An jedem einzelnen Tag - Mary Scherpe - E-Book

An jedem einzelnen Tag E-Book

Mary Scherpe

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Beschreibung

Mary Scherpe wird verfolgt, von einem Stalker, der versucht, in ihr Leben einzudringen und sie kaputtzumachen: dauernd SMS, Anrufe, Post- und Paketsendungen. Und viel schlimmer, er betreibt online Rufmord und verleumdet sie bei Geschäftspartnern und Freunden. Sie will das nicht kampflos hinnehmen, zeigt ihn an, informiert sich, will sich wehren. Doch so einfach ist es nicht, die Polizei ist machtlos, die üblichen Ratschläge helfen nicht, denn der Stalker sitzt am Ende immer am längeren Hebel. Aber entgegen der üblichen Tipps findet sie einen Weg, dem Stalker Widerstand zu leisten: Sie veröffentlicht seine Attacken und plötzlich erhält der Stalker viel mehr Aufmerksamkeit, als ihm Recht ist.

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Seitenzahl: 286

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Inhalt

Über die AutorinTitelImpressumWidmungMottoDu brauchst keine Angst zu habenEverything is awesomeAnonymDu kennst mich nichtAloha, schon mal über Absaugen nachgedacht?Langweiliger MistOb du das eigentlich alles liest?Ich wünsche Dir noch einen schönen Abend!Du hast mein Leben kaputt gemacht Was fällt dir ein, mich anzuzeigen?Du wolltest es dochDas Ergebnis der ErmittlungenDankPetition

Über die Autorin

Mary Scherpe, geboren 1982, studierte Kunstgeschichte und Japanologie in Berlin und Karlsruhe. Im März 2006 eröffnete sie das erste Modeblog in Deutschland: Stil in Berlin. Mary Scherpe bloggt hauptberuflich und kooperiert dafür mit verschiedenen Firmen. Daneben fotografiert sie für Vogue Deutschland und arbeitet als Beraterin für Blogs und Social Media.

Mary Scherpe

AN JEDEM EINZELNEN TAG

Mein Leben mit einem Stalker

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Alle Ereignisse, die ich schildere, sind so passiert. Die Zitate sind original und haben deswegen zuweilen Fehler. Ich habe jedoch Personen- und Ortsnamen, die in Zusammenhang mit dem Stalker stehen, geändert und einige Situationsbeschreibungen und Zeitangaben vage gelassen, um die wahren Identitäten der genannten Personen zu verbergen.

Originalausgabe

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Einband-/Umschlagmotiv: © Till Janz Photography

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8387-5851-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für H. B.

»… and the only solution was to stand and fight …«

Etwas hektisch suche ich in meinen Schubladen nach einem Klebeband, möglichst undurchsichtig. Zwischen alten Batterien, unbenutzten USB-Sticks und jeder Menge anderem Kram finde ich eine Rolle opakblaues Klebeband. Ich schneide ein quadratisches Stück ab und drücke es auf die obere Kante meines Laptops.

»Wieso hast du denn deine Kamera zugeklebt?«, fragt mich ein Freund später, als wir zu dritt in meiner kleinen Küche sitzen und uns den Abend mit 90er-Jahre-Musikvideos auf YouTube vertreiben, die wir auf meinem Computer schauen. Das große, blaue Klebeband dort, wo eigentlich die Kamera ist, ist kaum zu übersehen.

»Aus Paranoia«, antworte ich und hoffe, es klingt eher ironisch als ernst.

Du brauchst keine Angst zu haben. Es werden bevorzugt attraktive Frauen beobachtet.

Diese Zeilen bekomme ich Wochen danach mit einer Artikelempfehlung per Mail geschickt, angeblich im Namen einer meiner engsten Freundinnen. Die E-Mail verweist auf einen Text mit dem Titel: »How Women Can Stop Webcam Hackers.«

Meine Kamera ist da längst überklebt. Was ich meinen Freunden gegenüber noch lustig herunterzuspielen versuchte, muss mir der Stalker gar nicht androhen. Ich bin selbst darauf gekommen. Und ihm zuvorgekommen.

Vielleicht ist es eine leere Drohung. Vielleicht werde ich aber auch seit Wochen beobachtet, wie ich am Wochenende im Schlafanzug auf dem Bett sitze, Müsli esse und Seinfeld schaue. Oder wie ich im Büro Mails schreibe. Vielleicht überwacht er mich bis heute, sieht mir zu, wie ich diesen Text tippe.

Und ich schreibe dennoch.

Es ist nun nicht gerade so, dass ich mich erinnere, wo ich war, oder was ich gemacht oder gedacht habe, als ich das erste Mal etwas vom Stalker mitbekam. Geschweige denn, dass ich ihn direkt »Stalker« genannt hätte. Es war irgendwann Mitte Juni2012, als ich auf einen Instagram-Account stieß, der mir irgendwie seltsam vorkam. Ich selbst hatte zu dem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr ein Konto bei diesem Social-Media-Dienst. Die Bilder, die ich dort hochlud, waren meist triviale Schnappschüsse aus meinem Leben – mein erstes Foto war zum Beispiel das von zwei Kühen auf der Weide, denen ich in meinem Heimatdorf begegnet bin. Ansonsten sammelte ich hauptsächlich blühende Bäume, Bücher, die ich auf dem Flohmarkt fand, oder Berliner Sonnenuntergänge. Ich nutzte Instagram im Prinzip täglich, und deswegen fiel mir schnell dieses Konto mit dem Namen stillinberlin auf. Neben dem Titel mit dem einen »l« zu viel stand außerdem Maria Scherge – eine klare Anspielung auf meinen Namen. Hochgeladen wurden auf das Konto bisher ein Foto von Brathühnchen und eines von Josef Ackermann, der die Hand zum Peace-Zeichen hebt und grinst.

