Angeklagt wegen Sterbehilfe - Marinou Arends - E-Book

Angeklagt wegen Sterbehilfe E-Book

Marinou Arends

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Beschreibung

Angeklagt wegen Sterbehilfe ist der eindrucksvolle Bericht einer Ärztin, die einer tiefdementen Alzheimer-Patientin Sterbehilfe leistete. Die niederländische Staatsanwaltschaft war der Meinung, dass Sterbehilfe bei einer dementen Person trotz einer zuvor erstellten Willenserklärung zur Sterbehilfe nicht zulässig sei und eröffnete ein Gerichtsverfahren. Die Ärztin wurde des Mordes angeklagt. Dieses Buch ist ein spannender und bewegender Bericht über einen Prozess, der vier Jahre dauerte. Die Ärztin berichtet auch über ihre umfang-reiche Erfahrung mit dementen Patienten. In lebendigen Bildern erhält der Leser eine Vorstellung von dem Leben und Leiden dieser Patienten in einem niederländischen Pflegeheim. Nur in wenigen Fällen gelingt es nicht, das Leiden zu mindern, und der Leser wird ebenso wie diese Ärztin zu der Überzeugung kommen können, dass Sterbehilfe die einzige Möglichkeit sein kann, um das Leiden zu beenden. Vier Jahre nach der Anklage wegen des Mordes hat die Strafkammer die Ärztin freigesprochen. Das Urteil des Höchsten Gerichtshofs bestätigte anschließend dieses Urteil. Dieser Fall ist seitdem das große Vorbild für die Sterbehilfepraxis in den Niederlanden. Die hier beschriebene Sterbehilfe ist auch für deutsche Leser hochinteressant und dürfte ein wichtiger Beitrag für die Debatte der Sterbehilfe in Deutschland sein.

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Seitenzahl: 486

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MARINOU ARENDS

Angeklagt wegen Sterbehilfe

Mittelpunkt eines juristischen Tauziehens

Aus dem Niederländischen übertragen von Christine Jülich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzt von Christine Jülich, Juristin

Schriftart: Baskerville

Herstellung: rgf/pr/1A

ISBN 978-3-8301-1909-8 EPUB

Wenn du dann ins Jenseits gehst, wirst du an einem Brunnen mit einer weißen Zypresse vorbeikommen.

Geh nicht dorthin und trinke nicht das Wasser,

denn es wird dich vergessen lassen, wer du bist,

woher du kommst und wohin du gehen willst.

Geh vorbei an diesem Brunnen, bis du zu einem Fluss kommst.

Dort gibt es einen Führer, der vertrauenswürdig ist.

Sage ihm, dass du aus dem Reich der Erde und des westlichen Himmels kommst, und dass du in den Hades gehen musst und Durst hast.

Er wird dir zu trinken geben und dir den Weg zeigen.

(Text auf einer Goldplatte, Grabbeigabe,

Orphismus, um das Jahr 0 n. Chr.)

Vorwort der Übersetzerin

Dieses Buch gibt einen bemerkenswerten Einblick in die Arbeit der Ärzte in Pflegeheimen, die mit Demenzpatienten arbeiten. Die Geschichten der einzelnen Patienten sind nicht nur für Ärzte, sondern auch für andere Berufsgruppen wie Ethiker und Juristen interessant. Denn diese haben berufstypisch wenig Einblick in den tatsächlichen Ablauf der Krankheit Alzheimer, müssen aber vielleicht Sachverhalte als Gutachter oder in Verfahren beurteilen. Für Leser mit eigener Demenzberührung, sei es über den Partner oder einen Familienangehörigen, sind gerade die Geschichten der Patienten ungemein hilfreich. Es werden Verhaltensweisen beschrieben, die allgemein bei Demenzpatienten vorkommen, und so mag es für den einen oder anderen informativ oder gar eine Erleichterung sein, zu erfahren, was in einem Demenzpatienten vorgeht.

Dieses Buch ist auch auf einer zweiten Ebene relevant: die aktuelle Diskussion um Sterbehilfe in Deutschland.

Mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung wurde die Möglichkeit der Suizidhilfe für Ärzte und anderer Gruppen (z.B. Sterbehilfevereine) unter Strafe gestellt (niedergelegt in § 217 StGB). Damit wurde der Schutz des Lebens über das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gestellt. Das BVerfG hat mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 bestimmt, dass das Selbstbestimmungsrecht auch beim Lebensende gewahrt werden muss.

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und esellschaft zu respektieren.“1

Die seit dem Urteil laufende Diskussion betrifft die Beihilfe zum Suizid. Es stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, die Diskussion auf aktive Sterbehilfe zu erweitern. Manch ein Bürger mag in diesem Zusammenhang auf die Vergangenheit und das Dritte Reich verweisen, aber mit diesem Vorgehen wird lediglich jede inhaltliche Diskussion im Keim erstickt. Es ist auch ein ganz unsachlicher Verweis, denn es würde niemand auf die Idee kommen, die Sterbehilfegesetze in Belgien (aktive Sterbehilfe seit 2001), den Niederlanden (aktive Sterbehilfe seit 2002), in Portugal (aktive Sterbehilfe seit 2021) mit den ideologischen Praktiken des Dritten Reiches gleich zu setzen. Das derzeitige vorsichtige Vorgehen im Deutschen Bundestag, gestützt durch den Ethikrat, der als Fachkommission zu diesem Thema berät, verkennt auch den Wunsch der Bevölkerung2. Aus einer nicht repräsentativen, persönlichen Umfrage der Übersetzerin ergibt sich, dass viele der Meinung sind, die aktuelle Debatte drehe sich um aktive Sterbehilfe. Tatsächlich wird im Parlament im Wesentlichen nur der assistierte Suizid diskutiert. Die Aussicht, lediglich die todbringenden Medikamente als „do-it-yourself-Paket“ zu erhalten, lehnen einige der Befragten ab mit dem Hinweis, dass diese in die falschen Hände geraten könnten, und es besteht die Sorge, dass die Einnahme auf Hindernisse treffen könnte, sodass der Sterbeprozess nicht wie gewünscht verlaufe. Würde ein Arzt den Vorgang aktiv begleiten, könnte er jederzeit unterstützend eingreifen.

Solch ein „do-it-yourself-Paket“ würde auch nicht allen Fällen gerecht werden, die sich grundsätzlich für eine selbstbestimmte Beendigung des Lebens qualifizieren. Was ist mit den Fällen, in denen der Patient geistig klar ist, der aber körperlich so eingeschränkt ist, dass er nicht selbst die Medikamente nehmen kann? Ein Patient, der durch einen Unfall querschnittgelähmt ist, oder der durch einen Schlaganfall körperlich eingeschränkt ist, oder der durch eine Erkrankung wie Parkinson in seinem Körper gefangen ist, der würde einfach durch das aktuell diskutierte Raster fallen. Ist das eine humane Entscheidung? Ist das die Sicherstellung der Selbstbestimmung, wie es das BVerfG verlangt?

Dieses Buch gibt Rat und Einblick in viele Bedenken, die in der in Deutschland geführten Diskussion um Sterbehilfe auftauchen. Hierzu möchte ich zwei Beispiele nennen:

(1) Die aktuelle Debatte umfasst auch die Sorge, ob die Beratung eines Arztes einen ernsthaften Sterbewunsch wirklich ermitteln kann und somit einen Wunsch aus dem Affekt heraus ausschließt. Hierzu bietet dieses Buch einen guten Einblick in die Handhabung in den Niederlanden. Die betreffende Person wird nicht nur von einem Arzt, sondern auch von einem zweiten, unabhängigen Arzt begutachtet. Ferner muss ein unerträgliches und aussichtsloses Leiden vorliegen. Natürlich kommt es hier z.T. auf subjektive Merkmale an, aber die genannten Kriterien, und die Begutachtung des Falles durch zwei Ärzte (und ggf. weitere, je komplexer der Sachverhalt ist) schaffen eine gehörige Stufe der Objektivität, die weit entfernt ist von willkürlichen Entscheidungen.

