Andromeda - Die Evolution - Michael Crichton - E-Book

Andromeda - Die Evolution E-Book

Michael Crichton

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1967 stürzte eine unbemannte US-Raumsonde über Arizona ab. An Bord befand sich ein außerirdischer Mikroorganismus, der jeden getötet hat, der damit in Kontakt kam. Ein Team aus den besten Wissenschaftlern schaffte es, die Verbreitung des Organismus, den sie Andromeda getauft hatten, zu verhindern. In der Fairchild Air Force Base wacht seither das Project Eternal Vigilance über die Erde: Es soll beim geringsten Anzeichen eines Andromeda-Ausbruchs losschlagen können. Jetzt, nach Jahrzehnten ohne einen Zwischenfall, steht die Task Force kurz vor dem Aus. Da entdeckt eine Drohne mitten im brasilianischen Dschungel die chemische Signatur Andromedas. Doch der extraterrestrische Organismus hat sich weiterentwickelt – zu einer noch tödlicheren Gefahr für die Menschheit ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 418

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Vor fünfzig Jahren ist in Piedmont, Arizona, eine unbemannte US-Raumsonde gelandet und hat ein Andromeda genanntes außerirdisches Mikropartikel eingeschleppt. Nahezu alle Einwohner und die Mitglieder des Bergungsteams starben. Fünf Jahrzehnte später entdeckt eine Drohne über dem Amazonasbecken eine nicht klassifizierbare Struktur, die offenbar in der Lage ist, sich selbst zu reproduzieren und zu wachsen. Für die Vegetation in ihrer Umgebung ist sie ebenso tödlich wie für die Eingeborenen. Vermutlich ist das Andromeda-Partikel beim Absturz einer chinesischen Raumstation erneut auf die Erde gelangt. Experten sollen im Amazonasdschungel der Sache auf den Grund gehen. Als die Mitglieder des Wildfire-Teams die Anomalie erreichen, stellen sie fest, dass das Phänomen rasch weiterwächst und einen Fluss gestaut hat, um durch Wasserkraft Energie zu erzeugen. Das US-Einsatzkommando will die Anomalie durch einen Luftangriff zerstören, doch das Wildfire-Team entschließt sich, die Struktur zu erforschen. Dabei ahnen die Wissenschaftler nicht, dass sie eine mächtige Gegenspielerin haben, die ganz andere Pläne verfolgt …

»Mit ›Andromeda‹ hat Michael Crichton ein neues Genre erfunden – den Wissenschaftsthriller.« San Francisco Chronicle

DIE ANDROMEDA-SAGA

Michael Crichton: Andromeda

Michael Crichton, Daniel H. Wilson: Andromeda – Die Evolution

DER AUTOR

Michael Crichton wurde 1942 in Chicago geboren und studierte in Harvard Medizin; seine Romane, übersetzt in mehr als 36 Sprachen, verkauften sich über 200 Millionen Mal, dreizehn davon wurden verfilmt. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen »Next«, »Timeline« und »Jurassic Park«. Crichton ist bis heute der einzige Künstler, der es schaffte, mit Film, Fernsehserie und Roman gleichzeitig die ersten Plätze der Charts zu belegen. Im November 2008 starb Michael Crichton im Alter von 66 Jahren.

MICHAEL CRICHTON

DANIEL H. WILSON

ANDROMEDADie Evolution

Roman

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Adam und Kristof Kurz

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel ANDROMEDA EVOLUTION erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 4/2021

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2020 by CrichtonSun, LLC

Copyright © 2021 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Geviert Gbr, München, nach einem Entwurf von Unusual Corporation/Will Staehle, unter Verwendung von Shutterstock.com/JoyImage, Gettyimages/ICHIRO

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-26513-7V002

diezukunft.de

Inhalt

Vorwort

Tag 0 Kontakt

Ereignisklassifizierung

Fairchild Air Force Base

Alarm

TAG 1 TERRA INDIGENA

Ausweichmanöver

Himmelspalast

Codename Andromeda

Ankunft

Einsatzbesprechung

Frachtliste

Tag 2 Wildfire

Morgendliche Entdeckung

In der Quarantänezone

Genauere Analyse

Unvollständige Informationen

Die zweite Nacht

Tag 3 Die Anomalie

Nächtlicher Überfall

Alpha und Omega

Morgenlicht

Indios Bravos

Kontaktaufnahme

Plan B

Die Anomalie

Notfallplan

Tag 4 Durchbruch

Operation Verbrannte Erde

Angriff in der Morgendämmerung

Der Eingang

Abstieg

Evolutionen

Spurensuche

Kampf oder Flucht

Ausnahmezustand

Der Tunnel

Große Pläne und ihr Scheitern

Überflutung

Aktivierung

Tag 5 Aufstieg

Paradigmenwechsel

Der Finger Gottes

Neuausrichtung

Z-Achse

Letzte Vorbereitungen

Nächster Halt: ISS

Andockvorgang

Stones Theorie

Wiedervereint

Abschiede

Abgehört

Mach 2

Auflösung

Jenseits von Eden

Epilog

Nachwort

Quellenangaben

Anmerkungen

Für M.C.

Andromeda – Die Evolution

DIESES DOKUMENT UNTERLIEGT DER HÖCHSTEN GEHEIMHALTUNGSSTUFE

Die Einsichtnahme ist ausschließlich autorisierten Personen gestattet. Eine Zuwiderhandlung stellt eine Straftat dar und wird mit einer Geldbuße von bis zu 250.000 $ und einer Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren geahndet.

NEHMEN SIE DIESE AKTE NUR MIT UNGEBROCHENEM SIEGEL VOM KURIER AN.

Kuriere sind gesetzlich verpflichtet, sich den Ausweis 7592 vorlegen zu lassen. Es ist ihnen nicht gestattet, dieses Dokument an Personen ohne diesen Nachweis auszuhändigen.

FÜR DIE MASCHINELLE DATENVERARBEITUNG:

Vorwort

Die folgenden Seiten enthalten die sorgfältige Rekonstruktion einer fünf Tage währenden Krise, die beinahe zur Auslöschung der gesamten Menschheit geführt hätte.

Zuallererst soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die fortschrittliche Technologie unserer modernen Welt nicht die Ursache dieser Krise war – auch wenn sie zu ihrer Verschärfung beitrug. Auf die Evolution des Andromeda-Stamms reagierte man wohlorganisiert und mit allen Mitteln moderner Wissenschaft. Jedoch führte der Einsatz ebendieser Mittel auch zu tragischen Fehlern, die schreckliche Zerstörung und Todesopfer zur Folge hatten.

Trotzdem muss diese Geschichte erzählt werden – heute mehr denn je.

Gegenwärtig leben viele Milliarden Menschen auf der Erde, mehr als jemals zuvor. Das ist nur möglich, weil wir dank des technischen Fortschritts eine umfangreiche Versorgungsinfrastruktur aufbauen konnten. Und jeden Einzelnen von uns könnte es schon morgen nicht mehr geben, sollte diese Infrastruktur einmal versagen.

Mit diesem minutiösen Bericht möchte ich die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Fortschritts ebenso wie seine Grenzen aufzeigen – im Guten wie im Schlechten.

Eine derart akkurate und detaillierte Rekonstruktion wäre ohne die freundliche Mitarbeit derjenigen, die direkt oder indirekt mit dieser Katastrophe zu tun hatten, ebenso wenig möglich gewesen wie ohne die kleine Armee von Fachleuten und all jenen, die in mühevoller Kleinarbeit alles recherchiert haben. Ihnen allen möchte ich danken und gleichzeitig die volle Verantwortung für jegliche Fehler im Manuskript übernehmen.

Mein aufrichtiger Dank geht an Captain Jake B. Wilcox, US Air Force (Ret.); Liu Wang, PhD, Chinesische Raumfahrtbehörde (CSNA); Deepayan Khan, PhD, Carnegie Mellon Robotics Institute; David Baumann, Chicago Dynamics Incorporated; Ricardo Boas, Behörde für indigene Angelegenheiten (FUNAI), und Jane Hurst, PhD, NASA (Johnson Space Center). Sie alle haben das Buch Kapitel für Kapitel durchgesehen und technische Korrekturen beigetragen.

Erst die Arbeit von Prof. Dr. Pamela Sanders, Colonel der US Army und Leiterin des Department of Electrical Engineering and Computer Science an der US Military Academy in West Point hat dieses Projekt überhaupt möglich gemacht. Prof. Dr. Sanders und ihre unermüdlichen Studenten sicherten, transkribierten und ordneten Tausende Stunden Videomaterial, Audioaufnahmen und Sensor-Rohdaten von verschiedenen Kameras, Logbüchern der Internationalen Raumstation, geborgenen Drohnen und Aufklärungssatelliten (in Kooperation mit dem National Reconnaissance Office).