Welcher Kommentar unter den Bildern stand, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich, dass ich schnell verstand, dass jedes Foto im Prinzip eine Antwort auf eines meiner Instagram-Fotos war. Das Brathühnchen war wohl eine Anspielung auf den Salat, den ich kurz davor zum Mittagessen hatte. Ich hatte wie so oft ein Foto davon auf Instagram gestellt. Aber was konnte man an einem banalen Bild von Gurken und Tomaten schon finden, um darauf mit Brathähnchen zu antworten? Überhaupt, wieso würde sich jemand die Mühe machen, ein Konto zu eröffnen, das mich nachahmte? Irgendjemand wollte sich wohl einen Scherz erlauben. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich mit seltsamen Reaktionen auf mich oder meinen Blog im Internet konfrontiert wurde – ich bloggte zu diesem Zeitpunkt seit sechs Jahren und wusste, welche Merkwürdigkeiten das Internet hervorbringen kann. Aber ich erinnere mich bis heute, dass mir dieser Fall sofort merkwürdig vorkam. Dass jemand ein Konto »in meinem Namen« eröffnete, bereitete mir ein schlechtes Bauchgefühl. Allerdings wusste ich weder wie noch ob ich überhaupt darauf reagieren sollte. Schließlich gab es keine Informationen zum Urheber. Wichtig schien mir daher, es erst einmal nicht überzubewerten, im Zweifel würde sich das schnell wieder geben.

Das Konto mit dem Namen Maria Scherge hatte zu dem Zeitpunkt allerdings schon 120 andere Instagram-Nutzer abonniert und konnte elf Abonnenten für sich gewinnen. Ein paar Tage später waren es schon 34 Bilder, die auf dem Konto zu finden waren, außerdem wurde es von Maria Scherge in Marianne von Schelpe umbenannt. Als Profilbild sah ich dort das Porträt einer Frau mit orangefarbener Plastiktüte über dem Kopf. Das verstand ich sofort – es war eine fiese Anspielung auf mein eigenes Profilbild, ein Foto von mir mit einem geblümten Tuch um Kopf und Gesicht, das ich mal für eine Ausstellung über Selbstporträts gemacht hatte. Damals war ich einfach mit keinem Foto, das ich von mir machte, zufrieden. Deswegen band ich mir schließlich das Tuch um den Kopf. Eine Plastiktüte war jedoch etwas ganz anderes.

»Das ist doch irgendein Spinner mit viel zu viel Zeit, dem wird das schnell wieder langweilig«, versuchte mich eine Freundin zu beruhigen. »Gib dich nicht mit so was ab, dazu ist doch deine Zeit viel zu schade.« Ja, sie hatte Recht. Und trotzdem musste ich immer wieder schauen, was auf dem Konto passierte. Auch weil mich schon Bekannte und Freunde darauf ansprachen. Marianne von Schelpe hatte mittlerweile die Konten von 537 anderen Instagram-Nutzern abonniert, darunter viele meiner eigenen Kontakte. Die meisten von ihnen bekamen es nicht mit oder ignorierten es. Manche dachten, es sei einfach ein Spaßkonto, das ich mir selbst eingerichtet hatte. Anderen wiederum kam es komisch vor, und sie meldeten sich bei mir. Mich beunruhigte das Ganze zunehmend, und ich wollte nicht, dass die Sache größer wurde.

Deshalb wandte ich mich an Instagram, um die Löschung des Kontos zu erwirken. Allerdings hatte ich wenig Hoffnung. Instagram war im Sommer 2012 zwar wahnsinnig erfolgreich und deswegen gerade von Facebook gekauft worden, allerdings arbeiteten an dem Dienst zu dieser Zeit nur knapp zwanzig Leute irgendwo in Silicon Valley in Kalifornien. Auf der Webseite riet man mir unter dem Punkt »Erfahre, wie du auf Missbrauch reagieren kannst«, dass ich zunächst einmal »Instagram verstehen« sollte, denn »viele Menschen nutzen Instagram auf sehr spezielle Weise, die andere verwirren kann, wenn sie etwas losgelöst vom Kontext betrachten«. Schließlich gäbe es die ein oder andere »Besonderheit« bei der »Kommunikation im Internet«. Am Ende hieß es dort, man solle das störende Konto »blockieren und ignorieren«. Denn oftmals verschwände das Interesse, wenn es keine Reaktion gibt. Ich kenne diesen Rat, er gehört zum Einmaleins der Kommunikation im Internet, und ich folge ihm oft. Als die ersten böswilligen Kommentare auf meinem Blog Stil in Berlin auftauchten, begann ich diese zu moderieren und alles zu löschen, was nur der Beleidigung wegen geschrieben wurde. Zu den Grundregeln gehört auch, dem Absender nicht zu antworten oder gar mit ihm zu verhandeln. Das entspricht dem Satz »Don’t feed the trolls« – gib denen, die dich ärgern wollen, kein Futter und sie werden verhungern –, den man online ständig liest, wenn es um solche Probleme geht. Ich weiß, dass das in vielen Fällen funktioniert, oft verlieren jene, die lediglich auf Schikane aus sind, die Lust, wenn man ihnen keine Plattform bietet. Aber hier ging es nicht nur darum, mich persönlich zu ärgern. Den Täter als »Troll«, der mich lediglich ein bisschen nerven wollte, abzutun unterschätzte seine Absichten. Marianne von Schelpe wollte, dass alle diese Angriffe sahen. Derjenige, der hinter dem Konto steckte, sorgte mit dem Abonnieren vieler anderer Nutzer dafür, dass immer mehr auf die Bilder aufmerksam wurden.