(2) In der aktuellen Diskussion besteht ferner die Sorge, dass eine aktive Sterbehilfe dazu führen würde, dass Menschen zur Beendigung des Lebens gedrängt werden könnten. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, wie der Befürchtung Einhalt geboten werden kann. Wenn wir uns das Vorgehen in den Niederlanden ansehen, ist es schon aufgrund der Vorgabe der Prüfung des Patientenfalles durch zwei unabhängige Ärzte, der Kriterien des unerträglichen und aussichtslosen Leidens, sowie aufgrund des ethischen Selbstverständnisses eines jeden Arztes eine Barriere gezogen, um eine leichtfertige (oder gar gedrängte) Beendigung des Lebens zu verhindern. Die Angst vor Missbrauch darf eine sachliche Diskussion und Auseinandersetzung mit den Gestaltungsmöglichkeiten nicht verhindern.

Die Diskussion um Sterbehilfe enthält z.T. berechtigte Bedenken, aber es ist auch unverkennbar, dass manche Argumentation auf der Angst vor dem Unbekannten beruht, und/oder eigene moralische Vorstellungen als allgemeingültig dargestellt werden. Es ist allgemein bekannt, dass das Unbekannte bedrohlich wirkt und zu ablehnender Haltung (bis hin zur Untätigkeit) führt. Ich kann nur anregen, über die Landesgrenzen hinweg zu schauen und Länder, die sehr ähnliche staatliche Strukturen und gesellschaftliche Werte haben, zu betrachten. Denn Wissen führt zu überlegten und sachlichen Entscheidungen. Dieses Buch zu lesen, ist ein guter Anfang.

Die Diskussion in Deutschland umfasst derzeit nicht die Möglichkeit der aktiven Beendigung des Lebens, und schon gar nicht wenn der Patient in einem Zustand der fehlenden Einwilligungsfähigkeit ist. Diese Option wird entweder gar nicht erwähnt oder als unvereinbar mit dem Schutz des Lebens bezeichnet. Dieses Buch zeigt, dass aber auch dieser Aspekt diskutiert werden muss. Denn auch diese Konstellation ist eine Frage des Selbstbestimmungsrechtes. In der täglichen Praxis wird es immer ein Sonderfall bleiben. Aber wenn sich ein Mensch Gedanken über sein Lebensende gemacht hat, dann muss dies in jeder Lebenslage respektiert werden können. Vollkommen fremd ist dieser Gedanken auch in Deutschland nicht. In einer Patientenverfügung kann ein jeder festlegen, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen wie bspw. künstliche Beatmung erhalten möchte. Warum kann man nicht auch festlegen, dass man bei bestimmten Erkrankungen das Leben nicht fortsetzen möchte. In den Niederlanden ist festgelegt, dass diese Erklärung mit einem Arzt besprochen und regelmäßig aktualisiert werden muss, da sich persönliche Ansichten durchaus mit zunehmendem Alter ändern. Das müsste genauso für die Erklärung zu lebensverlängernden Maßnahmen gelten, aber in Deutschland ist nicht vorgeschrieben, dass die Patientenverfügung regelmäßig aktualisiert werden muss! Man muss sich in dem Zusammenhang die Frage stellen, worin der qualitative Unterschied liegt, wenn der mündige Mensch einerseits ohne Beratungspflicht und ohne Aktualisierungspflicht entscheiden darf, dass er keine lebensverlängernden Maschinen wünscht, er andererseits aber nicht festlegen darf, dass er bei einer unheilbaren Krankheit sein Leben beenden möchte. Es gibt unbestreitbar einen Unterschied zwischen diesen Fällen, aber ein jeder muss sich fragen, ob die unterschiedliche Bewertung nicht allein auf seiner eigenen ethischen Moralvorstellung beruht. Etwas, dem das BVerfG mit seinem o.g. Urteil im Februar 2020 ganz klar eine Absage erteilt hat:

„Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen er sich vorstellen kann, sein Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. Der Entschluss zur Selbsttötung betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen. Es erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden.“

Wir stehen in Deutschland an einem wichtigen Punkt der Gesetzgebung. Mit der Neufassung der Sterbehilfe wird für viele Jahre ein bestimmter Weg vorgegeben sein. Es wäre höchst fahrlässig, wenn im Rahmen des Zustandekommens des Gesetzes bestimmte Aspekte undiskutiert zur Seite geschoben würden, oder die Diskussion nicht sachlich und ergebnisoffen geführt würde.

Natürlich kann kein Mensch sich von seinen eigenen Ansichten freimachen, und diese werden immer seine Argumentationsweise färben. Aber gerade in einer so wichtigen Debatte müssen sich alle Beteiligten von ihrem eigenen Moralkodex frei machen. Das sind sie sich und vor allem den Bürgern des Landes schuldig!

Das BVerfG verlangt:

„Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“

Die Ausführung des BVerfG ist eine klare Anweisung an die Legislative und ist von jedem einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu beachten.

Aber ein solcher Aufruf ist in jüngster Vergangenheit schon einmal ignoriert worden. Das BVerwG (Az. 3 C 19/15, Urteil vom 02.03.2017) hat geurteilt, dass in „einer extremen Notlage“ ein Patient todbringende Medikamente erhalten können muss:

„Eine extreme Notlage ist gegeben, wenn (1.) die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können, (2.) der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen und ihm (3.) eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.“3

Als Bürger würde man erwarten, dass sich die Legislative mit dem Urteil befasst, die Umsetzbarkeit diskutiert und eine Handlungsanweisung erlässt, wie das Urteil umgesetzt werden kann. Doch – nichts dergleichen ist passiert!

Anlässlich des Urteils des BVerwG hat der Deutsche Ethikrat am 01.06.2017 eine Ad-hoc-Empfehlung mit dem Titel „Suizidprävention statt Suizidunterstützung“ herausgegeben. Darin werden die ethischen Erwägungen des Rates dargelegt, wieso der Ethikrat empfiehlt, die Entscheidung des BVerwG nicht umzusetzen. Mit einem Votum 16:9 wird das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als weniger gewichtig erachtet, sodass es gegenüber der „Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber Lebenswertvorstellungen“ zurückstehen muss.

Das Votum des Ethikrates ersetzt keine parlamentarische Diskussion, es ist lediglich eine Empfehlung. Eine Parlamentsdebatte hat jedoch nicht stattgefunden. Es gab nur eine ministerielle Anweisung. Der Übersetzerin ist nicht bekannt, ob sich der Gesundheitsminister auf die Empfehlung des Ethikrates gestützt hat, oder ob er seinen eigenen Moralvorstellungen gefolgt ist, oder ob er anderen Erwägungen gefolgt ist, jedenfalls hat das Gesundheitsministerium eine Anweisung erlassen, mit der der Arzneimittelbehörde untersagt wurde, todbringende Medikamente auszugeben4. Aus einer Kleinen Anfrage der FDP im September 20195 zeigt sich, dass kein einziger der seit 2017 gestellten Anträge bewilligt worden ist. Die Anweisung wurde bislang nicht aufgehoben.

Es hätte ein Aufschrei durch die Bevölkerung gehen müssen, dass sich die Legislative trotz eindeutiger Aufforderung gegen die Judikative stellen kann. Es hat den Anschein, dass die eigenen moralischen Vorstellungen den Abgeordneten im Weg standen oder die Courage fehlte, eine mutige Entscheidung zugunsten eines kleinen Bevölkerungsteils zu treffen und sich damit gegen eine naturgemäß größere Gruppe an ethisch-andersdenkenden Menschen zu stellen. „Naturgemäß“, weil – um es zynisch auf den Punkt zu bringen – die Gruppe der Sterbenskranken keine Kraft hat, sich zu organisieren, und im Laufe der Diskussionen sowieso wegstirbt.

Der geneigte Leser wird am Ende des Buches erstaunt sein, wie viele Parallelen zwischen den Ereignissen des Buches und den Vorgängen in Deutschland gezogen werden können.

Dieses Buch ist wertvoll, um den Verlauf und die Ausprägungen der Demenzerkrankung zu verstehen. Es gewährt Angehörigen von Erkrankten ein besseres Verständnis und mag künftige Entscheidungen erleichtern.