Ganz besonders möchte ich den Überlebenden des Wildfire-Teams danken, die sich nach dem offiziellen Ende ihrer Mission mit mir getroffen haben und jedes noch so kleine Detail mit mir durchgegangen sind. Einige Teammitglieder weilen nicht mehr unter uns. Meine tiefe Dankbarkeit gilt ihren Freunden, Arbeitskollegen und Familienmitgliedern, die trotz ihrer Trauer bereit waren, jene privaten Details mit mir zu teilen, die mir dabei halfen, Persönlichkeit, Fachkenntnisse und Motivation dieser einzigartigen Menschen herauszuarbeiten. Nur dank der großherzigen Hilfsbereitschaft dieser Angehörigen konnte aus einer sehr trockenen und technischen Wiedergabe der Ereignisse eine lebendige und mitfühlende Erzählung werden.

Neben harten Fakten habe ich auch eine Menge persönlicher Erlebnisberichte zusammengetragen – in der Hoffnung, so die besondere Atmosphäre aus Angst und Neugier einzufangen, die während dieser fünf Tage unter den Beteiligten herrschte. An einigen Stellen muss sich der Leser allerdings mit sehr knappen technischen Beschreibungen begnügen, da hier nur wenige Daten zur Verfügung standen. Aber wann immer möglich wurden die persönlichen Ansichten, Gedanken und Gefühle der Beteiligten – wie sie im Nachhinein wiedergegeben wurden – in den Bericht aufgenommen.

Zum Schluss möchte ich aber noch jene Arbeit erwähnen, ohne die dieser Bericht nicht möglich gewesen wäre: Das bahnbrechende Werk des mittlerweile verstorbenen Michael Crichton, MD – eines Visionärs, der die Mauer des Schweigens eingerissen und einer fassungslosen Öffentlichkeit den ersten Andromeda-Zwischenfall enthüllt hat. Seine vor mittlerweile fünfzig Jahren publizierte Darstellung des ersten Andromeda-Zwischenfalls öffnete Millionen Lesern die Augen in Bezug auf das enorme Potenzial wie auch die großen Gefahren des wissenschaftlichen Fortschritts. Zusammen mit vielen anderen bin ich Crichton für sein Werk unendlich dankbar und stehe tief in seiner Schuld.

Es erscheint entmutigend, dass in dieser Krise die gleiche menschliche Hybris und die gleichen Kommunikationspannen auftraten wie beim ersten Zwischenfall. Manches war auch einfach Pech – ebenso wie beim ersten Andromeda-Zwischenfall. Dabei liegt es mir aber fern, irgendeine Institution oder irgendjemanden persönlich an den Pranger zu stellen. Jeder sieht sich als Held seiner eigenen Geschichte – das gilt auch für diejenigen, die wir später als die Bösewichte identifizieren.

Das Urteil darüber möchte ich dem Leser überlassen.

Die in diesem Buch beschriebenen Wissenschaftler, Astronauten und Soldaten, die alles hautnah miterlebten, sind allesamt Menschen mit Stärken und Schwächen. Manche von ihnen zeigten überraschenden Mut im Angesicht tödlicher Gefahr, andere versagten im entscheidenden Moment. Aber alle vollbrachten bedeutende Leistungen – denn immerhin sind wir alle noch hier, noch am Leben und in der Lage, diese Aufzeichnung des Überlebens der Menschheit zu lesen und daraus etwas zu lernen. Diese Aufzeichnung ist mittlerweile unter ihrem Codenamen bekannt: Andromeda – Die Evolution.

D. H. W.

Portland, Oregon

Januar 2019

Tag 0 Kontakt

Die Zukunft wird schneller zur Gegenwart, als es sich die meisten Menschen träumen lassen.

Michael Crichton

Ereignisklassifizierung

Als alles seinen Anfang nahm, war Paulo Araña schon seit langer Zeit einfach nur gelangweilt. Gelangweilt und müde. Der sertanista war nun Mitte fünfzig und würde die brasilianische Behörde für indigene Angelegenheiten – bekannt unter ihrer portugiesischen Abkürzung FUNAI – noch im selben Jahr verlassen, um in den Ruhestand zu gehen. Sein ganzes Arbeitsleben hatte er in einer Station am Rand des von der Regierung geschützten, unerschlossenen Amazonas-Territoriums im Inneren Brasiliens verbracht. Dort saß er auch jetzt, träge aufgrund der morgendlichen Hitze, unter einer flackernden, mit dem Strom eines Generators betriebenen Glühbirne. Von draußen drangen die vertrauten Geräusche des ungezähmten Dschungels durch das offene Fenster in die Überwachungsstation.

Paulo hatte mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht und trug eine verschwitzte olivgrüne FUNAI-Uniform. Er saß an einem alten metallenen Schreibtisch mit verschiedenen elektronischen Geräten. Wie immer blickte er nach unten auf seinen Schoß, während er sich mit seinen dicken Fingern überraschend geschickt eine Zigarette drehte.

Seine Bewegungen waren sicher und schnell, ohne Zögern oder Zittern, auch wenn sein Backenbart bereits ergraut war und seine Augen immer schlechter wurden.

Als er seinen cigarro schließlich anzündete und zufrieden daran zog, übersah er das rot blinkende Warnlicht auf dem Bildschirm.

Es handelte sich dabei lediglich um einen kleinen Fehler, der unter normalen Umständen harmlos gewesen wäre. Aber an diesem Morgen sollte er sich als folgenschwer erweisen. Und diese Folgen waren in diesem Moment bereits dabei, katastrophale Ausmaße anzunehmen. Das Licht blinkte nämlich schon seit dem späten Nachmittag des Vortages, wurde aber von einem sich wellenden gelben Post-it mit der Wegbeschreibung zu einem nahe gelegenen Angelplatz verdeckt.

Die blinkenden Pixel signalisierten den Beginn eines globalen Notfalls.

Etwa dreihundert Meter über Paulo bewegte sich ein unbemanntes Luftfahrzeug von der Größe eines Schulbusses brummend durch die Luft. Am Fahrgestell der in Israel hergestellten Drohne mit dem Spitznamen Abutre-rei – »Königsgeier« auf Portugiesisch – klebte noch der rötliche Matsch einer unbefestigten Landebahn, und die weiße Außenhaut war von toten Insekten übersät. Trotzdem wirkte die schnittige, raubtierartige Drohne, als ob es sie aus einer fernen Zukunft in dieses prähistorische Land verschlagen hätte.

Der Abutre-rei patrouillierte über dem grünen, sich zu allen Seiten bis zum Horizont erstreckenden Blätterdach des Dschungels. Das selbstreinigende schwarze Auge der gyrostabilisierten Kamera beobachtete beständig den Dschungel unter ihm, und die Funkwellen des Breitbandradars mit synthetischer Apertur vom Typ Seeker durchdrangen dabei Regen, Staub und Nebel. Hin und her, hin und her. Die Drohne war auf Umweltüberwachung und Luftbildvermessung spezialisiert – und unablässig damit beschäftigt, ihre ultrahochauflösende Karte des Amazonasbeckens zu aktualisieren.

Paulo sah in seiner Überwachungsstation nur mit halbem Auge dabei zu, wie die Karte auf dem Monitor beständig neu berechnet wurde. Ab und zu stieg ein wenig bläulicher Rauch von seinem cigarro auf, der wie üblich nass vor Spucke in seinem Mundwinkel hing.

Genau um 14:08:24 UTC sorgte eine kleine Veränderung dafür, dass nichts mehr sein würde wie zuvor.

In diesem Moment erschien ein neuer vertikaler Streifen kartierten Landes auf dem Bildschirm, und das bislang unbemerkt blinkende Warnlicht wurde um fünfzig Pixel nach links verschoben. Es schaute nun gerade so unter dem Post-it hervor.

Paulo Araña starrte den pulsierenden roten Lichtpunkt fassungslos an.

Auf dem geborgenen Videomaterial einer Webcam ist zu sehen, dass er immer wieder ungläubig die Augen zukneift. Er reißt das Post-it ab und zerknüllt es in der Hand.

Der blinkende Punkt befand sich neben einer briefmarkengroßen Abbildung, die der Abutre-rei im Dschungel entdeckt hatte und die sich Paulo nicht einmal ansatzweise erklären konnte.

Paulo Arañas Aufgabe bei der FUNAI bestand darin, ein Sperrgebiet im östlichsten Teil des oberen Amazonasbeckens zu schützen. Die über zweiundachtzigtausend Quadratkilometer unberührter Dschungel waren ein unbezahlbarer Schatz. Zum einen wegen der größten Artenvielfalt auf der Erde, zum anderen wegen der etwa vierzig unkontaktierten Stämme, die in dieser Terra Indigena lebten – kleine Inseln indigener Zivilisation mit wenig oder keinem Kontakt zu der Technologie und den Krankheiten der restlichen Welt.

