Andere werden folgen … - Marina Ginestà - E-Book

Andere werden folgen … E-Book

Marina Ginestà

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Beschreibung

Anfang der 1920er Jahre erleben zwei Familien in Barcelona die Unruhen vor Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs. Miguel und seine Genossen erfahren stellvertretend für ihre Generation, wie ihr mutiger Kampf um Freiheit und Gleichheit brutal niedergeschlagen wird – ein Kampf, den Miguel schließlich mit seinem Leben bezahlt. Miguel, der sich ganz dem Gewerkschaftskampf verschrieben hat, bleibt in Barcelona, obwohl sich die Lage für die Aktivist*innen zuspitzt. Im Rahmen einer großen Verhaftungswelle wird er 1922 festgenommen und landet im Gefängnis, wo er zwei alte Mitstreiter trifft. In ihrer gemeinsamen Zelle führen sie philosophische Dialoge über ihre Bewegung, ihre Überzeugungen und ihre ungewisse Zukunft. Es geht um Arbeitskampf, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Anarchie und den Kampf für eine bessere Welt. Dabei wird die Frage des in Russland aufkommenden Stalinismus ebenso verhandelt wie der Wunsch nach einer eigenständigen, authentischen Widerstandsbewegung gegen den aufkommenden Faschismus in Spanien. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Anna, die nach vierzig Jahren im Exil nach Barcelona zurückkehrt, wo sie sich an ihre Kindheit und Jugend im Kreis der spanischen Gewerkschaftsbewegung erinnert.

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Marina Ginestà, geboren am 29. Januar 1919 in Toulouse, gestorben am 6. Januar 2014 in Paris, stammt aus einer jüdisch-kommunistischen Arbeiterfamilie. 1928 zieht sie mit ihren Eltern nach Barcelona, wo sie sie sich der anarchosyndikalistischen Bewegung anschließt, als Reporterin arbeitet und unter anderem für den sowjetischen Journalisten Michail Kolzow dolmetscht. Gegen Ende des spanischen Bürgerkriegs flieht sie nach Frankreich, dann nach Mexiko, später lebt sie in der Dominikanischen Republik, wo sie den Roman Les Antipodes schreibt, eine Geschichte katalanischer Exilanten unter der Trujillo-Diktatur. Sie heiratet einen belgischen Diplomaten und lässt sich schließlich in Paris nieder. Dort entsteht 1976 ihr Roman D’autres viendront, in dem sie ihre Erfahrungen als Aktivistin in der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung verarbeitet.

MARINA GINESTÀ

Andere werden folgen ...

Übersetzt aus dem Französischen, Spanischen und Katalanischen und herausgegeben, mit einem Personenregister und einer Chronik versehen von Birgit KirbergDiese deutsche, gekürzte und lektorierte Fassung beruht auf den drei verschiedenen Varianten des Romans

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Marina Ginestà:

Andere werden folgen …

1. Aufl., Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, Februar 2023

ISBN 978-3-95405-136-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Titel der Originalausgabe: Els Precursors

© 1977 Marina Ginestà, Barcelona (katalanische Ausgabe)

© 2014 Manuel Periañez-Ginestà, Paris (französische Ausgabe)

© 2016 Manuel Periañez-Ginestà, Paris (spanische Ausgabe)

Titelfoto: Marina Ginestà am 21. Juli 1936 in Barcelona

© Fondo Joan Guzmán, EFE

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom

Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms

»NEUSTART KULTUR« der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

In memoriam Bernard Maris – statt eines Vorworts

ANDERE WERDEN FOLGEN ...

