wie ihre Wolle, Butter, Felle. Neben Kamelen wurden vorzugsweise Rassepferde exportiert. Das einzige «urbane Zentrum» jener Zeit, auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabiens, war die Pilger- und Handelsstadt Mekka, strategisch günstig an der Schnittstelle mehrerer Karawanenstraßen gelegen. In der damaligen Wahrnehmung gab es kaum einen Unterschied zwischen «Stadt» und «größerer Oasensiedlung». Dabei handelte es sich meist um dörfliche Ansammlungen von Lehmhäusern mit Stroh- oder Palmwedel-Dächern, oft von einer Stadtmauer umgeben, ebenfalls aus Lehm. Die soziale Organisationsform war in erster Linie die Großfamilie, der Clan, und der Stamm, der Zusammenschluss größerer Sippschaften.

Die vorherrschende Subsistenzlandwirtschaft, die auf sehr einfachen, primitiven Anbaumethoden hauptsächlich rund um die Palme als Dattel-Lieferant beruhte, ferner die feindliche Natur, begrenzte Handelsbeziehungen der Oasen untereinander, Stammesrivalitäten – sie erklären wesentlich, warum das Arabien jener Zeit keine zentrale Staatlichkeit kannte. Das auf der gegenüberliegenden Seite des Roten Meeres gelegene Ägypten hatte dagegen schon vor 5000 Jahren eine Hochkultur begründet. Deren Ursprünge ergaben sich aus der Notwendigkeit, das Nilwasser möglichst effizient und gerecht zu verteilen. Dementsprechend lag die Macht in Händen des gottgleichen Pharaos. Arabien jedoch, eines der rückständigsten Gebiete im Orient, lebte bis zum Beginn der Erdölförderung in den 1930er Jahren in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht im frühen Mittelalter. Mangels Zentralstaatlichkeit gab es auch keine Sicherheit: Mit Vorliebe überfielen verfeindete Beduinenstämme einander oder sie raubten Karawanenzüge aus. Diese Überfälle, arabisch ghazzu (unser Wort Razzia leitet sich davon ab), galten als legitimer und angesehener Erwerbszweig, als Ausdruck von Mannestum. In der Regel verfolgten sie nicht das Ziel, den Gegner zu töten, sondern ihn auszurauben. Das Ergebnis war allerdings oft genug dasselbe, denn die Opfer, vielfach Oasenbewohner, starben anschließend häufig den Hungertod.

Wer den Film «Lawrence von Arabien» gesehen hat oder einmal als Tourist in Jordanien war, kennt das Wadi Rum im Süden, unweit der Nabatäer-Stadt Petra. Diese Wadis, Trockentäler, enthalten vielfach unterirdische Wasserläufe, aus denen sich die Oasen speisen. Regenfälle sind selten, doch wenn sie erfolgen, gehen sie meist als Sturzregen nieder. Innerhalb kürzester Zeit füllen sich dann die Wadis mit gewaltigen Wassermassen, die alles mit sich reißen, auch ganze Oasensiedlungen. Wadis durchziehen Arabien wie Lebensadern, sie sind Heimat der größten Stämme und Herrscherdynastien. So auch das Wadi Hanifa mit der heutigen Hauptstadt Riad, Heimat und Wiege des Wahhabismus wie auch der Dynastie der Al Saud, nach denen Saudi-Arabien benannt ist. (Das «Al» bezeichnet hier nicht den arabischen Artikel, sondern bedeutet Stamm, Clan, gesprochen mit langem A: Aal. Etymologisch eine Ableitung von «ill», was Pakt und Treuebündnis ebenso bedeutet wie Blutsverwandtschaft.) Das Wadi Hanifa liegt im zentralarabischen Hochland, in der Region Nadschd, dem historischen Machtzentrum Saudi-Arabiens. Westlich davon, entlang der nördlichen Küstengebiete des Roten Meeres, erstreckt sich die geschichtlich und wirtschaftlich bedeutsame Region des Hidschas mit den Städten/Oasensiedlungen Mekka, Medina und Dschidda. Deren Machteliten haben dem Vormarsch von Wahhabiten und saudischen Stammeskriegern rund 150 Jahre lang erbittert Widerstand geleistet. Südlich davon, Richtung jemenitischer Grenze, liegen die lange vernachlässigten Regionen Asir und Nadschran.