Das rohstoffreiche Land befand sich in ständiger Gefahr. Wie eine Armee von Termiten drangen notleidende Einheimische in das Schutzgebiet ein, um in den unberührten Flüssen zu fischen oder gefährdete Tierarten zu jagen. Holzfäller wurden von den riesigen kurana angelockt, Westindischen Zedern, für deren Holz man auf dem Schwarzmarkt viele Tausend Dollar bekam. Und natürlich stellten die narcotraficantes auf ihrem Weg vom Süden Brasiliens nach Mittelamerika eine gefährliche Plage dar.

Diese Wildnis zu schützen verlangte ständige Aufmerksamkeit.

Paulo tippte mit einem nikotingelben Finger auf eine Taste, um Marvin zu aktivieren. Der unter den Schreibtisch gezwängte Computer war ein Überbleibsel eines vor mehreren Jahren gemeinsam mit einem US-amerikanischen Graduiertenprogramm durchgeführten Forschungsprojekts. Sein etwas mitgenommenes beigefarbenes Plastikgehäuse war bis auf einen mit Klebeband befestigten verblassten Ausdruck einer Simpsons-Figur völlig unauffällig.

In seinem Inneren beherbergte Marvin jedoch ein ausgefeiltes neuronales Netz, das mithilfe Tausender Quadratkilometer echter und über hundert Millionen Quadratkilometer simulierter Dschungelbilder ausgestattet war.

Marvin war in der Lage, eine nur vierhundert Meter lange Landebahn für Drogenkurier-Flugzeuge irgendwo in einem entlegenen Fleckchen des Dschungels ebenso zuverlässig zu identifizieren wie die Straßen illegaler Holzfäller, die sich wie Schneckenspuren durch den unberührten Dschungel zogen, selbst wenn größere Bäume absichtlich zur Tarnung stehen gelassen worden waren, oder die maloca-Hütten unkontaktierter Stämme – seltene private Einblicke in eine fremde Welt.

Das Programm konnte etwa fünfundzwanzig Quadratkilometer innerhalb von Sekunden mit extrem hoher Auflösung durchsuchen – etwas, was keinem Menschen möglich war, egal wie ambitioniert er auch an die Arbeit ging.

Marvin war muito inteligente – und hatte die neuen Daten einfach als nicht klassifizierbar abgelehnt. Da es in seinen Petabytes an Trainingsdaten nirgends vorkam, war es dem Algorithmus völlig unbekannt.

Tatsächlich hatte noch nie irgendjemand so etwas gesehen.

Und so lautete die Meldung schlicht und einfach: KLASSIFIZIERUNG: UNBEKANNT.

Marvin konnte nicht einmal eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben.

Paulo gefiel das alles überhaupt nicht. Er grunzte überrascht, wobei die Zigarette zwischen seinen Lippen zitterte. Seine Finger flogen über die Tastatur, er vergrößerte das winzige Vorschaubild und betrachtete es von allen Seiten – in der Hoffnung, es als Fehler zu entlarven. Doch der seltsame Anblick blieb unerklärlich.

Mitten im tiefsten Dschungel wuchs etwas Schwarzes in die Höhe. Etwas Schwarzes und sehr Großes.

Paulo wedelte mit einer Hand den Rauch beiseite und rückte so nah an den Bildschirm, dass sein dicker Bauch gegen das kühle Metall des Schreibtischs gepresst wurde. Dann blinzelte er und schob den Kopf noch näher an den schwach beleuchteten Bildschirm heran. Der kalte Schweiß auf seiner beginnenden Glatze glänzte im harten Licht der Glühlampe an der Decke über ihm.

»No«, hört man Paulo auf der Aufzeichnung zu sich selbst sagen. »Isto é impossível.«

Er drückte einen Knopf an einem schon ziemlich ramponierten 3D-Drucker und wartete ungeduldig, während die Rohdaten an die klobige Maschine übermittelt wurden. Bald breitete sich in der Hütte ein Geruch wie von warmem Wachs aus. Zentimeter für Zentimeter wurden Schichten aus geschmolzenem Plastik auf einer Arbeitsplatte aufgetragen und dann mithilfe mehrerer Laser ausgehärtet. Innerhalb von Sekunden wurde so aus einem zunächst formlos erscheinenden Matsch Schicht für Schicht eine dreidimensionale topografische Karte.

Das blassweiße Plastikgebilde wuchs immer höher und zeigte nun ein detailliertes Abbild des Dschungels von oben. Das Ganze erinnerte stark an ein Feld mit Blumenkohlköpfen.

Geistesabwesend rollte sich Paulo eine weitere Zigarette und versuchte sich dabei nicht von dem Drucker ablenken zu lassen, der aus dem flüssigen Plastik langsam eine ganze Welt erschuf. Jede neue Plastikschicht härtete in Sekundenschnelle zu einer weiteren Ebene eines maßstabsgetreuen Modells des Dschungels aus. Paulo keuchte leise und ließ einen Fingerknöchel nach dem anderen knacken. Dann saß er einfach nur schweigend mit leerem Blick da und rauchte.

Es kam äußerst selten vor, dass Marvin ein Ergebnis mit weniger als achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ausspuckte. Dann war es Paulos Aufgabe, dieses Ergebnis einzuordnen. Dazu benutzte er ein sorgfältig trainiertes Sinnesorgan, das der Maschine nicht zur Verfügung stand: seinen Tastsinn.

Der Tastsinn ist die urtümlichste sensorische Fähigkeit aller Lebewesen. Der menschliche Körper ist nahezu komplett mit Berührungssensoren überzogen. Das mit dem Tastsinn verknüpfte neuronale Netz arbeitet auf verschiedene, noch nicht erforschte Weisen mit vielen anderen Sinnesorganen zusammen. Besonders empfindsam sind die zahllosen Mechanorezeptoren der Lippen, der Zunge, der Füße und – ganz besonders – der Fingerspitzen.

Dies war ein Gebiet, auf dem der Mensch der Maschine überlegen war – und hier kam Paulos besonderes Talent ins Spiel.

Mit halb geschlossenen Augen legte er zunächst acht Fingerkuppen leicht auf die Oberfläche des Modells. Dann verstärkte er behutsam den Druck, um einen Referenzwert für das weitere Ertasten festzulegen. Schließlich strich er mit den Fingern seitwärts über das minutiös nachgebildete Blätterdach.

Ein sorgfältig ausgebildeter Tastsinn arbeitet genauer als der Gesichtssinn. Jeder Zoll des Modells stellte etwa knapp hundert Meter des realen Dschungels dar. Die Konturen waren somit so winzig, dass sie nur mittels des Tastsinns der Haut erfasst werden konnten, der feinere Unterschiede als jedes Bildanalyseprogramm wahrnehmen konnte – egal, wie schlau der Computer auch sein mochte.

Paulo konnte seine Fingerspitzen über das Blätterdach des Dschungels gleiten lassen und fühlen, ob die unklassifizierbaren Daten die zerfaserte Wunde einer mit der Motorsäge in den Dschungel geschnittenen Landebahn oder einfach nur das glatte Ufer eines unberührten Flusslaufs darstellten.

Mit geschlossenen Augen und im Mundwinkel hängender Zigarette hing Paulo mit zur Decke gewandtem Gesicht in seinem Stuhl. Seine ausgestreckten Hände erspürten die Oberfläche des Dschungels, als wäre er ein blinder Gott, der die Erde berührte.

Als seine suchenden Finger die harten, unnatürlichen Linien des … Dings berührten, musste Paulo Araña einen tiefen Seufzer unterdrücken. Was immer das war, es existierte wirklich. Aber es gab keine Straßen in der Nähe. Keine Hinweise auf eine Baustelle. Das war völlig unmöglich – dieses riesige Ding, mitten im unberührten Wald und komplett abgeschnitten vom Rest der Welt – und doch war es so real wie der stoppelige Bart an seinem Kinn.

Das von Dschungel umgebene Ding hatte eine Höhe von mindestens dreißig Metern und eine längliche, leicht gebogene Form, die ihm ein barrikadenartiges Aussehen verlieh. Dieser Fremdkörper mitten in dem über viele Tausend Quadratkilometer unberührten Regenwald schien aus dem Nichts gekommen zu sein.

Rund um das Gebilde herum ertastete Paulo eine krümelige Struktur, eine Todeszone mit Tausenden kranker und umgestürzter Bäume. Von diesem Ding ging eine Art Pest aus, die alles um sich herum verseuchte.

Eine Weile saß Paulo einfach nur da und dachte darüber nach, ob er über das antiquierte FUNAI-Kurzwellenfunkgerät auf seinem Schreibtisch einen Notruf absetzen sollte. Sein Blick blieb an den silbernen Knöpfen und Reglern hängen, während der Generator draußen eifrig vor sich hin ratterte und für den notwendigen Strom sorgte, um die Verbindung zur Außenwelt aufrechtzuerhalten.

Paulo rückte vom Schreibtisch weg und tastete unter den Schubladen des Tischs herum, bis er eine dort festgeklebte Visitenkarte fand. Auf ihr stand die Telefonnummer eines jungen Amerikaners, der ihn vor Kurzem kontaktiert hatte.