Die Familie einer Ikone von Manuel Periáñez-Ginestà

Anarchismus und Gewerkschaftsbewegung in SpanienEine Übersicht

PERSONENVERZEICHNISIm Roman erwähnte historische Personen

PERSONENVERZEICHNIS IIDie Romanfiguren

IN MEMORIAM BERNARD MARIS STATT EINES VORWORTS

Sechs Monate bevor er am 7. Januar 2015 in Paris bei dem Attentat fanatischer Islamisten auf die Redaktion von Charlie Hebdo ums Leben kam, schrieb Bernard Maris über Marina Ginestàs Roman Andere werden folgen …:

Mit einem Gewehr auf dem Rücken und in einen Overall der Milizen gekleidet, steht Marina Ginestà Modell für das berühmte Foto von 1936. Da ist sie siebzehn Jahre alt und begleitet den sowjetischen Journalisten Michail Kolzow als Dolmetscherin, obwohl sie selbst ideologisch eher der spanischen Gewerkschaftsföderation CNT und der marxistischen Arbeiterpartei POUM nahesteht. Schon Marinas Großmutter war eine militante Feministin gewesen, die Andreu Nin regelmäßig zu seinen Treffen begleitet hatte. Andreu Nin war Trotzkis Sekretär und Gründer der POUM, er wurde, wahrscheinlich im Auftrag Stalins, 1937 ermordet. Trotzki selbst fiel kurz darauf dem Anschlag von Ramón Mercader zum Opfer, einem in Barcelona sehr bekannten Aktivisten, mit dem auch die junge Marina eng befreundet war. Sie erfuhr erst viele Jahre später von dieser schrecklichen Wahrheit. Marina sympathisierte stark mit der anarchistischen Bewegung, die ihre Ursprünge in Katalonien und Andalusien hatte. Im Jahr 1977 veröffentlichte sie den Roman Els Precursors, der heute den Titel »En vindran d’altres …« trägt und die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung im Barcelona der 1920er Jahre thematisiert. Das Buch wurde mit dem Salvador-Seguí-Preis ausgezeichnet, nach dem berühmten Anarchistenführer Seguí, genannt der »Zuckerjunge« (Noi del Sucre), der 1923 von den Schergen der Arbeitgebervereinigung, den sogenannten »Freien Gewerkschaftern«, ermordet wurde. […]

Der Roman ist vielschichtig, erschütternd, immer wieder verschlägt es einem bei der Lektüre die Sprache. Ganz besonders wird er all jene bewegen, denen die Namen Seguí, Ascaso, Jover, Sanz und Durruti nicht unbekannt sind. Wir tauchen ein in das alltägliche Leben Barcelonas kurz vor Beginn der Diktatur unter Primo de Rivera. Wir werden Zeugen des Kongresses in Madrid, auf dem unter den Anarchisten der alte Streit um ihre Grundfragen entbrennt: Soll man die junge bolschewistische Revolution unterstützen, die von der Übergangsdiktatur aufgezwungen wurde, oder soll man sich im Namen des antiautoritären Ideals lieber davon distanzieren? Andreu Nin, Joan Peiró, David Rey, Ángel Pestaña und Hilari Arlandis kommen zu Wort. Es geht um die Canadenca, den großen Streik der Stromgesellschaft Kataloniens, und um das Gefängnis La Model. Auf der anderen Seite rasseln die Arbeitgeberverbände mit den Säbeln. Es geht um den »Hungerpakt«, einen Schwarzgeldfonds zur Unterstützung von Unternehmen in Schwierigkeiten, denen die Aussperrung erleichtert werden soll, es geht um die Listen der Agitatoren, die überall im Land verteilt werden, und um die Bildung von Milizen, den Pistoleros. Täglich gibt es Tote. Ein Mitglied der Guardia Civil erschießt Miquel ohne vorheriges Gerichtsverfahren.

Das Fazit des alten Anarchisten Alzina lautet: »Mit jedem Schritt, den wir vorankamen, machte die Revolution, die für uns über allem stand, einen Schritt zurück. Und dennoch muss die Devise lauten: Weitermachen. Denn andere werden uns folgen …«

Bernard Maris

Charlie Hebdo, 13. August 2014

1 DIE STRASSE VON DAMALS

»Meine Straße« sagt Ana. Dabei hat sie nicht einmal zehn Jahre in der Carrer de Borrell in Barcelona gewohnt. Die Autos, die Seats 1430, die 850er, die schwarz-gelben Taxis, die Kastenwagen der Marke Citroën, die R4s, die roten, braunen, grauen, blauen Autos rauschen die Straße hinauf, alle in dieselbe Richtung, sie heulen, keuchen, knattern, stinken. Aber sobald die Ampel sie auch nur einen Moment zum Stehenbleiben zwingt, geschieht ein kleines Wunder, und die Straße sieht wieder aus wie vor vierzig Jahren.