Der Hilfebereich bei Instagram schlug mir vor, das Konto zu melden, wenn es sich um »wiederholten und exzessiven Missbrauch« handele und dieser »auch nach Durchführung aller präventiven Maßnahmen weiterhin« bestünde. Ich tat dies mehrmals, füllte das vorgegebene Formular auf der Website auf Englisch aus, gab alle Informationen an, die ich hatte, und klickte auf »Send«. Wohin das Formular auch gesandt wurde, von dort kam nichts zurück. Ob es überhaupt jemand in Empfang nahm, es las und sich mit dem Problem auseinandersetzte, abwägte, ob es sich wirklich um einen Missbrauch handelte oder nicht, wusste ich nicht. Aber da keine Antwort kam, schien es nicht der richtige Weg zu sein, um bei Instagram jemanden auf mein Problem aufmerksam zu machen. Während ich mich durchaus fragte, ob ich bereits ein richtiges Problem hätte. War es schon Missbrauch, wenn jemand das Bild eines Mannes mit Laubsauger hochlud und in der Bildunterschrift auf meinen Blog-Artikel über die Berliner Urban-Gardening-Initiative »Prinzessinnengarten« verwies? Wenn also jemand anonym und sarkastisch über meinen Blog herzog? Oder musste ich das akzeptieren?

Was mich jedoch richtig nervte, war weniger der Inhalt, als die Tatsache, dass viele Leute dachten, das sei mein eigener Account, auf dem ich mich gewissermaßen über mich selbst und meinen Blog lustig machte. Mittlerweile hatte das Konto von stillinberlin einige Anhänger – über siebzig hatten nicht nur das Konto gesehen, sondern entschieden, dessen Fotos zu abonnieren. Fanden die vielleicht das Bild der Frau mit der Plastiktüte über dem Kopf witzig? Was für ein eigenartiger Humor war das?

Über Google fand ich endlich eine E-Mail-Adresse von Instagram und schickte dahin eine Schilderung meines Problems. Außerdem kontaktierte ich einen Bekannten bei Facebook mit der Bitte, mir einen Rat zu geben. Am 29. Juni, zwei Wochen später, wurde der Account endlich auf Betreiben meines Bekannten hin gelöscht.

Ich verstand natürlich die Bredouille, in welcher die Teams hinter den populären sozialen Netzwerken steckten. Sie hatten eine technisch einfache Möglichkeit geschaffen, im Netz zu kommunizieren, und wurden schnell so populär, dass Millionen Menschen den Dienst nutzen wollten – gleichzeitig war das Team nicht dafür ausgerüstet, diese Kommunikation vor Missbrauch zu schützen. Es ging ja erst einmal um den Spaß am Austausch. Schnell aber stand die schiere Menge an Nutzern einer Kontrolle der verbreiteten Inhalte entgegen – im April 2012 gab es dreißig Millionen Konten auf Instagram –, heute nutzen den Dienst monatlich über hundertfünfzig Millionen Menschen. Wie groß muss ein Team sein, das zeitnah und sensibel die hier entstehenden Probleme analysiert und klärt? Und auf welcher Rechtsgrundlage wird das geregelt? Der amerikanischen, weil dort der Sitz des Unternehmens ist, oder der deutschen, weil die Bilder von hier gesendet werden? (Eine Antwort auf meine E-Mail an Instagram erhielt ich übrigens nie. Heute funktioniert die Adresse nicht mehr.)

Jedenfalls war das Konto von stillinberlin auf Instagram nun gelöscht. Damit war das Problem allerdings nicht erledigt – ich fand quasi sofort Konten mit demselben Namen und dem Plastiktütenprofilbild auf anderen Diensten. Zum Beispiel bei dem Ortsmeldungsdienst Foursquare, bei dem man sich an dem Ort, an dem man sich aufhielt, virtuell anmelden, Fotos und Tipps hinterlassen konnte. Ich benutzte Foursquare dafür, Restaurants und Läden, die ich irgendwann mal besuchen wollte, in einer To-do-Liste zu speichern, und um zu sehen, was andere darüber sagten. Das Konto mit dem Namen stillinberlin loggte sich aber nun regelmäßig als Gast in meinem Büro in Berlin-Mitte ein, für das ich aus Spaß ebenso einen Foursquare-Ortseintrag angelegt hatte. Als ich das sah, lief es mir kalt den Rücken runter. Die Person stand (noch) nicht neben mir und war vielleicht nicht mal im selben Haus, aber allein die virtuelle Anwesenheit machte mir Sorgen. Hinter all diesen Aktionen steckte jemand, der in meiner Nähe war und wollte, dass ich das wusste. Von da an war jedes Mal, wenn ich im Büro war, stillinberlin da. Die Foursquare-Anmeldung an einem Ort kann zwar unproblematisch aus fünf oder zehn Kilometern Entfernung vorgenommen werden, aber dennoch gruselte es mich. Ging es hier wirklich nur um einen lapidaren Scherz?