Er hatte sich als Geschäftsmann ausgegeben und Paulo erzählt, dass vor nicht allzu langer Zeit ein chinesisches Flugzeug über diesem Gebiet abgestürzt sei. Seine Firma sei bereit, viel Geld für Informationen über dieses Flugzeug zu bezahlen. Paulo hatte angenommen (und das tat er immer noch), dass der Amerikaner auf der Suche nach Wrackteilen war – auch wenn er das so nicht gesagt hatte. Stattdessen hatte er Paulo gebeten, alles zu melden, was ihm »seltsam« vorkam.

Und das hier war definitiv »seltsam«.

Er wischte sich mit den Händen über den Schweiß, der sein Gesicht wie Tränen überzog, betrachtete die Visitenkarte, griff zu dem Telefon auf dem Schreibtisch und wählte.

Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich ein Mann mit amerikanischem Akzent.

»Gut, dass Sie anrufen, Mr. Araña«, sagte der Mann. »Ich wusste doch gleich, dass ich Ihnen vertrauen kann.«

»Sie wissen bereits Bescheid?«, fragte Paulo und sah zum Bildschirm seines Computers hinüber.

»Marvin hat sich eben bei mir gemeldet, als Sie die Anomalie zur Klassifizierung auf ihn übertragen haben«, sagte der Mann. »Er ist schlauer, als er aussieht.«

Diese hinterhältigen Amerikaner überraschten Paulo immer wieder. Sie schienen so vertrauensselig und direkt und lächelten immer … und dennoch …

»Und jetzt?«, fragte Paulo.

»Sie können sich entspannen, Mr. Araña. Unsere Leute kümmern sich darum. Und Sie werden selbstverständlich angemessen für Ihre Hilfe entschädigt werden. Aber ich bin neugierig«, sagte der Mann. »Was glauben Sie, was das ist?«

»Ich bin mir sicher, dass es sich dabei nicht um einen Fehler handelt, senhor. Das Ding gibt es wirklich. Ich habe es berührt.«

»Und?«

Paulo dachte einen Moment lang nach, bevor er antwortete. »Es ist wie eine Seuche. Es tötet alles, womit es in Kontakt kommt. Aber ich habe keine Vorstellung, was es sein könnte.«

»Warum?«

»Dieses Ding da draußen im Dschungel … Dieses Ding wurde nicht von Menschenhand gebaut.«

Fairchild Air Force Base

Etwa achttausend Kilometer entfernt in der Nähe von Tacoma im US-Bundesstaat Washington traf Colonel Stacy Hopper gerade zu einer ruhigen Frühschicht an der Fairchild Air Force Base ein. Dabei kam ihr eine Rumpfmannschaft von Nachrichtendienstanalytikern entgegen, die gerade von ihrer Nachtschicht nach Hause gingen. Sie hinterließen matt leuchtende Bildschirme und ordentlich aufgeräumte Schreibtische sowie ein paar spärliche Einträge im Arbeitsprotokoll – wie immer gab es nicht viel zu berichten.

Hopper trug eine makellose blaue Air-Force-Uniform, dazu eine Dienstmütze, Krawatte und schwarze Strumpfhosen. Mit einer Thermoskanne voll Kaffee im Arm sah sie sich kurz in dem fensterlosen Kontrollraum um. Die acht uniformierten Analytiker ihrer Frühschicht ließen sich gerade an ihren Arbeitsplätzen nieder, wünschten sich einen guten Morgen und streiften ihre Headsets über. Viele waren an diesem für den pazifischen Nordwesten typischen regnerischen Morgen auf dem Weg zur Arbeit nass geworden.

Hopper setzte sich an ihren Arbeitsplatz ganz hinten im Raum und genoss die aus den leisen Gesprächen der Analysten bestehende Geräuschkulisse. Sie sah nach oben zu den Monitoren mit Telemetriedaten an der gegenüberliegenden Wand und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken – und so war es ihr auch am liebsten.

Über Hopper, eine ruhige Frau mit grauen Augen, erzählten sich ihre Kollegen hinter vorgehaltener Hand gerne, dass sie die Geduld einer Landmine hätte. Und tatsächlich genoss sie das geruhsame Tempo ihrer Arbeit. Sie war der dritte mit diesem Projekt betraute kommandierende Offizier. Ihre beiden Vorgänger hatten ihr gesamtes Arbeitsleben auf diesem Posten verbracht. Und wenn es nach Hopper ging, durfte das Projekt namens Eternal Vigilance – was so viel wie »ewige Wachsamkeit« hieß – gerne seinem Namen gerecht werden.

Nach Aussage des dienstältesten Analysten ihres Teams war Hopper eine Befürworterin der doch eher pedantischen Redensart »Die Nichtexistenz von Beweisen ist kein Beweis für die Nichtexistenz«.

Ihr Team war dieser Haltung aber mittlerweile längst überdrüssig geworden.

Die schlechte Moral schien geradezu eine Ironie des Schicksals darzustellen, denn bei Gründung waren die Posten bei Eternal Vigilance die begehrtesten und am härtesten umkämpften innerhalb der gesamten Streitkräfte gewesen (zumindest bei all jenen, die die nötige Zugangsberechtigung zur betreffenden Geheimhaltungsstufe besaßen).

Das Projekt war infolge des Andromeda-Zwischenfalls entstanden, bei dem ein Waffenforschungsprogramm zu einer Katastrophe geführt hatte, über die in der Publikation Andromeda berichtet wird.

In den späten Sechzigerjahren hatte die US Air Force eine Serie unbemannter Satelliten eingesetzt, um in den oberen Schichten der Atmosphäre nach für Waffen nutzbaren Mikropartikeln zu suchen. Im Januar 1967 fand Scoop VII genau das, was das Militär zu entdecken gehofft hatte. Nur dass Andromeda noch wesentlich gefährlicher war, als man sich hatte vorstellen können.

Noch bevor die zur Erde zurückgekehrte Raumkapsel vom Militärpersonal gesichert werden konnte, war sie von neugierigen Zivilisten untersucht worden. Die Mikropartikel infizierten daraufhin alle achtundvierzig Einwohner des kleinen Örtchens Piedmont in Arizona. Von ihnen überlebten nur ein Säugling und ein alter Mann. Sie wurden von dem renommierten Bakteriologen Dr. Jeremy Stone und dem Pathologen Dr. Charles Burton zu weiteren Untersuchungen in das unterirdische Reinraumlabor des Projekts Wildfire gebracht und dort isoliert. Ihr weiteres Schicksal wurde zum Schutz der Privatsphäre unter Verschluss gehalten.

In dem Labor untersuchte ein handverlesenes Team herausragender Wissenschaftler das später als AS1 bezeichnete außerirdische Mikropartikel. Man stellte fest, dass es einen Mikrometer lang war, über die Atemluft aufgenommen wurde und Lebewesen tötete, indem es das Blut in rasender Geschwindigkeit gerinnen ließ. Und obwohl seine mikroskopisch kleine sechseckige Struktur und das Fehlen von Aminosäuren darauf hinwiesen, dass es sich dabei nicht um ein Lebewesen handelte, war AS1 nachweislich dazu in der Lage, sich selbst zu replizieren – und zu mutieren.

Noch bevor das Wildfire-Team seine Tests abschließen konnte, entwickelte sich eine neue, plastiphage Variante, die AS2 genannt wurde. AS2 stellte zwar an sich keine Gefahr für den Menschen dar, war aber in der Lage, die Kunststoffdichtungen an den Schleusen der Labors zu depolymerisieren. Die nukleare Selbstvernichtungsvorrichtung des Laborkomplexes wurde aktiviert und in letzter Sekunde durch einen heldenhaften Einsatz wieder abgeschaltet.

Dennoch entkamen einige Partikel der AS2-Variante und verteilten sich rund um den Erdball in der Atmosphäre. Auch wenn die neue Variante für den Menschen nicht gefährlich war, fügte sie den gerade im Entstehen begriffenen internationalen Raumfahrtprogrammen verheerenden Schaden zu, da deren Raumfahrzeuge auf moderne Kunststoffverbindungen angewiesen waren.

Die Gründungsmitglieder von Projekt Wildfire setzten sich beim Präsidenten der Vereinigten Staaten für die sofortige Bereitstellung von Geldern für ein Projekt ein, das eine weltweite Überwachung von Andromeda und seinen weiteren Entwicklungsstadien sowie eventueller neuer Ausbrüche ermöglichen sollte. Es wurde umgehend ein großzügiges Budget aus den schwarzen Kassen des Verteidigungsministeriums genehmigt und ein Team aus den besten verfügbaren Analysten zusammengestellt. Dies war die Geburtsstunde von Projekt Eternal Vigilance. Drei Tage später nahm es die Arbeit auf.