Fehlt nur der Drehorgelmann, der früher jeden Tag zur selben Zeit seine Pasodobles und Wiener Walzer ableierte. Auch die Eisverkäuferin ist nicht mehr da, die in ihrem Wagen nicht nur Eiscreme, sondern auch die erfrischenden Orxatas anbot. Und der Melonenhändler steht auch nicht mehr an der Kreuzung Borrell-Manso vor seiner Pyramide aus Früchten.

Aber in den Jahren 1937–38 sind schon einmal alle Melonenverkäufer verschwunden gewesen, auch damals hat es keinen Eiswagen und keinen Leierkastenmann mehr gegeben. Auch damals gab es nur noch leere Läden, ein paar Schwarzmarkthändler, die wie Betrüger aussahen und kein Mitleid hatten mit hungernden Familien, so wie der Republikaner Juan Negrín, der aufgerufen hatte zum »Widerstand mit oder ohne Brot«. Ein Aufruf zu Republik und Demokratie. Aber was nutzt uns die Demokratie, wenn es nichts zu essen gibt? Von der Demokratie allein wird keiner satt.

Damals standen die alten Frauen stundenlang an für ein paar Linsen oder Milchpulver. Sie schauten ängstlich zum Himmel, weil sie fürchteten, beim nächsten Bombenalarm ihren Platz in der Schlange aufgeben zu müssen.

Und nach dem Sturm die große Stille. Eine Stille gezeichnet von Tod, Exil, Gefangenschaft. Es war die Stille der schweigenden Mehrheit. Trauer, Wunden, Tränen blieben sorgsam verborgen hinter den Fassaden, in den Herzen, in der Zeit.

Aber den Bäcker gibt es auch heute noch, den Uhrmacher, den Scherenschleifer und den Schuhmacher. Und zwei Häuserblocks weiter hat auf wundersame Weise auch La Esperanza überlebt. Noch immer steht in großen goldenen Lettern auf grünem Marmorimitat die Aufschrift: »Maßanfertigung – Hüte – Regenschirme – Strickwaren«. Und sogar der Brunnen an der Ecke Borrell-Parlament ist noch da. Er hat es aber auch nicht sonderlich schwer gehabt, zu überdauern. Schließlich ist er aus Eisen und städtisches Eigentum. Nur etwas alt sieht er inzwischen aus, mit seinen Janusgesichtern, Muscheln, Seepferdchen, und mit seiner bescheidenen Schale. Doch was kann man mehr erwarten, hier in diesem Stadtviertel, wo früher die sogenannten kleinen Leute wohnten. Damals kamen alle Bewohner des Viertels noch regelmäßig zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Und zu denen, die den Brunnen regelmäßig aufsuchten, gehörten die beiden Mädchen Ana und Llibertat. Vierzig Jahre später steht Ana jetzt wieder vor ihrem Brunnen, einsam und verlassen sieht er aus.

Ana ging damals immer gern zum Brunnen. Das Brunnenwasser schmeckte einfach viel besser als das abgestandene Wasser aus dem Hahn daheim in der Küche. »Puh, wie tote Ratte«, sagte Anas Mutter. Wasser holen, Achtung, nicht den Krug zerbrechen, das hier ist schon der dritte in diesem Monat. Ein schwarzer Krug, in schwarzen Krügen bleibt das Wasser länger frisch; er steht in einer Ecke vom Balkon im Schatten. Wenn man ihn hochhebt, zeichnet sich eine kreisrunde feuchte Stelle am Boden ab, da der Krug aus seinen Poren schwitzt.

