An den Synod - Leo N. Tolstoi - E-Book

An den Synod E-Book

Leo N. Tolstoi

0,0

Beschreibung

Ein Kirchentum, das Dogma und Ritus an die Stelle der Botschaft Jesu setzt, kann sich nur mit Machtmitteln behaupten. Im Jahr 1901 verurteilt der "heilige Synod" in Russland die "antichristliche und antikirchliche Irrlehre des Grafen Leo N. Tolstoi". Der vorliegende Band enthält Texte zu dieser "Exkommunikation", einen Aufruf an den Klerus sowie weitere Zeugnisse des Dichters zum eigenen Denken und Glaubensweg. Tolstoi beantwortete den Bann der Priesterkirche mit folgendem Bekenntnis: "Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Prinzip des Alls verstehe. Ich glaube, dass Er in mir ist und ich in Ihm bin. Ich glaube, dass der Wille Gottes am allerklarsten, verständlichsten in der Lehre des Menschen Christus ausgedrückt ist, den als Gott aufzufassen und zu dem zu beten - ich für die größte Lästerung halte. Ich glaube, dass das wahre Heil des Menschen in der Erfüllung des Willens Gottes besteht, Sein Wille aber darin, dass die Menschen einander lieben und infolgedessen gegen die andern so handeln, wie sie wünschen, dass man gegen sie handele, wie es auch im Evangelium heißt, darin bestehe das ganze Gesetz und die Propheten. Ich glaube, dass der Sinn des Lebens eines jeden Menschen deshalb nur in der Vergrößerung der Liebe in sich besteht; dass diese Vergrößerung der Liebe den einzelnen Menschen in diesem Leben zu immer größerem Heile führt, nach dem Tode ein um so größeres Heil schenkt, je mehr Liebe im Menschen ist, und zugleich mehr als alles andere zur Aufrichtung des Reiches Gottes in der Welt beiträgt, d.h. einer Lebensordnung, bei der die Zwietracht, der Betrug und die Gewalt, die jetzt herrschen, durch freie Übereinstimmung, Wahrheit und brüderliche Liebe der Menschen zueinander ersetzt sein werden. Ich glaube, dass es zum Fortschreiten in der Liebe nur ein Mittel gibt: das Gebet ..., von dem uns Christus ein Muster gegeben hat, das einsame, das darin besteht, in seinem Bewusstsein den Sinn seines Lebens ... wiederherzustellen und zu befestigen." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 12 (Signatur TFb_A012) Ausgewählt und herausgegeben von Peter Bürger, mit einem Einleitungstext von Käte Gaede (1980)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 418

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorbemerkungen des Herausgebers zum vorliegenden Band

Zur Einleitung TOLSTOI UND DIE RUSSISCHE ORTHODOXE KIRCHE (Evangelische Verlagsanstalt, 1980)

Käte Gaede

_____

I. GRAF LEO TOLSTOI UND DER HEILIGE SYNOD

Deutsch von Dr. Nachman Syrkin (Berlin 1902)

Vorrede

Die Exkommunikation Tolstoi's (20.-22.02.1901)

Brief der Gräfin Sophie Tolstoi an Pobedonoszew

Antwort Tolstoi's an den Synod

[

Antwort Tolstoi's: alternative Übersetzung, 1929]

Erwiderung des Jamburgschen Bischofs Sergius

Erwiderung des Herausgebers der ‚Missionären Rundschau‘ W. Skworzow

II. ÜBER DULDUNG (Über die Glaubenstoleranz – O veroterpimosti, 1901)

Leo N. Tolstoi

III. AN DEN KLERUS (K duchovenstvu, 1902 | Arbeitsübersetzung)

Leo N. Tolstoi

IV. VERNUNFT – GLAUBE – GEBET Briefe Tolstois an den Bauern V. K. Zavolokin (Dezember 1900 / Januar1901)

A. Vollständige Arbeitsübersetzung nach der russischen Gesamtausgabe

B. Teilübersetzung des Globus Verlag, Berlin (1903)

V. KLEINERE TEXTE TOLSTOIS ÜBER RELIGION, KIRCHE UND GLAUBEN | 1865-1909 (Arbeitsübersetzungen)

1. Über die Religion (O religii, Fragment 1865)

2. Über die Bedeutung der christlichen Religion (O značenii christianskoj religii, Fragment 1875/1876)

3. ‚Christlicher Katechismus‘ (Christianskij katichizis, Fragment 1877)

4. Wessen sind wir? (Č'i my?, 1879)

5. Aufzeichnungen eines Christen (Zapiski christianina, Fragment 1881)

6. Das Wesen der christlichen Lehre (Suščnost' christianskogo učenija, 1908)

7. Gebete (Molitvy, 1909)

VI. SELBSTZEUGNISSE TOLSTOIS AUS TAGEBUCHBLÄTTERN UND BRIEFEN | 1851-1910

1. „Seligkeit im Gebet“ (Tagebuch, 11.06.1851)

2. „Religion Christi, aber gereinigt“ (Tagebuch, 05.03.1855)

3. „… ich fand, dass es eine Unsterblichkeit gibt“ (An Alexandra Alexandrowna Tolstaja, Mai 1859)

4. „Da kamen nun die Popen, und der kleine rosa Sarg …“ (An A. A. Feth, Januar 1872)

5. „… plötzliche Bekehrungen kämen nicht vor“ (An A. A. Tolstaja, April 1876)

6. „Narr in Christo“ (An N. N. Strachow, 1877)

7. „Religion … die gleiche Frage wie für einen Ertrinkenden“ (An A. A. Tolstaja, Februar 1877)

8. „Vom Suchen des Glaubens“ (An N. N. Strachow, Januar 1878)

9. „Die Einheit besteht darin, daß jeder Erlösung sucht und sie nur in der Entäußerung seiner selbst findet“ (Tagebuch, 02.06.1878)

10. „Ihr Kreuz ist der Hof, meines die Gedankenarbeit“ (An A. A. Tolstaja. Jasnaja Poliana, März 1879)

11. „Menschen … mit Flügeln“ (Tagebuch, 28.10.1879)

12. „Ob ich … an den Gott-Menschen glaube …“ (An A. A. Tolstaja, Februar 1880)

13. „Mich unterrichtet der hiesige Rabbiner Minor …“ (An W. J. Alexejew, November 1882)

14. „Ihr seid doch … auch Menschen, die nach Hause gehen“ (An M. A. Engelhardt, 1882)

15. „Ich sage nicht, dass ich bereits so ein Mensch bin …“ (An A. A. Tolstaja, 1886)

16. „… dieses fürchterliche Lügennetz der Propaganda“ (An A. A. Tolstaja, August/September 1887)

17. ,Kritik der praktischen Vernunft‘ von Kant (An N. N. Strachow, 16.10.1887)

18. „Vorwärtsbewegung nach einer Vollkommenheit, die der … des Vaters ähnlich ist“ (An Tschertkow, 1888)

19. „Chloroform der Liebe“ (Tagebuch, 25.01.1889)

20. „In die Wüste gehen … als ständige Lebensform ist es sicher Sünde“ (An D. A. Chilkow, 1890)

21. „Ich denke immer alles, was ich noch nicht fühle“ (Tagebuch, 03.01.1890)

22. „Christ in business“ (Tagebuch, 09.03.1890)

23. „Ist nicht alles bloß ausgedacht, was ich von der Liebe denke und rede?“ (Tagebuch, 13.06.1894)

24. „Ein jämmerlicher Bettler“ (Tagebuch, 23.12.1895)

25. „Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man … ein unsterbliches Leben leben“ (Tagebuch, 06.03.1896)

26. „Ihre Vorstellung von der Notwendigkeit der Kirche“ (An einen französischen Pfarrer, 1901)

27. „Sie sind der vierte Geistliche, mit dem ich mich in voller Übereinstimmung erlebe“ (Brief, 1901)

28. „… daß die Grundlage unseres Lebens … nicht sterben kann“ (An P. Bordakow, August 1903)

29. „Auffassung von Gott als einer Persönlichkeit“ (An den Geistlichen S. K., 25.12.1908)

30. „… so freudevoll schien es mir, als Bettler fortgehen zu können“ (Tagebuch, 2./3. Juli 1908)

31. „Von dieser die ganze Welt umfassenden Kirche habe ich mich niemals getrennt“ (Brief an den orthodoxen Priester Ivan Solov'ev, 1908)

32. „Ich solle Gott … so auffassen, … wie Ihn andere Leute auffassen“ (An N. A. Rukawischnikoff, 04.02.1909)

33. „Grundlage aller Religionen …: Die Liebe zu Gott“ (An M. M. Krymbajeff, 16.03.1909)

34. „… wenn ich geirrt habe …, so kennt Er mich doch“ (An einen russischen Geistlichen, März 1909)