Das war mittlerweile über fünfzig Jahre her, und keiner der am ersten Andromeda-Zwischenfall beteiligten Wissenschaftler war noch am Leben.

Nun leitete Colonel Hopper das Projekt Eternal Vigilance. Sie sah dabei zu, wie die in Reihen aufgestellten Monitore aus dem Ruhezustand erwachten und die Gesichter der Analysten in bläuliches Licht tauchten. Die Colonel seufzte, als sie an die Kosten der Satellitennutzung, der Analysten und der Übermittlung und Sicherung der riesigen Datenmengen dachte.

Hopper war sich der schwindenden Bedeutung ihrer Einheit bewusst. Bei jeder ihrer Frühschichten fiel ihr auf, wie mitgenommen das Equipment und wie zermürbt ihre besten Analysten aussahen. Außerdem meldeten immer mehr andere auf der Fairchild Air Force Base arbeitende Einheiten Ansprüche auf ihre Ressourcen an.

Insbesondere hatte sich das Air Mobility Command (AMC) um mehr Zeitanteile an der Satellitenübertragung bemüht, um sich die Koordination der KC-135-Tankflugzeuge im Luftraum über Tibet und dem Nahen Osten zu erleichtern. Der Befehlshaber der AMC hatte sogar offiziell verlauten lassen, dass Eternal Vigilance eine sinnlose Verschwendung von Ressourcen sei.

Und es schien ganz so, als habe er recht.

Eternal Vigilance arbeitete seit fünfzig Jahren im Zustand höchster Alarmbereitschaft – fünfzehn davon unter Hoppers Kommando. Und bis heute hatten sie nichts entdeckt.

Der Mensch hat eine allseits bekannte Achillesferse: Ihm sind kurzfristige persönliche Vorteile wichtiger als das langfristig ausgerichtete Wohlergehen aller. Das wird besonders deutlich, wenn es um einen positiven Effekt geht, der erst eine Generation später spürbar wird. Dieses Phänomen nennt sich Gegenwartspräferenz.

Das Konzept wurde bei der Internationalen sozialökonomischen Konferenz am 23. Oktober 1982 von dem jungen französischen Ökonomen Florian Pavard während einer Rede vor nur wenigen Zuhörern erstmals vorgestellt:

Üblicherweise geht man von einem mittleren Generationenabstand von fünfundzwanzig Jahren aus. Jede erst in der nächsten Generation erhältliche Belohnung für eine Handlung sorgt dabei für ein Ungleichgewicht, das längerfristige Kooperationen zwischen den Generationen untergräbt. Kurz gesagt: Wir sind grundsätzlich bereit, zum Nachteil unserer Nachkommen zu handeln. Meines Erachtens ist die einzige gangbare Lösung für dieses Problem die Einführung harter und sofort wirksamer Strafen für diejenigen, die sich nachteilig für das Wohl künftiger Generationen verhalten.

Daraus folgend, ergibt sich die Theorie, dass die Unfähigkeit unserer Spezies, sich auf langfristige existenzielle Bedrohungen einzustellen, unaufhaltsam zu Umweltzerstörung, Überbevölkerung und der Vernichtung von Ressourcen führt. Und daraus folgern wiederum viele Ökonomen, dass dieser angeborene Defekt der Menschheit eine Art eingebauten Countdown zur Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation beinhaltet.

Bedauerlicherweise scheint die Menschheitsgeschichte diese Theorie zu belegen.

Und so litt auch das Projekt Eternal Vigilance trotz der allseits wohlbekannten Tatsache, dass es dabei um Leben und Tod ging, unter dieser dem Menschen eigenen Kurzsichtigkeit. Über die Jahre war der Handlungsspielraum des Projekts immer weiter eingeschränkt und seine Notwendigkeit zunehmend heruntergespielt worden. Und an diesem verregneten Morgen blies es buchstäblich auf dem letzten Loch.

Internes Videomaterial zeigt, wie Colonel Hopper um 16:24:32 UTC in aufrechter Haltung an ihrem Schreibtisch saß. Ihre zur Hälfte geleerte Thermoskanne mit Kaffee stand auf einem Stapel Anträge für neues Arbeitsgerät, die sie weiterhin ausfüllte, obwohl sie genau wusste, dass sie abgelehnt werden würden.

Dann erhielt sie einen Anruf.

Hopper setzte ihr Headset auf und stellte mit einem Knopfdruck die Verbindung her. Gleichzeitig leuchtete einer ihrer Bildschirme auf.

»Vigilance One. Was gibt’s?«, sagte sie in dem für Analysten typischen knappen Ton.

Die Stimme mit dem amerikanischen Akzent am anderen Ende der Leitung gehörte einem Agenten aus ihrem ständig schrumpfenden Außenteam.

»Hier ist Brasiliero. Ich habe da etwas Interessantes für Sie.«

»Gesicherte Verbindung geöffnet, erwarte Ihre Authentifizierung.«

»Ist unterwegs.«

Hopper drückte weitere Tasten, um die erforderliche Zugangserlaubnis zu erteilen.

Dann erschienen eine Menge Daten auf den vier Flachbildschirmen an der Stirnwand des Raums. Jeder der Monitore zeigte eine andere Ansicht des Amazonas-Regenwalds von oben: ein einfaches digitales Kamerabild, ein digitales Geländemodell (Lidar-Karte), eine polychrome hyperspektrale Ansicht des Blätterdachs und eine äußerst detaillierte, von einem Breitbandradar mit synthetischer Apertur aufgenommene Graustufendarstellung des Geländeausschnitts.

Das Bildmaterial wurde in Echtzeit von einer Drohne übertragen.

Die Analysten sahen einer nach dem anderen hoch zu den Monitoren an der Stirnseite des Raumes, rollten mit ihren Stühlen ein Stück von ihren Schreibtischen weg und redeten leise miteinander. Die Informationen wurden an die Spezialisten der jeweiligen Fachgebiete weitergeleitet, und zusätzliche Daten erschienen nun auf den Bildschirmen der jeweiligen Arbeitsplätze. Colonel Hopper stand auf.

Auf jedem der Bilder war etwas völlig Unerklärliches zu sehen.

Ein leicht gekrümmter, quer über einem Flusslauf liegender Block mit gleichförmiger, glatter Oberfläche erhob sich über dem nebelverhangenen Regenwald. Unter ihm drang träge fließendes Wasser hervor, hinter ihm überflutete der Fluss den Wald und staute sich zu einer riesigen, schlammigen Pfütze. Die Bäume und alle sonstige Vegetation rund um den überschwemmten Bereich wirkten geschwächt und schienen abzusterben.

»Die Anomalie liegt entlang der Abstiegsbahn von ›Himmelspalast‹«, sagte Brasiliero. Über die Lautsprecher war er im ganzen Raum zu hören. »Die Tiangong-1-Raumstation befand sich direkt über …«

»Verstanden, Brasiliero. Das wär’s fürs Erste«, unterbrach ihn Hopper und legte das Gespräch in die Warteschleife.

Mit einem kurzen Blick überprüfte sie Breiten- und Längengrad. Die Anomalie befand sich mit einer Abweichung von höchstens sieben Stellen hinter dem Komma (was einer Genauigkeit von knapp einem Meter entsprach) auf null Grad geografischer Breite und damit genau auf dem Äquator. Sie fügte diese Beobachtung den Fallnotizen hinzu – ein merkwürdiges, scheinbar wichtiges Detail, das aber zu einer katastrophalen Fehleinschätzung führen sollte.

Dale Sugarman, Hoppers oberster Analyst für signalerfassende Aufklärung, stand auf und drehte sich zu ihr um. Die Kopfhörer baumelten um seinen Hals. In den fünf Jahren, die er nun hier arbeitete, war der riesenhafte Mann nur dann aus seiner Lethargie erwacht, wenn es um Videospiele ging. Aber nun hallte die zittrige Stimme des Senior Airman scharf durch die Lautsprecher des Raums: »Die Daten können unmöglich stimmen, Ma’am. Dort gibt es keine Straßen, keine Landebahn. Das muss ein Sensorenfehler sein. Ich empfehle Überprüfung der Drohne. Schicken Sie …«

»›Unmöglich‹ ist das falsche Wort, Airman«, sagte Hopper knapp und verschränkte die Arme. Und als sie weitersprach, tat sie es mit vollkommener Überzeugung. »Was wir hier sehen, ist nicht ›unmöglich‹. Es ist einfach nur extrem unwahrscheinlich.«

Im Raum breitete sich Stille aus, während die Analysten über das Gesagte nachdachten.