Dieses Buch ist eine wichtige Basis für die aktuelle Sterbehilfedebatte. Es ermutigt den Blick über den Tellerrand hinaus: Sei es für die Frage, wie bestimmte Bedenken geregelt werden könnten, indem man von den Erfahrungen und etablierten Prozessen der Niederlande profitiert; sei es für die Frage, ob ein deutsches Sterbehilfegesetz nicht den Schritt aus dem Klammergriff der Vergangenheit zu einem modernen Gesetz, dass den aktuellen Wunsch der Bürger widerspiegelt, machen kann.

Wir stehen jetzt an einem wichtigen Punkt, an dem wir ein richtungsweisendes Gesetz mit Möglichkeiten für die Zukunft schaffen können, oder doch nur einen verzagten Hopser machen, mit dem nur wenigen Menschen geholfen ist.

1https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html

2In der TV-Diskussion „Selbstbestimmt Sterben“ (Wissen Hoch 2, Scobel), ausgestrahlt auf 3 SAT am 18.02.2021, 21:00 erklärte die Vorsitzendes des Ethikrates, dass es Umfragen gebe, in denen die Bevölkerung sich für Sterbehilfe ausspreche. Leider sind diese Umfragen nicht auf der Homepage des Deutschen Ethikrates erhältlich. Lediglich die Pressemitteilung Nr. 1/2009 berichtet „Jüngere Umfragen zeigen, dass Sterbehilfe von der Bevölkerung mehrheitlich befürwortet wird und auch unter Medizinern beachtliche Zustimmung findet.“

3https://urteile-gesetze.de/rechtsprechung/3-c-19-15

4In der TV-Diskussion „Selbstbestimmt Sterben“ (Wissen Hoch 2, Scobel), ausgestrahlt auf 3 SAT am 18.02.2021, 21:00 wurden Ausschnitte der behördlichen Schreiben zu diesem Thema gezeigt.

5http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/131/1913198.pdf

INHALT

VORWORT DER ÜBERSETZERIN

EINLEITUNG

TEIL 1DOCH INS PFLEGEHEIM

Das erste Gespräch

Die Vorgeschichte

Im Pflegeheim

Kann man trotz Demenz leiden?

Ein schriftlicher Sterbewunsch

Arzt und Sterbehilfe

Aussichtsloses und unerträgliches Leiden

Letzte Vorbereitungen

Sterbehilfe

Nachsorge

TEIL 2REGIONALE KONTROLLKOMMISSION STERBEHILFE

Anhörung vor der RKS

Die Anhörung bei der RKS

Nikolaus und Knecht Ruprecht

Gesellschaftliche Unruhe

Unterstützung von Florence

Anhörung vor der Gesundheitsinspektion

Eine Bleibe in den Niederlanden

TEIL 3VERDÄCHTIGT UND ANGEKLAGT

Verdächtigt und angeklagt

Schlammschlacht

Kongress der SCEN-Ärzte

Die Zweite Kammer

Kooperation mit der Staatsanwaltschaft

Die Staatsanwaltschaft als Ankläger

Disziplinarverfahren

Disziplinargericht, Juni 2018

Urteil des Disziplinargerichtes

SCEN-Dienst

Zwei Gutachten

Unterschiedliche Ansichten zu Demenz

Antrag auf Verfahrenseinstellung

Eröffnung des Strafgerichtsverfahrens

Vorbereitung für das Landesdisziplinargericht

Landesdisziplinargericht

Sommer 2019

Vorbereitungen der Strafrechtsverhandlung

Die strafrechtliche Hauptverhandlung

Warten auf das Urteil.

Ein Nachspiel mit der Gesundheitsinspektion

Kassation im Interesse des Gesetzes

TEIL 4RÜCKBLICK AUF DIE STERBEHILFE

Immaterielle Kosten

Materielle Kosten

Was hat es mir gebracht?

Die Zukunft

ANLAGEN

Anlage 1: Gesetzestexte zur Sterbehilfe

Anlage 2: Einige Parlamentsdokumente

Anlage 3: Rechtsfragen für die Kassation

Anlage 4: Weitere Gesetze und Richtlinien

ENDNOTEN

GLOSSAR

DANKSAGUNG

Einleitung

Mit diesem Buch will ich keinen Erlebnisbericht vorlegen, sondern Einblicke verschaffen in die Arbeit eines Seniorenarztes, der sich vor allem um demente Patienten kümmerte. Ich möchte anschaulich machen, wie die Arbeit in einem Pflegeheim verlaufen kann und an zahlreichen Beispielen verdeutlichen, wie verschiedenartig die Patienten reagieren. Ärzte und Pflegepersonal haben viele Möglichkeiten, um die letzte Lebensphase so angenehm wie möglich zu gestalten und allzu großes Leid zu vermeiden; bisweilen gelingt dies aber nicht. Auch auf die in den Niederlanden bestehende Möglichkeit der Sterbehilfe bei unerträglichem Leiden wird eingegangen, wobei die gesetzlichen Rahmenbedingungen und berufsrechtliche Anweisungen zur Sprache kommen, vor allem aber auch die Absicherungen, die Ärzte beachten müssen. Die Verwüstungen, die Krankheiten wie Alzheimer im Gehirn des Menschen verursachen können, lassen sich, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt wird, am Verhalten der Patienten ablesen.

Zu berücksichtigen ist, dass Pflegeheime in den Niederlanden etwas anders strukturiert sind, als etwa in Deutschland. So gibt ein Patient, der in ein Pflegeheim überwechselt, seinen eigenen Hausarzt ab und wird nunmehr von den Ärzten des Pflegeheimes betreut. Diese „Seniorenarzt“ genannten Spezialisten sind Tag und Nacht im Pflegeheim anwesend oder zumindest aufrufbar. Sie durchlaufen nach Abschluss des Medizinstudiums eine spezielle Ausbildung, die parallel zu der eines Hausarztes erfolgt, aber eben mit Spezialisierung auf ältere Menschen, mit Demenz oder körperlichen Beschwerden, auch wird stationäre Rehabilitierung durchgeführt. Zum Therapieteam eines Pflegeheims gehören auch die fest angestellten Psychologen, Ergotherapeuten, Diätisten und Logopäden. Weitere Unterschiede werden im Buch in Fuß- oder Endnoten sowie im Glossar erläutert.

Das Buch möchte helfen, die oft verzerrten Berichte über Euthanasie in den Niederlanden durch Fakten zu ersetzten. Sterbehilfe ist dort in weiten Teilen der Bevölkerung als eine Möglichkeit akzeptiert, um unerträglichem Leiden in freiwilliger Selbstbestimmung ein Ende zu setzen. Vielleicht regt dieses Buch in Deutschland zu einer Diskussion über Sterbehilfe an, ohne einseitige Bevormundung durch (streng) religiöse oder weltanschauliche Gruppen, wie dies in Deutschland noch der Fall ist. In den Niederlanden wird das Recht auf Selbstbestimmung, im Grundgesetz verankert, als ein sehr wesentliches, unverzichtbares Recht empfunden, das nicht veräußert werden darf. Aber: Auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe kein Recht, das der Patient einfordern kann, auch ist kein Arzt verpflichtet, Sterbehilfe zu leisten – aber ein Arzt, der von dem Ernst der Bitte um Sterbehilfe unter Berücksichtigung eines unerträglichen Leidens überzeugt ist, darf laut Gesetz Sterbehilfe geben, auch bei dementen Personen.

Im Jahre 2001 erschien das niederländische Sterbehilfegesetz (Euthanasiewet), nach fast 30-jähriger Vorbereitung und endlosen Diskussionen in Politik und Gesellschaft. Grundvoraussetzungen sind der Wunsch des Patienten („Selbstbestimmungsrecht“) sowie das unerträgliche Leiden des Patienten. Weite Teile der Bevölkerung stehen diesem Gesetz positiv gegenüber, von einigen religiösen und weltanschaulichen Gruppen wird es jedoch abgelehnt und bekämpft. Das Gesetz ist das Ergebnis von umfassenden Diskussion, wie sich aus den Protokollen zu den Kammerdebatten zeigt, in denen minutiös auf fast 10.000 Seiten auf alle Aspekte moralisch-ethischer Art eingegangen wurde. Auch auf die Frage, ob das im Grundgesetz verankerte Recht auf Selbstbestimmung auch auf demente Patienten angewandt werden kann.