35. „Gott … nicht im Himmel“ (An A. N. Savazk, 13.11.1909)

36. „Wahrhaft existiert nur Gott“ (Letzte Einträge im „Tagebuch nur für mich selbst“, 31. Oktober 1910)

_____

ANHANG

Bibliographische Übersicht zu den dargebotenen Tolstoi-Texten

Literatur zu Tolstois religiösen und theologiekritischen Werken

Übersicht zu den Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek, Reihe A

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

„Ich habe damit begonnen, daß ich meinen orthodoxen Glauben mehr als meine Ruhe liebte, dann das Christentum mehr als meine Kirche, und jetzt liebe ich am allermeisten die Wahrheit. Und bis auf den heutigen Tag fallen Wahrheit und das Christentum, wie ich es verstehe, für mich zusammen.“

LEO N. TOLSTOI, 4. April 19011

„Die Vernichtung und Zertrümmerung der Lehre, die heimlich an die Stelle von Christi Lehre getreten war, ging mit der furchtbaren Gewalt eines Blitzes vor sich, der den Nachthimmel zerriß. Es bleibt nur eines von beiden: entweder dem Autor die Hand zu reichen oder zu einem der alten Altäre gehen und ihn schluchzend bitten, er möge sich und die Menschheit vor diesem Zerstörer beschützen, dessen Kraft und Entschlossenheit unvergleichlich sind.“

NIKOLAI SEMJONOWITSCH LESKOW (1831-1895) über Tolstoi2

Die nunmehr bald vervollständigte Editionsreihe A der Tolstoi-Friedensbibliothek erschließt alle größeren religiösen (und ‚sozialethischen‘) Einzelwerke LEO N. TOLSTOIS (1828-1910), sofern von ihnen gemeinfreie Übersetzungen zur Verfügung stehen.3 Nach einer lebensgeschichtlichen Krise hat der Dichter als fünfzigjähriger Mann zeitweilig versucht, sein neugewonnenes Verständnis der ‚Lehre Christi‘ in enger Bindung an die Orthodoxe Kirche zu bezeugen.

Doch der Blick auf die Widersprüche des real existierenden Kirchentums (Symbiose mit dem Staat, materielle Privilegien, Festigung der bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse, klerikale Rechtfertigung der Menschentötung in den staatlichen Hinrichtungs- und Militärapparaten4 …) führt im Zuge eines theologischen Selbststudiums zum baldigen Scheitern dieses ‚Experiments‘. Es entstehen zunächst Schriften zur Theologie- und Kirchenkritik, aber auch Darlegungen des eigenen Glaubens. Diese Werke werden in Russland verboten oder von der Zensur verstümmelt. Reguläre Verlagsausgaben – getreu den Manuskripten des Verfassers – können vor dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nur im Ausland erscheinen.

Der vorliegende Band tanzt ‚aus der Reihe‘ – nicht in inhaltlicher Hinsicht, sondern aufgrund seiner Anlage. Es wird kein in sich geschlossenes größeres Werk neu ediert. Der Titel „An den Synod“ bezieht sich auf einen sehr kurzen Text TOLSTOIS bzw. auf die dargebotene Dokumentation zur ‚Quasi-Exkommunikation‘ des Dichters im Februar 1901 (Abteilung → I ).

Ergänzend kommen hinzu die Schriften „Über Duldung“ (O veroterpimosti, 1901), „An den Klerus“ (K duchovenstvu, 1902) und „Vernunft – Glaube – Gebet“ (Briefe an den Bauern V. K. Zavolokin, 1900/1901), die in zeitlicher wie thematischer Hinsicht nähere Bezüge zur kirchenamtlichen Verurteilung LEO N. TOLSTOIS aufweisen (Abteilungen → II - IV). Wir nehmen zudem die Gelegenheit wahr, eine Reihe von wenig bekannten, meist fragmentarischen Texten in Arbeitsübersetzungen5 zugänglich zu machen, die neben den in sich abgeschlossenen Werken der Reihe noch herangezogen werden sollten, wenn es gilt, auf breiter Grundlage die Entwicklung des theologischen – kirchenkritischen und religiösen – Denkens des russischen Christen nachzuvollziehen (Abteilung → V).

Eine kleine Auswahl von Briefauszügen und Tagebuchblättern, die den Band beschließt, mag manche Leserinnen und Leser neugierig machen (Abteilung → VI). Umfangreiche, z. T. in Übersetzungen erschlossene Brief- und Tagebucheditionen enthalten sehr viele verstreute Selbstzeugnisse TOLSTOIS, die – zumal bezogen auf das letzte Lebensjahrzehnt – bei Darstellungen zum theologischen bzw. religiösen Weg des Dichters nicht übergangen werden dürfen. Ein Studium dieser Quellensegmente kann uns davor bewahren, bei kontroversen Fragen (Gottesbild, ‚ewiges Leben‘, Gnadentheologie oder pelagianischer Moralismus etc.) voreilige Antworten zu formulieren. Ohne Einblicke in Persönlichkeit („Psychogramm“), lebensgeschichtliche Entwicklungen, Umbrüche und Wandlungen ist es schier unmöglich, auch nur ansatzweise etwas über ‚die Theologie‘ oder ‚den Glauben‘ eines Menschen auszusagen. Doch wie erlangen wir solche ‚Einblicke‘? Ins Herz zu schauen kann, das bleibt im Letzten Gott vorbehalten. Vielleicht ist uns – um eine Anschauung LEO TOLSTOIS aufzugreifen – hinsichtlich der ‚Kardiognosie‘ eine Möglichkeit der Annäherung gegeben? Sichere Urteile vermögen freilich nur die Inquisitoren abzugeben, denen bei Belangen ihrer Profession ein klar definiertes Wahrheitsdepot zur Verfügung steht. Weil es in diesem Depot nicht um das leibhaftige Leben geht, kann auch ganz außer acht bleiben, dass die Menschen – trotz der allen gemeinsamen Bedürftigkeit – mit ihren Fragen, Leiden, Abgründen, Freuden und Glückseligkeiten keineswegs über einen Leisten gezogen werden können.

Dankenswerterweise dürfen wir als einleitenden Text im Nachfolgenden Ausführungen von KÄTE GAEDE über „Tolstoi und die Russische Orthodoxe Kirche“ (1980) dokumentieren. Die Verfasserin bietet – ausgehend von der Bibelarbeit des Grafen – eine gute Orientierung über die kirchlichen Konflikte.

Noch immer lesenswert ist ein Essay „Der Häretiker in der Ostkirche“ (1949) von WALTER NIGG, der auf knappem Raum Kontexte der Nichtangepasstheit und Verketzerung TOLSTOIS erhellt: „Eine unterhöhlende Tätigkeit ging von Tolstois andersartiger Christentums-Auffassung aus, welche der zaristische Staat als seinen unheimlichen Feind fürchtete. Mehrfach mußte der Dichter deswegen polizeiliche Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen, und es wurden seine ketzerischen Schriften von der Zensur verboten. Aber allen Unterdrückungsmaßnahmen zum Trotz breitete sich Tolstois christliche Revolution aus, in der wiederum die wirklichkeitsumwälzende Kraft des Evangeliums an den Tag getreten war. Sie rief die gleiche staatszerstörende Wirkung wie das frühe Christentum hervor“6. – Die im Anhang des vorliegenden Bandes verzeichnete Sekundärliteratur umfasst gleichermaßen sachliche, wohlwollende und kirchlich-apologetische (bisweilen feindselige) Darstellungen.

Dem sogenannten ‚Heiligen Synod‘, 1721 von Zar Peter I. als höchstes Leitungs- und Rechtsorgan des Russisch-Orthodoxen Staatskirchenkomplexes begründet, waren die religiösen wie sozialkritischen Schriften, die der weltberühmte Dichter in Jasnaja Poljana nach seiner Abwendung von dem eben erst wiederentdeckten kirchlichen Leben verfasst hat, selbstredend von Anfang an missliebig. „Schon 1886 hatte Monsignore Nicanor, Erzbischof von Cherson und Odessa, gegen den Ketzer gepredigt; 1891 hatte Butkewitsch, Erzpriester von Charkow, ihn der Ungläubigkeit und Gottlosigkeit geziehen. 1892, während der großen Hungersnot, hatten die Popen der Dorfkirchen die Muschiks veranlaßt, das Brot des Renegaten nicht anzunehmen; 1896 hatte [Prokurator] Pobjedonostzew sich vergeblich bemüht, vom Zaren zu erreichen, daß Leo Tolstoi im Kloster Susdal eingesperrt werde. Schließlich beschloß im April 1900 der Präsident des Heiligen Synod, Monsignore Anton, Metropolit von St. Petersburg, auf Drängen Pobjedonostzews und aus Empörung über die Angriffe gegen die orthodoxe Kirche in [dem Roman] ‚Auferstehung‘, den Schuldigen zu exkommunizieren. Ein vertrauliches Schreiben an den Klerus erklärte, daß Leo Tolstoi nicht mehr am kirchlichen Leben teilnehmen dürfe, und verbot, Totenmessen für die Ruhe seiner Seele zu lesen, wenn er unbußfertig hinscheide. Aber nach einigen Monaten der Überlegung hielten die vollzählig versammelten Mitglieder des Heiligen Synods es für geraten, den Text dieses Zirkulars abzumildern. Am 22. Februar 1901 erließen sie eine offizielle Verfügung, die an alle Kirchentüren geheftet werden sollte. Das Dokument [→ S. → - →] war von drei Metropoliten, einem Erzbischof und drei Bischöfen unterzeichnet“7.