Einige grundsätzlich mögliche Ereignisse sind derart unwahrscheinlich, dass die meisten Menschen schlicht davon ausgehen, dass sie unmöglich eintreten können. Diese falsche Annahme beruht auf einer Faustregel, die als »Borels Gesetz« bekannt ist: »Phänomene mit extrem niedriger Wahrscheinlichkeit kommen in der Realität tatsächlich nie vor.«

Selbstverständlich hat der Mathematiker Émile Borel niemals etwas dergleichen gesagt. Stattdessen stellte er ein Gesetz der großen Zahlen auf, womit er demonstrierte, dass unter der Voraussetzung eines unendlich großen Universums jedes Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von größer als null früher oder später eintreten wird. Oder, anders gesagt: Alles, was theoretisch passieren kann, wird auch tatsächlich passieren, vorausgesetzt, es bieten sich ausreichend Gelegenheiten.

Für die wenigen wirklich geduldigen Menschen unter uns – alle, die sich gerne mit Daten beschäftigen, und alle, die sich gerne das Beste für den Schluss aufheben – heißt das: Das Eintreten extrem unwahrscheinlicher Ereignisse ist nicht nur vorstellbar, es ist sogar unausweichlich.

Colonel Hopper war äußerst geduldig. Während die Welt um sie herum ihr Tempo immer weiter beschleunigte, schien sie immer langsamer zu werden. Und tatsächlich war das einer der Hauptgründe, warum ihre Vorgänger sie für diesen Posten ausgewählt hatten.1

Fünfzehn Jahre Arbeit ohne nennenswerte Belohnung oder auch nur die Aussicht darauf, dass es eine geben könnte, ohne Ermunterung und häufig ohne den Respekt ihrer Kollegen – und trotzdem hatte Hoppers Engagement keinen Moment nachgelassen.

Und in diesem entscheidenden Moment sollte sich ihre Ausdauer mehr als auszahlen.

Colonel Hopper fischte einen dicken Ordner aus der obersten Schublade und ließ ihn auf ihren Schreibtisch plumpsen. Sie war entschlossen, dafür zu sorgen, dass alles streng nach Protokoll verlief. Mit einem altmodischen Brieföffner öffnete sie mehrere versiegelte Umschläge und nahm die laminierten Geheimdokumente darin heraus. Auch wenn die meisten Sofortmaßnahmen im Notfall mittlerweile automatisiert worden waren, gab es immer noch diese vor vielen Jahrzehnten niedergelegten Instruktionen – und zu deren Umsetzung brauchte es einen entsprechend ausgebildeten und intelligenten Menschen, der jeden weiteren Schritt ganz genau im Blick hatte.

Sie zog das Mikrofon des Headsets näher an ihren Mund und gab mit der Sicherheit eines Fluglotsen in schneller Folge Befehle aus.

»Brasiliero. Richten Sie im Umkreis von fünfundvierzig Kilometern rund um die Anomalie eine Quarantänezone ein. Holen Sie die Drohne sofort aus diesem Bereich heraus und lassen Sie sie landen. Wenn sie am Boden ist, darf niemand in ihre Nähe.«

»Verstanden, Vigilance One.«

Aus hochentwickelten Computersimulationen des Piedmont-Zwischenfalls hatte man geschlossen, dass fünfundvierzig Kilometer der minimal notwendige Sicherheitsabstand bei einer Freisetzung des Partikels in der Luft waren. Das Bild wackelte, als die Abutre-rei-Drohne abdrehte. Einige Sekunden später hatte sich auch die tief hängende Kamera an der Nase der Drohne um hundertachtzig Grad gedreht, und die in der Entfernung immer kleiner werdende Anomalie erschien wieder auf den Bildschirmen.

»Colonel, was hat dieses Ding mit uns zu tun?«, fragte Sugarman leise. In seinen Brillengläsern spiegelte sich das blinkende blaue Licht seines Bildschirms.

Hopper dachte kurz nach und entschied dann, erst einmal nicht darauf einzugehen. Die Erwähnung des Codenamens Himmelspalast durch Brasiliero hatte möglicherweise bereits eine Verletzung der Geheimhaltung dargestellt. Deshalb befasste sie sich, statt zu antworten, lieber mit jenem Detail, das aus Sicht von Eternal Vigilance am interessantesten war.

»Können Sie die äquatoriale Position bestätigen?«

»Bestätigt«, sagte der über seinen Arbeitsplatz gebeugte Sugarman. »Die Anomalie befindet sich exakt auf dem Äquator, Ma’am. Zentimetergenau, wie es aussieht.«

Hopper atmete einmal tief durch. Abgesehen von einem leisen statischen Rauschen war es nun völlig still im Raum. Als Sugarman wieder sprach, klang seine Stimme überraschend laut.

»Warum ist eine äquatoriale Position so wichtig?«

Hoppers Schweigen sprach Bände. Die Antwort auf diese Frage konnte die Mission gefährden und durfte deswegen in der Befehlskette nur nach oben, nicht aber nach unten weitergegeben werden.

»Airman, fordern Sie bitte den Transat-Four-Satellitenverbund an. Situationsbewusstsein ist jetzt von größter Bedeutung.«

»Ma’am, das ist ein sicherheitsrelevantes System. Im Moment wird es von … der CIA für Aktivitäten in Übersee genutzt …«

»Ich autorisiere Sie, Clear-Eyes-Priorität zu übermitteln.«

Sugarman schluckte. »Ja, Ma’am. Übernehme nun die Kontrolle über den Satellitenkanal.«

Sugarmans Hände flogen über die Tastatur, und einige Augenblicke später erschien auf den Bildschirmen ein Echtzeit-Satellitenbild mit der Infrarotansicht eines Jeep-Konvois, der durch eine nächtliche Wüstenlandschaft raste und dabei zwei helle Reifenspuren im Sand hinterließ. Über dem Bild lagen schwarze Fadenkreuze mit Maßstabsleisten.

Aus den Lautsprechern ertönte nun eine wütende Stimme. »Achtung, unbekannter Teilnehmer mit Clear-Eyes-Genehmigung: Runter von diesem Kanal. Sie stören eine heikle …«

»Richten Sie die Kamera auf unsere Koordinaten. Und bringen Sie diesen Mann zum Schweigen.«

»Ja, Ma’am.«

Im Raum wurde es wieder still, abgesehen von dem Klappern der Tastaturen. Jeder Analyst konzentrierte sich auf seinen Teilbereich der Datenlawine, die nun über die Monitore rollte.

Irgendwo weit oben im Weltall justierte ein Spionagesatellit auf einer geheimen Erdumlaufbahn die Linse seiner Kamera. Der Jeep-Konvoi wurde unscharf und verschwand dann ganz. Sekunden später wurde dafür ein Abschnitt des Regenwalds im Amazonas sichtbar. Die Kamera fokussierte und zeigte schließlich ein messerscharfes Bild.

Die Anomalie war nun in allen Details auf den Monitoren der Stirnwand sichtbar. Der aus dem Regenwald aufsteigende Nebel schlug sich tropfenförmig an ihrer metallisch wirkenden Oberfläche nieder, auf der sich ein schwaches hexagonales Muster abzeichnete. In der Mittagssonne glänzte sie wie der glatte Panzer eines Käfers.

»Infrarot«, sagte Hopper.

Auf dem zweiten Bildschirm erschien die gleiche Ansicht nun als Graustufenbild, wobei die Pixel umso heller leuchteten, je wärmer die dargestellte Oberfläche war. Der umgebende Dschungel wurde zu einer grauen, an Sturmwolken erinnernden Masse. Die Anomalie leuchtete dagegen in reinstem Weiß. Sie war so hell, dass sie einen Moment lang alles andere überstrahlte.

»Die Anomalie ist heiß, Ma’am. Richtig heiß«, sagte der Analyst. »Sehen Sie, wie sie die Vegetation ringsum geradezu verbrennt?«

Hopper nickte und deutete auf den Monitor. »Was sind das für blasse Flecken? Sie scheinen alle die gleiche Temperatur zu haben, werden aber schnell kälter.«

Sugarman studierte die Daten auf seinem Monitor noch einmal aus der Nähe. Dann sprach er kurz über das Headset mit einem anderen Analysten.

»Wir glauben, dass es sich dabei um Leichen handelt, Ma’am. Vermutlich vierzehn. Menschlich«, antwortete er schließlich.

»Das können Sie doch gar nicht mit Sicherheit sagen, Airman. In diesem Teil der Welt leben mehrere große Primatenarten.«

»Einige von ihnen haben Speere dabei, Ma’am.«

Hopper schwieg einen Moment lang.

»Ich verstehe«, sagte sie dann.

Auf dem Bildschirm blitzte das Wärmebild der Anomalie plötzlich noch heller auf, überstrahlte alles andere endgültig und überlastete die Sensoren. Als die Darstellung sich langsam wieder normalisierte, schien sich die Anomalie verändert zu haben. Sie schien näher an die blasser werdenden Flecken herangerückt zu sein.

»Was war das?«, fragte Hopper.

»Ich … Es scheint zu wachsen«, antwortete Sugarman. »Und in der Mitte des gestauten Sees taucht etwas Neues auf. Eine kleinere, sechsseitige Struktur.«

Auf dem dritten Bildschirm erschienen Farbkleckse. Eine dunstige blau-orangefarbene Wolke wurde in der Luft direkt über der Anomalie sichtbar und schien von einer leichten Brise nach Osten getragen zu werden.