Nicht zu vergessen die Region al-Hasa, zwischen Kuweit und den Vereinigten Arabischen Emiraten am Persischen Golf gelegen, das Zentrum der saudischen Erdölindustrie. Zwei große Wüsten begrenzen (Saudi-)Arabien: Im Norden die Wüste Nufud, im Süden, Richtung Jemen und Oman, die Ruba’a al-Khali, wörtlich «das leere Viertel». Diese beiden undurchdringlichen Sandmeere und die Lebensfeindlichkeit der übrigen Landesteile erklären wesentlich, warum weder das Osmanische Reich noch Großbritannien die Neigung verspürten, Arabien vollständig zu unterwerfen oder gar zu kolonisieren. Beide beließen es bei indirekten Formen imperialer Herrschaft.

Die Bekenner der Einheit Gottes und die «Lügner»

Damals, im 18. Jahrhundert, wurde jene folgenschwere Allianz der Wahhabiten und der Al Saud begründet, die heute das geistig-ideologische und politische Fundament Saudi-Arabiens bildet. Treibende Kraft war der Erweckungsprediger Mohammed Abdel Wahhab (1703/4–1792), der Begründer des nach ihm benannten Wahhabismus. Eine Bezeichnung, die heute allerdings fast ausschließlich von seinen Widersachern sowie im Westen verwendet wird. Die Anhänger dieser islamischen Calvinisten, die Religion und Religiosität als Aufforderung zur Unterwerfung unter den Willen Gottes und seiner irdischen Stellvertreter deuten, sehen sich selbst vorzugsweise als «Bekenner der Einheit Gottes» (al-muwahhidun oder ahl at-tawhid), als «Gefolgsleute der frommen Altvorderen» (as-salafiyun, uns sprachlich geläufig, in anderem Kontext, als Salafisten) oder schlichtweg als «die Muslime» (al-muslimun). Ihre Feinde und Gegner, strenggenommen der Rest der Menschheit, nämlich alle Nicht-Wahhabiten und insbesondere die Schiiten, betrachten sie als «Lügner» (ahl al-batil), als «Abweichler» (ahl ad-dalal), als «Anhänger der Vielgötterei» (ahl asch-schirk) oder als «Glaubensabtrünnige» (ahl ar-ridda).

Nüchtern besehen ist der Wahhabismus in erster Linie eine politisch-religiöse Sekte, die vermutlich als Fußnote der Geschichte geendet wäre. Doch der Ölreichtum Saudi-Arabiens exportiert deren unduldsame und rückwärtsgewandte Ideologie seit dem vorigen Jahrhundert noch in die entlegensten Winkel der islamischen Welt. Mit der Folge, dass gemäßigte und liberale Lesarten des sunnitischen Islam zunehmend an Boden verloren oder sich gar nicht erst entfalten konnten. Radikale Dschihadisten und islamistische Terroristen, darunter die Taliban, Al-Qaida oder der «Islamische Staat», vertreten heute ein Weltbild, das sich der Lehren Abdel Wahhabs bedient, ohne sich allerdings auf ihn zu berufen. Das betrifft insbesondere sein Konzept des Heiligen Krieges (Dschihad) und des takfir, wörtlich: «des für ungläubig Erklären». Wer aus Sicht selbsternannter «Rechtgläubiger» als Abtrünniger oder Ketzer gilt, hat nach diesem Konzept sein Recht auf Leben grundsätzlich verwirkt. Eine bessere «Generalabsolution» für enthemmte Gewalt gegen «Ungläubige», auch in Form von Terroranschlägen, lässt sich kaum finden.

Wie aber konnte der Wahhabismus vor zwei, drei Jahrhunderten so glaubensmächtig werden? Welches Islamverständnis liegt ihm zugrunde, auf welche Vordenker beruft er sich? Was sind eigentlich die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten? Diese Fragen sind keine akademischen, sie berühren das heutige Selbstverständnis Saudi-Arabiens als selbsterklärter Schutzmacht der Sunniten und liegen dem Konflikt mit dem schiitischen Iran wesentlich zugrunde, jenseits der Geopolitik. Alles hängt mit allem zusammen – befassen wir uns also zunächst mit der Theologie, um die nachfolgenden politischen Entwicklungen besser zu verstehen.