Seit den frühen 1880er Jahren hatte Leo N. TOLSTOI offen einen ‚Ketzerglauben‘ bezeugt, und die Breitenwirkung seiner diesbezüglichen kleineren Schriften war gewiss nicht so bescheiden, wie der Dichter es in seiner ‚Antwort an den Synod‘ (→ S. → - →) darstellen wird. Warum erfolgte erst jetzt ein solcher Schritt? Die große „Kritik der dogmatischen Theologie“8 war zwar in zwei Teilen schon in Genf veröffentlicht worden, dürfte aber in Russland Anfang 1901 nur wenig verbreitet gewesen sein. Vielleicht bildete der literarische – in der Tat unerhörte – Angriff auf das Mysterium des Abendmahlsakraments im Roman „Auferstehung“ (1899)9 wirklich den bedeutsamsten Hintergrund für das Vorgehen des Heiligen Synod. Die Leugnung der Allerheiligsten Dreifaltigkeit Gottes und des Gottseins Jesu Christi konnte von keiner Kirchenleitung gutgeheißen werden. Doch eine vom Dichter vorgeführte Entweihung der heiligen Vollmacht des Klerikers betraf das Kirchensystem viel unmittelbarer, – und auch aus Sicht der Herrschenden war die Attacke gegen eine „Kultmystik“ (WALTER NIGG), die der Verschleierung sozialer Widersprüche sehr dienlich sein konnte, keine Nebensächlichkeit.

TOLSTOI bestritt keineswegs die zentralen Feststellungen des ihn ‚exkommunizierenden‘ Kirchenleitungsapparates, aber er bestritt, dass dieser die rechte ‚Lehre Christi‘ verkündete und jene wahrhaftige – universale – Kirche repräsentierte, von der er sich niemals zu trennen gedachte. Der Heilige Synod hatte ihm die Gelegenheit eröffnet, vor aller Welt noch einmal wirksam sein ‚Glaubensbekenntnis‘10 auszusprechen. Mitnichten zollten 1901 die Leute im Land den Inquisitoren einmütig Beifall. Henry Troyat schreibt: „Die Veröffentlichung des Erlasses hatte Proteste in ganz Rußland zur Folge. Selbst jene, die Tolstois Ideen nicht billigten, empörten sich gegen das von den Priestern wieder ausgegrabene, völlig veraltete Verfahren, mit dem man gegen den größten lebenden Schriftsteller Rußlands vorging. Was würde das Ausland von diesen mittelalterlichen Methoden denken? Der Zeitpunkt für einen Kirchenbann war schlecht gewählt, zumal seit einiger Zeit die Moskauer Studenten ihre Solidarität für ihre Kommilitonen in Kiew bekundeten, die man als einfache Soldaten in die Armee gesteckt hatte, weil es an der Universität zu Unruhen gekommen war. Die ganze Stadt war in höchster Erregung. An den Straßenkreuzungen bildeten sich Menschenansammlungen. Am Sonntag, dem 14. Februar 1901, dem Tage, an dem die Exkommunizierung in den ‚Kirchlichen Nachrichten‘ verkündet wurde, stieß Leo Tolstoi auf dem Rückweg von seinem Arzt am Lubjanka-Platz auf Arbeiter- und Studentengruppen. Jemand, der ihn erkannt hatte, brüllte: ‚Da ist er, der zum Mensch gewordene Teufel!‘ – Sofort wurde er umringt und freudig begrüßt: ‚Hurra, Leo Nikolajewitsch! Heil dem großen Mann! Hurra!‘ Da er von der tausendköpfigen Menge fast totgedrückt wurde, half ihm ein Student, in einen Schlitten zu steigen, aber die Leute hinderten den Kutscher am Abfahren; Bewunderer hatten in die Zügel gegriffen. Ein berittener Gendarm mußte eingreifen, um dem Gefeierten einen Weg zu bahnen. Erschöpft und entzückt kehrte er als Triumphator nach Hause zurück. Schon ergoß sich eine Flut von Telegrammen und Glückwunschbriefen auf seinen Schreibtisch. Es kamen so zahlreiche Besucher, daß man im Vorzimmer eine Liste auslegen mußte, in die sie sich einschreiben konnten. Kleine vervielfältigte Gedichte ‚Der Löwe und die Esel‘ (Löwe und Leo heißen im Russischen ‚Lew‘) oder: ‚Pobjedonostzews Traum‘ gingen von Hand zu Hand. – In den Tagen darauf zogen Demonstrationszüge durch die Straßen, und Gruppen von Studenten kamen ins Haus, um ihre Verbundenheit mit dem ‚Exkommunizierten‘ zu bekunden. Den Zeitungen wurde die Veröffentlichung von Telegrammen und anderen Sympathiebeweisen für den von der Kirche verstoßenen Grafen verboten. Aber es war unmöglich, das Ereignis geheim zu halten und das Gerede darüber zu ersticken. Am 25. März versammelte sich in St. Petersburg anläßlich einer Wanderausstellung eine große Menschenmenge vor dem Repinschen Porträt Tolstois, klatschte Beifall und schickte dem Schriftsteller eine Depesche mit dreihundertachtundneunzig Namen.“11

Ja, es gab auch die gehässigen Zuschriften von ‚Frommen‘, die nach dem Spruch des staatskirchlichen Offiziums im Dichter den Leibhaftigen zu erblicken vermeinten. Doch den ‚allgemeinen Glaubenssinn‘ repräsentierten sie wohl nicht.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückte die Kritik an der institutionellen Perversion der ‚Lehre Christi‘ durch das Kirchentum der Staatsdiener im Popenkleid in TOLSTOIS Schriften zeitweilig stark in den Vordergrund. Gegen Ende seines Lebens ist der Ton einer scharfen Polemik geschwunden und der Dichter scheint im Austausch mit den kirchlich Gesinnten um Milde bemüht zu sein. Die Kriegerkanzeln in zwei Weltkriegen mit 70 Millionen Toten, welche von den staatlich besoldeten Theologen in deutschen Landen bis heute nicht als die eigentliche Selbstauflösung der verfassten Christenheit erkannt werden, haben indessen die Skepsis des Alten von Jasnaja Poljana postum auf traurige Weise als den einzig möglichen Realismus bestätigt.

pb

Leo N. Tolstoi (1828-1910)

Gemälde des mit dem Dichter befreundeten Künstlers Nikolai N. Ge | Николай Николаевич Ге (1831-1894)commons.wikimedia.org

1 Lew TOLSTOI: Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20. bis 22. Februar und auf die aus diesem Anlass bei mir eingegangenen Briefe, übersetzt von Günter Dalitz. In: Lew Tolstoi: Philosophische und sozialkritische Schriften. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, Band 15). Berlin: Rütten & Loening 1974, S. 619-629, hier S. 628-629.

2 Zitiert nach: Walter NIGG: Der Häretiker in der Ostkirche. In: W. Nigg: Das Buch der Ketzer [1949]. Zürich: Diogenes Tb 1986, S. 530-557, hier S. 549-550.

3 Keine gemeinfreie – oder sonstige – Übersetzung gibt es von dem Werk: Soedinenie i perevod četyrech Evangelij (Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien, 1879-1881), das aber als Auszug erschlossen wird (Tolstoi-Friedensbibliothek – Reihe A, Bände 4-5).

4 Bezogen auf die für Tolstoi zentrale Frage von Gewalt und Krieg sei nachdrücklich auch auf die Reihe B der Tolstoi-Friedensbibliothek verwiesen und zwar auf die bereits erschienenen Bände 1-5.

5 Mangels gemeinfreier Übertragungen haben wir hier ein modernes Übersetzungsprogramm genutzt und dies jeweils deutlich ausgewiesen; die bei der Bearbeitung bzw. Überprüfung herangezogenen Vergleichstexte sind im Anhang bibliographisch verzeichnet und können in wissenschaftlichen Kontexten nachträglich aufgesucht werden, wenn unsere Textdarbietung das Interesse an den Fragmenten Tolstois geweckt hat (eine Ausnahme ohne Vergleichstext: → V.2).