Im Rahmen dieses Gesetzes habe ich einer dementen Patientin Sterbehilfe gegeben, in der vollen Überzeugung, dass meine Handelsweise in jeder Hinsicht gesetzeskonform war. Die Kontrollkommission, die jede Sterbehilfe im Nachhinein untersuchen muss, urteilte jedoch, dass das Sterbehilfegesetz nicht bei dementen Personen angewandt werden darf, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte „ja“ zur Sterbehilfe sagen können. Diese Kommission veröffentlichte ihr Urteil, wobei sie nur einige Fakten aus der Patientenakte aufführte und damit den Fall teilweise grotesk verzerrte. Da ich selbst durch die ärztliche Schweigepflicht gebunden war und keine zusätzlichen Fakten bekannt geben durfte, war ich der darauf folgenden Pressekampagne, die einer Schlammschlacht glich, hilflos ausgeliefert und konnte mich während der vier Jahre andauernden Prozesse nicht öffentlich wehren.

Einige Arztkollegen, die nur sehr unvollständig informiert waren, wandten sich gegen diese Form der Sterbehilfe. Andere, vor allem die streng-religiösen oder weltanschaulich gebunden Gruppen, füllten die Zeitungen, auch Radio- und Fernsehberichte, mit ihren Meinungen. Sie strebten danach, die Möglichkeit für Sterbehilfe entweder aus dem Gesetzbuch gestrichen zu sehen, oder zumindest bei tiefdement gewordenen Personen vollständig zu verbieten. Die von einigen Gruppen hochgepuschten Debatten fanden in Deutschland und anderen europäischen Ländern, selbst in Amerika, Südafrika und Neuseeland ein Echo.

Auch die Staatsanwaltschaft sah Anlass, hier einzugreifen. Sie beschuldigte mich des Mordes. Der Generalstaatsanwalt bekräftigte sogar die Wichtigkeit seiner Maßnahmen in mehreren Fernsehauftritten. Schnell wurde deutlich, dass es bei den strafrechtlichen Untersuchungen mehr um das Gesetz als um mich ging. Ziel der Staatsanwaltschaft war es, Klarheit zu bekommen im – nach ihrer Meinung – Graubereich rund um das Thema Sterbehilfe und Demenz. Möglicherweise spielte es auch eine Rolle, dass Sterbehilfe unter diesen Umständen erst einige wenige Male ausgeführt worden war.

Auffallend waren die negativen Auslassungen der zahlreichen „Ethiker“, die inzwischen im Gesundheitswesen und in Regierungskommissionen überaus zahlreich anwesend sind. So bestand die Kontrollkommission, die mein Handeln beurteilen sollte, nur aus drei Personen: einem Juristen, einem Arzt und einem Ethiker. Ethik ist kein fest umschriebenes Wissensgebiet, es kann auch nicht „objektiv“ genannt werden, denn bei vielen Vertretern dieser Berufsgruppe überwiegt die rein persönliche religiöse oder weltanschauliche Auffassung – und kann damit, wie die Erfahrung lehrt, weit von der Auffassung anderer Berufskollegen entfernt sein.

Nach endlosem juristischem Tauziehen und der Hilfe zweier auf das Thema spezialisierter Rechtsanwälte kam endlich, nach fast vier. Jahren, das erlösende Urteil der Strafkammer: „Freispruch“, denn alles, was ich getan hatte, war konform des niederländischen Gesetzes zur Sterbehilfe. Auch dieses Urteil ging durch die ganze Welt, vor allem, weil die Staatsanwaltschaft sich damit nicht zufrieden geben wollte und den Fall dem höchsten Gerichtshof in den Niederlanden (Hoge Raad) vorlegte. Einige Monate später verkündete dieser Gerichtshof sein Urteil und bestätigte (ebenso wie zuvor die Strafkammer), das Sterbehilfe auch bei dementen, nicht mehr einwillligungsfähigen Personen zulässig ist – unter der Voraussetzung, dass diese eine Euthanasieerklärung noch vor ihrer dementen Periode aufgesetzt und unterzeichnet hatten, und unter der zweiten Voraussetzung, dass hier Rede sein muss von unerträglichem Leiden, das nicht behandelt werden kann.

Da ich selbst zehn Jahre lang als Seniorenärztin in einem Pflegeheim für demente Personen gearbeitet habe, weiß ich, dass Sterbehilfe bei dementen Personen höchst selten vorkommt und vorkommen wird. Kriterium ist ja, neben der Willenserklärung, das unerträgliche Leiden der Patienten. Dies aber ist etwas, das nur selten auftritt, denn sicher 98% der Bewohner leiden nicht ernsthaft unter ihrer Demenz. Interessant ist in diesem speziellen Zusammenhang die Antwort der Ministerin bei der Behandlung des Euthanasiegesetzes im Parlament: „In der Tat kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob der Patient, wenn die Situation wie in der Willenserklärung beschrieben vorliegt, noch immer den gleichen Wunsch zur Beendigung des Lebens hegt. Dies muss der Patient bei der Erstellung seiner Willenserklärung berücksichtigen …“

Für viele Menschen, vor allem in den Niederlanden ist es tröstlich, zu wissen, dass Sterbehilfe unter diesen Umständen möglich ist – sofern sie das vorher schriftlich festgelegt haben. In Deutschland ist dies noch nicht möglich, der Ethikrat hat sich in der Vergangenheit dagegen ausgesprochen und eine öffentliche oder parlamentarischen Diskussion scheint zur Zeit kaum möglich. Aber auch das wird sich vielleicht in absehbarer Zeit ändern.

Mein Buch soll den Weg zur Sterbehilfe aufzeichnen, wie er in den Niederlanden durch Gesetz vorgeschrieben ist. Dieser Weg ist außergewöhnlich gut durchdacht und kommentiert, die Vorschriften und Kontrollen sind besonders gründlich und nachahmenswert. Es wäre wünschenswert, wenn Ärzte, Juristen und Politiker dieses Buch durchlesen, um eventuell im eigenen Land mit weitreichenden Vorschlägen zu kommen, um auch diesen Weg begehbar zu machen. Dies würde dem Wunsch eines nicht unerheblichen Teils der eigenen Bevölkerung entsprechen.

Die Namen der in diesem Buch beschriebenen Patienten sind fiktiv und die medizinischen Fälle sind inspiriert durch die Bewohner des Pflegeheims. Dies ist notwendig, um Wiedererkennung und Verletzung der Privatsphäre zu verhindern. Das Gleiche gilt für die Namen der Kollegen und Mitarbeiter. Die richtigen Namen der Anwälte, des Staatsanwaltes, der Generalstaatsanwälte und Richter darf ich verwenden; Florence ist das Pflegeheim, in dem die Sterbehilfe durchgeführt worden war. In Absprache mit der Familie habe ich den Namen der 74-jährigen Patientin in Cornelia geändert. Die Fakten sind so wahrheitsgemäß wie möglich wiedergegeben, aber es werden in diesem Buch nur die Ereignisse beschrieben, die im Gerichtssaal in öffentlicher Anhörung verhandelt worden sind und somit nicht mehr der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen.

Für diejenigen, die den genauen Wortlaut der Gesetze nachlesen möchten, sind die wichtigsten Gesetzestexte im Anhang aufgenommen.

Die Übersetzung des Buches war sicherlich nicht einfach, denn Teile des Gesundheitswesens und Rechtssystems sind in den Ländern unterschiedlich. Frau Christine Jülich, selbst Juristin, hat diese schwierige Aufgabe übernommen – die nur deshalb so erfolgreich abgeschlossen werden konnte, da sie selbst zweisprachig aufgewachsen ist und daher, neben deutsch als Muttersprache, auch die niederländische Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrscht.