Der Islam entstand im frühen siebten Jahrhundert im Hidschas, nicht allein göttlich inspiriert, sondern zunächst beeinflusst auch von den dortigen, in der Tat überschaubaren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Weder hatte der Religionsstifter Mohammed eine Nachfolgeregelung getroffen noch war der Koran zu seinen Lebzeiten kodifiziert worden – er hatte also noch nicht seine endgültige Form und Fassung gefunden. Nach muslimischer Überzeugung wurde dem Propheten die Heilige Schrift im Verlaufe von 22 Jahren offenbart. Der Erzengel Gabriel habe ihn geheißen, das vorzutragen, was ihm zuvor von Gott ins Herz geschrieben worden sei. Daher auch der Name: Koran bedeutet Lesung, Vortrag. Wie das Judentum ist auch der Islam eine ausgeprägte Gesetzesreligion, ein wesentlicher Teil der Offenbarungsschrift befasst sich mit göttlichen Handlungsanleitungen. Damit der Islam als Glaube gelebt werden kann, gilt es Gottes Herrschaft in dieser Welt zu verwirklichen. Nicht als Gottesstaat, sondern als Ideal höherer Gerechtigkeit und gelebter Menschlichkeit. Das allen Religionen innewohnende Paradox besteht gerade darin, dass die Kluft zwischen solcher Paradiesverheißung und den Abgründen menschlichen Wirkens größer kaum sein könnte.

Nach Mohammeds Tod 632 erwuchsen der islamischen Frühgemeinde zwei große Herausforderungen: die Frage seiner Nachfolge und die Konfrontation mit anderen Welten. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte sollte sich die islamische Glaubenslehre bis nach Spanien und Persien ausbreiten. Das religiös-weltanschauliche System aus dem Hidschas, soweit es Eingang in die Heilige Schrift gefunden hatte, erwies sich als unzureichend, um den Bedürfnissen der unterworfenen, aber höher entwickelten Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens Rechnung zu tragen. Das betraf vor allem die Rechtsvorschriften. Der Islam musste sich folglich den neuen Verhältnissen anpassen, wollte er nicht untergehen. Zum wichtigsten Instrument der Anpassung wurden die Hadithe (Hadith: Erzählung, Bericht, Mitteilung). Sie bezeichnen die tatsächlich oder vermeintlich überlieferten Aussprüche und Handlungen Mohammeds sowie diejenigen seiner Wegbegleiter, die er gebilligt haben soll. Die Hadithe wiederum bilden die Grundlage der Sunna, der mutmaßlichen Lebenspraxis des Propheten. Die Sunna ist, man ahnt es bereits, Namensgeberin der Sunniten. Bis ins zehnte Jahrhundert entstanden zahlreiche Hadith-Sammlungen mit zehntausenden Hadithen. Ihr Sinn und Zweck war und ist neben Sinnstiftung vor allem die Rechtsprechung – im Geist der ethisch begründeten Forderung, das Gute dem Bösen vorzuziehen (vgl. Sure 3,110).

Kein Mensch kann ein solches Konvolut an teilweise sehr widersprüchlichen Hadithen überblicken. Entsprechend haben sich im sunnitischen Islam vier Rechtsschulen herausgebildet (bei den Schiiten zwei), vorzugsweise benannt nach ihren Begründern. Diese Rechtsschulen (Madhhab) bündeln, deuten und interpretieren die jeweiligen Hadith-Sammlungen, unter Berücksichtigung gegebener politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Sie befassen sich nicht allein mit weltlichem Recht, sondern auch mit Fragen des Ritus: der rechten Gebetsform etwa oder der Reinheitsbestimmungen. Heute spielen die Rechtsschulen, ihre Rechtsnormenlehre (Fiqh) und das daraus abgeleitete islamische Recht (Scharia) nur noch im Ehe-, Familien- und Erbrecht sowie teilweise im Strafrecht eine tragende Rolle. Vor allem im Handelsrecht haben sämtliche islamische Staaten, auch Saudi-Arabien und der Iran, im Verlauf der letzten Jahrzehnte religiöse Rechtsnormen durch westlich-säkulare, europäische Modelle der Gesetzgebung ersetzt.

Wie das Gute dem Bösen vorziehen?