Als kurz darauf dieser Jemand mein Klingelschild am Büro fotografierte und es bei Foursquare online stellte, war ich wirklich alarmiert. Das war vermutlich das erste Mal, dass ich mich wirklich verfolgt fühlte und das, was da passierte, mit Stalking in Verbindung brachte. Ich speicherte das Foto, schickte es einem Freund und fügte hinzu »ein Berliner Stalker …«.

Nun schrieb ich also Foursquare an, um mitzuteilen, dass es ein Konto gab, das mich nachahmte. Die Antwort kam sofort – der Name des Kontos wurde von stillinberlin zu berlin geändert, mehr könne man nicht tun, ich solle mich aber melden, sobald es eskalierte. Das Konto wurde daraufhin vom Eigentümer gelöscht.

Aber auch jetzt endete es nicht – denn neben dem Foursquare-Konto gab es ein stillinberlin-Konto bei Twitter, einem Service, über den Nutzer kurze, bis zu 140 Zeichen lange Textnachrichten, Tweets, verbreiten können. Auch hier kann man andere Konten abonnieren, deren Tweets in einer chronologischen Liste erscheinen, die man favorisieren, wiederholen (retweeten) und auf die man öffentlich oder privat antworten kann. Ich selbst hatte zwei Konten, eins mit dem Namen stilinberlin für alle Belange des Blogs und eines in meinem Namen, auf dem ich andere Themen diskutierte, hin und wieder Trivialeres teilte oder Artikel, die ich gelesen hatte, empfahl.

Am 25. Juni kurz nach 18 Uhr abends, wenige Stunden nachdem das Instagram-Konto gelöscht wurde, meldete sich das Twitter-Konto stillinberlin_, mit dem Namen Marianne von Schelpe und dem Profilbild der Frau mit der orangefarbenen Plastiktüte über dem Kopf. Das war nun der dritte Social-Media-Dienst, den Marianne benutzte. Und natürlich war wieder kein Urheber auszumachen. Dass es wenig Sinn hatte, Twitter um die Herausgabe der Informationen über den Ursprung des Kontos zu bitten, wusste ich. Solche Informationen hielten die Anbieter in der Regel geheim, wenn keine offizielle Anfrage der Polizei kam.

Mir wurde langsam klar, wie machtlos ich in der Abwehr war – sobald ich geschafft hatte, eines der Konten löschen zu lassen, tauchten neue auf. Ich ahnte, dass es egal war, wo ich Marianne stoppte, es würde genügend Orte geben, an denen »sie« wieder auftauchen konnte.

Ich machte einen Screenshot von dem ersten Tweet: Everything is awesome. Ich fand es jedoch überhaupt nicht awesome, ich fand es furchtbar. Wie viele Konten sollte es noch geben? Wie lange würde dieser »Spaß« dauern?

In den nächsten Tagen ging es weiter. Als Reaktion auf die Löschung des Instagram-Kontos schrieb Marianne von Schelpe erst: We’ll be back soon! Und später: Wir geben niemals auf.

Das war eine Kampfansage. Dementsprechend schrieb »sie« weiter:

Glossybox mit Ostprodukten eingetroffen. Hoffentlich hilft das gegen meine unreine Haut.

Heute sind wir auf dem Weg zum Gehirn. Mal sehen, ob wir etwas finden.

Heute hänge ich Fotos auf eine Wäscheleine und fahre Kraftrad.

Ich schickte diese Nachrichten an Twitter und bat, das Konto zu löschen. Nachdem ich zunächst einen Scan meines Ausweises einschicken musste, um meine Identität zu beweisen, erhielt ich prompt die Absage, denn die Tweets von Marianne von Schelpe verstießen nicht gegen die Twitter-Regeln. Ich sollte mehr Belege für die bösen Absichten des Täters einreichen.

Bis ich denjenigen, der das tat, ernsthaft »Stalker« nannte oder bis ich überhaupt begriff, dass ich gestalkt wurde, dauerte es eine Zeit. Mit dem Begriff hatte ich bislang Klischeebilder verbunden, sei es der Superstar, der in seiner Garderobe Briefe von irren Fans bekommt (wie im Film Bodyguard mit Whitney Houston), oder die sich ängstlich umschauende Frau, die in einer dunklen Gasse verfolgt wird. Mein Problem schien sich bisher ja lediglich auf Konten bei Social-Media-Seiten, die sich über mich lustig machten, zu beschränken. Fiel das unter Stalking oder war das hier ein ganz anderer Straftatbestand? Etwa Beleidigung oder üble Nachrede? Ich war ratlos.

Wer auch immer hinter all den Konten steckte, betrieb seine Arbeit – und ich muss es in Anbetracht der Zeit und Mittel, die er bereits investierte, Arbeit nennen – gewissenhaft. Er verfolgte alle Spuren von mir im Netz und reagierte auf jeden neuen Eintrag. Wenn ich einen längeren Artikel publizierte, schrieb derjenige: Heute gibt’s in meinem Blog zur Abwechslung mal interessante Hintergrundberichte. It’s awesome.

Wenn ich gerade nichts in meinem Blog veröffentlichte, twitterte das Konto: Wir ruhen uns heute etwas aus? (Oder hat die Praktikantin etwas geschrieben?)

Aber das war doch nur kurze, dumme Häme, die lediglich online stattfand. Ich müsste einfach nicht hinschauen, Twitter nicht benutzen, oder den Rechner ganz auslassen. Es könnte so einfach sein.