»Eine Aschewolke«, sagte ein anderer Analyst. »Die Atmosphäre da unten ist voll mit Asche. Sie wurde irgendwie von der Anomalie ausgestoßen. Es kommen gerade noch mehr Messwerte herein …«

Die Colonel ließ den Finger an einer Zahlenkolumne auf einer Seite des laminierten Top-Secret-Ordners entlanggleiten. Die wichtigsten Informationen waren hier nach der altbewährten Maxime, alles immer so einfach wie möglich zu halten, zusammengefasst worden.

Ihr Finger stoppte an einem Massenspektrum. Als sie ihren nächsten Befehl gab, zitterte ihre Stimme.

»Besorgen Sie sich die Werte des Massenspektrometers der Drohne.«

»Schon dabei, Ma’am.«

Sekunden später legte ihr ein Junior-Analyst eine weitere Grafik eines Massenspektrums auf den Schreibtisch.

Hopper ließ ihren Finger ein weiteres Mal über das laminierte Blatt gleiten. Als sie innehielt und wieder von dem Blatt aufsah, war das Zittern aus ihrer Stimme verschwunden.

»Wir haben einen Treffer«, sagte sie.

»Inwiefern?«, fragte Sugarman und wandte sich zu seiner Vorgesetzten um. Seine Lippen waren blass, und seine Stimme klang so dünn, als würde sie gleich brechen. Hinter ihm hatten sich nun alle anderen Analysten ebenfalls umgedreht. In ihren ernsten Gesichtern spiegelte sich Angst.

»Die Ausschläge«, antwortete sie, »sind nahezu identisch mit denen des Andromeda-Stamms in Piedmont in Arizona vor über fünfzig Jahren. Irgendwie ist dieselbe Substanz dort in den Dschungel gelangt. Und den Bildern nach zu urteilen, wächst dieses Gebilde. Die Leichen sind fast schon darunter verschwunden.«

»Aber das ist doch nicht …«, Sugarman unterbrach sich. »Sie meinen, dass …«

Jeder Einzelne in diesem Raum kannte den Zweck von Eternal Vigilance. Und trotzdem hatte keiner von ihnen tatsächlich daran geglaubt, dass Andromeda erneut auftauchen könnte. Nicht einmal jetzt, angesichts der erdrückenden Beweise – niemand, bis auf eine.

Hopper stand auf und klemmte sich den Ordner unter den Arm.

»Projekt Eternal Vigilance hat hiermit seinen Zweck erfüllt«, verkündete sie vor ihrem ungläubig dreinblickenden Team. »Unsere Arbeit ist getan. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre zukünftigen Aufgaben, worin diese auch immer bestehen mögen.«

Dann drehte sich Colonel Hopper um und ging auf direktem Weg zur Kommunikationszentrale, die in Wirklichkeit kaum mehr als ein schalldichter Schrank war. Die Analysten sahen ihr sprachlos hinterher.

Im Gehen gab Hopper über die Schulter noch ein paar letzte Befehle.

»Alarmieren Sie Ihre Kollegen von der Peterson Air Force Base und leiten Sie ihnen unsere Daten weiter. Wenn wir von diesem exponentiellen Wachstum ausgehen, haben wir weniger als vier Tage. Sagen Sie ihnen das.«

»Vier Tage? Bis was?«, fragte Sugarman.

»Bis sich die Anomalie bis zum Meer hin ausgebreitet hat.«

Und damit war Projekt Eternal Vigilance beendet.

Alarm

Rand L. Stern war todmüde, obwohl sein Tag gerade erst begonnen hatte. Als Viersternegeneral mit großer Familie und glänzender Karriere war er beständig von Leuten umgeben, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Er dagegen freute sich gerade auf das Mittagessen, bei dem er wenigstens für eine Viertelstunde seine Ruhe haben wollte.

Der Afroamerikaner jenseits der fünfzig mit der massiven Statur und dem an den Schläfen bereits grauen Haar hatte die US-Air-Force-Akademie mit Bestnoten abgeschlossen und dann viele Tausend Flugstunden als Kampfpilot in einem F-16 Fighting Falcon verbracht, viele Hundert davon im Kampf. Danach war er Professor in West Point gewesen und hatte vor drei Jahren – nachdem seine Nominierung 2016 einstimmig vom US-Senat bestätigt worden war – die Verantwortung für den United States Northern Command (USNORTHCOM) und den North American Aerospace Defense Command (NORAD) übernommen. Somit war er für die gesamten in Nordamerika stationierten US-Streitkräfte sowie für die Luftüberwachung des gesamten nordamerikanischen Kontinents zuständig.

General Stern war auf der Peterson Air Force Base in Colorado stationiert und für achtunddreißigtausend Untergebene verantwortlich, die die amerikanischen Interessen im Luftraum von dreihundert bis fünfunddreißigtausend Kilometern über dem Erdboden schützten – und damit einen Raum überwachten, dessen Volumen viel größer war als das der gesamten Erdkugel. Sein jährliches Budget dafür lag im zweistelligen Milliardenbereich, zweimal so viel wie das irgendeines internationalen Großkonzerns.

Als seinen schwierigsten Einsatz bislang hätte er aber wohl die Erziehung seiner vier Töchter bezeichnet. Diese Aufgabe teilte er sich mit seiner Frau, die einen Forschungsauftrag am Psychologischen Institut der Universität von Denver innehatte.

Zu Hause war Sterns Meinung nur eine von vielen, im Dienst vertrat er dagegen die Interessen von über dreihundert Millionen amerikanischen Staatsbürgern.

Beim Briefing an seinem allerersten Arbeitstag war Stern über zwölf laufende Top-Secret-Projekte von höchster Priorität und mit äußerster Wichtigkeit für die nationale Sicherheit informiert worden. Darunter war auch Projekt Wildfire, das nach dem Andromeda-Zwischenfall vor mittlerweile etwa fünfzig Jahren gegründet worden war. Im Vergleich zur Bedrohung durch die Ambitionen der Chinesen und der erstaunlichen Menge an nuklearem Material ungeklärter Herkunft in der Erdumlaufbahn war ihm Wildfire unbedeutend erschienen. Und dennoch hatte ihm dieses Projekt während seiner Amtszeit mehr Kopfschmerzen bereitet als jedes andere.

Der Umgang mit den Andromeda-Mikropartikeln hatte sich von einem rein wissenschaftlichen Projekt zu einem geheimen Wettrüsten mit globalen Auswirkungen entwickelt, wie es sie seit dem Kalten Krieg nicht mehr gegeben hatte. Das wiederum hatte dazu geführt, dass das Projekt Wildfire unverhältnismäßig viele Ressourcen verbrauchte. Seine vielen Subprojekte vor der Öffentlichkeit geheim zu halten war zu einer Herkulesaufgabe geworden, die Millionen Arbeitsstunden und Milliarden Dollar verschlang.

Und diese Aufgabe belastete den General schwer.

In einem späteren Interview sollte er seinen Job mit folgenden Worten beschreiben: »Ich kam mir vor wie Atlas, der die Erde ganz allein trägt und von ihrem Gewicht niedergedrückt wird. Und die Menschen wussten dabei nicht einmal, wovor ich sie beschütze oder dass das überhaupt notwendig war. Nicht einmal meine Töchter.«

Unter den geheimen Folgeprojekten von Wildfire war Eternal Vigilance eines, dem besonders wenig Beachtung geschenkt wurde. Die große Angst vor einer weiteren spontanen Mutation der Andromeda-Mikropartikel hatte sich im Lauf der Zeit gelegt. Viel wichtiger war es dagegen geworden, feindliche Mächte daran zu hindern, sie als Waffen einzusetzen.

Schnell hatte man sich nicht mehr mit der fantastischen Möglichkeit befasst, vielleicht auf einen Hinweis auf außerirdisches Leben gestoßen zu sein, sondern sich ganz profan darauf konzentriert, die anderen Staaten (befreundet oder nicht), die unweigerlich von dem tödlichen Mikropartikel namens AS1 und seinem plastikfressenden Cousin AS2 erfuhren, im Auge zu behalten.

Beide Varianten hatten sich als gefährlich herausgestellt, jede auf ihre Weise.

AS1 tötete nahezu sofort, wenn man es einatmete. Die gutartigere, im Wildfire-Labor entstandene Variante AS2 war in der Lage, die meisten Kunststoffe in Staub zu verwandeln. Sie hatte sich dauerhaft in der oberen Atmosphäre der Erde festgesetzt und warf das Weltraumprogramm der USA um Jahrzehnte zurück. Außerdem war AS2 damit für alle Nationen verfügbar, die die nötigen wissenschaftlichen Voraussetzungen besaßen, um das Mikropartikel dort einzusammeln.