Meist übernahmen ganze Regionen eine Rechtsschule, sei es aufgrund des Herrscherwillens oder infolge einer gemeinsamen «Werteorientierung». Das Osmanische Reich beispielsweise entschied sich für die weltoffene und pragmatische hanafitische Rechtsschule, die auch in der heutigen Türkei fortbesteht. Die ultraorthodoxe und dogmatische hanbalitische Rechtsschule, die sich gesellschaftlicher Erneuerung am meisten verschließt, setzte sich dagegen zunächst im Nadschd, dann im übrigen Arabien durch, zuletzt im Hidschas, und ist noch immer Staatsräson in Saudi-Arabien. Die dort bis heute praktizierte öffentliche Hinrichtung mit dem Schwert verdankt sich ebenso dem Rechtsverständnis der Hanbaliten wie das erst 2018 abgeschaffte Fahrverbot für Frauen. Der Wahhabismus ist im Kern eine ideologische Fortschreibung der kleinsten, der hanbalitischen Rechtsschule im Geist einer Erweckungsbewegung.

Um dessen anti-schiitische Agenda nachzuvollziehen, gilt es den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten zu beleuchten. Wie erwähnt hatte der Prophet keine Nachfolgeregelung getroffen. Nach seinem Tod stellte sich die Frage, wer ihm in der Führung der Umma, der islamischen Gemeinschaft, folgen sollte. Zahlreiche Gruppen und ehemalige Weggefährten fühlten sich berufen. Es kam zu ernsthaften Auseinandersetzungen bis hin zum Krieg, und die Frühgemeinde erlebte immer wieder Trennungen und Abspaltungen. Die wichtigste führte zum Entstehen von Sunniten und Schiiten. Heute stellen die Sunniten rund 90 Prozent der weltweit knapp zwei Milliarden Muslime. Die Schiiten bilden die Bevölkerungsmehrheit im Irak, Iran, Libanon sowie in Bahrein und Aserbaidschan. Bedeutende schiitische Minderheiten leben in den Küstenregionen der arabischen Golfstaaten, vor allem in der saudischen Provinz al-Hasa.

Ali, dem vierten und letzten der «rechtgeleiteten Kalifen», vormals enge Vertraute Mohammeds, gelang es nicht, die islamische Frühgemeinde vollständig hinter sich zu vereinen. Nach Alis Tod (er war gleichzeitig Mohammeds Vetter und Schwiegersohn) beanspruchte der Kriegsherr Mu’awiya vom mekkanischen Stamm der Quraisch die Macht und begründete in Damaskus die sunnitische Dynastie der Omajjaden (661–750). Mu’awiya war der erste Kalif, der kein früherer Gefährte und Wegbegleiter Mohammeds war. Die Verbundenheit der Frommen mit der von der Macht verdrängten Familie des Propheten verfestigte sich über mehrere Generationen hinweg zur religiös-politischen Oppositionspartei der Schiiten: Sie sind im Wortsinn «Parteigänger Alis» (arabisch: Schi’at Ali).

Die Verfolgungen durch die ersten Sunniten führten auf Seiten der frühen Schiiten zu einem ausgesprochenen Märtyrerkult. Insbesondere der Tod von Alis Sohn Hussein 680 in der Schlacht von Kerbela, im heutigen Irak, in der die «Parteigänger Alis» den Omajjaden unterlagen, wurde zum Big Bang der schiitischen Lehre. In Erinnerung an diese verlorene Schlacht finden bis heute alljährlich blutige Selbstgeißelungen und Märtyrerspiele statt. Die Gläubigen sehen darin eine Sühnetat angesichts des «Versagens» der ersten Schiiten, nicht in ausreichender Zahl Hussein im Kampf zur Seite gestanden zu haben.

Da die Schiiten das sunnitische Kalifat nicht anerkannten, mussten sie die Frage der Nachfolge Alis anders regeln. Die Mehrheitsströmung unter den Schiiten beruft sich auf eine Genealogie von insgesamt zwölf Imamen, als deren erster Ali gilt. Deswegen werden sie auch «Zwölferschiiten» genannt. Auf sie entfallen rund neun Prozent aller Muslime. Im sunnitischen Islam bedeutet «Imam» lediglich «Vorbeter», für die Schiiten ist der Imam der religiöse Führer. Diesen Imamen werden unfehlbare Weisheit und Freiheit von Sünde zugesprochen. Der zwölfte Imam ist nach schiitischer Lehre 874 «in die Verborgenheit entrückt» und wird am Tag des Jüngsten Gerichts als Mahdi (Erlöser) wiederkehren.