Einfach ist das aber nur für denjenigen, der auf einem Unterschied zwischen der On- und der Offline-Welt besteht und der Meinung ist, diese ließen sich problemlos trennen. Für mich ist »das Netz« aber kein separater Raum, sondern Teil meines Lebens. Hier halte ich genauso Kontakt mit Freunden, die nicht in meiner Nähe wohnen, wie mit denen, die um die Ecke sind – nehme teil an ihren Gedanken und Erfahrungen, lese Nachrichten und Gossip, erfahre von Veranstaltungen und so weiter. Und nicht zuletzt verdiene ich im Internet mein Geld, denn seit über acht Jahren blogge ich auf www.stilinberlin.de, das ist mein Beruf.

2006 fing ich zusammen mit einem Freund an, Menschen auf der Straße, die uns auffielen, zu fotografieren und diese Bilder auf den Blog zu stellen. Später kamen Porträts von Menschen zu Hause dazu, dann Berichte über Modegeschäfte, Restaurants und Galerien. Heute geht es auf meinem Blog meistens darum, wo man den besten Kaffee in Berlin trinkt, welche interessanten Ausstellungen zu sehen sind oder wo man das leckerste Brot kaufen kann. Mittlerweile ist der Blog in Berlin recht bekannt und wird von bis zu 6000 Menschen täglich besucht. Die Inhalte findet man aber nicht nur auf unserer eigenen Webseite, sondern auch auf Social-Media-Diensten wie Facebook, Twitter, Instagram, Foursquare und Tumblr; über 70 000 folgen allein der Facebook-Seite Stil in Berlin. Das ist meine Arbeit – ich verdiene seit 2009 damit meinen Unterhalt, und seit ich 2011 mein Studium in Kunstgeschichte und Japanologie abgeschlossen habe, arbeite ich Vollzeit an dem Blog. Er finanziert sich und alle, die daran arbeiten, aus auf dem Blog geschalteten Werbeanzeigen; als Fotografin und Journalistin arbeite ich außerdem hauptsächlich für Online-Publikationen.

Die Option, mich aus dem Netz zurückzuziehen, Social-Media-Dienste nicht mehr zu nutzen und keine Informationen mehr online zu stellen, besteht für mich einfach nicht, weder beruflich noch privat. Denn das hieße, einen großen und bedeutenden Teil meines Lebens aufzugeben.

Das »virtuelle Leben« ist für mich und viele meiner Freunde und Bekannten untrennbar mit dem »realen Leben« verbunden. Das Internet ist für uns keine Parallelwelt, die man je nach Bedarf an- und abschalten kann, oder ein notwendiges Übel, dem man auf keinen Fall mehr Raum geben sollte als unbedingt notwendig.

Die Zweifel gegenüber dem Netz und seinen Gefahren sind groß und meine eigene Geschichte dient nicht gerade dazu, diese abzubauen. Vielleicht scheine ich zu wenig skeptisch oder naiv angesichts dessen, was mir passiert ist. Aber ich weigere mich, dem Internet die Schuld zu geben – schuld ist allein der Täter. Gäbe es das Internet nicht, würde er mich über andere Wege schikanieren. Da bin ich mir sehr sicher. Und ob er mich online oder offline verfolgt, macht für mich kaum einen Unterschied.

Teresa Buecker brachte es auf den Punkt, als sie im Oktober 2011 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel mit dem Titel »Das Ende des Internets« schrieb:

»Es ist lange überfällig, den Unterschied zwischen dem Leben im Netz und dem Leben im Hier und Jetzt aufzugeben. Das Internet gibt es nicht. Das Netz ist an dieser Stelle zu Ende, es hat sich als Ort aufgelöst, es ist überall dabei, auf Schritt und Tritt. Es gibt kein echtes Leben, kein Real Life und kein virtuelles. Jeder Mensch hat nur ein Einziges davon.«

Doch die Überlegungen, ob sich die Belästigungen ignorieren ließen, wenn ich mich vom Internet fernhielte, wurden – leider – ebenso schnell unnötig. Schon Ende Juni bekam ich die ersten Anrufe von anonymen Nummern auf mein Handy. Wenn ich ranging, hörte ich am anderen Ende nichts: weder jemanden atmen noch irgendwelche Umgebungsgeräusche. Es war einfach still, und irgendwann wurde aufgelegt. Angerufen wurde ich entweder frühmorgens oder spätnachts, erst halb zwölf, dann zwei, dann drei Uhr nachts und dann wieder halb sieben, viertel vor und noch einmal Punkt sieben Uhr morgens. Schnell hörte ich auf, mich zu melden, starrte nur ungläubig auf mein Handy, das nicht aufhörte zu klingeln. Manchmal ging ich doch ran, aber ohne »Hallo« zu sagen, und lauschte einfach zurück. Konnte er mich atmen hören? Oder gar mein Herz, das mir dabei oft bis zum Hals schlug?

Wer rief mich da an, fragte ich mich. Ich ahnte, dass die Anrufe vom gleichen Urheber kamen wie die Konten auf den Social-Media-Seiten. Aber wer steckte hinter all diesen Übergriffen?

Mitte Juli, knapp einen Monat nachdem ich das erste Instagram-Konto entdeckt hatte, fand ich Informationsmaterial zu Brustvergrößerungen von Kliniken in Deutschland und Polen im Postkasten meines Büros. Ich rief bei den Kliniken an um zu fragen, wie sie an meine Adresse gekommen sind – jemand hatte meinen Namen und meine Daten in ein Formular auf deren Website eingegeben, aus einer vorgegebenen Liste »Brustvergrößerung« ausgewählt und die Informationen für mich bestellt. Ich war sprachlos.