Aus der Kohlenhandlung neben der Apotheke ist ein Geschäft für Radios, Fernseher und Elektrogeräte geworden. Ab vier Uhr nachmittags ist das Schaufenster neonhell erleuchtet. Gleichgültig streift Anas Blick das Schild, das ihr mit aufdringlichen Floskeln einen Fernseher anpreist. Warum sollte sie einen Fernseher kaufen? In ihrem eigenen Leben ist schließlich schon genug passiert.

Wie festgewachsen steht sie auf der Straße, wie eine Touristin eine Kathedrale mustert die grauhaarige Frau ein ganz gewöhnliches Haus. Da oben, über der Apotheke, im fünften Stock, Hochparterre, dann noch einmal vier Treppen hoch; ein Balkon für jedes Stockwerk, groß und schmiedeeisern, in der Mitte durch ein Gitter zweigeteilt, schwarze, spitze Stäbe. Zu jeder Wohnung gehörte ein halber Balkon. Da war die Wohnung, da oben unterm Dach, linker Hand. Und in der Wohnung rechts nebenan wohnte früher einmal ihre Freundin Llibertat mit ihren Großeltern Valeriana und Joan Alzina und die ersten Jahre auch mit ihren Eltern, Miquel und Pilar.

Im Balkonzimmer, hinter den geschlossenen Fensterläden, hatten Anas eigene Eltern, Asunción und Germinal, ihre Schneiderwerkstatt. Die Nähmaschine stand damals gut beleuchtet mitten im Raum, an der Wand ein großes Brett auf zwei Böcken. Auf diesem Tisch pflegte Anas Vater die feuchten Stoffe zu dämpfen, bis sie unter seinen Händen weich und formbar wurden. In der Zimmermitte ein niedriges Tischchen unter einer Hängelampe, die sich mit einem weißen Porzellangewicht an einer Kette verstellen ließ. Das war Mutters Platz. Sie war für die Feinheiten verantwortlich, die knifflige Bearbeitung der Knopflöcher und Hosentaschen, die handgenähten Säume an Revers und Kragen, die gleichmäßigen, fest umstochenen Knopflöcher an einem Jackett oder Mantel. Manchmal hielt ein Eilauftrag, ein Trauerfall oder eine Erstkommunion Anas Eltern bis spät in der Nacht bei der Arbeit fest.

Ana hätte als elf- oder zwölfjähriges Mädchen gern mitgeholfen und bat damals immer mal wieder, man möge ihr doch auch eine kleine Aufgabe zuteilen. Und an manchen Tagen, wenn die Eltern es wirklich eilig hatten, ließ man sie tatsächlich mitmachen. Auch Llibertat war in solchen Momenten in der Werkstatt willkommen. Dann trennten die Mädchen Nähte auf, suchten in der Blechdose vier gleiche Ärmelknöpfe zusammen und fädelten Zwirn in Nähnadeln. Aber die Mutter hatte wenig Geduld mit ihnen und schickte die unerfahrenen Helferinnen zumeist schnell wieder fort: »Ihr lernt es nie, ihr zwei. Das ist keine Arbeit für euch. Auch wenn ihr nächtelang durcharbeitet, nie könntet ihr damit unsere Miete bezahlen.« Dann nickte der Vater beifällig, beugte sich wieder über sein Bügelbrett, klopfte auf der Naht eines Schulterpolsters herum und strich über den noch warmen, feuchten Stoff.

In der Portiersloge am Hauseingang hatte früher ein Schuhmacher seine Werkstatt. Von morgens bis abends hörte man ihn, wie er mit seinem Hammer Sohlen und Absätze bearbeitete. Während er mit dem Dorn Löcher ins Leder stach oder die gewachsten Schnürsenkel aus Baumwolle glattrieb, behielt er das Kommen und Gehen der Hausbewohner im Blick. Heute ist die ehemalige Werkstatt des Schusterportiers, in Fortsetzung der alten Tradition, zu einem Schuhgeschäft geworden. Ana überquert die Straße und betritt den Hauseingang. Das Treppenhaus sieht noch genauso aus wie früher. Erstaunlich, welche Freude man angesichts der Patina einer alten Wand empfinden kann, mit ihren Rissen und Spuren aus vergangener Zeit. Entlang der Bordüre aus vergilbten Ranken und Blüten steigt Anna die Treppe hinauf. Hier hat eine Hebamme gewohnt. Ihr Name und die Berufsbezeichnung standen damals auf einem Emailleschild an der Wohnungstür: Doña Dolores Ríos de Antúnez – Hebamme. Das Schild hängt schon lange nicht mehr dort.