Die Imame gelten sämtlich als Nachkommen Alis. Ihre wesentliche Funktion ist die spirituelle Führung der Gemeinde und ihre Verteidigung inmitten einer Welt von Feinden. Eine der zentralen theologischen Fragen der Schiiten lautet: Wie kann es sein, dass der wahre Glaube, wie von Ali und den Imamen verkörpert, sich immer wieder gegen Unrecht und Gewalt behaupten muss? Die Imame waren stets auch politische Führer, aber Imamat bedeutet nicht Gottesstaat. Nach der «Entrückung» des zwölften Imams übernahmen Ajatollahs (arabisch: Zeichen Gottes), gewissermaßen in Vertretung des Mahdi, die Führung der Schiiten. Sie allein sind zur Entscheidung in religiösen und politischen Zweifelsfällen berechtigt. Mit den jeweiligen Machthabern wussten sie sich in der Regel zu arrangieren. Aus ihrer Sicht ist ein Herrscher ohnehin nur so lange legitimiert, bis der Mahdi erscheint. Die Frage, wo genau die Grenzen zwischen religiöser Führung und Politik verlaufen, war unter schiitischen Rechtsgelehrten über Jahrhunderte umstritten. Ajatollah Khomeini hat sie mit einer extremistischen Position vorerst beantwortet. Er prägte die Lehre von der «Herrschaft der Rechtsgelehrten» (velayat-i-faqih), die bis zur Wiederkehr des Mahdis politische und religiöse Macht in ihren Händen vereinen. Diese Institution wurde nach dem Sturz des Schahs 1979 in der Verfassung der Islamischen Republik Iran festgeschrieben. Nach Khomeinis Überzeugung sind die Rechtsgelehrten nicht dem Volk, sondern allein Gott am Tag des Jüngsten Gerichts Rechenschaft schuldig. Khomeinis Dogma von der Einheit religiöser und politischer Herrschaft wird von den meisten schiitischen Theologen abgelehnt, sofern sie nicht Teil des iranischen Machtapparats sind.

Der Vollständigkeit halber sei auch der Aga Khan erwähnt, das religiöse Oberhaupt der «Siebenerschiiten», auch Ismailiten genannt, die ursprünglich vor allem in Indien beheimatet waren. Nicht zu vergessen die «Fünferschiiten», die Zaiditen, die ausschließlich im Norden Jemens zu finden sind, im Grenzgebiet zu Saudi-Arabien. Sie stellen das Rückgrat der Huthi-Rebellen, die Riad seit 2015 militärisch bekämpft, mit katastrophalen Folgen für die jemenitische Zivilbevölkerung. Last not least gelten die syrischen Alawiten, aus deren Reihen das Assad-Regime hervorgegangen ist, als eine Abspaltung von den «Zwölferschiiten».

Jenseits der unterschiedlichen Auffassung über die legitime Nachfolge Alis in der Führung der islamischen Frühgemeinde und die Genealogie unfehlbarer Imame, sind die theologischen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten gering. Sunniten und Schiiten sind keine religiösen Antipoden, sie sind, wenn man so will, der rechte und der linke Arm desselben Glaubenskorpus. Sofern es zwischen ihnen im Verlauf der Geschichte zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen ist, gab es dafür in erster Linie politische Gründe. So etwa, als die iranische Herrscherdynastie der Safawiden im 16. Jahrhundert vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertierte und die «Schiitisierung» der einheimischen Bevölkerung einleitete. Das Motiv war kein ursächlich theologisches – vielmehr suchten sich die Safawiden vom benachbarten Osmanischen Reich abzugrenzen, der sunnitischen Großmacht. Im Alltag haben Sunniten und Schiiten über Jahrhunderte neben- und miteinander gelebt, auch untereinander geheiratet. Mitnichten also besteht zwischen ihnen eine Erbfeindschaft, obwohl es heute auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Vor allem der Wahhabismus legte die Wurzeln für jene hasserfüllte Ablehnung des Schiitentums durch radikale Sunniten, die ganz wesentlich die saudische Haltung gegenüber dem Iran mitbestimmt.