Trotz beleidigenden Nachrichten auf Twitter wie: Wer ist denn die Frau mit dem pelzigen Gesicht und der großen Nase oder Bin unterbelichtet. (But it’s awesome of course.), hoffte ich immer noch, dass sich da jemand einen kurzweiligen, bald endenden Scherz erlaubt hatte. Als ich die Post von den Kliniken in der Hand hielt, wurde mir klar, dass das Anliegen hinter diesen ganzen Aktionen ein schlechteres sein musste. Ich wusste sofort, dass es dieselbe Person sein musste, die hinter den Twitter- und Instagram-Konten steckte und mich nachts anonym anrief. Das war kein blöder Streich mehr. Dieser Jemand meinte mich ganz persönlich und wollte mich so oft wie möglich und auf so vielen Wegen wie möglich daran erinnern, dass es ihn gab und er mir übel mitspielen würde. Aber wer konnte das sein? Wer könnte so eine Wut auf mich haben? Ich zerbrach mir den Kopf, zwar hatte ich eine Ahnung, aber ich traute ihr nicht – obwohl die Hinweise auf eine bestimmte Person da waren. Zugegeben hielt ich eben diesen Menschen nach allem, was ich mit ihm erlebt hatte, für reichlich sozial gestört, aber wäre er wirklich dazu fähig?

Es war längst keine vorübergehende Blödelei mehr, hier stalkte mich jemand. Ich wusste, dass ich etwas tun musste, denn bei den jeweiligen Internet-Diensten fand ich keine Hilfe. Könnte ich Anzeige erstatten? Aber gegen wen oder was? Oder war das vielleicht zu voreilig? War das eventuell zu aggressiv? Ich hatte keine Ahnung von den Abläufen bei der Polizei und der rechtlichen Regelung; trat ich mit einer Anzeige vielleicht eine Lawine los? Gab es bei der Polizei vielleicht ein Team von verbeamteten Hackern, die mit IP-Tracing und sonstigen technisch hoch entwickelten Methoden nächtelang ermittelten, um den Täter zu finden? War das deren Aufgabe? Waren die dafür ausgerüstet? Immerhin befanden wir uns im Jahr2012, nicht 1999.

Ich googelte Stalking und fand die Internetwache, eine Website, auf der man eine Anzeige online erstatten kann. Ich dachte, auf diesem Weg einen Beamten mit Internet-Know-how zu erreichen. Außerdem waren mir Twitter-Nachrichten wie: Wenn ich auch nur so schöne Beine hätte wie die Augustin Teboul-Models. Das wäre awesome, und Informationsmaterialien zu Brustvergrößerungen durchaus unangenehm, deshalb wollte ich es vermeiden, männlichen Polizeibeamten auf der Wache davon zu erzählen.

Das Formular zur »Anzeige einer vermuteten Straftat« füllte ich gewissenhaft aus, beschrieb die Gründe, trug in dem Feld »Wo es passierte« aber lediglich die Webadresse des Twitter-Profils von Marianne von Schelpe ein und klickte auf »Senden«. Ich schickte weder Screenshots noch sonstige Beweise oder Erklärungen mit, ich glaubte, das Formular erreichte bei der Internetwache jemanden, der wüsste, was ich mit Instagram, Foursquare und Twitter meinte.

Nach dem Absenden des Formulars geschah zunächst nichts. Also wirklich nichts: Ich wurde nicht angerufen, es kam keine schriftliche Vorladung für eine Aussage, ich erhielt auch keine Eingangsbestätigung oder ein Aktenzeichen. Ich erhielt aber neue Postsendungen, die in meinem Namen bestellt wurden, und neue Nachrichten über Twitter: Das wird wieder anstrengend. Wer trägt mir in den nächsten Tagen meine Goodybags?

Ich ging dazu über, die Tweets an Twitter zu schicken, meldete das Konto mehrmals wegen Beleidigung. Aber meine Beschwerden wurden wiederholt mit dem Verweis abgewiesen, dass Marianne von Schelpes Tweets nicht gegen die Regeln verstoßen würden. Was für Regeln sollten das sein, wenn sie solche Aktivitäten nicht verboten? Ich las nach, verboten waren auf Twitter Identitätsbetrug, die Verwendung von fremden Markenzeichen und Urheberrechtsverletzungen. Das war es. Alles andere, Drohungen und offensive Beleidigungen waren also erlaubt? Ich konnte das kaum glauben, aber so waren die Twitter-Regeln im Sommer 2012.