TEIL 1

DOCH INS PFLEGEHEIM

Das erste Gespräch

Wir sitzen an einem rechteckigen Tisch in einem kahlen, kleinen Besprechungszimmer im Pflegeheim. Vor uns ein Plastikbecher mit Kaffee aus dem Automaten. Neben mir sitzt der Berater für Demenzkranke [casemanager] und mir gegenüber sitzen der Ehemann und die Tochter der neuen Patientin. Der Ehemann erzählt:

„Zu Hause geht es nicht mehr. Es ist nicht mehr auszuhalten. Sie ist unheimlich unruhig, sie kann stundenlang ununterbrochen reden. Ich muss dauern bei ihr bleiben, sie kann keine Sekunde ohne mich sein. Sie denkt, dass sie alles Mögliche tun muss: Die Kinder aufsuchen und dort Dinge tun, und man kann sie gar nicht mehr beruhigen. Mindestens einmal pro Woche kann sie überhaupt nicht schlafen; dann ist sie die ganze Nacht wach. Dann hält sie mich auch vom Schlaf ab. Das einzige, das hilft, ist stundenlang draußen spazieren zu gehen. Ein oder zwei Stunden reichen nicht, man muss schon drei oder vier Stunden mit ihr laufen. Das gibt ihr ein bisschen Ruhe. Aber ich habe Rückenbeschwerden und kann nicht mehr so lange laufen. – Sie will auch nicht mehr andere besuchen, denn sie kann den Gesprächen nicht mehr folgen und dadurch fühlt sie sich ausgeschlossen. Wenn wir zu Besuch sind, dann will sie nach ein paar Minuten wieder nach Hause. Dadurch sitzen wir eigentlich den ganzen Tag zu Hause. Sie erkennt mich nicht mehr als ihren Ehemann, nur noch als ihren Kumpel. Sie erzählt mir, was für einen Ehemann sie hatte, also ob sie zu einem Fremden spricht.“

„Körperlich geht es ihr noch relativ gut. Sie kann stundenlang ununterbrochen laufen, allerdings hat sie häufig Kopfschmerzen und Schmerzen in der Brust, die zu den Schultern hochziehen. Das bekommt sie immer dann, wenn ihr Dinge nicht gefallen. Es kommt also von der Anspannung. – In den letzten Monaten ist sie sehr traurig gewesen. Sie heulte den ganzen Tag und war untröstlich. Vom Hausarzt hat sie Medikamente bekommen, aber diese haben wenig geholfen. Zuerst dachten wir, dass die Medikamente überhaupt nicht helfen, aber als wir diese absetzten, wurde es noch schlimmer. – Nichts hilft gegen ihre Unruhe. Sie muss sich den ganzen Tag beschäftigen. Ich muss ihr aber bei allem helfen. Sie kann sich nicht mehr alleine anziehen, ich muss ihr alles anreichen. Sie kann weder kochen noch Kaffee setzen. Das habe ich im Laufe der Jahre alles übernommen.“

„Wenn ich nachts schlafe, steht sie manchmal auf. Da sie kein Zeitgefühl mehr hat, geht sie aus dem Haus, um zur Arbeit zu gehen oder zu ihren Kindern. Sie vergisst eine Jacke anzuziehen. – Das wird viel zu gefährlich.“

„Wenn sie so traurig ist, sagt sie beispielsweise: „Ich konnte immer alles, aber jetzt kann ich nichts mehr.“ „Dann sagt sie mir, dass ich die Familie einberufen muss. Dann will sie sterben. Auch in klaren Momenten, die immer seltener werden, zeigt sie, dass sie sterben möchte und von der Familie Abschied nehmen möchte. Dann rufe ich meine Tochter an. Die kommt vorbei, um eine Tasse Tee zu trinken, und dann ist sie wieder für einen kurzen Moment beruhigt, zumindest solange meine Tochter da ist. Damals hatten wir abgesprochen, dass sie Sterbehilfe bekommt, wenn sie ins Pflegeheim gehen müsste. Wir hatten besprochen, dass wir in dem Fall die Familie zusammenrufen, Abschied nehmen und sie dann ihre Sterbehilfe bekommt. Sie hat schon seit Jahren eine Willenserklärung Sterbehilfe. Sie hat diese regelmäßig bei ihrem Hausarzt aktualisiert. Cornelia ist nicht die Erste in der Familie, die Demenz bekommen hat. Ihre Mutter ist schon früh dement geworden. Die Mutter hat zwölf Jahre lang im Pflegeheim gesessen. Das ist für Cornelia traumatisch gewesen. Es ist für sie ein Schreckgespenst, um im Pflegeheim aufgenommen zu werden. Darum hat sie immer erklärt, dass sie Sterbehilfe bekommen möchte, wenn sie ins Pflegeheim müsste. Drei ihrer Brüder sind auch dement geworden: Zwei sind schon verstorben und einer kommt nun auch ins Pflegeheim. Eine Schwester ist tödlich an Krebs erkrankt, die wird also nicht mehr dement.“

„Cornelia war immer eine wunderbare Frau. Sie hatte einen phantastischen Charakter. Sie war Kindergärtnerin und später stellvertretende Direktorin einer Grundschule. Sie hat eine natürliche Führungsbegabung und liebt es auch, das Heft in Händen zu halten. Die Kinder liebten sie. Es passiert noch oft, dass Menschen sie auf der Straße anhalten, um sie zu begrüßen: alles ehemalige Kindergartenkinder.“

„Und nun sitzen wir hier! Wir mussten sie letztlich doch ins Pflegeheim bringen. Ich fühle mich sehr schuldig, aber zu Hause geht es wirklich nicht mehr.“

Die Vorgeschichte

Im Jahr 2007 geht Cornelia, damals 65 Jahre alt, zum ersten Mal zu ihrem Hausarzt, weil sie merkt, dass sie Dinge vergisst. Das ist für sie alarmierend, weil ihre Mutter schon in jungen Jahren an Demenz gestorben ist, nach einem zwölf Jahre dauernden Verbleib im Pflegeheim. Eine Erfahrung, die Cornelia ernsthaft traumatisiert hat. Eine Erfahrung, aufgrund derer sie auf keinen Fall in einem Heim für demente Senioren aufgenommen werden will. Zu diesem Zeitpunkt wird durch den Hausarzt keine Untersuchung zu Grund und Ausmaß der Vergesslichkeit durchgeführt.

Im Jahr 2011 geht Cornelia erneut zum Hausarzt, weil ihre Vergesslichkeit zunimmt. Sie verliert nun auch Sachen, körperlich geht es ihr aber noch gut. Der Hausarzt nimmt ein MMST (Mini-Mental-Status-Test) [MMSE/Mini-Mental-State-Examination] ab, ein Demenz-Früherkennungstest. Sie erzielt 24 von 30 Punkten1. Dieser Wert ist ein Hinweis für Demenz. Der Hausarzt empfiehlt ihr, zum Fachzentrum für Gedächtnisverlust [geheugenpoli] zu gehen. Sie geht nicht dorthin.

Im Jahr 2012 geht es weiter bergab mit ihr. Cornelia passt zwei Mal pro Woche auf die Enkelkinder auf, aber das bereitet ihr immer mehr Mühe. Danach ist sie total erschöpft und das, obwohl sie Kindergärtnerin gewesen war (!), also den Umgang mit Kindern gewohnt ist. Sie wird misstrauisch. Sie denkt beispielsweise, dass Geld gestohlen wurde. Sie verlässt sich immer mehr auf ihren Ehemann, der viele Aufgaben von ihr übernehmen muss. Sie bekommt Panikattacken und Weinkrämpfe. Sie leidet immer mehr an stressbedingten Kopfschmerzen und Muskelkater. Sie hat Angst, dass sie dement wird, und denkt immer mehr darüber nach. Sie schläft schlecht.