Wie oft haben Ana und Llibertat auf diesen Stufen gesessen. Mit Kniestrümpfen, Faltenrock und einer ärmellosen, karierten Schürze. Die eine mit langem, honiggelbem Zopf, der ihr bis zur Taille reichte, die andere mit dichten schwarzen Locken, die sie zum chinesischen Pagenkopf zurechtschnitt. Still saßen die Mädchen auf der Treppe und steckten die Köpfe in ein Buch, ein dickes Märchenbuch mit rotem Einband und Goldschnitt an den Seiten, das größte und harmloseste Buch, das sie hatten finden können, ein Werk, das Llibertat als Auszeichnung für besondere schulische Leistungen bekommen hatte, und das gleichzeitig eine perfekte Tarnung bot. Denn anstelle von »Eselshaut« und »Rotkäppchen« studierten die Mädchen mit glühenden Wangen die Schauergeschichten von Frauen mit weit geöffneten Beinen, denen mithilfe einer Zange blutige Fleischstücke aus dem Leibe gerissen wurden; da gab es Erzählungen von bebrillten Ärzten im weißen Kittel, die so geschickt mit dem Skalpell zu hantieren verstanden wie andere mit der Blockflöte, von gellend schreienden Frauen unter der Geburt, von Babys, die auf die Welt kamen mit zwei Köpfen oder zu vielen Fingern an der Hand oder einem Ohr zu wenig; Babys, die schielten und deformiert waren, Babys, die noch in der blutigen Membran steckten, als sie aus dem Mutterleib kamen, oder andere, die von Kopf bis Fuß mit Fell bedeckt waren wie kleine Katzen. Auch die unterschiedlichen Geschlechtsteile fehlten nicht, deren Namen sie sich nur hinter vorgehaltener Hand auszusprechen trauten, doch eine Sache beschäftigte sie ganz besonders lange: »Ja weißt du, und dann merkt man irgendwann, dass das Kind ein Junge ist, obwohl es da unten eine Ritze hat, wie ein Mädchen …«

Als sie im vierten Stock ankommt, dem Stockwerk, in dem sie selbst gewohnt hat, setzt Ana sich auf den Treppenabsatz und betrachtet die beiden Wohnungstüren: die rosettenförmigen Spione, die schmiedeeisernen Türknäufe, die eiserne Hand des Türklopfers, der jetzt stumm an der Kugel lehnt. Auf genau diesem Treppenabsatz trafen sich Ana und Llibertat jeden Morgen um halb neun, um zusammen zur Schule zu gehen.

Llibertat wuchs bei ihren Großeltern auf. Der Großvater Joan Alzina, Setzer von Beruf, war ein Cousin von Anas Vater Germinal Giner. Er war ein bärtiger Mann mit buschigem Haar, der meistens in Sandalen herumlief und mit seinem freundlichen, entschiedenen Blick aussah wie ein alttestamentarischer Prophet. Das Leben des alten Schriftsetzers war seit jeher von Arbeitskampf und Streiks geprägt, von Verhaftungen im Morgengrauen und wochen-, mitunter monatelangen Aufenthalten in Untersuchungshaft. Seine Tätigkeit als einer der dienstältesten Verantwortlichen der Druckergewerkschaft in Barcelona war kein einträgliches Geschäft, nur ein Ehrenamt, andererseits bekam Alzina als leitender Direktor, der bei der Zeitung Tierra y Libertad für die aktuelle Berichterstattung zuständig war, regelmäßig Schwierigkeiten für Artikel, die er gar nicht selbst geschrieben hatte, und für Ideen, die er nicht immer teilte.

