An seinem Platz sein - Claire Marin - E-Book

An seinem Platz sein E-Book

Claire Marin

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Beschreibung

Welche Position habe ich – in der Gesellschaft, in der Familie, in meinem Umfeld? Diese Frage hat sich wohl jeder Mensch schon einmal gestellt. Und weiter: Welcher Raum steht mir zu, welche Grenzen darf ich überschreiten, welche neuen Welten erobern? Und möchte ich das überhaupt? Claire Marin, Shootingstar der französischen Philosophie, ergründet zwischenmenschliche und gesellschaftliche Beziehungen mit Blick auf konkrete Körper in konkreten Räumen – und gelangt dabei immer wieder zu verblüffenden Einsichten. Insbesondere Geschlechterrollen und die Klassenfrage erscheinen dabei in einem neuen Licht. Claire Marins poetisches Buch ist Philosophie im besten Sinne, denn die Autorin findet noch in den kleinsten Details des Alltags Antworten auf die großen Fragen des Lebens. »Ein philosophisch-literarischer Spaziergang, der begeistert. Es gelingt der Autorin, unsere Gewissheiten in Bezug auf alle aktuellen gesellschaftlichen Kontroversen zu erschüttern.« ELLE

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Seitenzahl: 248

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Claire Marin

An seinem Platz sein

Wie wir unser Leben und unseren Körper bewohnen

Aus dem Französischen übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Reclam

Titel der französischen Originalausgabe: Être à sa place

 

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © shutterstock.com

 

Être à sa place © Editions de L’Observatoire / Humensis, 2022

 

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962119-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011438-4

www.reclam.de

Inhalt

Ein eigener Platz?

Ein Platz an der Sonne

»Ein jedes Ding an seinen Platz«

Aussteigen

Nicht an seinem Platz bleiben können

Wurzeln schlagen

Sich kleinmachen

Die Herausforderung im Raum

Königinnen ohne Königreich

Meine Stimme finden

Die Dreisten

Die Logik des Durchbruchs

Es bleibt unruhig

Der »wahre Ort«

Die Misstöne des Begehrens

Abdriften und ausschweifen

Doppelleben

Einen Platz in mir bereiten

Der Raum im Inneren

Seinen Körper bewohnen

Hier

Familienquartett

Den Ast absägen

Reise nach Jerusalem

Die fehlenden Plätze

Sich einen Platz ersinnen

Geister

Die Vertriebenen

Billige Plätze

Zufällig da sein

Zugvögel

Vertraute Klänge

Nachdenken über Fortbewegung

Brauchen wir einen Platz?

Am Rande

»Ich wünschte, es gäbe stabile, unbewegliche, unantastbare, unberührte und fast unberührbare, unveränderliche, verwurzelte Orte; Orte, die Bezugspunkte, Ausgangspunkte, Quellen wären.«

Georges Perec, Träume von Räumen [Espèces d’espaces]

Ein eigener Platz?

»Nostalgischer (und falscher) Gegensatz

Entweder Sie schlagen Wurzeln, finden Ihre Wurzeln wieder oder passen sie an, entreißen dem Raum den Ort, der Ihrer sein wird, […] eignen sich Millimeter um Millimeter Ihr ›zu Hause‹ an […].

Oder Sie tragen nur Ihre Kleidung auf dem Leib, behalten nichts, leben in Hotels, die Sie häufig wechseln, ebenso wie die Städte und die Länder […]; Sie fühlen sich nirgends zu Hause, aber doch fast überall.«

Georges Perec, Träume von Räumen [Espèces d’espaces]

Man könnte meinen, die Welt würde sich in Verwurzelte und Nomaden aufteilen, und es gäbe zwei Arten von Menschen: die Erdverbundenen und die, die sich vom Wind treiben lassen. Einige wären nur an dem Platz glücklich, den sie bewohnen, so als wären sie aus diesem Boden gemacht, aus diesem Stoff geformt. Andere würden lediglich die Gipfel streifen, wären Wesen, die nur vorbeiziehen und vorüberfliegen, ohne jemals wirklich an einem Ort oder in einer Beziehung verankert zu sein. Doch das ist nichts als ein »nostalgischer (und falscher) Gegensatz«, warnt uns Georges Perec. Wir befinden uns irgendwo dazwischen, sind als Wesen immer in Bewegung, wie schon Montaigne glaubte, selbst wenn diese Bewegung unauffällig, unsichtbar, tief in den Herzen, in den versteckten Winkeln der Gedanken verborgen bleibt. Wir stehen niemals still, selbst wenn wir uns auf unseren Reisen manchmal nicht von der Stelle bewegen und die Ferne in unserem Inneren liegt.

Es handelt sich um einen falschen Gegensatz, weil das Leben stets eine Durchreise mit emotionalen, sozialen, geographischen oder politischen Etappen ist. Wir befinden uns in Wirklichkeit nie genau am selben Platz, und wir laufen über Treibsand: »Das Leben ist unruhig, der Boden bebt unter unseren Schritten.«1 Wir segeln von einem Heimathafen zum nächsten, machen uns los, wechseln die Flagge, entscheiden uns für einen Kurs, doch die Strömungen treiben uns hin und her, die Winde lenken uns ab, wir scheitern auf terra incognita, auf unbekanntem Land. Wer weiß, was wir jeweils bei diesem Abdriften und Kentern entdecken, auch in uns selbst?

 

Warum dieses Buch? Weil es passieren kann, dass wir plötzlich von einem Platz fortgerissen werden, von dem wir glaubten, wir hätten ihn bewusst und mit Freude gewählt. Dieser Platz schien uns sicher, wir hatten ihn uns doch verdient – nicht ohne eine gewisse Blindheit für den Anteil des Zufalls, der uns dorthin verschlagen hatte. Wenn ich durch ein Ereignis oder eine Katastrophe erschüttert werde und dadurch meinen angestammten Platz verliere, erkenne ich womöglich, wie sehr ich dort eingeschränkt und gefangen war. Paradoxerweise setzt dieser erzwungene Ortswechsel mehr frei, als er mir nimmt. Wir sind vielleicht gar nicht immer in der besten Position, um sagen zu können, wo wir hingehören.

 

Manchmal akzeptieren wir Plätze, die uns mehr einschränken, als wir meinen, die uns zu eng sind, weil wir glauben, dass sie für uns bestimmt sind. Mit welchen Gründen, nach welcher Logik, reden wir uns am Ende selbst ein, dass uns ein offensichtlich zu kleiner Platz trotz allem angemessen ist?

 

Zweifelsohne liegt es an der Kraft jener nostalgischen Sehnsucht nach einem eigenen Platz. Diese Vorstellung beruht auf einer Idealisierung von Orten, die zu unseren Ursprüngen zurückführen, also von Orten, die wir eher aus Träumen als aus der Erinnerung kennen. Sie lässt uns glauben, dass es so etwas wie einen Platz gibt, an den wir ›hingehören‹, einen Platz, der zu uns passt, an dem wir uns einfügen wie das fehlende Puzzlestück, um ein beliebtes Bild von Perec aufzugreifen. Bei der Suche nach dem richtigen Platz geht es um die Frage nach unserer Einzigartigkeit, aber auch darum, wie wir uns in eine Gesellschaft, eine Familie oder Gruppe einfügen, der wir angehören oder gern angehören würden. Weil wir befürchten, unseren Platz zu verlieren, ersetzt zu werden, geben wir uns mit Räumen für unsere Gefühle oder Beziehungen zufrieden, die uns eher schaden als guttun. Man stellt sich seinen Platz wie eine sichere Bank vor, und er entspricht ja zweifelsohne einem gewissen Bedürfnis nach Ordnung, nach genauer Bestimmung und Abgrenzung.

 

Doch die Hierarchie der Plätze ist auch eine Hackordnung. Die Brutalität, mit der uns ein Rang zugewiesen werden kann, erklärt unsere Fluchten, Aufbrüche und Ausstiege. Bestimmte Plätze sind objektiv oder subjektiv unbewohnbar, gar unerträglich.2 Wir können dort nicht mehr atmen. Wir fliehen, um uns zu retten oder um zu einer dynamischen Selbstentfaltung zurückzufinden. Manchmal handelt es sich nur um ein einfaches Unbehagen, das Gefühl, fehl am Platz zu sein, dort nicht ›hinzugehören‹. Wir sind der Misston in der Melodie, der Sand im Getriebe, der Eindringling. Unsere Bemerkungen oder unsere Reaktionen werden als ›deplatziert‹ empfunden. Dieser unangenehme Eindruck, abzuweichen, anders zu sein als die anderen, nährt die Lust auf einen anderen Platz, die Träume von anderen möglichen Orten, an denen wir heimisch werden und uns behaupten können. Er weckt das Verlangen nach den Lebensformen und Identitäten, die damit verbunden sind.

 

Wenn »leben bedeutet, von einem Raum zum nächsten zu wechseln und zu versuchen, sich dabei möglichst nirgends zu stoßen«3, ist der Schock bisweilen hart. Reale oder unsichtbare Hürden türmen sich auf meinem Weg auf, Mauern umzingeln mich, halten mich eher gefangen, als mich zu beschützen. Man muss die Lücken finden, sich einschleichen, sich einen Weg bahnen; der Einbruch geschieht unauffällig, ich benutze die Hintertür, um mir meinen Platz zu erobern. Individuen entfalten sich, indem sie sich fortbewegen und damit zugleich über sich hinauswachsen. Doch unsichtbare Strukturen und Markierungen stellen sich in den Weg: color lines4, gläserne Decken, Wagenburgmentalitäten.5 Man möchte sich selbst freien Lauf lassen und stößt gegen verschlossene Türen. Die Räume sind dicht, abgeschottet, und man gelangt nicht von einem Raum zum nächsten, indem man sich bloß treiben lässt und dem Strom folgt. Man muss sich Zugang verschaffen, Wände und Mauern einreißen. Oder, vorsichtiger, die geheimen Zauberwörter erlernen, die Codes entschlüsseln, sich in die Sprache einweihen lassen.

»Wir schützen uns, wir verbarrikadieren uns. Die Türen halten uns auf und trennen uns. […] Wir können nicht von einem zum anderen gehen: […] Wir brauchen ein Kennwort, müssen die Schwelle überschreiten, müssen uns gebührend ausweisen, müssen kommunizieren, wie der Gefangene mit der Außenwelt kommuniziert.«6

Der Platzwechsel ist eine Befreiung. Es geht darum, sich materieller wie psychologischer Hypotheken und Fesseln zu entledigen. Sich von einem Platz zu lösen, der uns lange bestimmt hat, um Anspruch auf eine andere Identität zu erheben, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, die Person zu verraten, die wir einmal waren oder zu der uns die anderen machen wollten. Es steckt immer eine Form der Gewalt und des Losreißens, und sei sie nur symbolisch, in diesen Platzwechseln, für die wir uns entscheiden oder zu denen wir gezwungen sind. Doch zweifelsohne liegt darin zugleich auch eine Aufregung angesichts der Befreiung, eine Freude an dem dadurch hervorgerufenen Durcheinander, eine Begeisterung, mit der wir andere Plätze ausprobieren.

 

Vielleicht bereitet das Abdriften sogar Vergnügen. Einige lassen sich nur zu gern vom Kurs abbringen, gehen jedes Wagnis ein, befreien sich aus einer geschlossenen, abgegrenzten Welt, brechen aus ihren Begrenzungen aus und suchen das Offene. Wir wissen nicht immer, wohin wir wollen. Kein Ziel zu haben, stellt vielleicht die erste Form der Befreiung dar. Das soziale Spielfeld verlassen, das Unbestimmte wagen. Seinen Platz verlassen, ohne irgendeinen anderen anzusteuern:

»Es war nötig, sich von dem bequemen Urzustand zu lösen, in dem man sich befand und auf den man sich stützte, und seine großartigen Orte aufzugeben, die das Unbegrenzte, Unendliche jenseits der Schutzwälle hielten.«7

Vielleicht geben uns solche Nomaden oder Vagabunden schlicht zu verstehen, dass man niemals irgendwo ankommt. Alle Plätze sind vorläufig und unablässig einer großen Umwälzung unterworfen, die Karten werden ständig neu verteilt. Vielleicht befinden wir uns in Wirklichkeit immer nur irgendwo dazwischen, zwischen zwei Welten, zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Arten, wir selbst zu sein. Wir müssen akzeptieren, dass am Platz Unruhe herrscht, sei sie nun sozialer, politischer oder emotionaler Natur. Wir sind eher ständig unterwegs, als einen angestammten Platz zu besitzen. Einige halten dieses Fehlen, dieses Dazwischen für ein prekäres Gleichgewicht, einen wunden Punkt. Doch ist es nicht gerade die Stärke der Aussteiger, dass sie sich nie genau verorten lassen, dass sie zwischen den Sprachen, Kulturen und Lebensweisen lavieren? Ist es nicht dieses Schwanken, diese Flexibilität, diese Fähigkeit, anders zu sein, die unsere wahre Freiheit ausmacht?

 

Manchmal wissen wir nichts von den inneren Stürmen, die in einem Menschen toben, davon, wie eine heimliche Leidenschaft oder Wut ihn aus dem Lot bringt, ihn um- und antreibt. Wir wissen nichts von seinen Erschütterungen, seinem Bedürfnis, anderswo oder jemand anderes zu sein. Das Abdriften der Gefühle, die Verwirrung und das geheime Schwanken, das Durcheinander oder das existentielle Beben, das das Begehren hervorruft, zeugen allesamt davon, dass sich das Individuum unmöglich fixieren lässt. Die Gegenwart der anderen erschüttert uns, stört uns und bringt uns unablässig aus dem Gleichgewicht. Wenn wir von intensiver Leidenschaft erfasst werden und ihr erliegen, geht damit stets die Gefahr von Verlust und Zerstörung einher. Das ist das Risiko, das Wagnis und manchmal auch das uneingestandene Ziel der inneren Bewegungen: nichts zu behalten von dem, was vorher war, alles zu verdrängen oder in diesem emotionalen Strudel, der uns fortreißt, zu versinken. Das ist der Preis für die innere Dynamik.

 

Einige suchen einen Zufluchtsort vor diesem Übermaß, diesen geheimen Erschütterungen und Schockwellen, die uns mitzureißen drohen. Wir errichten unsererseits Barrikaden um uns herum. Wir haben uns für den Ort erwärmen können, an dem wir uns befinden. Wir haben uns mit ihm angefreundet und uns an ihn angepasst. Wir haben uns an das statische Leben, die Unbeweglichkeit gewöhnt. Unser Leben ist eingefroren, und dabei glauben wir, es sei stabil. Es ist unbeweglich, während wir uns für seine Stetigkeit beglückwünschen.

»Wir hätten uns angewöhnen sollen, uns frei zu bewegen, ohne dass es uns Überwindung kostet. Doch wir haben es nicht getan: Wir sind dort geblieben, wo wir waren; die Dinge sind so geblieben, wie sie waren. […] Wir begannen zu glauben, dass es uns dort, wo wir waren, gutginge.«8

Wir haben vergessen, wie man in Bewegung ist, sagt uns Perec. Wir haben uns niedergelassen und uns in der Ruhe, der Vertrautheit eingerichtet. Wir haben die Unruhe gegen diese träge Sicherheit getauscht. Doch selbst wenn wir zweifelsohne die Augen davor verschließen, wie prekär unser Gleichgewicht in Wirklichkeit ist, haben wir nichtsdestoweniger den starken Wunsch, einen Heimathafen zu finden oder wiederzufinden. »Wo soll man sein Haupt betten?«, fragt Michaux.9 In dem düsteren Gedicht mit diesem Titel bleibt nur der Himmel; die Erde ist verwüstet. Wir suchen trotz allem einen Platz in uns selbst, indem wir unseren bisweilen verlassenen Körper bewohnen oder indem wir ihn jemand anderem als Zuflucht, als Kokon anbieten. Selbst zu einem Zuhause werden, zu einem Obdach, einer Heimstatt, einem sicheren Ort. Den anderen aufnehmen und sich um ihn kümmern kann eine andere Art sein, Platz für jemanden zu schaffen.

 

Das Spiel um die jeweiligen Positionen der einzelnen Akteure innerhalb der wechselnden Konstellationen emotionaler, freundschaftlicher oder familiärer Beziehungen verändert sich immer wieder neu, wie es den – erfreulichen oder traurigen – Ereignissen, den Zusammensetzungen oder Neuzusammensetzungen, den Abhängigkeitsverhältnissen oder Distanzierungen entspricht. Einige Plätze bleiben frei und lassen Raum für die Erinnerung. Andere fehlen, man wird versuchen, sie anders zu besetzen, später und auf eine neue Weise. Die Frage nach unserem Platz ist auch die nach Vergeltung, nach Wiedergutmachung oder Versöhnung. Sei es mit den anderen, mit sich selbst oder mit einer lückenhaften Geschichte, deren Leerstellen uns schmerzen. Wir füllen diese Leerräume nicht immer aus, doch wir schreiben uns an den Rand. Was an die Seite geschrieben wird, parallel zum Haupttext, ist ein Raum, in dem wir uns persönlich den Sinn noch einmal neu aneignen, in dem wir nachdenken und uns von Autoritäten distanzieren können. An den Rand schreiben bedeutet, meiner Stimme Gehör zu verschaffen, jener Stimme, die zuerst als Marginalie erkennbar wird, doch die eines Tages durchaus das Herzstück des Textes bilden könnte.

Ein Platz an der Sonne

Ich betrachte die Eidechse. Sie kehrt immer an diesen Ort zurück, den wir uns teilen. Wie ich lässt sie sich auf den weißen Steinen nieder, die sich um die Mittagszeit in der Sonne aufheizen. Sie ist völlig regungslos. Wir lassen uns beide von der Wärme einhüllen. Sie und ich, wir beide sonnen uns. Wir machen nichts, außer das warme Licht zu genießen, sogar mit geschlossenen Augen. Wir begnügen uns damit, da zu sein. Und während ich diese Augenblicke wie Zwischenspiele erlebe, ist die Eidechse dabei vollkommen sie selbst, in reiner Selbstübereinstimmung. Die Eidechse sonnt sich.10 Wer sonst kann in so vollkommener Weise mit sich selbst identisch sein und diese einfache Übereinstimmung mit sich selbst erleben? Ist es ein Privileg des Tieres oder zeigt es eher die ›Begrenztheit‹ seiner Existenz? In einem Text mit dem wenig einladenden Titel Die Grundbegriffe der Metaphysik11 machte sich schon Heidegger Gedanken über die Eidechse und lehnte diese Parallele ab: Nein, die Eidechse wärmt sich nicht auf dieselbe Weise in der Sonne wie wir. Wir können uns an einem Sonnenstrahl erfreuen oder uns Fragen über Astrophysik stellen. Die Eidechse dagegen bezieht sich nur auf eine einzige Weise auf die Sonne, von der sie gleichsam gefangen ist. Das Tier ist ihm zufolge »weltarm«: Es ist eingesperrt in seiner Umwelt »wie in einem Rohr, das sich nicht erweitert und verengt«.12 An seinem Platz sein würde somit in einem einfachen Leben in gewisser Weise bedeuten, sich mit einer eingeschränkten Welt, einem beschränkten Dasein zu begnügen und gezwungen zu sein, sich mittels eines begrenzten Repertoires an Gesten, Verhaltensweisen und Handlungen auf die Welt zu beziehen. Das utopische Bild eines Lebens, das man mit Sonnenbaden verbringt, bekommt damit merkliche Risse. Man kann wie einige Philosophen der Ansicht sein, dass das Glück des Menschen genau darin besteht, dass er keine vorherbestimmte Welt besitzt, sondern seine gewohnte Umwelt überschreiten und andere Milieus kennenlernen kann. Unser Platz an der Sonne ist immer nur von kurzer Dauer, ihr Schatten wandert im Laufe des Tages weiter, und der Mensch wird, im Gegensatz zu den meisten Tieren, stets von anderen Sonnen angelockt. Vielleicht sind wir eher wandernde als festverwurzelte Wesen.

 

Dieser Platz an der Sonne, auf der Terrasse, ist zweifellos einer meiner Lieblingsplätze. Doch in jenem Augenblick bin ich wie aufgehoben, dieser Ort sagt nichts sehr Spezifisches über mich aus, nichts darüber, was mich einzigartig macht und mich von den anderen unterscheidet. Es handelt sich um einen dieser Räume, von denen ich nicht erwarte, dass sie mir Wurzeln geben, sondern dass sie mich befreien, dass sie mich einen Moment lang von mir selbst lösen und aus dem Fluss der erwarteten Gedanken und Handlungen herausziehen. Es ist ein Ort der Aufhebung, eine Oase des Rückzugs, einer der Orte, an denen ich mich verliere, an denen ich mit der Umgebung verschmelze.

Müssen wir auf Orte, auf Räume im ganz konkreten Sinne setzen (das Zimmer, das Haus, die eigenen vier Wände, den Wald, die Natur), um zu einer inneren Einheit zu gelangen, um uns zu sammeln? Einige Orte stellen wir uns als »Plätze« vor, so als wären sie mit einer nahezu ontologischen Art von Macht ausgestattet: der Macht, unsere Mitte wiederzufinden, uns gegenüber uns selbst zu offenbaren. Liegt es daran, dass sie wie eine »übergeordnete Schutzzone«13 und Festung fungieren, die uns vor der Außenwelt beschützt und eine gewisse Unverstelltheit erlaubt? Oder daran, dass sie uns in eine Geschichte, eine Abfolge einschreiben, die an diesen Orten greifbar und konkret wird? In diesem Sinne bietet das Nachdenken über Räume weit mehr als nur einfache ästhetische oder pragmatische Betrachtungen: Die Beziehung zum Raum ist auch eine philosophische Frage nach Identität. Räume aufzubauen oder zugrunde zu richten bedeutet, persönliche Entwicklungen zu ermöglichen oder zu verhindern, die zugleich existentielle Lebensentwürfe darstellen. In der Tat gibt es keine unschuldigen Orte: Durch die Interaktionen, die sie ermöglichen oder blockieren, halten sie mich entweder an dem Ort fest, den ich bewohne, oder zeigen mir jene Plätze, die ich besetzen könnte.

Wir leben nicht in neutralen und leeren Räumen, auf großen unbeschriebenen Seiten, auf denen wir alles Mögliche festhalten könnten. Der Raum schränkt uns ein, er begrenzt uns und beeinflusst uns, je nachdem, wie er sich selbst bewegt, sich wandelt und uns ins Wanken bringt, durch seine Atmosphäre, seine Färbung, seine Ordnung oder sein Chaos. Er stört uns oder regt uns an, weist uns einen Platz zu oder vertreibt uns. Der Ort, an dem wir uns befinden, ist nicht bedeutungslos, sondern er beeinflusst uns, hinterlässt feine Spuren in uns. Der Geschmack der Erde, die Kraft der Winde, die glühende Sonne: Die Energie oder die Last der Dinge, die uns umgeben, befeuern oder dämpfen unseren Elan. Jeder muss seinen eigenen Platz in der unterschwelligen Aufteilung der Räume, in den territorialen Logiken finden, die zugleich Zugehörigkeiten spiegeln. Der Raum bietet uns Verstecke, Fluchtwege, Zufluchtsorte, genauso wie er uns grausam bloßstellen, uns einengen oder verurteilen kann. Der eigene Platz ist tatsächlich mehr als ein Ort, er ist die Lücke, die ich schaffe, um mich dort hineinzubegeben, der Winkel, der der meine wird.

Jeder sucht sein Zuhause, diesen Ort, an dem man sich ohne nachzudenken mit geschlossenen Augen bewegt. Unser Körper kennt den Weg. Wir schalten nachts kein Licht ein. Vielleicht denken wir in dieser etwas kindlichen Art an unseren eigenen Platz: an einen Ort, der uns Geborgenheit gibt, an dem wir uns selbst im Dunkeln nicht stoßen, ein vertrauter Ort, der unseren Schlaf und unsere Geheimnisse hütet. Wir suchen diesen nahezu mütterlichen Ort, der uns umhüllt und vereint:

»Das Zuhause verdrängt die Kontingenzen im Leben des Menschen und verstärkt seine Bedachtheit auf Kontinuität. Ohne ein Zuhause wäre der Mensch haltlos zerstreut.«14

 

Die Frage nach dem Ort ist erneut zentral, seit wir Hausarrest und Ausgangssperren erlebt haben. Kaum glaubt der Mensch, dank der Technik wieder so frei wie ein Nomade zu sein, träumt er auch schon wieder von einem Häuschen, einem Zuhause, von gemütlichen Orten, einem tröstlichen Heim, in dem man auch auf andere Weise leben kann. Wir haben mit Orten, Plätzen und Räumen noch nicht abgeschlossen. Wir suchen ein Zuhause, eine ›Residenz‹. Doch wie uns die Etymologie ins Gedächtnis ruft, bedeutet ›residieren‹ zuerst einmal, eine Bewegung zu beenden. Residere bedeutet im Lateinischen, sich zu setzen und die Anstrengung der Bewegung oder des Stehens zu beenden. Es bedeutet, anzuhalten, uns niederzulassen, unsere Wanderungen und Reisen zu beenden und damit aufzuhören, in Bewegung zu sein. Doch es bedeutet außerdem, zu sinken, von einem höheren auf ein niedrigeres Niveau zu wechseln, sich zu setzen, sich niederzulassen. In der lateinischen Sprache wird das Verb residere unter anderem dazu verwendet, die Absenkung von Bergen, die zur Ruhe kommende See, schwächer werdende Flammen oder den Wind, der sich legt, zu beschreiben. Residieren bedeutet, ruhiger, friedlicher zu leben, aber eben auch die Leidenschaftlichkeit, den Elan und die Intensität eines Lebens in Bewegung zu verlieren. Muss man also wie der Kreisel eine Bewegung schaffen, die auf der Stelle bleibt oder sich kaum verschiebt? Wird es uns in diesem prekären Gleichgewicht einer sich im Kreis drehenden Energie gelingen, den Wunsch nach einem eigenen Ort mit der Vitalität der Bewegung zu vereinbaren?

 

Wie Michel Foucault betont, wenn er »das Problem des Platzes« erörtert, sind Orte keinesfalls neutral. Der Raum ist nicht eigenschaftslos. Wir leben ihm zufolge »nicht in einem homogenen und leeren Raum, sondern vielmehr in einem Raum voller Eigenschaften, der auch von Trugbildern beherrscht sein kann«.15 Wir sind nicht gleichgültig gegenüber der realen, materiellen und geschichtlichen Welt, die uns umgibt. Räume sind von Projektionen und Hoffnungen erfüllt; sie werden von Geistern der Erinnerung heimgesucht. Orte bündeln Momente der Vergangenheit, Fragmente der Erinnerung, oder sie symbolisieren eine mögliche Zukunft. Sie rufen Begehren oder Abscheu hervor, einige ziehen uns an, wiederum andere ängstigen uns. Die Räume, in die ich mich fügen muss, durch die ich hindurchgehe, hinterlassen ihre Spuren in mir wie eine innere Tätowierung. Die Geräusche, Düfte und Gerüche des Landes unserer Kindheit.

Doch bekanntlich kann ein Zuhause auch Sorgen und Alpträume auslösen, wenn es von einer schweren Vergangenheit überschattet wird. Bei einigen wiederum herrscht die Angst, nicht zu wissen, wo man schlafen soll, keine eigene Bleibe, kein eigenes Zuhause mehr zu haben. Oder ich kann auch Angst haben, dass mir das Haus auf den Kopf fällt, weil das Dach marode ist, oder dass die dumpfe Gewalt, die dort rumort, mich von innen heraus zerstört. Manchmal stürzt das Zuhause also in mir selbst zusammen. »Der Raum unseres Lebens ist weder kontinuierlich, noch unendlich, noch homogen, noch isotrop. Doch wer weiß, wo genau er zerbricht, wo er sich krümmt, wo er sich trennt und wo er sich wieder zusammenfügt?«16

 

In Märchen sind Häuser aus allem Möglichen zusammengeflickt: aus Stroh, Holz oder Backsteinen, man ist darin mehr oder minder sicher. Die dünnen Wände zeugen von den unsicheren Lebensumständen. Im Knusperhäuschen wiederum riskiert man, gefressen zu werden. Manchmal sind Häuser in den Kinderbilderbüchern auch aus Wolken und lassen von Leichtigkeit und Weichheit träumen. Oder sie werden in Bäumen gebaut, man stellt sie sich unter dem Meer vor oder in einer Riesentulpe.17 Wir träumen immer von einem anderen Zuhause, einem Haus, in dem man sich nie mehr stoßen müsste und das uns einhüllen würde, in Erinnerung an unseren ursprünglichen Kokon. Doch wir können uns auch die Angst vor einem formlosen Haus ausmalen wie bei den Bauten von Erwin Wurm mit ihren allzu geschmeidigen Wänden oder vor einem Wohnhaus mit krummen Böden und unebenen Mauern, wie es Hundertwasser in Wien entworfen hat, mit Schrägen und abgerundeten Ecken. Man kann sich darin kaum fortbewegen, ohne auf seine Schritte zu achten. Man erlebt geradezu körperlich die Sorgen eines chaotischen und unruhigen, unregelmäßigen Lebens. Wir taumeln, und dieses Schwanken lässt uns auf der Hut sein.

 

Was ist das also für ein Traum von einem eigenen Platz? Von einem Ort für uns allein, einer Ordnung, in die man sich einfügt, von einer beruhigenden Wirklichkeit mit festen Plätzen? Handelt es sich um die Suche nach einem eigenen Ort, der uns nicht in Frage stellt, der uns nicht überfordert, einem Ort, der uns durch seine Vertrautheit das Leben erleichtert? Und doch wissen wir, wie ambivalent diese Vertrautheit ist, die uns durch ihre fehlende Abwechslung, ihre Eintönigkeit und immer gleiche Identität ausdörrt und verarmen lässt. Wir lassen uns von der Bequemlichkeit des Gleichförmigen und der Illusion der Stabilität täuschen. Es stehen sich offensichtlich zwei Vorstellungen gegenüber. Auf der einen Seite die der realen oder symbolischen Orte, die als Sockel oder Fundamente verstanden werden, auf die sich unsere Identität stützt. Wir sehen uns also in einer Traditionslinie, fühlen uns verwurzelt oder auf einem Grund und Boden, der uns Geborgenheit vermittelt und auf dem wir uns zurechtfinden. Auf der anderen Seite können wir wie Henri Michaux einen Rundgang um unsere Besitzungen machen, ohne uns darin wiederzuerkennen. Oder wir können uns wie wiederum andere als Reisende unseres Gepäcks und unserer Bindungen entledigen. Ein nomadisches Leben führen.18 Dennoch bleibt das Risiko, wie Gaston Bachelard treffend bemerkt, »draußen eingesperrt zu sein«. Manchmal, so erläutert er, ist »das Gefängnis draußen«.19

»Ein jedes Ding an seinen Platz«

»In diesen Augenblicken träume ich von einer leeren, unberührten Arbeitsfläche: Alles ist an seinem Platz, nichts steht über, alle Stifte sind schön angespitzt.«

Georges Perec, Denken/Ordnen [Penser/Classer]

Nach welcher Logik füllen sich unsere Räume und unsere Leben? Welchem Zufall, welchem Unvorhergesehenen verdankt das, was darin einen Platz einnimmt, sein Da-Sein? Ist es nicht letztlich eher zufällig, was auf unserem Schreibtisch herumliegt oder wer in unserem Leben verweilt?

Können wir einen eigenen Platz haben, so wie jedes Ding in einer wohlgeordneten Welt seinen Platz haben soll? Und haben die Dinge wirklich einen festen Platz? Diese Vorstellung dient wahrscheinlich nur dazu, uns zu beruhigen, wenn unser Leben unbeständig und unsicher ist. Ordnung schaffen, klassifizieren, einsortieren wären demnach unsere dürftigen Mittel, mit denen wir gegen das Gefühl eines gigantischen Durcheinanders oder eines fehlenden Zwecks, einer Sinnlosigkeit unseres Lebens ankämpfen. Wir würden gern »unseren Raum ordnen«, wie Georges Perec in Denken/Ordnen schreibt. Wir würden gern unser Leben so aufräumen können, wie es uns vorübergehend gelingt, unseren Schreibtisch aufzuräumen.

»Dieses Ordnen meines Raums verdankt sich selten einem Zufall. Meistens fällt es mit dem Beginn oder dem Ende einer bestimmten Arbeit zusammen; es geschieht mitten an diesen unbeständigen Tagen, an denen ich nicht genau weiß, ob ich überhaupt loslegen werde, und an denen ich mich allein an diese Rückzugsmanöver klammere: ordnen, sortieren, Ordnung schaffen. In just diesen Momenten träume ich von einer leeren, unberührten Arbeitsfläche: Alles ist an seinem Platz, nichts steht über, alle Stifte sind schön angespitzt […], es liegt kein Papier herum, nur ein Heft mit einer aufgeschlagenen leeren Seite.«20

Wir träumen von einer Ordnung, in der jedes Ding an seinem Platz wäre und in der auch wir am rechten Fleck wären. Diese Ordnung würde das Mögliche zum Vorschein bringen, so wie eine neue Idee auf einer leeren Seite auftaucht. Doch unsere Leben werden ähnlich wie unser Arbeitstisch schnell von Gegenständen überfrachtet, die der Zufall oder die flüchtigen Erfordernisse vor uns platzieren, woraufhin sie sich für einen Moment oder dauerhaft in unser Leben einfügen und dort Platz einnehmen.

Warum fällt mir das Aufräumen so schwer? Vielleicht genau deshalb, weil im Gegensatz zu dem, was wir für selbstverständlich halten, jedes Ding mehrere mögliche Plätze, also keinen endgültigen, festgelegten Platz hat. Bei mir sind die Dinge verstreut, sie bleiben wie quirlige Kinder nie ruhig an einem Ort. Es gibt nicht immer einen eindeutigen Ort für eine Sache. Die Dinge sortieren, sie wieder in Ordnung bringen, an ihren Platz räumen verlangt mir jedes Mal eine ungeheure Energie ab. Es gibt einfach so viele verschiedene Weisen, Dinge zu ordnen: einen Kleiderschrank einzurichten, seine Papiere zu sortieren, seine Bücherregale zu ordnen. Und obwohl der praktische Aspekt oft die Oberhand gewinnt, ist damit die Frage noch nicht beantwortet. Denn Plätze sind keine Selbstverständlichkeit. Weder die von Gegenständen noch die von Personen. Natürlich haben Letztere oft einen bereits festgelegten Ort, zumindest theoretisch, durch ihre Stellung, ihre Funktion, ihre Beziehung zu mir. Der Zufall der Geburt, die Umstände, der soziale Determinismus, all diese Faktoren haben meiner Schwester, meinem Vorgesetzten, meinen Freunden, meinen Nachbarn einen Platz in meiner »Welt« gegeben. Einen zentralen und dauerhaften oder im Gegenteil einen prekären, flüchtigen, zufälligen Platz.

Selbst wenn diese Ordnung vorläufig ist, selbst wenn sie umgeworfen werden kann, brauchen wir sie, so wie wir einen durch Gewohnheiten organisierten Alltag brauchen. Doch die Ordnung hat, wie der Psychoanalytiker J.-B. Pontalis betont, zwei Gesichter: Sie kann uns beruhigen oder bedrücken.21 Was an seinem Platz bleibt, ist auch unbeweglich. Der Platz, den man behält, schreibt uns in eine gewisse Stetigkeit ein, doch er kann uns zugleich den Elan rauben. Gegen seine Ordnung zu verstoßen, und sei es auch nur minimal, ist für uns daher verlockend. Wir stiften Unordnung innerhalb unseres Zimmers. Ob Kind oder Erwachsene, wir erproben die Grenzen eines fröhlichen Durcheinanders, das uns vom alltäglichen Einerlei befreit: »Wir […] stellen die Welt innerhalb der engen Grenzen [unseres] Zimmers auf den Kopf.«22 So als wollten wir uns selbst davon überzeugen, dass dieser Platz, den wir einnehmen, uns nicht einhegen kann.

Denn manchmal zwingt uns unser Platz in eine Identität, legt sie fest, obwohl sie gar nicht mehr unsere ist. Was sagt dieser ach so vertraute Ort noch an Wahrem über mich aus? Handelt es sich nicht lediglich um die Erinnerung der Person, die ich einmal war? Wer hat sich nicht schon darüber geärgert (oder heimlich darüber gefreut), noch am Kindertisch zu sitzen? Ist dieser Platz da, in dieser Familie, in dieser sozialen Situation noch meiner, oder ist es der Platz einer Person, die ich nicht mehr bin?

Die Routine und die gewohnten Sitzplätze beruhigen uns, doch gleichzeitig macht uns die Vorstellung Angst, wir könnten zu ihren Gefangenen werden.23 Wir sind sowohl über eine unbeständige, schwankende Ordnung beunruhigt, die uns ebenfalls wanken lässt, als auch unzufrieden mit der Vorstellung, wir kämen nicht vom Fleck. Unser ambivalentes Verhältnis zur Ordnung der Welt und zum Platz jedes Einzelnen erklärt die Schwankungen in unserem Dasein, das Zögern in Bezug auf reale und symbolische Orte, die wir bewohnen. So erwarten wir oft von einem Ortswechsel, dass er innere Bewegungen, intime Veränderungen hervorbringt, bestätigt oder verwirklicht.