Im September des Jahres geht sie erneut zum Hausarzt und dann tatsächlich auch zum Fachzentrum für Gedächtnisverlust. Beim Geriater im Fachzentrum erzählt sie, dass sie müde ist und dass es sie viel Mühe kostet, die alte, fröhliche Cornelia zu sein. Sie fühlt sich überfordert und braucht dauernd die Unterstützung ihres Ehemannes. Einerseits möchte sie gerne, dass ihr Mann Aufgaben übernimmt, weil sie sich überfordert fühlt, aber gleichzeitig stört sie dies. Sie war immer eine sehr selbstständige und fähige Frau und es passt nicht zu ihr, Dinge aus der Hand zu geben. Das macht sie unsicher. Nach ergänzenden Untersuchungen stellt der Geriater die Diagnose: beginnende Demenz, Typ Alzheimer. Um die Demenz zu verzögern, bekommt sie Medikamente: Galantamin2.

Kurze Zeit nach der Diagnose erscheint Cornelia mit ihrem Ehemann zur Sprechstunde beim Hausarzt. Sie überreicht dem Arzt ihre Willenserklärung Sterbehilfe. Sie erzählt dem Arzt, dass sie über ihren Wunsch gut nachgedacht und sich auch mit ihrem Mann und ihrer Tochter dazu beraten hat; die beiden unterstützen sie bei dem Vorhaben. Cornelia berichtet dem Hausarzt, dass ihre Mutter an Demenz litt und zwölf Jahre lang im Pflegeheim lebte. Das möchte sie nicht auch erleben und sie möchte ihre Angehörigen nicht damit belasten. Sie möchte Sterbehilfe bekommen, und zwar zu dem Zeitpunkt, wenn sie von ihrem Ehemann total abhängig wird und in ein Pflegeheim müsste. Dies alles hat sie deutlich in ihrer Willenserklärung Sterbehilfe aufgeschrieben. Die Erklärung wurde von ihr eigenhändig geschrieben und unterzeichnet. Der Hausarzt stellt fest, dass Cornelia geistig klar und aufmerksam ist, denn sie sagt selbst, was sie will und was sie vom Hausarzt erwartet und wünscht.

Beim nächsten Besuch beim Geriater, im Januar 2013, erzählt sie ihm, dass sie beabsichtigt, ihre Willenserklärung regelmäßig mit dem Hausarzt zu besprechen und zu aktualisieren. Der Geriater schreibt in seinem Bericht an den Hausarzt, dass Cornelia sich gut und verständlich erklären kann und sie seine Informationen versteht. Er fügt hinzu, dass Voraussetzung einer wirksamen Willenserklärung Sterbehilfe ist, dass sie zu der Zeit der Erstellung des Dokumentes einwilligungsfähig ist. Er findet es auffallend, dass sie einen ruhigen Eindruck macht. Auch dem Geriater überreicht Cornelia ihre Willenserklärung Sterbehilfe, die zusätzlich eine Vollmacht für ihren Ehemann beinhaltet, in ihrem Namen Entscheidungen zu treffen. Die Schlussfolgerung des Geriaters ist, dass Cornelia in diesem Moment in Bezug auf ihren Entschluss zur Sterbehilfe und der Vollmacht für ihren Ehemann einwilligungsfähig ist.

Im Oktober 2013 geht Cornelia zum Kontrolltermin im Fachzentrum für Gedächtnisverlust. Die Demenz hat bereits einen dauerhaften Platz in ihrem Leben eingenommen. Die Eheleute haben ihr Leben angepasst. Cornelia betreut die Enkel nicht mehr alleine, sondern zusammen mit ihrem Mann. Hierdurch fühlt sie sich wohler, hat weniger Beschwer mit Gedächtnisproblemen, Angst und Spannungen. Sie haben sich mit der neuen Situation arrangiert und machen das Beste daraus. Trotz aller Widrigkeiten genießen sie das Leben zusammen. Sie leben gesund, machen viele Spaziergänge und gemeinsamen Aktivitäten. Auch wenn die Demenz subjektiv nicht schlimmer geworden ist, konstatiert der Geriater sehr wohl eine Verschlechterung. In seinem Bericht hält er fest, dass Cornelia deutliche Wortfindungsstörungen und deutliche Schwächen im Kurzzeitgedächtnis hat. Das Ergebnis des MMST ist von 24/30 im Jahr 2012 auf 19/30 gesunken. Da im Tagesablauf keine großen Probleme auftreten, wird die Medikation mit Galantamin fortgesetzt.

Im Januar 2015 geht Cornelia mit ihrem Ehemann zum Hausarzt, um die überarbeitete und ergänzte Willenserklärung Sterbehilfe zu besprechen und zu hinterlegen. Sie wiederholt gegenüber dem Arzt, dass sie kein Pflegefall werden möchte, der in einem Heim aufgenommen werden muss. Sie will in Würde von den Menschen, die ihr lieb und teuer sind, Abschied nehmen können, zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst diese noch erkennen kann. Was sie ihrer Willenserklärung hinzugefügt hat, ist folgender Satz: „Ich will Gebrauch machen von meinem gesetzlichen Recht um freiwillig Sterbehilfe auf mich anzuwenden, wenn ich selbst dazu die Zeit als reif erachte.“ Im Übrigen bleibt die Willenserklärung so wie im Jahr 2012. Was auffällt, ist, dass diese Willenserklärung – im Gegensatz zu der aus 2012 – mit dem Computer geschrieben worden ist; die Erklärung wurde wohl von ihr eigenhändig unterschrieben. Ihr Ehemann erklärt, dass Cornelia zwar nicht mehr selbst schreiben kann, aber noch präzise sagen konnte, was in der Patientenverfügung stehen muss.

Im Laufe des Jahres 2015 verschlechtert sich Cornelias Zustand weiter. Im Juli suchen die Eheleute den Hausarzt auf, weil sie schon seit Monaten schlecht schläft. Etwa drei Stunden nachdem Cornelia zu Bett gegangen ist, wird sie wieder wach und ruft dann jeden Bekannten an; auch mitten in der Nacht. Ihren Ehemann erkennt sie nicht mehr. Sie fragt ihn oft, ob die Kinder zu Hause noch schlafen, und ist generell unruhig. Der Hausarzt verschreibt Medikamente zum Schlafen. Diese helfen Cornelia tatsächlich länger als drei Stunden zu schlafen. Aber der Schlaf bleibt unruhig, sie wacht öfters auf und etwa einmal pro Woche bleibt sie trotz der Medikamente die ganze Nacht wach. Die Telefonate mitten in der Nacht nehmen ab, aber das liegt vor allem daran, dass ihr Mann alle Telefonnummern außer seiner eigenen aus ihrem Mobiltelefon gelöscht hat. Dadurch dass Cornelia trotzdem noch oft mitten in der Nacht wach ist und ihren Mann weckt, bekommt er viel zu wenig Schlaf. Hinzu kommt, dass er sie tagsüber keinen Moment alleine lassen kann.

Im September 2015 rät ihm der Hausarzt, Kontakt zum Berater für Demenzkranke des Pflegeheims Florence aufzunehmen, um eine Tagesbetreuung zu beginnen; so könnte er selbst etwas Zeit und Ruhe bekommen. Im Laufe des Herbstes wird die Tagesbetreuung auf fünf Tage pro Woche erweitert. Während der Betreuungszeit nimmt Cornelia gerne an Spaziergängen teil, andere Aktivitäten kann sie jedoch nicht mehr erfassen und werden ihr zu viel. Dann will sie weg aus der Tagesbetreuung und zu ihrem Ehemann. Nur Gespräche unter vier Augen mit Leiter der Tagesaktivitäten beruhigen sie für die Dauer des Gespräches. In diesen ruhigen Momenten erzählt sie, dass „sie krank im Kopf ist und es am besten wäre, wenn sie unter eine Straßenbahn geraten oder tot umfallen würde“. Im Laufe des Dezembers findet Cornelia auch keinen Gefallen mehr am Spazierengehen. Sie will nicht mehr mit der Gruppe mitlaufen, sondern ihren eigenen Weg gehen: zu ihrem Ehemann. Nach einem Tag in der Tagesbetreuung ist Cornelia depressiv, trübsinnig und weinerlich. Dann möchte sie sterben. Auch nach einem anstrengenden Tag am Wochenende möchte sie sterben.