Seit dem Tag, an dem die Giners in die Wohnung neben Joan und Valeriana Alzina eingezogen waren, teilten die beiden Familien alles miteinander, und die Mädchen wurden unzertrennlich.

Llibertat besaß noch einen zweiten Vornamen. Als sie wenige Monate alt war, hatte eine reiche Tante der Familie das Kind anlässlich einer Familienfeier in Barbastro hinter dem Rücken ihres Vaters auf den Namen Montserrat taufen lassen. Der anarchistische Großvater quittierte den christlichen Beinamen mit schallendem Gelächter. Trotz allem Unglück, das ihm widerfahren war, wartete der alte Alzina mit derselben Überzeugung auf die Revolution wie andere Völker auf die Ankunft des Messias. Der Tag würde kommen, unausweichlich, so sicher wie der Regen und das Amen in der Kirche.

Noch immer sitzt Ana mit geschlossenen Augen auf dem Treppenabsatz, um von dort aus den beiden Mädchen zuzusehen, die, in ihr Fadenspiel vertieft, mit flinken Fingern eine an den Enden verknotete Schnur verschiedenste Formen annehmen ließen, während sie diese Verse aufsagten:

der Spie-gel … die Wie-ge … zwei We-ge …

ei-ne Spin-ne spinnt ihr Netz …

2 RAZZIA

Als der alte Alzina an jenem Abend von seiner Arbeit aus der Druckerei nach Hause kam, betrat er die benachbarte Schneiderwerkstatt, um auf andere Gedanken zu kommen. Am einen Ende des langen Tisches saßen die beiden Mädchen. Ana plagte sich mit den Hausaufgaben, die Llibertat, die immer alles aus dem Ärmel schüttelte, bereits erledigt hatte. Als der Großvater eintrat, bemerkte seine Enkelin sofort, wie besorgt er war. »Wir Anarchisten«, dachte er sich, »haben wirklich nicht genug Vorsicht walten lassen.« Nach dem Rücktritt des Generalgouverneurs von Katalonien war in den liberalen und revolutionären Kreisen eine regelrechte Euphorie ausgebrochen. Sie hatten schlichtweg vergessen, dass noch immer überall Verräter lauerten. Gerade erst waren zwei ausländische Delegierte verhaftet worden, die beim bevorstehenden Kongress sprechen sollten. Die beiden saßen im Model, dem neuen Gefängnis in der Carrer d’Entença.

Ein paar Tage später kamen Opa Alzina und Anas Vater Germinal abends nicht nach Hause und blieben spurlos verschwunden. Anas Mutter Asunción war sehr beunruhigt und zerbrach sich zusätzlich den Kopf: Wie sollte sie ganz allein die Arbeit in der Schneiderwerkstatt bewältigen? Beim Zusammennähen eines Jacketts, beim Ansetzen eines Kragens oder eines Ärmelaufschlags konnte man nicht schludern. Außerdem brauchte man ein zweites Paar Hände zum Bügeln.

So vergingen mehrere Tage. Am Samstag putzte Asunción die Wohnung und Ana stand ihr dabei nur im Weg herum. Ana presste ihre Nase an die Scheibe und hielt sich damit auf, ein Stück Fenster zu betrachten, das von ihrem Atem beschlagen war. Ach wenn doch wenigstens Llibertat zu Hause wäre! Sie hätten sich zusammen ein Spiel ausdenken können, irgendeinen Zeitvertreib. Da klopfte es plötzlich an der Tür. Die Mutter hielt inne und stand wie versteinert.

»Vielleicht ist das Llibertat«, rief Ana.

»Nein. So würde Llibertat nie klopfen,« sagte die Mutter, nahm die Tochter bei der Hand, und sie gingen in den dunklen Flur. Asunción warf einen Blick durch den Spion und machte die Tür auf. Aber tatsächlich, vor ihr stand Llibertat in Begleitung ihrer Großmutter. Nur waren die zwei nicht allein: Hinter ihnen zeichneten sich die Umrisse zweier Herren ab.