Bislang waren keine weiteren natürlichen oder künstlich erzeugten Varianten von Andromeda entdeckt worden – obwohl man intensiv danach gesucht hatte.

Seit Jahren hatte es Stern vor diesem Anruf gegraut. Doch als er schließlich kam, meldete sich keiner der auf die Nationale Raumfahrtbehörde Chinas angesetzten Agenten oder einer derjenigen, die rund um den Globus Krankheitsepidemien untersuchten. Nicht einmal ein ganz bestimmter geheimer Reinraum unter einem Maisfeld in Nevada hatte etwas damit zu tun.

Der Anruf kam von Eternal Vigilance.

Als ihn Colonel Hoppers Notruf in seinem gemütlichen Büro in der Peterson Air Force Base erreichte, reagierte er zunächst leicht genervt. Normalerweise drang ein falscher Alarm nicht bis zu ihm durch, sondern wurde schon vorher ausgesiebt – trotzdem ging er davon aus, dass es sich genau darum handelte.

Hoppers Push-Nachricht erschien auf seinem in dieser Umgebung völlig fehl am Platz wirkenden Bildschirmschoner mit Kätzchen, aus deren Mäulern Regenbögen schossen (ein Geschenk seiner jüngsten Tochter). Als er die Nachricht anklickte, füllte sich sein Bildschirm mit Bildern der Anomalie. Verärgert lehnte Stern sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände über dem Bauch und schloss die Augen.

»Was soll das sein, Colonel Hopper?«, fragte er.

»Ich habe da eine Theorie.«

»Sie haben da eine Theorie, und ich komme zu spät zum Mittagessen. Seit meiner Beförderung ist mein Tag in Zehnminutenabschnitte unterteilt. Einen davon belegen Sie gerade. Ich würde mir jetzt aber viel lieber ein Sandwich mit Schinken, Salat und Tomaten belegen.«

»Ja, Sir. Haben Sie die Flugbahn gesehen?«

»Ich sehe ein bewegungsloses Objekt im Dschungel, Colonel. Keine Flugbahn.«

»Am 10. April diesen Jahres ist die chinesische Raumstation Tiangong 1 abgestürzt und hat sich dabei in ihre Bestandteile aufgelöst. Die Anomalie befindet sich genau am Äquator und außerdem im Bereich der Flugbahn der abgestürzten Station und ihrer Wrackteile. Sie erinnern sich vielleicht an den Zwischenfall mit dem Codenamen Himmelspalast?«

General Stern fuhr hoch und saß mit einem Mal kerzengerade da.

»Wir wissen nicht, woran die Chinesen auf ihrer Raumstation gearbeitet haben«, fügte Hopper noch hinzu.

»Aber wir können es uns fast denken, oder?«, erwiderte Stern und betrachtete die Daten auf seinem Bildschirm.

Jeder Gedanke an Essen war verschwunden. Stattdessen dachte der General nun an die nationale Sicherheit und ebenso an die Sicherheit der gesamten Menschheit.

Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber.

»Gute Arbeit, Colonel. Wir sehen uns alle Ihre Daten und Informationen an. Ich … Nun, es ist wirklich kaum vorstellbar, aber … ich löse nun den Wildfire-Alarm aus.«

Nur wenigen ist bekannt, dass seit dem frühen Stadium des Vietnamkrieges keine größere Militäraktion mehr allein von Logistikexperten geplant wurde. Jede Aktion, vom Einzeltransport bis hin zur Koordination eines ganzen Feldzugs, wird mindestens teilweise von Computern vorbereitet, und zwar mithilfe einer großen und komplexen Algorithmensammlung, der Automatisierten Logistik- und Entscheidungsanalyse (ALEA).

Und so wurde der Plan für das weitere Vorgehen beim zweiten Andromeda-Zwischenfall wie bei jeder anderen militärischen Aktion von einer Maschine erdacht.

ALEA wurde mit allen Daten gefüttert, die General Stern zur Verfügung standen, und aktivierte daraufhin den Percheron-Supercomputercluster in den gut gekühlten Tiefen der Forschungslabore der Patterson Air Force Base im Westen Ohios. Dabei verband sich ALEA mit den riesigen und sich ständig aktualisierenden Personal- und Ressourcendatenbanken, legte viele Tausend andere Rechenvorgänge von geringerer Priorität auf Eis oder schaltete sie kurzerhand ganz ab und stellte innerhalb von fünfzehn Minuten ein Team zusammen.

Trotz der beispiellosen Datenmenge und verfügbaren Rechenleistung hatte man in weiser Voraussicht eine 80/20-Regel eingerichtet. Das bedeutete, dass ALEA zu achtzig Prozent für die Lösung eines Problems zuständig war, während die restlichen zwanzig Prozent weiterhin dem Menschen mit seiner Erfahrung und Intuition oblagen.

Im Prinzip hatte General Stern in diesem Fall nichts an dem von ALEA vorgeschlagenen Team zu beanstanden, das sich wie folgt zusammensetzte:

PROJEKT WILDFIRE V2 – TEAMZUSAMMENSTELLUNG

NIDHI VEDALA, MD-PHD (ALTER: 42)

Wildfire-Sicherheitsfreigabe (KOMPLETTER ZUGANG)

Vorgesehene Position: Operative Leitung, 001 ***

Aufenthaltsort: Massachusetts, Amherst >>> Anreisedauer: ~12 Std. ***

Spezialisierung: Nanotechnologie; Materialwissenschaft und Werkstofftechnik; Andromeda-Stämme: AS1, AS2 ***

Weitere Qualifikationen: Führungsqualitäten; Andromeda-Fachkenntnisse ***

HAROLD ODHIAMBO, PHD (ALTER: 68) ***

Wildfire-Sicherheitsfreigabe (FORSCHUNGSLEVEL) ***

Vorgesehene Position: Leitender Wissenschaftler, 002 ***

Aufenthaltsort: Nairobi, Kenia >>> Anreisedauer: ~15 Std. ***

Spezialisierung: Xenogeologie; Geologie; Anthropologie; Biologie; Physik; … <WEITERE EINTRÄGE>

Weitere Qualifikationen: Grundlagenwissen in unterschiedlichen Fachrichtungen ***

PENG WU, PLA Air Force, Majorin (Alter: 37) ***

Wildfire-Sicherheitsfreigabe (FORSCHUNGSABKOMMEN VOLKSREPUBLIK CHINA) ***

Vorgesehene Position: Wissenschaftlerin, 003 ***

Aufenthaltsort: Shanghai, China >>> Anreisedauer: ~18 Std. ***

Spezialisierung: Taikonautin; Soldatin; Ärztin: Pathologin ***

Weitere Qualifikationen: Kampfausbildung; Überlebenstraining; möglicherweise Andromeda-Fachkenntnisse [ZENSIERT] ***

ZACHARY GORDON, US-Army, Sergeant First Class (ALTER: 28)

Wildfire-Sicherheitsfreigabe (VORLÄUFIG) ***

Vorgesehene Position: Feldarzt, 004 ***

Aufenthaltsort: Fort Benning, Georgia *** Anreisedauer: ~14 Std. ***

Spezialisierung: US Army Rangers (Leichte Infanterie, Spezialkräfte); Leitender Sanitätsoffizier ***

Weitere Qualifikationen: Unfallchirurg ***

SOPHIE KLINE, PHD (ALTER: 32)

Wildfire-Sicherheitsfreigabe (NASA) ***

Vorgesehene Position: Wissenschaftliche Beraterin, 005 ***

Aufenthaltsort: Internationale Raumstation *** Anreisedauer: N.A. ***

Spezialisierung: Nanorobotertechnik; Nanobiologie; Mikrogravitationsforschung ***

Weitere Qualifikationen: EXPERTIN AS1, AS2 ***

*** AUFLISTUNG ENDE ***

Stern stutzte, als er den Namen Peng Wu auf der Liste entdeckte – die Chinesin wäre normalerweise als Sicherheitsrisiko sofort ausgeschlossen worden. Doch dann schüttelte er den Kopf und lächelte schief. Der ALEA-Algorithmus arbeitete schonungslos logisch und war unfähig, intuitive Entscheidungen zu treffen. Vor dem Hintergrund des Zwischenfalls mit Himmelspalast war es aber geradezu ein Geniestreich, eine Angehörige der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu verpflichten, die sich mit einer vorläufigen Sicherheitsfreigabe bereits seit einiger Zeit im Wildfire-Kandidatenpool befand.

Darüber hinaus war Peng Wu nicht einfach nur irgendeine Taikonautin. Sie hatte zu den ersten Besatzungsmitgliedern der Raumstation Tiangong 1 gehört. Stern war sich bewusst, dass sie nichts weitergeben würde, was unter die militärische Geheimhaltung der Volksrepublik fiel – in dieser Hinsicht hatten sie ihr bereits auf den Zahn gefühlt –, aber ihr Wissen über den Zwischenfall dort oben konnte unter Umständen Leben retten.