Im Dezember 2015 findet eine Teambesprechung zwischen dem Berater für Demenz, dem Psychologen der Tagesbetreuung und mir, der Seniorenärztin, statt. Der Berater schildert die schwierige häusliche Situation. Er beschreibt, wie Cornelia und ihr Mann noch gerade zurechtkommen, aber auch wie beschwerlich dies für beide ist. Eigentlich müsste Cornelia 24 Stunden am Tag begleitet werden. Sie schläft nachts nicht durch und solange sie wach ist, braucht sie Betreuung. Ihr Mann hilft ihr beim Waschen und Anziehen; er kocht und hilft ihr beim Essen und Trinken sowie Medikamente einnehmen. Cornelia ist sich ihrer Erkrankung durchaus bewusst („Ich weiß, dass ich krank bin.“) (sog. Erkrankungsbewusstsein), aber das Bewusstsein, wie ausgeprägt ihre Erkrankung ist, (sog. Krankheitseinsicht) ist unterschiedlich: Es gibt Zeiten, zu denen sie nicht bemerkt, dass sie viel Hilfe benötigt; und dann gibt es Momente, in denen ihr bewusst ist, dass sie von anderen abhängig ist, was ein Gefühl des Verlustes des Selbstwertgefühls bewirkt. In diesen Momenten verfällt Cornelia in eine traurige Stimmung, die mehr zu einem Trauerprozess als einer Depression passt. Zu Hause führen diese Momente zu Spannungen und Ärger. In der Tagesbetreuung hält sie Aktivitäten nur noch fünf bis zehn Minuten durch, dann will sie zu ihrem Ehemann. Aber ihrem Mann geht es auch nicht gut. Er ist erschöpft. Hinzu kommt, dass er Rückenschmerzen hat. Vor seinem Rückenleiden konnten die beiden fünfzehn bis zwanzig Kilometer pro Tag spazieren gehen. Dadurch kam Cornelia zur Ruhe. Aber jetzt kann er nur noch zwanzig Minuten gehen, bevor die Rückenschmerzen zu stark werden.

Wir empfehlen dem Hausarzt, ein Antidepressivum probeweise zu verschreiben. Im Januar 2016 nehmen die Probleme weiter zu. Cornelia ist bereits fünf Tage pro Woche in der Tagesbetreuung. Das bedeutet, dass sie von halb zehn Uhr morgens bis halb vier Uhr nachmittags von zu Hause weg ist. In diesen Stunden kann ihr Mann etwas aufatmen und wieder zu sich kommen. In der Tagesbetreuung ist Cornelia ununterbrochen sehr unruhig. Sie beschäftigt sich nur noch mit der Frage, wann sie nach Hause gehen kann. Sie ist mit ihrer Unruhe so präsent, dass es oft zu Konflikten mit anderen Patienten kommt. Durch dieses Verhalten weichen ihr die anderen Patienten aus, obwohl Cornelia gerade Gespräche so sehr braucht. Das macht Cornelia noch unglücklicher. Zu Hause ist sie auch unruhig, redet wie ein Wasserfall und stellt ihrem Mann andauernd Fragen. Ihr Ehemann muss regelmäßig die Tochter um Hilfe bitten, was er eigentlich nicht möchte, weil sie einen anstrengenden Beruf und eine Familie mit kleinen Kindern hat. Auch an den Wochenenden ist Cornelia unruhig und hat immer wieder Heulkrämpfe. Als wir das Antidepressivum wieder absetzen, da das oben beschriebene Verhalten auch durch die Medikation verursacht werden kann, werden die Heulkrämpfe noch heftiger.

Am 21. Januar 2016 geht Cornelias Mann zum Hausarzt. Er möchte Cornelias Wunsch nach Sterbehilfe besprechen. Sie sagt andauernd, dass sie sterben möchte, aber fünf Minuten später sagt sie: „Aber nicht jetzt.“ Ihr Mann erzählt, dass sie nicht mehr länger zu Hause bleiben kann, er sucht bereits nach einem festen Platz in einem Pflegeheim. Der Hausarzt bittet ihn, gemeinsam mit Cornelia zu einem Gespräch zu kommen, um den Wunsch nach Sterbehilfe zu besprechen. Als Cornelia und ihr Mann eine Woche später beim Hausarzt sitzen, sagt Cornelia, dass es ihr derzeit gut gehe. Auf Nachfrage weiß sie weiß nicht mehr, was Sterbehilfe ist. Der Hausarzt erklärt die Bedeutung, worauf Cornelia sagt, dass ihr das zu weit ginge. Der Hausarzt erklärt, dass sie bald in ein Pflegeheim aufgenommen wird. Daraufhin sagt Cornelia: „Ok, dann vielleicht doch.“ (… will ich Sterbehilfe) ergänzt sich der Hausarzt).

Ende Februar 2016 möchte sich der Berater für Demenzkranke erneut mit dem Psychologen und mir besprechen. Wir stellen fest, dass die häusliche Situation untragbar geworden ist. Cornelia befindet sich nicht nur in einem Trauerprozess wegen des Verlustes ihrer geistigen Gesundheit und allen weiteren Folgen einer Demenzerkrankung. Sie versteht auch nicht mehr die Situation, in der sie sich befindet. Das ständige Wechseln zwischen zu Hause und der Tagesbetreuung verursacht bei ihr viel Unruhe und Verwirrung. Sie beginnt immer stärker in der Vergangenheit zu leben und ist dann auf der Suche nach ihren eigenen Eltern. Sie kann für keine zwei Minuten beruhigt werden. Ihr Ehemann kann nicht mehr, das Leben ist zur Hölle geworden. Er droht an der Situation und Belastung zu Grunde zu gehen. In dem Fall müsste Cornelia sofort als Notfall in einem Pflegeheim mit Fachabteilung für Demenzkranke irgendwo in der Region aufgenommen werden. Wir sind uns einig, dass es keinen Sinn hat, auf diese Situation zu warten. Wir können sie im Pflegeheim Florence aufnehmen, da gerade ein Platz verfügbar ist. Das hat den Vorteil, dass Cornelia direkt in einer fachspezifischen Abteilung unterkommt, und nicht erst eine Zwischenstation in einem nicht geeigneten Pflegeheim durchlaufen muss mit anschließendem, erneuten Umzug in das finale Pflegeheim. Außerdem ist Florence für ihre Familienangehörigen gut erreichbar. Der Demenzberater bespricht dies mit Cornelias Ehemann und Tochter. Cornelia in ein Pflegeheim zu geben, gehört wahrscheinlich zu den schwierigsten Entscheidungen, die die beiden je getroffen haben.

1Je geringer der erzielte Wert ist, desto stärker ist die vorliegende Demenz.

2Galantamin ist ein Arzneimittel gegen Demenz, das angewendet wird, um die Symptome einer leichten bis mittelschweren Demenz vom Alzheimer-Typ zu behandeln.

Im Pflegeheim

Am Donnerstag, den 3. März 2016, wird Cornelia wie jeden Morgen durch einen Busdienst abgeholt, um zur Tagesbetreuung zu gehen. Doch an diesem Nachmittag wird sie nicht mehr nach Hause gebracht werden. Im Anschluss an das Tagesprogramm wird der Berater für Demenzkranke Cornelia auf die Station bringen. In der Zwischenzeit treffe ich Cornelias Ehemann und Tochter, mit denen ich das Aufnahmegespräch durchführe. Unser Gespräch dauert länger als eine Stunde. Der Demenzberater, der Cornelia und ihre Familie während der letzten Monate begleitet hat und ihnen nun vertraut ist, nimmt auch am Gespräch teil. Wir besprechen sowohl Cornelias Demenz und wie diese das Leben aller verändert und zur Hölle gemacht hat, als auch was Cornelia noch kann, wobei sie Hilfe benötigt und was getan werden kann, damit sie sich so schnell wie möglich auf der Station zu Hause fühlt. Die Station, in der Cornelia aufgenommen wird, ist eine Abteilung speziell für Menschen mit Demenz und hat Platz für ca. 30 Bewohner. Es ist eine geschlossene Station. Um die Tür nach draußen zu öffnen, muss man einen Code eintippen. Die meisten Zimmer sind 2-Bett-Zimmer, aber es gibt auch sechs Einzelzimmer. Die Station ist ein langer, L-förmiger Gang mit insgesamt fünf Wohnzimmern und an den Seiten des Flurs kleine Hallen mit jeweils einem Badezimmer und drei Schlafzimmern. Für jemanden mit Demenz ist so eine Station recht unübersichtlich und für den Einzelnen kann es schwierig sein, das eigene Zimmer oder die Toiletten, die in den kleinen Hallen versteckt sind, zu finden. Sie brauchen also Hilfe, ihren Weg zu finden. Der Vorteil einer so großen Station ist, dass die Bewohner viel Bewegungsfreiraum haben. Das ist sehr wichtig für Menschen mit Bedürfnis an Bewegung aufgrund einer inneren Unruhe, wie es typisch für Demenzkranke ist.