Als ich nach sieben Tagen immer noch nichts auf meine Anzeige hin gehört hatte, ging ich doch direkt zur Wache. In meiner Mittagspause betrat ich das Gebäude, das ich bisher nur von einem banalen Taschendiebstahl kannte. Ich erzählte den anwesenden Polizisten mit klopfendem Herzen, dass mich jemand stalkte, dass ich online Anzeige erstattet, aber nichts gehört hatte. Ich sagte ihnen, dass ich immer noch Post bekam und es bei Twitter weiterging, dass Twitter selbst nichts dagegen tat, und fragte, was ich denn jetzt machen sollte. Auch erzählte ich, dass der Stalker meine Klingel fotografiert und das Foto ins Netz gestellt hat, um mich wissen zu lassen, dass er in meiner Nähe war. Die Polizisten auf der Wache, allesamt Männer, schauten mich betroffen an. Vielleicht verwechselte ich das jedoch lediglich mit Ratlosigkeit. Einer von ihnen ergriff das Wort und riet mir, beim Zivilgericht eine Gewaltschutz-Anordnung zu beantragen, damit sich der Stalker mir nicht mehr nähern oder mit mir in Kontakt treten dürfe. Aber ich könne ja nicht beweisen, wer der Täter sei, der agiere ja anonym, entgegnete ich. Ja, in dem Fall könne man mir im Moment nicht helfen. Der Polizist zuckte mit den Schultern, als er das sagte. Aber vielleicht habe ich das alles nur falsch in Erinnerung. Die Anzeige würde mit Sicherheit bearbeitet werden, sagte er mir. Das könne aber dauern. Denn die Internetwache war gar keine spezielle Abteilung der Polizei, sondern lediglich eine Art virtueller Briefkasten. Alle Anzeigen, die über das Formular eingingen, wurden an die jeweilige, nach Postleitzahl des Meldeortes des Geschädigten zuständige Wache weitergeleitet, dort ausgedruckt und nach Standardregeln bearbeitet. Bei meiner Anzeige trug der zugewiesene Polizist später unter »Örtlichkeit des Geschehens« – Internet – ein, das lief unter »sonstige Räumlichkeit«.

Angespannt verließ ich die Wache. Ich hatte mich nicht getraut, von meiner Vermutung, wer der Täter war, zu erzählen, denn ich konnte sie schließlich nicht beweisen. Ich wollte niemandem zu Unrecht die Polizei auf den Hals hetzen. Und sollten sie mir nicht einen Rat geben, egal ob ich ahnte, wer der Täter war?

Was hatte ich denn erwartet? Dass die Beamten alarmiert in ihre Autos springen, zum Büro von Twitter-Deutschland rasen und die Einstellung des Kontos verlangen? Dass sie Zivilstreifen schicken, um mein Büro zu bewachen, bis der Stalker wieder mein Klingelschild fotografiert?

Ehrlich gesagt hatte ich gar nichts erwartet, mir war in dem Moment nur keine andere Lösung eingefallen, als direkt in der Wache um Hilfe zu bitten. Seit dem Foto mit der Klingel rechnete ich jeden Moment damit, Fotos zu bekommen, die der Stalker unbemerkt von mir gemacht hatte. Zwar hatte ich bisher keine Drohungen erhalten, aber ich fühlte mich verfolgt und wurde permanent belästigt und gedemütigt.

Irgendwie konnte ich den Polizisten aber auch keinen Vorwurf machen, schließlich handelten sie nach Vorschrift oder wussten es nicht besser. Vielleicht war so ein Fall bisher einfach nicht aufgetaucht, und deshalb wusste niemand, wie damit umzugehen war. Und es gab mit Sicherheit hunderte viel dringendere Fälle in Berlin, sagte ich mir. Dass sie Twitter vielleicht gar nicht kannten oder das Gefühl einer Bedrohung im Falle von »Internetkram«, wie sie es vielleicht nannten, gar nicht nachvollziehen konnten, lag ja nicht an ihnen, sondern an der weit verbreiteten Auffassung, dass alles, was im Internet passiere, irgendwie virtuell und nicht real sei.

Egal aus welchen Gründen; das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, war schlimm. Ich kam mir vor, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, denn schließlich hatte ich all meinen Mut zusammengenommen, um zur Wache zu gehen und dort mein Problem zu schildern. Ich ahnte ja, dass man mich und mein »Internet-Problem« bei der Polizei kaum ernst nehmen würde. Mein eigentlich so lächerliches »Internet-Problem«. Ich war mir in keiner Weise sicher, dass ich das Recht hatte, eine Anzeige zu erstatten, und mein Besuch auf der Wache hatte diese Zweifel nicht gerade zerstreut. Zwar fühlte ich mich belästigt und verfolgt, aber meine Freunde rieten mir weiterhin, es zu ignorieren. Selbst ich zweifelte an der Schwere meines Problems, ich wollte ja nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen. Bei meinen Recherchen zum Thema Stalking las ich von weitaus schlimmeren Fällen, bei denen Frauen und Männer über Jahre in ihren Häusern und Wohnungen belästigt und tätlich angegriffen wurden. Was waren dagegen ein paar Nachrichten über Twitter, nächtliche Anrufe und unerwünschte Post?

Ich war ziemlich hilflos.

Wieso war ich nicht in der Lage, einfach über die Post und die Nachrichten hinwegzusehen? Warum musste ich wieder und wieder auf das Twitter-Konto von Marianne von Schelpe schauen? Musste Tweets lesen wie Mein Vater war ein Panzerfahrer. Oder Ob es wohl jemandem auffällt, wenn ich heute noch schlechtere Fotos poste als sonst?

Es zu ignorieren war leichter gesagt als getan, aber es war die einzige Lösung, die mir und anderen einfiel. Keiner schien zu wissen, wie man mit so einem Problem eigentlich umgeht. Die Artikel, die ich im Netz dazu fand, rieten, zur Polizei zu gehen, die Telefonnummer zu wechseln und keine Informationen im Netz zu veröffentlichen. Außerdem las ich, dass Freunde beginnen sollten, die Taten des Stalkers zu dokumentieren, damit ich der Belastung entging. Mir wurde geraten, mein Leben so weit wie möglich umzuorganisieren, mich unsichtbar zu machen und dann noch meine Freunde zu nerven, von denen mir viele doch die ganze Zeit sagten, ich solle es einfach ignorieren. Ich habe mich nie getraut, irgendeinen von ihnen um die Dokumentation zu bitten. Und auch die anderen Ratschläge schienen mir schwer umsetzbar. Nicht nur waren sie furchtbar unpraktisch, aufwendig und für mich unmöglich anwendbar, da ich mit dem Netz mein Geld verdiente; ich sah gar nicht ein, meinen Alltag dem Stalking anzupassen. Ich sollte mein Leben ändern, weil mich jemand attackierte? War es nicht das, was der Täter erreichen wollte? Wollte er nicht gerade, dass ich mich einschränkte, dass ich weniger sichtbar wurde und mir von ihm mein Leben diktieren ließ?