6 W. NIGG: Das Buch der Ketzer. Zürich 1986, S. 548-549. (Siehe Fußnote 2)

7 Henri TROYAT: Tolstoi oder Die Flucht in die Wahrheit. Wien/Düsseldorf: Econ-Verlag 1966, S. 454.

8 Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 2 (Teilübersetzung) und Band 3 (Gesamtausgabe).

9 Vgl. den entsprechenden Auszug aus einer unzensierten Vollversion des Romans in Leo N. TOLSTOI: Texte gegen die Todesstrafe. Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander. Mit einem Geleitwort von Eugen Drewermann. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 1). Norderstedt: BoD 2023, S. 97-106.

10 „Ich glaube an folgendes: Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Beginn von allem verstehe. Ich glaube, daß er in mir ist und ich in ihm. Ich glaube, daß Gottes Wille seinen klarsten und verständlichsten Ausdruck in der Lehre des Menschen Christus gefunden hat, den als Gott aufzufassen und anzubeten ich als größte Gotteslästerung betrachte. Ich glaube, daß das wahre Glück des Menschen in der Erfüllung des Willens Gottes liegt und es sein Wille ist, daß die Menschen einander lieben und daher mit anderen umgehen, wie sie wollen, daß man mit ihnen umgehe, denn es heißt ja im Evangelium, hierin bestünden das ganze Gesetz und die Propheten. Ich glaube daher, daß der Sinn des Lebens für jeden einzelnen Menschen nur darin bestehen kann, die Liebe in sich zu mehren; daß diese Vermehrung der Liebe dem einzelnen Menschen in diesem Leben zu immer größerem Glück verhilft, daß sie nach dem Tode um so mehr Glück gewährt, je mehr der Mensch von Liebe erfüllt war, und daß sie gleichzeitig und vor allem anderen dazu beiträgt, in der Welt das Reich Gottes zu errichten, das heißt eine Lebensordnung, bei der Zwist, Betrug und die jetzt herrschende Gewalt abgelöst werden durch freie Übereinkunft, Wahrheit und brüderliche Liebe der Menschen untereinander. Ich glaube, daß es für die Mehrung der Liebe nur ein einziges Mittel gibt: das Gebet – nicht das öffentliche Gebet in Gotteshäusern, das Christus geradezu verboten hat (Matthäus 6, 5 bis 13), sondern jenes Gebet, für das Christus uns ein Beispiel gab, das einsame Gebet, bei dem wir den Sinn unseres Lebens und unserer Abhängigkeit allein von Gottes Willen in unserem Bewußtsein erneuern und festigen.“ (Lew TOLSTOI: Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20. bis 22. Februar. In: Lew Tolstoi: Philosophische und sozialkritische Schriften. Berlin 1974, S. 619-629, hier S. 627-628.)

11 Henri TROYAT: Tolstoi oder Die Flucht in die Wahrheit. Wien / Düsseldorf 1966, S. 455-456.

Zur Einleitung

Tolstoi und die Russische Orthodoxe Kirche

(Evangelische Verlagsanstalt, 1980)1

Käte Gaede

Hatte TOLSTOIS Hinwendung zur orthodoxen Kirche die verstärkte Lektüre der Bibel und spätere Analyse zur Folge, so erhält mit der neu gefundenen Glaubensposition die Abwendung von der Kirche ihre begründete Basis. Vorbehalte, die zuvor bereits kirchlichen Zeremonien gegenüber vorhanden waren, erhärten sich.

In der Tempelreinigung (Joh. 2,12-22 Parr.) findet TOLSTOI den Beleg dafür, daß bereits Jesus jeglichen Opferkult abgelehnt hat. TOLSTOI stellt sie deshalb in seiner Evangelienübersetzung – der Überlieferung des Johannesevangeliums entsprechend – an den Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu: Jesus kam in den Tempel, „warf alles hinaus, was für ihre Opfer notwendig ist, ausdrücklich so, wie dieser es jetzt tun würde, der, wenn er in unsere Kirche käme, alles hinauswürfe, Prosphoren, Wein, Reliquien, Kreuze, Antimensien und alle jene Sachen, die zu den für den Abendmahlsgottesdienst notwendigen zählen …“ (Evangelienauslegung2: Kap. 2, S. 124). Die Tempelreinigung steht bei Tolstoi auch als praktische Konsequenz der Mark. 7, 1-23 (Auseinandersetzung um Rein und Unrein) ausgesprochenen Ablehnung des Opferkultes. Er behält die scharfe Polemik jenes Abschnittes bei, die sich allein gegen die Gesetzesauslegung und Kultgesetze richtet, so daß der positive Bezug zum Mosaischen Gesetz (Mark. 7, 10) auch bei ihm erhalten bleibt. Dem geht die Auseinandersetzung Jesu mit den jüdischen Gruppen voran, wie sie sich an der Übertretung des Sabbatgebotes durch Jesus entzündet (Luk. 6, 1 ff.). In Luk. 13, 10 bis 14 wird Jesu Tun durch spezifische Übersetzung bei TOLSTOI zu einer Hilfeleistung. Diese ermöglicht einer Frau, die einen „Geist der Schwäche“ hat, den göttlichen Geist in sich zu erkennen. Damit gebe Jesus ein Beispiel, was für „Gutes man am Sabbat tun muß“ – so zu Matth. 12, 12 (Evangelienauslegung, S. 109). Die Berechtigung für die Übertretung des Sabbatgebotes durch Jesus sieht TOLSTOI in folgendem: „Nicht auf der Grundlage seiner angeblichen persönlichen Göttlichkeit verwirft Jesus den Sabbat, das heißt die äußere Gottesverehrung, sondern auf Grund des gesunden Menschenverstandes, das heißt dieses Verständnisses nämlich, welches zur Grundlage von allem geworden ist …“ (Evangelienauslegung, S. 109). Die Tischgemeinschaft Jesu mit Zöllnern und Sündern, die sich im zweiten Kapitel an die Berufung des Matthäus anschließt (Matth. 9, 9 ff.), wird mit dem Wort vom Arzt (Mark. 2, 17) begründet und dem Kommen Jesu zu den Sündern: „Ich will nicht die Rechtgläubigen [Pharisäer] überreden, sondern die Verirrten zur Besserung.“ (Die ausführlichere Textfassung entspricht dem Synodaltext.)

Jesu Gespräch mit der Samariterin (Joh. 4, 1-42) gipfelt, nachdem Jesus über die wahre „Verehrung des Vaters“ gesprochen hat, in der Selbstoffenbarung Jesu (4, 26): „Ich bin dieser [Messias], der mit dir spricht“ (Evangelienauslegung, S. 130). Die wahre Verehrung Gottes (V. 24), der hier im Text als „Geist“ bezeichnet wird (eine sehr wesentliche Stelle für TOLSTOI!), geschieht „durch den Geist“ und „in der Tat“ (analog zu Joh. 1, 14): „Jetzt ist die Zeit gekommen, nicht hier oder dort zu ehren, sondern überall …“ (Evangelienauslegung, S. 130).

Die orthodoxe Kirche überhaupt versteht sich als Kirche der rechten Anbetung. Die Berechtigung dessen wird von TOLSTOI anhand der neutestamentlichen Aussagen in Frage gestellt. In der von ihm erlebten Kirche sieht er nicht mehr die vom Evangelium her gebotene Anbetung Gottes verwirklicht. Die mit dem Glauben an Jesus verbundene kultische Verehrung ist für ihn generell eine Verirrung und Abwendung vom wahren Willen Gottes. Die Kritik an der Kirche als der der rechten Anbetung verbindet sich bei ihm darüber hinaus mit der Kritik an der rechten Lehre.

Die Auseinandersetzung um die Einhaltung des Sabbats sowie die Warnung vor Schriftgelehrten und Pharisäern und Weherufe über sie (Matth. 23, 1 ff.) belegen Jesu Abgrenzung gegen die jüdischen Gruppen. Jesus habe sich – so deutet TOLSTOI – mit den Pharisäern nicht nur deshalb auseinandergesetzt, weil sie „Heuchler“ waren – gemäß der Matthäischen Charakterisierung –, sondern weil sie für sich „das Recht zu lehren“ in Anspruch genommen hatten. Die in den synoptischen Evangelien dargestellten Auseinandersetzungen Jesu mit den verschiedenen Gruppen sowie die im Johannesevangelium generalisierte Frontstellung Jesu gegen ,die Juden‘ erfahren bei TOLSTOI eine besondere Charakterisierung: „Die Befolgung des Sabbats ist für den Juden dasselbe wie für den Klerikalen das Abendmahl. So ist derjenige kein Jude, der nicht den Sabbat hält – nicht ein Rechtgläubiger oder Katholik derjenige, der sich nicht das Abendmahl reichen läßt … Und hier sagt Jesus, daß dieser Sabbat ein Unsinn, eine menschliche Erfindung ist, weil wichtiger als äußere Heiligkeit der Mensch ist“ (Evangelienauslegung, S. 105 f.). „Jesus konnte damals nicht direkt über unsere Kirche, über Mittagsgottesdienste, Ikonen, Sakramente sprechen. Sie gab es damals nicht, aber er hat auch über sie gesprochen … Ist etwa dieser Sabbat nicht der Sonntag? Es gibt Aufwand an Kerzen, an Lohn für die Popen, die Geistlichkeit der Kirche, Sorge um äußere Gottesverehrung, welche sich klar gegen die Erfüllung der Liebestaten stellen … notwendigerweise … aus dem einfachen Grunde, weil die Taten der Gottesverehrung immer nicht auf die Menschen, sondern auf irgend etwas Totes gerichtet sind, eine Liebestat aber kann nur auf den Menschen gerichtet sein … Man darf nicht vergessen, daß die Lehre Jesu darin besteht, daß jeder Schritt des Lebens auf die Wohltaten für die Menschen gerichtet ist. Wie vermag es für die Erfüllung dieser Lehre eine nützliche Tätigkeit zu geben, die gegen die Menschen gerichtet ist?“ (Evangelienauslegung, S. 110). Die in diesen Zitaten deutlich werdende Polemik vor allem gegen die Sakramente spiegelt sich in TOLSTOIS Übersetzung der entsprechenden Begriffe wider. Ebenso merkt TOLSTOI, wenn im Text von Opfern die Rede ist, mindestens an, daß Jesus von ihnen nicht gesprochen habe.

Er entdeckt Parallelen zwischen den Pharisäern und den Vertretern der orthodoxen Kirche. Die Rechtgläubigen tun nicht nur den von Jesus verkündigten Gotteswillen nicht, sondern sie lehren ihn auch nicht. Denn sie kennen die Wahrheit nicht, „solange sie das Verständnis nicht in sich aufgenommen haben“ (zu Matth. 23, 29; Evangelienauslegung: Kap. 9, S. 638). Dieses wiederum haben sie so lange nicht aufgenommen, wie sie den Willen Gottes nicht tun, das heißt, Gott durch die Tat ehren; denn erst im Handeln erweist sich die Wahrheit der Lehre. Sie lehren demgegenüber das falsche Gesetz und damit die „äußere Gottesverehrung“. Deshalb gilt für TOLSTOI die im Johannesevangelium auf ,die Juden‘ ausgeweitete Polemik Jesu ebenso den „Rechtgläubigen“. In seinem zweiten Kapitel benutzt er darum als Übersetzung für „Pharisäer“ die Selbstbezeichnung orthodoxer Christen „Prawoslawnyje“ – Rechtgläubige (Luk. 6, 2: Evangelienauslegung S. 103; Luk. 14, 3: ebd., S. 109; Matth. 9, 11 / Mark. 2, 17: ebd., S. 112; Mark. 7, 1.5: ebd., S. 113 f.; Luk. 11, 37.39, ebd.: S. 135; Luk. 18,10 ff.: ebd., S. 137) und begründet es damit, daß die Vertreter jener jüdischen Gruppe Züge tragen, die den Angehörigen der orthodoxen Kirche nahekommen. TOLSTOI benutzt die russische Übersetzung des Attributs der Selbstbezeichnung der byzantinischen Kirche, die sich zur Unterscheidung von der lateinischen die „rechtgläubige (– orthodoxe, prawoslawnaja) allgemeine und apostolische Kirche des Ostens“ genannt hat und damit das treue Festhalten an den Ursprüngen, den Besitz der Wahrheit in Anspruch nimmt, der im Beharren bei den beiden Grunddogmen, der trinitarischen Theologie und der Christologie, seinen Ausdruck findet. Die Besonderheit der Pharisäer habe – so charakterisiert TOLSTOI zum Teil historisch zutreffend – darin bestanden, „daß sie erstens außer der Heiligen Schrift noch die mündliche Überlieferung anerkannten, die heilige Überlieferung, die bekannte äußere Zeremonien fordert, die sich für besonders wichtig hielten; zweitens legten sie die Heilige Schrift buchstäblich aus und hielten die Erfüllung von Zeremonien wichtiger als die Sache, als die Erfüllung des göttlichen Gesetzes; drittens anerkannten sie die Abhängigkeit des Menschen von Gott, welche jedoch den freien Willen nicht ganz ausschloß … (Evangelienauslegung, S. 204). In bezug auf die Anerkenntnis der Überlieferung trifft TOLSTOIS Parallelisierung zu; denn dies entspricht orthodoxem Selbstverständnis. Außerdem greift er auf die Wortbedeutung „Pharisäer“ zurück und stellt richtig fest, daß dieses Wort sowohl „Erklärer“ als auch „Abgesonderter“ heißen könne. Dies treffe auf die „Pastoren der Kirche“ genau zu, weil dies Menschen sind, „die sich für die wahren und einzigen Erklärer des Gesetzes Gottes halten. Für die Grundlage der Wahrheit ihrer Erklärung nehmen sie die Überlieferung von Jesus Christus, die auf sie gekommen ist … Sie trennen sich ab von den Ungelehrten durch Kleidung und äußerlich sichtbare Gottesfurcht“ (Evangelienauslegung, S. 643 f.). TOLSTOIS Vorwurf trifft also vor allem die Geistlichkeit in jener Zeit. Das allgemeine Bild der Russischen Orthodoxen Kirche war damals tatsächlich von einer Entfremdung zwischen den einfachen Gläubigen und der kirchlichen Hierarchie geprägt. Seit der Zeit der Kirchenreformen durch PETER I. traten die Bischöfe oder Äbte allgemein nicht als Vorbilder geistlichen Lebens, sondern Mönche und Priester hervor, die nicht unmittelbar zum regierenden Teil der Kirche gehörten. Vor allem aber erfreuten sich die Starzen großen Zulaufs, bei denen sowohl das einfache Volk als auch gläubige und nichtgläubige Vertreter des Geisteslebens Zuspruch und Rat in geistlichen oder profanen Fragen zu erhalten suchten.

Deshalb äußert sich TOLSTOI auch erstaunt darüber, daß die Entlarvung der Pharisäer durch Jesus „vor 1800 Jahren als in jedem der 1800 Jahre geschriebene erscheint und für uns, im Jahre 1879, als gerade gegen unsere Priester, Metropoliten und Popen in der gestrigen Zeitschrift, der Zensur entschlüpft, geschrieben erscheint“ (Evangelienauslegung, S. 640).

Einerseits richtet sich TOLSTOIS Kritik gegen die beamteten Vertreter der Kirche, andererseits gegen das kirchliche Leben überhaupt. Den Gottesdienst empfindet er als toten Kult und sieht ihn nicht dem orthodoxen Verständnis gemäß als Geschehen, wo sich das Durchdrungenwerden des Menschen mit dem Göttlichen realisieren kann. Da er die Vorbildfunktion Christi überbetont, steht bei ihm die Verwirklichung der Vereinigung mit Gott als Aktion des einzelnen im Vordergrund. Damit ist die Kirche insgesamt für ihn mindestens nicht alleiniger Träger der göttlichen Wahrheit und Gnade, nicht Zentrum der Erlösung und Organ des Heiligen Geistes, wodurch jedem Gläubigen die Erlösung mitgeteilt wird. Die Kirche ist also nicht heilsnotwendig. Auch außerhalb von ihr kann der Mensch gerettet werden. Gott bedarf keiner Vermittlung, sondern teilt sich dem Menschen direkt mit. Darum sind alle jene, die den Geist Gottes in sich anerkennen und dem Willen Gottes gemäß leben, Söhne Gottes. Durch sie geschieht dann auch die Verkündigung der Lehre Jesu, indem sie sie in ihrem Leben befolgen. Damit ist schon angedeutet, was TOLSTOI seiner Ablehnung der Kirche als einer wesentlich im Kult sich darstellenden Institution und Heilsmittlerin positiv entgegenstellt. Im Text Matth. 5, 35 (ihr sollt nicht schwören … weder beim Himmel … noch bei der Erde …, noch bei Jerusalem …) ändert TOLSTOI Jerusalem in „Kirche“, so daß die Aussage lautet: „… noch bei der Kirche – sie ist auch göttlich“ (Evangelienauslegung, S. 227). Damit ist zunächst Kirche nicht grundsätzlich abgelehnt. Sie wird von TOLSTOI zu Matth. 16, 16 als „Versammlung der Menschen“ bezeichnet. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß Jesu Lehre „der Liebe und der Wahrheit … unter ihnen sein wird, das heißt als Grundlage ihrer Beziehungen untereinander“ (Evangelienauslegung, S. 588, zu Matth. 18, 19 f.). Dementsprechend ist die Kirche für TOLSTOI die Gemeinde der ,Heiligen‘, aber als solche nicht institutionalisierbar und in ihrer weltumspannenden Größe im Grunde die unsichtbare Kirche. Ferner kann man den von TOLSTOI benutzten Texten entnehmen, daß es der Lehre bedarf, weshalb die ‚Versammlungen der Gläubigen‘ dazu dienen, immer wieder den Glaubensgrund und -inhalt deutlich zu machen. Die Aufgabe der Gläubigen besteht darin, durch das Wort und durch die Tat Zeugnis abzulegen. Denn durch diese Einheit kann der Glaube geweckt werden bei denen, die noch nicht zur Erkenntnis Gottes und einem ihr gemäßen Leben gelangt sind. Gottesdienst ist damit ausschließlich Dienst am Bruder. Gott wird in diesem Dienst erfahren, aber auch im Gebet, dem Vaterunser, angerufen.