»Polizei«, sagte der eine, während Valeriana hinter ihm gestikulierte und zu einer Erklärung anhob.

»Polizei!«, rief der Mann noch einmal laut und schubste Valeriana und Llibertat in die Wohnung. Einer der Männer zeigte flüchtig seinen Ausweis. Es war nicht das erste Mal, dass die Geheimpolizei einem Gewerkschafter in der Carrer de Borrell einen Besuch abstattete. Alle diese Besuche ähnelten einander mit ihren Einschüchterungsritualen.

»Sind wir hier in der Wohnung von Germinal Giner, dem Cousin von Joan Alzina?«

»Ja, das sind Sie.«

»Und wo ist Herr Giner jetzt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie wissen es nicht? Sind Sie nicht seine Frau?«

Noch bevor sie antworten konnte, ging der andere dazwischen:

»Sind Sie nun seine Frau oder seine … ›Freundin‹?«

»Ich bin seine Frau, und seine Freundin.«

»Seit wann ist er weg?«

»Seit vier Tagen, glaube ich.«

»Ah. Sie glaubt. Er hat vor vier Tagen seine Familie und seine Arbeit verlassen, und sie weiß es nicht genau? Machen Sie sich keine Sorgen?«

»Nein, ich mache mir keine Sorgen. Wenn er nicht hier ist, wird er wohl woanders sein.«

»Werden Sie mir ja nicht frech, sonst nehme ich Sie an seiner Stelle mit ins Quartier.«

»Haben Sie einen richterlichen Befehl?«

»Nein, aber den kann ich mir holen, damit bin ich in weniger als einer Stunde wieder hier.«

»Sehr gut. Dann gehen Sie.«

Aber auch ohne Gerichtsbeschluss machten die zwei Polizisten sich daran, die Wohnung zu durchsuchen. Sie demonstrierten, dass es in ihrer Macht stand, diese Menschen zu demütigen, die es wagten, keine Angst zu zeigen. Sie machten Schubladen auf und schlugen sie wieder zu, durchwühlten die Kleidung in den Schränken, warfen die Wäsche zu Boden, dann die Bücher: Bakunin … Stuart Mill … Dickens … Zola … Victor Hugo … Leo Tolstoi … Alles eindeutige Beweise für die Verdorbenheit der Familie Giner. Als sie endlich abzogen, murmelte Asunción:

»Vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Wenn sie hier nach ihnen suchen, heißt das, sie haben sie bisher nicht gefunden.«

Traurig ließ Asunción ihre Blicke über die Unordnung schweifen. So geht man nicht mit Büchern um! Großmutter Valeriana und Asunción sammelten die Bücher behutsam auf, strichen die Seiten glatt und rückten die Deckel zurecht, bevor sie die Bände zurück ins Regal stellten. Die beiden Mädchen hatten den Büchern bislang kaum Beachtung geschenkt und waren verwundert über den stillen Eifer der Frauen.

Da stand Valeriana ganz unvermittelt auf, verließ das Zimmer und verzog sich in die Werkstatt. Die Mädchen und Asunción folgten ihr und fanden sie weinend, den Kopf in den Händen verborgen. Asunción legte ihr den Arm um die Schulter:

»Joan ist bestimmt nicht in Gefahr.«

»Ich weiß … ich weiß. Es ist nicht wegen Joan.«

»Sondern?«

»Miquel … Mein armer Miquel! Jetzt ist es schon acht Jahre her … Genau so sind sie damals gekommen, in der Nacht, sie haben alles durchwühlt und ihn einfach mitgenommen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe.«

Das Ende dieses Tages war kurz und traurig. Valeriana ging bald schlafen und nahm ihre Enkelin mit.

»Kann ich bei dir im Bett schlafen, Mama?«, fragte Ana.

Der schmale Körper der Kleinen schmiegte sich in die wohlige Wärme des verlorenen Paradieses, das der Körper der Mutter für ein zehnjähriges Kind ist.