Schließlich schrieb Marianne mir ja laufend, wie schlecht meine Veröffentlichung seien: Wenn ich englisch schreibe, fällt den meisten Lesern gar nicht auf, dass ich so schlecht schreibe. #stilinberlin. Wenn ich jetzt aufhörte zu bloggen, zu twittern oder auf Instagram aktiv zu sein, hatte »sie« dann nicht wenigstens ein Ziel erreicht?

Vielleicht sollte ich einfach allen davon erzählen? Ich fragte zwei Freunde, was sie davon hielten, auf Facebook öffentlich zu machen, dass es jemanden gab, der mich auf Twitter »parodierte«. Dass ich nichts damit zu tun hatte und es auch nicht lustig fand. Meine Freundin riet mir dazu, denn es sei absolut gerechtfertigt, darauf aufmerksam zu machen, anstatt es herunterzuschlucken. Mein Freund riet mir davon ab: »Wenn du das veröffentlichst, sehen noch viel mehr, was er schreibt. Du weißt doch, wie die Leute sind, die lesen sich dann das alles durch.« Tweets wie: Schnee rieselt aus der Nase auf den Boden unter meinen Füßen würde jeder mitbekommen. Ich stimmte ihm zu, schließlich wollte ich diese Diffamierungen nicht noch weiter verbreiten.

Ich musste es aber nicht mal öffentlich machen, damit immer mehr diese Beleidigungen sahen. Der Stalker folgte mit seinem Twitter-Account stillinberlin_ mit der Frau mit Plastiktüte über dem Kopf zahllosen Nutzern, antwortete anderen in meinem Namen oder retweetete, wiederholte Twitter-Nachrichten meiner Kontakte.

Anfang Juli 2012 begann die Berlin Fashion Week, auf der ich regelmäßig beruflich unterwegs war. Marianne von Schelpe nutzte diese Gelegenheit zu einem ersten großen Auftritt. Am 4. Juli schickte »sie« allein 13 Nachrichten über Twitter, darunter Implikationen, ich würde mir Kokain direkt ins Fashion-Week- Zelt liefern lassen, oder: Wie schafft Ihr es eigentlich immer bei den Shows in der ersten Reihe zu sitzen? (Das wäre so awesome.) Oder: Der ganze Champagner lässt mich die Siegessäule schief fotografieren. Trotzdem ein tolles Bild, sagen die Fans. Ich bin awesome!

In allen Nachrichten stand das offizielle Hashtag der Berliner Modewoche: #mbfwb. Ein Hashtag ist ein Wort oder eine Wortgruppe mit einem vorangestellten Doppelkreuz, es dient als Schlagwort, mit dem alle mit diesem Hashtag versehenen Beiträge gesondert angezeigt werden können. Klickt man also bei Twitter das Hashtag der Berliner Fashion Week, #mbfwb, sieht man alle Tweets, in denen dieser vorkommt.

Auch die des Stalkers: Zum Start in den Tag empfehle ich eine Bio-Currywurst. Bin dafür ganz zum KaDeWe gefahren. Hat sich gelohnt. War awesome. Darauf antwortete das Twitter-Konto einer anderen Modeseite: Ah! Zum Frühstück gibt es ja nix besseres, als ne Biocurrywurst … Dachten sie jetzt wirklich, ich hätte den Tweet über die Currywurst geschrieben? Wie viele waren noch auf Marianne von Schelpe reingefallen? Redete man bereits darüber? Zerriss man sich schon das Maul über mich und dieses merkwürdige Twitter-Konto?

Ständig kam in den Tweets das Wort awesome vor und ich hatte keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich wollte der Stalker mir damit einfach eine Art oberflächliche Dummheit unterstellen, mich als jemanden beschreiben, der alles und jeden awesome – fantastisch – fand.

Inzwischen hatte ich Kontakt mit einer Frau aufgenommen, die bei dem deutschen Büro von Twitter arbeitete, und die meine Beschwerden zusätzlich an den Support in den USA, den Hauptsitz der Firma, schickte. Aber ich erhielt nur Absagen. Unter dem Pseudonym Wannanosaurus schrieb mir ein Mitarbeiter von Twitter wiederholt, dass es sich bei dem stillinberlin_-Konto nicht um eine Regelverletzung handelte. Sollte ich jedoch Beweise dafür finden, dass der Benutzer meine reale Identität annehmen wolle, sollte ich mich mit eben diesen melden.

Es muss Anfang Juli gewesen sein, als ich Zeugin eines absurden Dialogs wurde zwischen Marianne von Schelpe und einem Bekannten von mir, dem das Twitter-Konto aufgefallen war. Er richtete seinen Tweet direkt an stillinberlin_ und schrieb: Schau mal einer an, wie viele (Pseudo)Stil-in-Berlin Accounts es gibt. Interessanterweise gab es eine Antwort: