Brüche - Claire Marin - E-Book

Brüche E-Book

Claire Marin

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Beschreibung

Eine inspirierende Philosophie der Lebenskrisen Ob erfreulich oder tragisch, sichtbar oder unsichtbar: Brüche bestimmen den Rhythmus unserer Existenz, verändern uns und stellen uns in Frage. Wie lassen sich die »Abzweige« unseres Lebens mit der Idee unserer unveränderlichen Identität verbinden? Sind sie am Ende das, was uns eigentlich ausmacht? Für die Philosophin Claire Marin liegt die Definition unseres Wesens vor allem in unseren Abwegen. Geburten, Trauer, Trennung oder eine neue Liebe – dieses Schwanken erschüttert unsere Gewissheiten, das ist sicher. Marin zeigt so präzise wie kunstvoll, dass die Essenz des Lebens genau darin besteht: die Brüche, die das Schicksal für uns bereithält, anzunehmen – vollständig und kompromisslos. 

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

»Der innere Bruch kann viele Formen annehmen, und der Weg zu sich selbst geht oft über eine belastende Krise. Zu entdecken, wer man ist oder sein möchte, ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit, sondern manchmal das Ergebnis einer langwierigen Selbstbefragung. Es ist also weniger ein Gefühl von Identität als eines von Hochstapelei, das uns dazu drängt, ein anderer zu werden, ohne unbedingt wirklich zu wissen, wo es uns hintreibt. Denn in jedem Bruch liegen die Hoffnung, sich zu finden, und das Risiko, sich zu verlieren.«

Claire Marin

Brüche

Vom Umgang mit den Krisen des Lebens

Aus dem Französischen von Sina de Malafosse

Inhaltsverzeichnis

Motto

Einleitung Unser Leben besteht nur aus Brüchen

1 Über die Unmöglichkeit, sich und anderen treu zu sein

2 Eine Liebesbeziehung zerbricht

3 Selbstfindung

4 Die Freude an der Zerstreuung

5 Das verunglückte Wesen

6 Geburten und Trennungen

7 Der Bruch mit der Familie

8 Schwinden

9 Sexualität des Bruchs

10 Durch die Nacht

11 Vertragsbrüche

Literatur

Zitatnachweise

 

 

»[W]ir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen.«

Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück

EinleitungUnser Leben besteht nur aus Brüchen

Ein Bruch soll ein beherzter Schnitt sein. So gerade und sauber, wie man mit einem einzigen Säbelhieb einen Kopf abtrennt. Aber Brüche sind Risse. Anders als eine Trennung, die jeden wieder zu der intakten Einheit werden lässt, die er vorher war, ist ein Bruch, wie es die Etymologie in Erinnerung ruft, ein unkontrolliertes Reißen. Er hinterlässt nur selten saubere Konturen. Man bricht nicht, wie man an der gestrichelten Linie entlangschneidet, sorgfältig der Schablone folgend, die unsere Form abbildet. Man zerreißt den Stoff eines gemeinsamen Lebens, in dem die jeweiligen Identitäten so eng verwoben sind, dass niemand mehr genau weiß, wo der eine anfängt und der andere endet. Aber derjenige, der etwas zerreißen will, glaubt es zu wissen. Er glaubt, den Schattenriss seiner eigenen Gestalt zeichnen zu können, will das Verschwommene loswerden, den Ballast, die Verknüpfungen, die ihn daran hindern, wirklich er selbst zu sein.

Der saubere Bruch, wie eine Zahl, die sich ohne Rest teilen lässt, ist sicher unmöglich. Denn wir gehen nicht auf »in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt«,[1] um Nietzsche zu zitieren. Selbst gerissene Verbindungsstellen können empfindlich bleiben, Phantomglieder, Zeugen eines alten Lebens. Alles, was dieses Leben uns eingeschrieben hat, hinterlässt Spuren. Alles, was in unseren Leib, unsere Gedanken, unsere Art, Dinge zu begreifen und zu sein, eingesickert ist, was Engramme hinterlassen hat. All das, was an uns hängen bleibt, der nicht klar begrenzte Schweif des Kometen, all das, was fortbesteht, was gegen unseren Willen stattfindet. Mit einer wirklich neuen, weißen Seite zu beginnen ist nicht möglich, denn wenn man sie gegen das Licht hält, sieht man alles, was zuvor geschrieben wurde, das vorherige Leben bleibt als unauslöschliches Wasserzeichen zurück. Es gibt keine Zaubertafel, auf der nicht ein paar Spuren der gelöschten Zeichnung zurückbleiben, der Stift hat seinen Abdruck auf der Oberfläche hinterlassen, sodass sie durch die neuen Zeichnungen schimmern. Das Unbewusste übernimmt es, uns diese Phantomspuren in Erinnerung zu rufen, und macht die perfekte Ablenkung unmöglich.

Kann man Brücken also wirklich abreißen, etwas hinter sich lassen? Wie soll man diese Bindungen, die im Laufe der Zeit natürlich geworden sind, lösen, wie soll man die gewohnte Präsenz des anderen, seines Körpers, seiner Stimme aus sich herauslösen? Wie bricht man mit seinem Umfeld, ändert seine Haltung, lernt, sich aufrecht zu halten, die Sprache der anderen zu sprechen? Mit seinem alten Leben zu brechen bedeutet, die Sichtweise zu ändern, aber auch den Körper, die Form. Es bedeutet, die Modalität unseres Auftretens zu ändern, den Ton unserer Aussagen. Der Bruch impliziert eine tiefgehende Veränderung, in der der Körper eine zentrale Rolle spielt.

Der Bruch ist eine physische, körperliche Erfahrung. Wir spüren den reißenden Trennungsschmerz. Er ist das konkrete Erleben dessen, was der Philosoph Merleau-Ponty »Fleisch der Welt« nennt, ein Konzept, das mir lange Zeit abstrakt und poetisch erschien. Die Verbindungen zu den anderen und der Welt, die uns umgibt, sind nie so empfindlich wie in dem Moment, da wir sie verlieren, genauer gesagt in dem Augenblick, da wir denen, die für uns zählen, entrissen werden, unserem vertrauten Umfeld, einem gemeinsamen Leben, das sich uns eingeschrieben hat, mit uns verwachsen ist. Dein Körper ist beim Aufwachen nicht da, deine Stimme antwortet nicht, aber auch das Heim ist zerstört, der Himmel trüb. Dieses Kind, dieser Kokon fehlen uns, wie wir Hunger oder Durst haben. Die Brutalität des Vermissens hindert uns am Schlafen, Essen, Arbeiten, Lesen, denn das Leben ist unterbrochen, zerbrochen. Wir waren verwachsen und sind nun geteilt, durch dieses Zerreißen, diese Entwurzelung verstümmelt. Die zu lebendige Erinnerung ist unser Peiniger. Man wird all diese schmerzenden »Erinnerungsscherben«[2] beschreiben müssen, die Bitterkeit bei der Trennung von Liebenden, die Leere der Depression, die Verlangsamung, das Verschwinden des Subjekts, sein Erlöschen. Seine Auflösung. Seine Dichte verlieren oder im Gegenteil nur noch lebhafte Empfindung, pausenlos pochender Schmerz sein.

Selbst wenn der Bruch gewollt ist, herbeigeführt wird, selbst wenn er mit einer Selbstermächtigung einhergeht, dem Enthüllen einer bis dahin stummen Identität, einer Befreiung des Subjekts, bleibt er schmerzhaft. Es ist nie einfach, die Herabwürdigung oder die Gewalt zu verarbeiten, die uns gezwungen hat zu gehen, dieses Ein-anderer-Werden, das die, die uns nahestehen, entwertet, auch wenn wir es nicht wollen. Es ist nie leicht, nach Reims zurückzukehren.[3]

Es ist ebenso schwierig, nach Algier oder nach Phnom Penh zurückzukehren. Die Schmerzen des Exils, das Heimweh sind eine weitere tiefe Spur der durch Krieg aufgezwungenen Brüche. Der Heimkehrer hat das Land, das er verlassen hat, verloren, ist ein Fremder geworden.[4] Seine Fremdheit ist eine doppelte. Wegzugehen bedeutet zweimal zu brechen: mit dem, der man war, und mit einer gewissen Illusion, sich irgendwo heimisch zu fühlen. Es bedeutet, den psychologischen Komfort aufzugeben, in den Augen der anderen legitim zu sein. Es bedeutet, mit der Hoffnung auf Anerkennung zu brechen. Exilanten, soziale Auf- oder Absteiger, Homosexuelle – für euch sind keine Stühle mehr übrig. Ihr müsst schauen, wo ihr Platz findet.

Wir alle erleben Verletzungen des Lebens, wir alle machen quälende Erfahrungen. Aber wir reagieren nicht alle auf dieselbe Weise. Mit innerer Zerbrechlichkeit oder unverbrüchlicher Stärke. Der Bruch, ob gewählt oder erlitten, quält uns psychisch und physisch, ist ein unerträgliches Zerren, aber wir müssen die Verzerrung unserer Identität, unserer Existenz ertragen. Diese Deformierung macht aus uns monströse Wesen. Wider Willen. Deformiert vom Unglück, von der Scham, abgewiesen zu werden, der Brutalität der Lieblosigkeit. Oder durch grausame Menschen, die gehen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Menschen, die Frau und Kinder verlassen, ihre Eltern verleugnen, ihre Herkunft, und dabei Gesetze, Werte und Religion verhöhnen. So etwas überleben nur die formbarsten Wesen, die eine Deformierung aushalten, weil ein bestimmtes »Rückgrat« vorhanden ist. Manche Strukturen sind solide und biegsam zugleich. Wer über eine solche verfügt, wird den Bruch aushalten.

 

Die Brüche sind unsere, ob wir sie herbeiführen oder erleiden. Ob wir mit der Familie, den Freunden, dem Liebhaber, dem sozialen Milieu brechen. Den Beruf, das Land, die Sprache wechseln – Brüche gestalten uns vielleicht noch mehr als Bindungen. Vom Weg abzuweichen definiert uns ebenso, wie ihm schnurstracks zu folgen, unser nicht linientreues Verhalten, also die Vertragsbrüche ebenso wie der Vertrag selbst. Was lernen wir über uns selbst, wenn wir »abdriften«? Sind das Momente, die uns Erkenntnis bringen oder uns definieren? Dadurch, dass sie das Subjekt infrage stellen, ganz gleich, ob es ein neues Freiheitsgefühl oder schmerzhafte Einsamkeit erlebt, und es zwingen, sich neu zu definieren und vielleicht sogar die Vorstellung einer Selbstdefinition insgesamt aufzugeben.

Der Bruch muss nicht zwingend sichtbar sein, krachend, er vollzieht sich manchmal nicht durch auffällige Veränderungen, sondern durch innere Entscheidungen, eine Neuausrichtung durch das Aufgeben mancher Aspekte des Lebens, die daraufhin absterben. Wesen, Wesensarten vergehen einfach so, ohne Erklärungen. Man verlässt einen Ort oder andere Menschen, geht in einem neuen Lebensstil auf. Handelt es sich dann um einen Bruch oder einfach um eine Weiterentwicklung, eine innere Modifizierung, eine Mutation? Die Vorstellung, mit dem zu brechen, der man war, ist vielleicht nur eine Illusion. Zu einem wirklichen Bruch kommt es, wenn eine tiefgreifende Transformation der Handlungs- und Denkschemata des Subjekts stattfindet. Wenn man mit dem bricht, was man »Seinsgewohnheit«[5] nennen könnte. Aber inwieweit kann ich ein anderer werden? Und wie sehr brauche ich das? Es kann sich um eine existenzielle Notwendigkeit handeln, um eine Frage des seelischen Überlebens. Ich schüttele das andere ab, um endlich ich selbst zu sein. Der Bruch ist Bedingung für meine Geburt und meine Wiedergeburt.

Manchmal muss man mit etwas brechen, um »sich zu retten«, man sucht das Weite und rettet seine Haut, indem man mit dem bricht, was die Existenz bedroht oder verhindert. Das können die anderen sein, manchmal bin aber auch ich selbst derjenige, der sich zensiert, ausbremst. Man muss also durch den Bruch die Bedingungen für das Erscheinen und die Verwirklichung des Selbst schaffen. Brechen, um die Person heraufzubefördern, die man sein will, um in der ersten Person zu existieren und nicht mehr als Marionette oder Fetischobjekt. Man muss zu allem stehen, was in den Augen der anderen und insbesondere der Familie an der eigenen Identität störend, enttäuschend und unmöglich sein mag. Darauf setzen, jemand anderes zu werden, dessen Erstehung den Bruch voraussetzt.

Aber was geschieht, wenn der Bruch unfreiwillig erlitten wird, als Unfall, Katastrophe oder Tragödie erlebt wird? Was manchmal »Klammern des Lebens« genannt wird – Krankheit, Depression, Trauer –, sind keine, sie führen meistens zu einer tiefen Veränderung in unserer Art zu denken und zu leben. Sie sind für sich selbst genommen ein Bruchprinzip, das ich im Hinblick auf ein neues Leben anerkennen kann, in Anspruch nehmen kann, als hätte mich diese Feuerprobe gereinigt, von den Schlacken der Existenz befreit. Oder ich kann es verleugnen und als Erlebnis ohne Folgen verbuchen. Fall geschlossen, Klage abgewiesen. Aber die Schwachstelle, die das Drama offengelegt hat, weitet sich still und heimlich aus, und die Risse eines jeden sind die Vorboten zukünftiger Brüche. Das verletzte Kind schwächt den Erwachsenen, zu dem es einmal wird.

Auch wenn manche Ereignisse Brüche herbeiführen, sind sie nicht vielleicht lediglich der Auslöser oder Vorwand? Ist der innere Riss nicht schon lange da, bereit, sich auszuweiten und die Einheit des Ichs zu sprengen?

Häufig ist die Rede vom neuen Ich, das aus einem existenziellen Riss hervorspringt wie der Teufel aus der Kiste. Man spricht von »Wiedergeburt« und »Neuanfang«. Es fehlt nicht an Begriffen, um die zweite Chance zu preisen, die das Subjekt erhält, um auf intensivere oder authentischere Weise es selbst zu sein. Als ob der Bruch erlaube, sich dem eigenen Ich zu nähern, einem wahrhaftigen Ich, von dem uns die Gesellschaft, Familie, Welt entfernt hat. In dieser positiven Dialektik, in der der Bruch die Selbstoffenbarung ermöglicht, liegt vielleicht eine grundlegende Illusion. Tatsächlich wird angenommen, dass es so etwas wie das »Ich«, eine wirkliche Identität gibt, die in der Vollendung, in der das einzigartige Subjekt sich verwirklicht, seine Individualität ausdrückt, sich entfaltet. Aber ist dieses »neue Leben«, diese Metamorphose des Subjekts denn etwas anderes als ein Trost, eine nachträgliche Rekonstruktion, die notwendig wird, um das Unglück zu ertragen, um der Absurdität des Todesfalls, der Krankheit, des Unfalls etwas Sinnstiftendes hinzuzufügen?

Der Gedanke eines offenbarenden Bruchs setzt die Existenz einer Seinsskizze voraus, einer Essenz, die es zu erneuern gilt, einer Berufung, eines Schicksals. Der Bruch würde mir erlauben, ins Herz meiner Identität vorzustoßen, indem ich alles auf den Prüfstand stelle. Der Schmerz hätte einen Sinn und jeder von uns eine eigene Identität. Aber bin ich denn etwas anderes als diese Brüche selbst? Bin ich nicht nur das Ergebnis von Unfällen, Zufällen, geformt durch die Außenwelt? Ist es nicht die Summe dieser ständigen und unbemerkten kleinen Brüche, die mich zu dem machen, der ich bin? Wir wären demnach eher »gebrochen« als »brechend«, würden die Frakturen unserer Existenz, die unser Leben umgestalten, passiv ertragen.

Aber was bedeutet es, »aufgebrochen« zu sein? Bin ich rein passiv, wenn ich den Schlag einstecke, wenn ich den Riss ertrage? Bin ich schwach, wenn ich erdulde? Das Wörterbuch ist hier dienlicher als Werke zur Persönlichkeitsentwicklung. Es erinnert uns daran, dass wir nicht nur aufgebrochen wurden, sondern auch aufgebrochen sind, uns auf den Weg gemacht haben. Und wir zeigen unser Durchhaltevermögen. Etwas in uns hält der Zerreißprobe stand. Das »gerissene« Wesen entdeckt seine Widerstandskraft. Was ich ertrage, sagt etwas über meine Kraft aus. Bleibt zu verstehen, warum manche aufgeben und unter der gewaltvollen Trennung einbrechen, während andere sich wundern, am Leben zu bleiben, obwohl ihnen ein Teil ihres Lebens amputiert wurde. Was führt dazu, dass ich durch das Erlittene gebrochen oder im Gegenteil gestärkt werde? Was können wir mit unseren Brüchen anfangen? Und was machen sie mit uns?

 

Soll man, nach Nietzsche und Kierkegaard,[6] noch über den Bruch nachdenken? Ja, gewiss, weil er die Gestalt gewechselt hat, präsenter ist, weil er die neue oder zukünftige Form unserer Existenz im Allgemeinen sein könnte. Vielleicht sind wir in einer Ära oder einem Augenblick der Brüche angekommen. Auf ökologischer und somit ökonomischer und politischer Ebene müssen wir dringend unsere Art zu leben, zu kommunizieren, zu reisen, unsere Gewohnheit, Reichtümer anzuhäufen, überdenken und aufhören, das Schwinden der Ressourcen, zu dem unser Verhalten geführt hat, zu leugnen. Den Bruch zu akzeptieren wäre demnach ein Zeichen von Reife angesichts der Notwendigkeit einer existenziellen Veränderung, ob auf individueller Ebene oder der des gemeinsamen Überlebens. Es würde zeigen, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind. Aber man muss die Vorstellung einer notwendigen Veränderung, einer bevorstehenden Katastrophe auch intellektuell verarbeiten und aufhören, an die Dauerhaftigkeit der Welt, die unendliche Erneuerung der Natur zu glauben. Akzeptieren, dass wir nicht mehr in einem zyklischen System leben, sondern vor einem ökologischen Bruch stehen. Wir sind gefordert, an unserer spontanen Neigung zur Verdrängung angesichts großer Brüche zu arbeiten, die eine Zustandsverschlechterung (der Natur oder der Menschen) oder den endgültigen Verlust bedeuten. Wir müssen uns unseren großen Ängsten stellen und über eine Pädagogik des Bruchs nachdenken.

Aber wir sind auch an einem Bruchmoment, weil sich dieser seit mehreren Jahrzehnten in den täglichen Horizont eingeschrieben hat, (fälschlicherweise?) verbunden mit einer gewissen Vorstellung von Freiheit – oder Kapriolen und Unbeständigkeit: Paarbeziehungen geraten ins Wanken, Familien werden wie in einem Kartenspiel neu zusammengemischt, spielen herunter, wie schmerzhaft und schwerwiegend ein solcher Bruch ist. Man mag sich »einvernehmlich« trennen. Der Bruch, zur banalen Statistik geworden, soll etwas über Individualismus und den Anspruch eines jeden auf »Glück« und »Erfüllung« aussagen. In der Arbeitswelt ist der Paradigmenwechsel, insbesondere unter dem Einfluss technischer Innovationen, zum Kriterium einer Form von natürlicher Selektion geworden. Bis zur Veröffentlichung dieses Buches wären die Beispiele, die man zu den technologischen Umbrüchen geben könnte, bereits hinfällig geworden. Sich anpassen, flexibel sein, ein Nomade ohne Bindungen. Von einem Erkenntnisschema zum nächsten wechseln. Neue Codes entwickeln, um die Welt zu interpretieren und vor allem ertragreich zu machen. Aber auch Ballast abwerfen, loswerden, was uns langsamer macht, auch diejenigen, die das Tempo nicht halten. Die Brüche unserer Zeit sind erbarmungslos.

 

Aber während diese zeitgenössischen Brüche sichtbar sind, als solche identifizierbar, sind Verwerfungen im Leben gleichwohl nichts Neues. Sie haben die menschliche Existenz schon immer durchgerüttelt. Abweichungen, Löcher, Lücken in der Geschichte, Abschweifungen, welches Leben kennt das nicht? Man muss auch die unsichtbaren Klammern erwähnen, die verborgenen Verrate. Ist nicht alles Leben, wie Deleuze sagt, ein »fast verrückter Satz, mit seinen Richtungsänderungen, seinen Abzweigungen, seinen Brüchen und Sprüngen, seinen Dehnungen, Knospungen, Parenthesen«?[7] Manchmal braucht es einen ersten Bruch, um all die folgenden sehen und ertragen zu können. Wie so oft hat Krankheit den Effekt einer Lupe. Was sie vergrößert aufzeigt, existiert in geringerem Maßstab in unserem Alltag. Die Unbeständigkeit unserer Existenz und darüber hinaus vielleicht sogar unserer Identität. Auch wenn die offiziellen Lebensberichte, die Romane über einen selbst oder das alltägliche Storytelling die Unebenheiten der Existenz glätten, gibt es kein Leben ohne Knacks. Die Krankheit bringt diese Löcher in unserer Existenz zum Vorschein, schmerzhafte Einschnitte, aber man muss anerkennen, dass jeder sie erlebt, manchmal im Geheimen und schambehaftet.[8] Das Leben ist weder logisch noch kohärent, es besteht nicht aus vorgezeichneten Linien, eindeutigen Wegen, Schicksalen … Es ist vielmehr unentschlossen, unvorhersehbar, unsicher, Sturzregen prasselt unvermittelt auf jegliche Leichtigkeit nieder, Tragödien schreiben sich ein und wiederholen sich, bis sie alltäglich werden.

Wie in meinen vorangegangenen Büchern werde ich in diesem Buch, aus Sturheit oder Überzeugung, der Versuchung des Optimismus widerstehen und vereinfachende und positive Lesarten von Bruch und Neuanfang von vorneherein beiseiteschieben. Man sieht darin gern die Gelegenheit für ein neues Leben, ein neues Kapitel, schreibt einem Misserfolg einen nachträglichen Wert zu, indem man ihn in Wissen, in Reichtum, in Erfahrung umdeutet. An Misserfolg soll etwas gut sein. Wirklich? Manchmal sind Brüche reine Verschwendung, fehlender Mut, Feigheit. Man stellt fest, dass eine Paarbeziehung, eine Familie, eine Freundschaft, eine Politik, ein Projekt gescheitert ist. Und der Misserfolg ist oftmals nichts anderes als das – armselig, enttäuschend, ein richtiger Versager. Die meisten Misserfolge lehren uns nichts. Schlimmer, wir verheddern uns oft in den gleichen Fehlern, als wären sie unvermeidlich, und das mit einer paradoxalen Freude an ihrer beinahe beruhigenden Wiederholung. Die Psychoanalyse hat uns dazu schon einiges gesagt. Man muss aufhören zu hoffen, dass die Erfahrung uns besser macht, wenn es um uns herum so wenige Beispiele gibt, die dies zu bestätigen scheinen. »Nur Philosophen glauben, seit den griechischen Physikern, dass das Leben sich durch Versuche und Fehler erlernen lässt.«[9] Ich bin vor einem neuen Abenteuer nicht durch die vorangegangenen Irrungen abgehärtet, sondern laufe eher Gefahr, mich auf den gleichen Querwegen zu verlaufen.[10] Es ist möglich, dass ich letztendlich nichts gelernt habe.

1Über die Unmöglichkeit, sich und anderen treu zu sein

Manchmal muss man abbiegen, wenn der eingeschlagene Weg vorgezeichnet scheint und nicht mehr das Ergebnis einer persönlichen Entdeckungsreise ist. Wenn unsere Füße ohne unseren Geist und unser Herz marschieren. Mein Handeln zeigt, wer ich bin, definiert mich, aber verpflichtet mich auch, stellt bisweilen sogar einen Zwang dar. Es definiert meine Persönlichkeit, aber schafft auch eine Figur, die ich gerne würde abstreifen können. Meine Freiheit hat wider ihre Natur auch eine determinierende Wirkung, führt sogar zur Fremdbestimmung. Man muss nicht so berühmt sein wie Sartre, um sich wie ein Gefangener der Erwartungen anderer zu fühlen, selbst wenn diese die Folge einer Entscheidung sind, die wir in der Vergangenheit aus freien Stücken getroffen haben.[1] Ein Paradox der Freiheit: Was wir bewusst entschieden haben, mit Überzeugung, Mut oder Lust, wird ein zu enges Korsett. Unser einstiger Wunsch hat sich in eine Falle verwandelt. Müssen wir also passiv weiterhin das tun, was die anderen von uns erwarten? Das hieße auf gewisse Weise, sich selbst aufzugeben – weiter so handeln, wie wir es immer getan haben, sich nur mit subtilen Abweichungen begnügen. Und das, obwohl wir die Wiederholung satthaben, die Lust verloren, obwohl wir das Bedürfnis nach einem »Neubeginn« haben. Sollte man sich im Gegenteil auf etwas ganz anderes einlassen und dabei das Risiko eingehen, alles zu verlieren?

Manchmal ist Treue nicht mehr möglich. Die Treue zu Freunden, zu einem Partner, zur Familie oder zu sich selbst wird unhaltbar. Es gibt Loyalitäten, die keine Bindungen mehr sind, sondern eine sich zuziehende Schlinge. »Ich ersticke«, sagt man dann. Beständigkeit ist dann nicht mehr das Ergebnis eines inneren Bedürfnisses, sondern eine künstliche Konstruktion, eine Anstrengung, bei der sich das Subjekt abmüht, es selbst zu bleiben, seine Rolle auszufüllen, ohne noch daran zu glauben. Eine solche Person ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, sie wiederholt die vertrauten Gesten, ohne sie mit Leben zu füllen. Sie ist bereits gegangen, befindet sich außerhalb dieser vormaligen Identität oder der bereits toten Beziehung. Sie mimt in einer karikaturistischen Annäherung, was zuvor gewesen ist. Wie Sartres Figur des Kellners in Das Sein und das Nichts versucht sie sich an einer kläglichen Imitation. Er ist im existenziellen Sinne unaufrichtig, er belügt sich selbst, gibt vor, etwas zu sein, was er nicht ist oder nicht mehr ist. Er ist nur noch ungefähr er selbst. Fremd in diesem Leben, das ihm das Gefühl gibt, allmählich dahinzusiechen. Wenn es solche Mühen kostet, sich selbst treu zu sein, wenn zu leben ein solcher Betrug ist, der in jedem Augenblick neu begangen wird, ist das Erfüllen der gewohnten Rollen unmöglich geworden. Man muss fliehen und seine Verpflichtungen hinter sich lassen.

Manchmal ist es nur eine leichte Verschiebung, eine sachte Berührung, die das Korsett aufsprengt und uns aus einem Leben befreit, das zu eng geworden ist: »Dinge bersten oder machen uns bersten, Schachteln sind zu klein für ihren Inhalt, Speisen sind giftig oder verdorben […].«[2]

Was mich bislang genährt, eingehüllt, beschützt hat, zerfrisst mich nun innerlich, zehrt mich auf. Gewohnheit ist ein pharmakon: Langfristig ist die Medizin auch das Gift. Was mich gehalten hat, erdrückt mich, was mich umarmt hat, schnürt mich ein. Der Betroffene leidet unter dieser schlecht sitzenden Identität. Er fühlt sich in seinem Leben eingeengt, eingezwängt in einer Existenz, die ihm Fesseln anlegt, er braucht Luft, will buchstäblich das Weite suchen. Diese Sehnsucht nach Ausdehnung, »Weitung« drückt sich durch das Bedürfnis nach einem Ortswechsel aus – geografisch, emotional, beruflich oder psychologisch. Er muss heraus aus der engen Schachtel, zu der seine Existenz geworden ist. Feststehende Dimensionen, begrenzte Lagerkapazitäten. Er braucht etwas Neues, Bewegung, Möglichkeiten. Etwas Lebendiges.