Auch dieser Hinweis ist von grundlegender Bedeutung: Der Wahhabismus ist der ideologische Kern der Schiiten-Dämonisierung auf Seiten radikalisierter Sunniten. Ein fanatisiertes Pendant auf schiitischer Seite gegenüber den Sunniten mag es auf individueller Ebene oder innerhalb kleinerer Gruppen geben, nicht aber in einer politisch relevanten, organisierten Form.

Bitte keine Autos oder Radios!

Mohammed Abdel Wahhab stammte aus einer angesehenen Familie hanbalitischer Rechtsgelehrter in der Oase Uyaina im Wadi Hanifa. Damit war sein Weg als Theologe vorgezeichnet. Nach Studienaufenthalten unter anderem in Mekka, Medina und im irakischen Basra entwickelte er seine streng monotheistische Lehre. Die Gläubigen seien vom rechten Weg abgewichen, entsprechend gebe es Unfrieden und wirtschaftliches Chaos, Dekadenz und allgemeinen Niedergang. Um die Welt vor der Apokalypse zu bewahren, gelte es die Religion zu «reinigen», ihren ursprünglichen Zustand wiederherzustellen – kurzum, zurückzukehren zum «wahren Islam» des Propheten und seiner Gefährten, dem vermeintlich «goldenen Zeitalter». Es liegt auf der Hand, dass ein solches Weltbild die Vergangenheit idealisiert und nicht in ihr liest. Die tatsächlichen Lebensverhältnisse waren im siebten Jahrhundert nicht weniger geprägt von Mord und Totschlag, dem blutigen Ringen um Macht und Herrschaft, von Charakterschwäche und «Sünde» als im 18. Jahrhundert oder in der Gegenwart. Die Beschwörung vergangener Zeiten als Zufluchtsort eigener Sehnsüchte und Projektionen ist allerdings kein arabisches oder islamisches Phänomen, sie findet sich ebenso unter christlichen, jüdischen, generell unter religiösen Fundamentalisten. Doch ebenso auf ganz anderer Ebene – erinnert sei etwa an die Verehrung des antiken Griechenlands oder Roms auf Seiten deutscher Romantiker.

Abdel Wahhab jedoch war kein Romantiker, sondern Zelot. Wie richtig leben, Gerechtigkeit auf Erden schaffen, neuen Herausforderungen begegnen? Alle Antworten finden sich im Koran und in der Sunna, der Lebensführung des Propheten, so seine Überzeugung. Darüber hinaus anerkennt er das Wirken der ersten vier «rechtgeleiteten Kalifen». Und natürlich die Lehren der hanbalitischen Rechtsschule, insbesondere des mittelalterlichen Theologen Ahmad Ibn Taimiya (1263–1328). Das war’s. 1000 Jahre islamische Geistesgeschichte, die frühe Hochkultur in Andalusien, jene unter den Abbassiden in Bagdad (750–1258), die vielschichtigen sunnitischen Gedankenwelten, die nicht zuletzt um das Verhältnis von Wissen und Glauben kreisen, die religiöse Mystik – aus Abdel Wahhabs Sicht nichts als Ketzerei. Gift für die Gläubigen, eine Neuauflage der «Dschahiliya», der «Zeit der Unwissenheit» vor der koranischen Offenbarung. Ibn Taimiya war sein «Kronzeuge» im Kampf gegen die sunnitische Orthodoxie und deren rationalistische Ansätze. Jede Art von «Neuerung» (Bida) lehnten die Wahhabiten ab. Am liebsten hätten sie sich wohl «zurückgebeamt» ins siebte Jahrhundert. Entsprechend suchten sie beispielsweise die Einführung von Autos und Radios in den 1920er Jahren erbittert zu verhindern.

Vor allem in den Oasen gedieh zu Abdel Wahhabs Zeit die volkstümliche Heiligenverehrung, pilgerten Gläubige zu Heiligen und ihren Gräbern, huldigten dem Sufitum, der religiösen Mystik, und erhofften sich Wunder. Dieser Volksislam grenzte auch aus Sicht der Orthodoxie an Gotteslästerung und widersprach dem ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses – es gibt keine Gottheit neben Gott und Mohammed ist sein Prophet. Dennoch erschien es den sunnitischen Rechtsgelehrten unklug, dagegen vorzugehen. Auf politischer Ebene führte diese «Vielgötterei» zu einer Fragmentierung der Stämme, die einst unter dem Banner des Islam Arabien vereint hatten, zumindest oberflächlich. Da nun jeder Stamm, beinahe jede Oase andere Heilige verehrte, zerfiel Arabien in eine Vielzahl von Einflussgebieten unterschiedlicher Herrscher. Mit der Folge, dass Anarchie und Gewalt zunahmen, vor allem in Form endemischer Überfälle, besagter ghazzu. So gesehen war die Zeit reif für eine Erweckungsbewegung, die im Namen des einen, des wahren Gottes politische Einheit und Stabilität zumindest auf regionaler Ebene wiederherzustellen vermochte.

Die ersten, die das verstanden, waren die Stammesführer der Al Saud. Sie erkannten auch, dass Abdel Wahhab die Privilegien der Ulama, der Rechtsgelehrten, und der Stammesnotabeln keineswegs infrage stellte. Ganz im Gegenteil verlangte er von der einfachen Bevölkerung, den Autoritäten bedingungslos zu gehorchen, im Geist der Prophetengefährten. Wer dem Herrscher die Gefolgschaft verweigere, gar gegen ihn aufbegehre, der sei «infernalisch zu foltern».[1] Im Gegenzug forderte er die Emire und Nobilitäten auf, sich «gerecht» gegenüber ihren Untertanen zu verhalten und sich der Sklaven, Diener und Tagelöhner gewissenhaft anzunehmen. Den Armen wiederum predigte er, dass Armut keine Schande sei, im Gegensatz zu Gier, und sie leichter ins Himmelreich gelangten als die Reichen. Der Wahhabismus entwarf einen ausgeprägten Moralkodex, der den Gläubigen auch nahelegte, wie sie zu lachen, zu niesen, zu gähnen, zu scherzen, andere zu umarmen oder ihnen die Hand zu reichen hatten.

Und doch: Anfangs verfügte Abdel Wahhab nur über eine kleine Anhängerschaft. Sein religiöser Furor entsprach nicht dem Lebensgefühl der überwiegenden Mehrzahl der Oasenbewohner. Nachdem er in mehreren Dörfern Heiligengräber und Moscheen hatte zerstören und als heilig angesehene Bäume fällen lassen, musste er um sein Leben fürchten. Sein Schicksal sollte sich erst wenden, als er in der Oase Diriya, heute ein Stadtteil Riads, Mohammed Ibn Saud begegnete und die beiden einen faustischen Pakt eingingen: Abdel Wahhab verschaffte dem Machtanspruch eines Oasenherrschers, der bislang im Schatten mächtiger Stammesführer größerer Siedlungen gestanden hatte, eine überaus wirkmächtige, nämlich eine religiöse Legitimation. Ibn Saud allein sei der Vertreter des «wahren Islam». Diese Legitimation gab ihm einen Freibrief, andere Stämme im Namen des «Monotheismus» zu unterwerfen und den eigenen Machtbereich kontinuierlich auszuweiten. Im Gegenzug verschaffte Ibn Saud seinem Bruder im Geist weitreichende Privilegien. Nicht nur ihm, sondern auch Abdel Wahhabs Angehörigen und engsten Vertrauten sowie deren Nachkommen, den bis heute so geheißenen «Al ash-Sheikh», dem Clan des Scheichs. In den Worten des Berliner Orientalisten Sebastian Sons: «Für beide ausgestoßenen und missachteten Männer bot sich somit eine Win-win-Situation: Ibn Saud konnte seine politischen Ambitionen mit einer radikalen Ideologie von Ausgrenzung und Verfolgung untermauern, während Abdel Wahhab einen Partner erhielt, der über politische Kontakte und lokale Netzwerke verfügte und ihm somit Schutz bieten konnte.»[2]

Dieser Pakt von Diriya aus den 1740er Jahren begründete den Siegeszug der saudisch-wahhabitischen Waffenbruderschaft, ohne die es Saudi-Arabien nicht gäbe. Würde der «Clan des Scheichs» den Al Saud bescheinigen, eine «unislamische» Politik zu betreiben, liefe dieser Staat Gefahr, seine Legitimation und somit seine Existenzberechtigung zu verlieren. Deswegen sind Fragen wie die nach dem Fahrverbot für Frauen in erster Linie Machtfragen. Keine Seite darf rote Linien überschreiten, im Zweifel müssen erst Gefälligkeiten ausgetauscht werden.

Woher aber rührt der Hass auf die Schiiten? Aus Sicht der Wahhabiten sind grundsätzlich alle Nicht-Wahhabiten Götzendiener – vor allem jene Muslime, die sich ihnen entgegenstellen. Und genau das taten die Schiiten, vor allem in der Provinz al-Hasa. Entsprechend behandelten die Wahhabiten die damals noch in Arabien lebenden Christen und Juden weniger schlecht als ihre muslimischen Widersacher. Im Verlauf ihrer Eroberungszüge zerstörten sie alle Heiligengräber und verbrannten die Bücher von Rechtsgelehrten, die ihr Weltbild nicht teilten. Der Fanatismus der Wahhabiten erhob gleichzeitig die damals so beliebten Beutezüge in den Rang einer göttlichen Mission. Plündern im Namen des Herrn, das erhöhte die Stoßkraft und sorgte für einen steten Zustrom neuer Anhänger.

Dennoch, der Hass auf die Schiiten ist nicht allein rational zu begründen – sofern Hass denn überhaupt eine Verstandesebene hätte. Eine psychopathologische Komponente mag da ebenfalls eine Rolle spielen, vergleichbar etwa dem Anti-Judaismus christlicher Kirchen vor 1945 oder generell dem Antisemitismus.

Saudi-Arabien: Weinende Männer und ihre «Brüder»

Vom Schwerttanz zur Erdöl-Monarchie

Beseelt von ihrem Glauben und dem Schwert gelang es der saudisch-wahhabitischen Allianz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weite Teile des heutigen Staatsgebietes von Saudi-Arabien zu unterwerfen. Im Wesentlichen nach der ghazzu-Methode: Eine Ortschaft wird überfallen, und die Einwohner haben die Wahl. Entweder zahlen sie Tribut und übernehmen die Lehren des Wahhabismus – oder aber ihr Leben endet. Dieses «Alleinstellungsmerkmal», die Verbindung aus Religion und Gewalt, erklärt den Erfolg der Gotteskrieger. Damals hatten sie das Monopol auf den Dschihad. Im Gegenzug konnten sich die «Konvertiten» den Eroberern anschließen und ihrerseits teilhaben an der gewissermaßen staatlich verordneten Beutejagd. Dabei stießen sie auch in Richtung Irak und sogar Syrien vor. 1802 erreichten sie die schiitische Pilgerstadt Kerbela im Süden Iraks, die Begräbnisstätte des Imams Hussein, des «Herrn der Märtyrer». Was folgte, beschreibt Jean-Baptiste Rousseau, damals französischer Generalkonsul von Aleppo und zum Zeitpunkt des Geschehens im Irak: «In der Stadt hatte sich im Verlauf mehrerer Jahrhunderte ein unvorstellbarer Reichtum angehäuft. In der Moschee von Imam Hussein befanden sich Schenkungen von Silber, Gold, Juwelen, vielerlei Raritäten.» Mit der Moschee ist nicht allein das Gotteshaus selbst gemeint, sondern, darüber hinaus, ein weitläufiges Areal von der Größe mehrerer Fußballfelder, mit Verwaltungsgebäuden und Depots sowie dem Mausoleum. «Dieser Reichtum hatte die Gier der Wahhabiten erweckt … Und dann geschah es. Völlig überraschend griffen 12.000 Wahhabiten die Moschee an. Nachdem sie soviel Beute gemacht hatten wie nie zuvor auf ihren Siegeszügen, überantworteten sie alles dem Feuer und dem Schwert. Alte Menschen, Frauen, Kinder – sie alle starben durch das Schwert der Barbaren. Trafen sie auf eine schwangere Frau, so wird berichtet, schnitten sie ihr das Kind heraus und legten den Fötus auf den blutenden Körper. Ihre Grausamkeit fand kein Ende, sie hörten nicht auf zu morden, und das Blut floss in Strömen. Am Ende dieser blutigen Katastrophe waren mehr als 4000 Menschen tot. Die Wahhabiten beluden 4000 Kamele mit ihrer Beute. Zuvor aber zerstörten sie das Mausoleum des Imams und verwandelten es in eine Kloake aus Eingeweiden und Blut.»[1]