Die durch Jesus geschehene Verkündigung des Heils wird TOLSTOI zum Kriterium der Kritik an der Kirche: Erstens erfüllt sie ihren Auftrag nicht, weil sie nicht die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die in ihr sichtbar gewordene Sinngebung des Lebens für den Menschen deutlich macht. Vielmehr rede sie „unverständliche Dinge“ und verführe damit die Menschen zum Unglauben oder Aberglauben. Zweitens handle die Kirche, soweit sie dennoch die Lehre Jesu und die aus ihr für den einzelnen erwachsenden Konsequenzen vermittle, selbst nicht danach und sei deshalb unglaubwürdig. Um jene Unglaubwürdigkeit zu verdecken, verfälsche sie drittens den Inhalt des Evangeliums, um so die gegen den Menschen gerichtete Politik des Staates zu rechtfertigen und dadurch ihre eigene Position zu sichern. Die Verfälschung bezieht sich vor allem auf solche kirchlichen Auslegungen, wie sie anhand der Bergpredigt deutlich geworden sind.

Da die Kirche den Glauben verwirklichen und lehren soll, fällt ihr angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit besondere Schuld zu. Deshalb kritisiert TOLSTOI die Kirche von ihrem Glaubensgrund (Jesus) her und stellt ihrer Glaubenslehre den wahren Menschen Jesus, wie er ihn dem Zeugnis im Neuen Testament entnimmt, gegenüber. TOLSTOIS Kritik steht also letztlich im Interesse an der Kirche und dem von ihr verkündigten Heilswillen Gottes, so daß er mit seinem Hinweis auf die „viva vox evangelii“ die Kirche auf die Konsequenzen ihres Verkündigungsauftrages aufmerksam machen will.

Eine ähnliche Position findet sich auch in seiner Schrift „Mein Glaube“. Hier faßt er „Christi Hauptgebote“ wie folgt zusammen: „… die Liebe zum Nächsten und die Verbreitung seiner Lehre durch das lebendige Wort. Das eine wie das andere verlangt eine fortwährende Gemeinschaft mit der Welt“3. Die Verkündigung als Aufgabe der Kirche wird unterstrichen: „Es war die Kirche, welche die vernünftige Lehre Christi in das Leben der Welt eingeführt hat. Jedes Organ der Welt wurde durch sie genährt und wuchs und gedieh.“ Wenn in seiner Zeit die Kirche „ihre Pflicht erfüllt [hat] und … abgestorben“ ist, so gilt das für jene Kirche, die die Lehre Christi nur in der Verhüllung vieler anderer Äußerlichkeiten verkündigt und darum vielen Menschen den Zugang zu deren ,Kern‘ versperrt. Denn es gilt für TOLSTOI weiterhin, daß die der Welt notwendige Nahrung – wie er obiges Bild weiterführt – „doch wieder nur bei der Mutter zu finden ist und ihnen nur in einer anderen Weise übergeben werden kann“4. Einerseits bestünde also die Aufgabe der Kirche darin, ihrer Funktion als der Verkünderin der Lehre Christi gerecht zu werden und dazu notwendig selbst umzukehren; zum anderen soll – wenn die Kirche dazu nicht imstande ist – außerhalb oder unabhängig von ihr der Inhalt des Evangeliums weitergegeben werden, und das geschieht gewissermaßen durch jeden, der der Lehre gemäß lebt. Am Ende von „Mein Glaube“ heißt es, daß die Kirche, „die aus Menschen besteht, die nicht durch Versprechungen und Salbungen, sondern durch Werke der Wahrheit und Liebe zu einem Ganzen vereinigt sind – diese Kirche immer gelebt [hat] und ewig leben wird. Diese Kirche besteht, wie früher so auch jetzt nicht aus Menschen, die da rufen: ,Herr, Herr!‘ und Gesetzlosigkeiten verrichten, sondern aus Menschen, die auf meine Worte hören und sie erfüllen (Matth. 7, 21.22). Ob es jetzt wenige, ob es viele solcher Menschen gibt, dies ist die Kirche, die durch nichts besiegt werden kann und der alle Menschen sich anschließen. Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich Gottes zu geben (Luk. 12,32)“5.

Auch in späteren Schriften tauchen kirchenkritische Gedanken auf, ebenso die von TOLSTOI beibehaltene Aufgabenstellung für die Kirche. In „Was sollen wir denn tun?“ (1882 bis 1886) spricht er von der wahren Kirche, die „so lange bestanden [hat], wie ihre Lehrer duldeten und litten, sobald sie sich aber dem Wohlleben hingaben, war es um ihr Lehramt geschehen. ,Die Popen waren von Gold und die Schüsseln von Holz; nun sind die Schüsseln von Gold und die Popen von Holz‘ … Es ist kein Zufall, daß Christus am Kreuz starb, und nicht zufällig vermag das Leidensopfer alles zu besiegen“6.

In „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (1893) steht die Kritik an der dogmatischen Entwicklung der Kirche, in der TOLSTOI an zweiter Stelle die Ursache für die Fehlentwicklung erblickt, und er kommt zu dem Schluß: „Christus hat unmöglich die Kirche begründen können, das heißt das, was wir jetzt unter diesem Wort verstehen, da etwas Derartiges …, mit Sakramenten, Priesterschaft und vor allem mit ihrer Behauptung von der Unfehlbarkeit, weder in den Worten Christi noch in den Anschauungen der Menschen jener Zeit vorhanden war“7. TOLSTOI wendet sich auch noch einmal gegen die Behauptung, es gebe eine „einige Kirche“8. Es gab immer nur „viele Vereinigungen von Menschen, die später, unterstützt von der Gewalt, zu mächtigen Einrichtungen wurden“, und sie stellten „das Haupthindernis für die Verbreitung des wahren Verständnisses der Lehre Christi“ dar9. Als Alternative steht hier: „Die Bergpredigt oder das Symbol des Glaubens!“10. Denn „ein Mensch, der an das Heil der Menschen durch den Glauben an die Erlösung oder an die Sakramente glaubt, kann nicht mehr all seine Kräfte der Erfüllung der Sittenlehre Christi im Leben widmen“11. TOLSTOI sieht die Geistlichen durch das Bekenntnis zu Christus „gebunden durch den Widerspruch, in dem sie sich befinden – dem Glauben an die Göttlichkeit des Meisters und den Nicht-Glauben an seine sonnenklaren Worte, aus dem sie sich auf irgendeine Weise herauswinden müssen, und darum waren von ihnen vorurteilslose Ansichten über den eigentümlichen Kern der Frage nicht zu erwarten: über die Umgestaltung der Lebensweise der Menschen, die aus der Anwendung der Lehre Christi auf die bestehende Ordnung sich ergibt“12.

Eine Reaktion der orthodoxen Kirche auf die vielfältigen Angriffe TOLSTOIS konnte nicht ausbleiben. Zunächst war ohnehin die Veröffentlichung der Schriften „Beichte“, „Mein Glaube“, „Kritik der dogmatischen Theologie“ sowohl von der weltlichen als auch von der geistlichen Zensur verboten. 1884 entschließt sich TOLSTOI zu einem Privatdruck der Schrift „Mein Glaube“, um – dem hohen Preis und der Anzahl von fünfzig Exemplaren entsprechend – zu zeigen, „daß das Buch nicht zum allgemeinen Gebrauch gedruckt wird, und es auf diese Weise zu retten“13. Die Reaktion der Behörden darauf ist differenziert, wie TOLSTOIS Frau in einem Brief am 29. Januar 1884 ihrem Mann mitteilt: Der Verleger WLADIMIR NIKOLAJEWITSCH „MARAKUJEF hat erzählt, daß die weltliche Zensur Dein neues Buch der geistlichen Zensur übergeben hat; daß der Archimandrit, der Vorsitzende des Zensurkomitees, das Buch gelesen und gesagt hat, daß in diesem Buch so viele hohe Wahrheiten seien, daß man sie anerkennen müsse, daß er für seine Person keinen Grund sieht, das Buch zu verbieten‘“14. Der Druck wurde dennoch hintertrieben, durch KONSTANTIN PETROWITSCH POBEJDONOSZEW (1827-1906), von 1880 bis 1905 Oberprokuror des Heiligen Synods. Entsprechende Vermutungen hatte Tolstois Frau in dem erwähnten Brief bereits geäußert: „Aber ich glaube, daß Pobejdonoszew mit seiner Taktlosigkeit und Pedanterie das Buch wieder verbieten wird.“

Als Vertreter des Zaren – des „Summus Episkopos“ der Kirche – hatte POBEJDONOSZEW die Leitung im Synod inne. Gleichzeitig war er, gewissermaßen als ,Religionsminister‘, stimmberechtigtes Mitglied im Kabinett des Zaren. Als im März 1881 ALEXANDER III. Zar wurde, der seinen ehemaligen Erzieher POBEJDONOSZEW zu seinen engsten Vertrauten zählte, steigerte sich dessen politischer Einfluß beträchtlich. Er nahm auf die russische Innenpolitik einen bestimmenden Einfluß und nutzte in diesem Sinne auch sein Amt als Oberprokuror, indem er das geistliche Leben der Russischen Orthodoxen Kirche dieser Politik unterordnete. Nach seinem politischen Programm fiel es der Kirche zu, den Glauben an die von Gott eingesetzte Obrigkeit und das Gesetz zu pflegen. Denn die höchsten Tugenden des einzelnen seien Gehorsam und Unterwürfigkeit. Weil Staat und Kirche im Wechselverhältnis stünden, wäre eine Trennung schädlich und auch unnatürlich. Denn das Wesen des russischen Menschen läge in der Besonderheit seiner Religion. Da die Russische Orthodoxe Kirche die einzig wahre Religion habe und darum die alleinseligmachende Kirche sei, verfolgte POBEJDONOSZEW eine dementsprechende Kirchenpolitik.15

Zwar war bereits vorher die Russische Orthodoxe Kirche Stütze des Zaren und seiner Regierung, doch verstand es POBEJDONOSZEW, sie vollends zum Instrument des zaristischen Absolutismus zu machen.

Der Konflikt zwischen POBEJDONOSZEW und TOLSTOI war bereits 1881 aufgebrochen. Große Teile der Öffentlichkeit hatten sich bei ALEXANDER III. dafür eingesetzt, die an dem Attentat auf seinen Vater, Zar ALEXANDER II., Beteiligten zu begnadigen und die vorgesehene Hinrichtung nicht vollstrecken zu lassen. Man wollte darin ein Zeichen liberalerer Regierungspolitik sehen. TOLSTOI schreibt am 15. März 1881 an den Zaren und übergibt den Brief POBEJDONOSZEW, mit der Bitte um Weiterleitung. Dieser aber unterläßt das nicht nur, sondern beeinflußt den Zaren dahingehend, keine Milde walten zu lassen. Zweieinhalb Monate nach vollzogener Hinrichtung erhält TOLSTOI eine Antwort von POBEJDONOSZEW: „… Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Ihren Auftrag nicht ausgeführt habe. In einer so wichtigen Sache muß alles nach dem Glauben getan werden. Aber als ich Ihren Brief durchgelesen hatte, sah ich, daß Ihr Glaube eines ist, mein und der Kirchenglaube – ein anderes und daß unser Christus nicht Ihr Christus ist. Den meinen kenne ich als einen Mann voll Kraft und Wahrheit, der die Kranken heilt, in Ihrem aber glaube ich die Züge eines Kranken zu sehen, der selbst der Heilung bedarf. Deswegen konnte ich meinem Glauben nach Ihren Auftrag nicht ausführen“16.

Um TOLSTOIS öffentliche Wirksamkeit zu unterbinden, setzt sich POBEJDONOZEW auch für ein Verbot des Dramas „Macht der Finsternis“ ein. Als er von der beabsichtigten Aufführung in kaiserlichen Theatern hörte, schreibt er am 18. Februar 1887 an den Zaren: „… schon bei der Lektüre dieses Stückes muß der gute russische Mensch sich in seiner unmittelbaren Empfindung tief verletzt fühlen – was soll nun erst bei der Aufführung werden? … Diese Darstellung stimmt übrigens mit der ganzen Tendenz der neuesten Werke Tolstojs überein: unser ganzes Volk steckt angeblich in der Finsternis, und er, Tolstoj, sei der erste, der ihm ein neues Evangelium bringt.“17 POBEJDONOSZEW erreicht ein Verbot der Aufführungen und darüber hinaus – entgegen der Ansicht des amtlichen Zensors FEOKTISTOW – auch ein Verbot des Textbuches.

Parallelen des Kampfes, den POBEJDONOSZEW gegen TOLSTOI führte, finden sich in seinem Vorgehen gegen die russischen Stundisten18. Er begründete deren Schädlichkeit wie folgt: „Die Lehre der Stundisten … droht eine gefährliche Seuche für unsere Bauernbevölkerung zu werden. Die Sache beginnt gewöhnlich mit einem Protest gegen die Kirche, wirkt sich aber in der unwissenden Masse recht bald in Form eines Protestes gegen die Obrigkeit und Staatsgesetze aus …“19

In die gleiche Richtung weist auch eine Einschätzung der Baptisten, wie sie von Seiten des Ministerkomitees am 4. Juli 1899 vorgenommen wird: Die Baptisten predigen „soziale Grundsätze, wie allgemeine Gleichheit, Teilung des Vermögens usw., so daß ihre Lehre die Wurzeln des orthodoxen Glaubens und der Nationalität untergräbt“.20

Durch die absolute Verflechtung der Russischen Orthodoxen Kirche mit dem zaristischen Staat wird Kritik an dieser gleichzeitig zu einer solchen gegenüber dem Staat. Deshalb interveniert POBEJDONOZEW 1891 erneut beim Zaren. TOLSTOI hatte anläßlich einer Hungersnot einen Aufsatz verfaßt und als rettendes Mittel für die Gesellschaft formuliert: „Reue, das heißt Änderung unserer Lebensweise, Niederreißung der Mauern zwischen uns und dem Volk, Rückgabe dessen, was dem Volk geraubt worden ist, und Verbindung, zwangsläufige Verschmelzung mit ihm durch Verzicht auf das Vorrecht der Gewalt“ (im Brief vom 23. November 1891 an ISAAK BORISSOWITSCH FEINERMANN, 1863-1925, Lehrer in Kiew und Anhänger TOLSTOIS, indirekt wiedergegeben). Der Druck dieses Aufsatzes war von der Zensur verboten. Er erscheint dann im „Daily Telegraph“, wird zurückübersetzt und in Nr. 22/1891 der „Moskowskije wedemosti“ (Moskauer Nachrichten), entstellt und mit gehässigen Kommentaren versehen, veröffentlicht, um TOLSTOI als „Staatsund Volksfeind“ zu stempeln.21 POBEJDONOSZEW schrieb seinerseits am 1. November 1891 an den Zaren: „Man darf sich ja überhaupt nicht verhehlen, daß die Erregung der Geister in den letzten Jahren unter dem Einfluß der Werke des Grafen Tolstoi stark zunahm und daß die Gefahr einer Verbreitung abstruser und naturwidriger Anschauungen über Glauben und Kirche, Regierung und Gesellschaft akut wurde: eine Richtung, die durch und durch negativ ist und nicht nur von der Kirche, sondern auch vom Volkstum abtrünnig wird. Es ist geradezu, als hätte sich ein epidemischer Wahnsinn der Geister bemächtigt.“22

Es kommt sogar so weit, daß der Innenminister beim Zaren die Verbannung TOLSTOIS in das Susdalkloster beantragt. Der Zar lehnt jedoch ab, weil er TOLSTOI nicht zum Märtyrer machen will.

TOLSTOI äußert sich im Dezember 1900 über POBEJDONOSZEW: „Von allen verbrecherischen Dingen sind die häßlichsten und empörendsten für den Geist jedes ehrlichen Menschen die Dinge, die von Eurem abscheulichen, herzlosen, gewissenlosen Berater in religiösen Angelegenheiten hervorgebracht werden – einem Verbrecher, dessen Name als der eines vornehmen Verbrechers in die Geschichte eingehen wird: Pobejdonoszew.“23

Kirchlicherseits ist ein breiteres Spektrum der Auseinandersetzung mit TOLSTOIS Anschauungen zu finden. Seit 1886 erscheinen in den „Moskauer Kirchennachrichten“ Aufsätze, die gegen seine Auffassungen polemisieren. In einem Gespräch äußert der Erzbischof von Cherson und Odessa, NIKANOR, „daß die Häresie des Grafen Tolstoj alle Grundlagen nicht nur des orthodox-christlichen Glaubens, sondern auch jeder Religion zerstört“.24

Eine intensive theologische Auseinandersetzung mit den dogmatischen und ethischen Anschauungen TOLSTOIS läßt sich bei dem seinerzeitigen Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie, Metropolit ANTONI (CHRAPOWIZKI, 1863-1936), nachweisen. Er führt diese in der von ihm 1891 gegründeten Zeitschrift der Moskauer Geistlichen Akademie, in Aufsätzen beispielsweise über den „Sittlichen Gehalt des Dogmas vom Heiligen Geist“ oder „Die sittliche Begründung des wichtigsten christlichen Dogmas“25. Ferner finden sich in seiner Knabenfibel zur Frage der Armut Ausführungen, die sich gegen jene vermeintlich von TOLSTOI an den Anfang gestellte ,Bemühung der Frömmigkeit‘ richten. ANTONI will mit seinen Ausführungen vor ,Schmarotzertum‘ warnen, welches TOLSTOIS Auffassungen zur Folge haben könnten, wofür dieser persönlich jedoch kein Beispiel gebe. Ferner wendet sich ANTONI noch gegen das für TOLSTOI allein mögliche nicht öffentliche Gebet. 1892 besucht TOLSTOI den Metropoliten: „Ohne einander das geringste Zugeständnis zu machen, bewahrten sich doch beide Männer eine gegenseitige Wertschätzung.“26

Den Lesern der „Tulaer Eparchialnachrichten“ wird empfohlen, die „Kritische Analyse der Lehre des Grafen L. N. Tolstoj über den Glauben und die Lebensregeln des Menschen“ des Oberpriesters JOHANN POSPELOW, 1898 herausgegeben, zu lesen.27

Die Anhängerschaft TOLSTOIS hatte inzwischen Dimensionen angenommen, die auf dem 3. Allrussischen Missionskongreß der Russischen Orthodoxen Kirche in Kasan, 1897, zu der Feststellung Anlaß gab, daß diese zu den „für Staat und Kirche gefährlichen Sekten“ gerechnet werden müßten. Man beschließt deshalb „den Heiligen Synod zu bitten, er wolle bei der Regierung dafür eintreten, daß das Gesetz, das er für besonders gefährliche Sekten“ gäbe, auch für die Anhänger TOLSTOIS ausgedehnt werde“.28 Versuche des Ministers für Innere Angelegenheiten sowie POBEJDONOSZEWS, die Verbannung TOLSTOIS selbst zu bewirken, waren fehlgeschlagen. Deshalb sieht sich der Heilige Synod im März 1900, als TOLSTOI schwer erkrankt, genötigt, ein Rundschreiben zu verfassen. Darin wird den Geistlichen im Falle des Ablebens TOLSTOIS untersagt, eine Totenmesse zu halten. Am 21. Februar 1901 schließlich erscheint in den „Kirchlichen Nachrichten“ ein Beschluß des Synods vom 20. bis 22. Februar 1901 als „Rundschreiben an die treuen Kinder der Orthodoxen russisch-griechischen Kirche über den Grafen L. Tolstoi“, worin sein „Abfall von der Kirche“ bekundet wird. Dies hat den Charakter einer Antwort auf die von TOLSTOI zuvor demonstrierte Lossagung von dieser Kirche. Als unmittelbarer Anlaß dafür gilt das Erscheinen des Romans „Auferstehung“. Hier hat TOLSTOI die Meßzeremonie als Farce beschrieben und außerdem – so wird angenommen – in dem unfähigen und amoralischen Toporow ein Porträt POBEJDONOSZEWS gezeichnet.

In dem Rundschreiben des Synods heißt es unter anderem: „Graf Tolstoi erhob sich im Übermut seines stolzen Verstandes gegen den Herrn und seinen Heiland und sein heiliges Gut, sagte sich offen von seiner Mutter, der orthodoxen Kirche, die ihn ernährt und auferzogen hatte, los und widmete seine literarische Tätigkeit sowie das ihm von Gott gewährte Talent zur Verbreitung von Lehren, die Christus und der Kirche zuwider sind, sowie zur Ausrottung des väterlichen Glaubens aus dem Verstand und dem Herzen des Menschen, der die Welt begründet hat, und in welchem unsere Vorfahren lebten und ihr Heil fanden, und auf welchen das heilige Rußland sich bisher stützte. In seinen Schriften und Briefen, die von ihm und seinen Jüngern allüberall in großer Zahl verbreitet werden, namentlich aber in den Grenzen des teuren Vaterlandes, predigte er mit dem Eifer eines Fanatikers den Sturz aller Dogmen der orthodoxen Kirche sowie des Wesens des christlichen Glaubens. Er verneint den persönlichen, lebendigen Gott, der in der heiligen Kirche gelobt wird, den Schöpfer und den Erhalter der Welt; er verneint den Herrn Jesus Christus, den Gottmenschen, den Erlöser der Welt, der unsertwegen gelitten hat und unseres Heils wegen aus dem Tode auferstanden ist; er leugnet die samenlose Empfängnis des Herrn Christi sowie die Jungfernschaft der heiligen Mutter Gottes Maria; er leugnet alle Sakramente der Kirche und die heilbringende Wirkung des Heiligen Geistes in demselben und verspottet das größte aller Sakramente, die heilige Eucharistie. Das alles predigt Graf Leo Tolstoi unaufhörlich, durch Wort und Schrift, zur Verführung und zum Schrecken der ganzen orthodoxen Welt, so daß er sich dadurch offen vor der ganzen Welt bewußt und absichtlich von jeglicher Gemeinschaft mit der orthodoxen Kirche losgesagt hat. Die zu seiner Bekehrung gemachten Versuche sind von keinem Erfolg gekrönt worden. Die Kirche hält ihn darum nicht für ihr Mitglied und kann ihn als solches nicht betrachten, solange er nicht Buße thut und seine Gemeinschaft mit derselben nicht wieder herstellen wird …“29

Ehe noch TOLSTOI auf diese Erklärung antwortet, wendet sich seine Frau an den Oberprokuror und die Metropoliten: „… vom Gesichtspunkte der Kirche aber, zu welcher ich gehöre und von welcher ich mich niemals lossagen werde, die von Christus zur Segnung im Namen Gottes aller bedeutendsten Momente des Lebens … geschaffen worden ist …, die das Gesetz der Liebe, der Vergebung, der Liebe zu den Feinden, zu unseren Hassern laut verkünden und für alle beten muß – von diesem Gesichtspunkt ist für mich die Verfügung des Synods unbegreiflich.“ Aus ihren weiteren Worten wird deutlich, daß auch sie das Ansinnen TOLSTOIS verstanden hat: „… Die Schuld an dem sündigen Abfall von der Kirche haben eben nicht die Verirrten, die nach einer neuen Wahrheit suchen, sondern diejenigen, welche sich stolz an der Spitze der Kirche dünken und anstatt Liebe, Demut und Allvergebung auszuteilen, die geistigen Henker derjenigen geworden sind, denen Gott ihr demütiges, auf die irdischen Güter verzichtendes Leben, das voll Liebe und Menschenhilfe ist, wenn es auch außerhalb der Kirche steht, eher vergeben wird, als denjenigen, die Brillantenmützen und Sterne tragen, aber strafen und exkommunizieren, – den Kirchenhirten …“30

Nachdem TOLSTOI dann zahlreiche Zuschriften erhalten hatte, äußerte er sich selbst am 4. April 1901 zum Beschluß des Synods. Diese Antwort wurde zusammen mit drei weiteren Gegenantworten in der „Missionsrundschau“ veröffentlicht. In seiner Antwort bestätigt TOLSTOI die Loslösung von der Kirche und begründet sie gleichzeitig: „Doch habe ich mich nicht deswegen von ihr losgesagt, weil ich mich wider den Herrn erhob, sondern weil ich ihm mit allen Kräften meiner Seele dienen wollte …“31. Ferner faßt er noch einmal den Inhalt seines Glaubensbekenntnisses zusammen: „…Ich glaube an Gott, den ich als Geist, als Liebe, als Beginn von allem verstehe. Ich glaube, daß er in mir ist und ich in ihm. Ich glaube, daß Gottes Wille seinen klarsten und verständlichsten Ausdruck in der Lehre des Menschen Christus gefunden hat, den als Gott aufzufassen und