Auf der Abteilung, in der Cornelia aufgenommen wird, wohnen die Menschen, die bereits in jungen Jahren Demenz bekommen haben, d.h. dass die ersten Anzeichen von Demenz vor ihrem 65. Lebensjahr aufgetreten sind. Die Mitarbeiter der Station haben eine spezielle Ausbildung für die Versorgung von und den Umgang mit Demenzpatienten im Allgemeinen und für die Sorge für junge Demenzpatienten im Besonderen. Diese Station ist die letzte Station in der Reihe der möglichen Maßnahmen für Demenzpatienten. Cornelia und ihre Familie haben alle Stadien der Pflegekette durchlaufen: Der erste Schritt wurde begleitet durch den Betreuer für Demenzkranke, der in diesem Fall erst sehr spät zu Rate gezogen worden war, als es zu Hause nämlich schon sehr beschwerlich war. Danach nahm sie Teil an der Tagesbetreuung: Das ist ein Schritt, um sich einerseits an den Verbleib in einem Pflegeheim zu gewöhnen, und andererseits um die Familie zu entlasten. Im Tageszentrum besteht auch die Möglichkeit zur Beobachtung und Behandlung durch Psychologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Musiktherapeuten und Seniorenärzten. Mit der Aufnahme ins Pflegeheim tritt Cornelia den letzten Schritt in der Pflegekette an.

Da Cornelia zu Hause immer selbstständig zur Toilette ging, ist sie nicht daran gewöhnt, um Hilfe zu bitten, wenn sie die Toilette aufsuchen möchte. Damit sie nicht lange umherirrt und dadurch unruhig wird, schlage ich vor, einen Bewegungsmelder am Türrahmen ihres Zimmers anzubringen. Sobald Cornelia ihr Zimmer verlässt, erhält eine Pflegerin ein Signal, und sie kann Cornelia helfen, den richtigen Weg zu finden. Ein Bewegungsmelder ist eine sogenannte freiheitsbeschränkende Maßnahme, daher benötige ich die Zustimmung ihres rechtlichen Vertreters, in diesem Fall also ihres Ehemanns. Er versteht die Situation und findet es eine gute Idee. Er gibt seine Zustimmung aus vollem Herzen.

Cornelia braucht für viele Dinge Unterstützung. Sie kann sich nicht mehr selbstständig waschen und anziehen. Der Pfleger muss ihr Anweisungen geben, wie sie sich doch selbst waschen kann. Der Pfleger tut das in einer ruhigen und freundlichen Atmosphäre ohne die Handlung zu übernehmen; dies dient dazu, dem Bewohner so lange wie möglich seine Selbstständigkeit zu erhalten. Der Pfleger legt nur die Kleidung bereit und hilft mit der Reihenfolge des Anziehens. Cornelia macht sich gerne zurecht, aber auch dabei muss der Pfleger helfen: Sie kann die verschiedenen Arten von Kosmetika nicht mehr auseinanderhalten und könnte Zahnpasta als Mascara anwenden.

Cornelias Ehemann und Tochter schlagen vor, ihr Zimmer gemütlich einzurichten, sodass sie sich ganz wie zu Hause fühlen kann. Glücklicherweise erhält sie ein großzügiges Zimmer, das ursprünglich für zwei Personen gedacht war. Somit ist genügend Platz für einen kleinen Sessel, Fotos an der Wand und andere persönliche Sachen. Die Familie belässt es nicht bei Plänen: Binnen weniger Tage hat Cornelia ein gemütliches und persönlich eingerichtetes Zimmer.

Während des Aufnahmegespräches gehen wir detailliert auf Cornelias Gesundheitszustand ein. Sie ist heute 74 Jahre alt und abgesehen von hohem Blutdruck, wofür sie Medikamente nimmt, sehr gesund. Sie liebt die Natur und macht gerne lange Spaziergänge von fünfzehn bis zwanzig Kilometer. Das erklärt ihren guten Gesundheitszustand! Ein fester Bestandteil eines Aufnahmegespräches ist das sogenannte „advance care planning“: das Besprechen von Wünschen, Eingehen auf Bedürfnisse und Erwartungen rund um künftige Behandlungen und das Lebensende. An diesem Punkt angekommen erzählt Cornelias Ehemann, dass sie eine Willenserklärung Sterbehilfe und ein Behandlungsverbot ausgesprochen hat. Er fügt hinzu, dass sie gedacht hatte, diese Wünsche und Erwartungen selbst auszusprechen, aber das kann sie jetzt ja nicht mehr. Die Tatsache der Willenserklärung Sterbehilfe höre ich heute zum ersten Mal. Es gehört nicht zum typischen Themenkatalog der Gespräche zwischen dem Betreuer für Demenzkranke, dem Psychologen und mir, die zu Patienten in der Tagesbetreuung stattfinden. In den letzten Jahren ist es nur ein paar Mal vorgekommen, dass ein Patient in der Tagesbetreuung Sterbehilfe bekommen hat, und auch auf der geschlossenen Station habe ich nur bei zwei Bewohnern Sterbehilfe durchgeführt; aber alle waren noch einwilligungsfähig. Es ist also die Frage, ob Cornelia sich jetzt noch erklären kann, dass sie Sterbehilfe haben will. Das macht die Sachlage schwierig. Es ist die Frage, ob der Moment „fünf vor zwölf“ bereits unbemerkt vorbei gegangen ist, als sie noch zu Hause wohnte. Ich bespreche diese Fragen und die sich daraus ergebenen Problem mit Cornelias Ehemann und Tochter. Sie erzählen, dass sie es schrecklich finden, dass sie Cornelia ins Pflegeheim geben mussten, obwohl sie immer deutlich gesagt hatte, dass sie das auf keinen Fall will. Cornelia nannte den Zeitraum von zwölf Jahren, in dem ihre Mutter dement in einer Einrichtung saß, eine traumatische Erfahrung. Hinzu kommt, dass Cornelia und ihr Mann unzertrennlich gewesen waren, seit sie sich kennen gelernt hatten, und das war vor 55 Jahren. Seit ihrer Hochzeit haben sie nicht eine Nacht getrennt voneinander verbracht. Die Aufnahme im Pflegeheim bedeutet also, dass sie das erste Mal seit mehr als 50 Jahren getrennt von ihrem Mann lebt und alleine schlafen muss. Ihre Geschichte rührt mich. Ich spüre, was die Aufnahme im Pflegeheim für ihren Mann und Tochter bedeutet. Ihre Tochter hält sich wacker, aber bei ihm sehe ich Tränen in den Augen blitzen.

Ich erkläre, dass Sterbehilfe in diesem Pflegeheim möglich ist und dass ich grundsätzlich bereit bin, Sterbehilfe durchzuführen. Ich frage, ob sie dies wünschen. Die Antwort lautet: Das würden sie unheimlich gerne wollen, nicht für sich selbst, sondern wirklich für Cornelia. Sie fragen, ob das jetzt noch möglich ist, da Cornelia selbst nicht mehr diese Bitte äußern kann. Ich schlage vor, dass ich das herausfinde. Zuerst werde ich untersuchen, ob sie selbst noch anzeigen kann, dass sie Sterbehilfe will. Wenn sie das nicht mehr kann, ist es vielleicht möglich, ihre Willenserklärung Sterbehilfe an Stelle der mündlichen Bitte zu verwenden. Ihr Ehemann und Tochter sind sehr dankbar, dass ich der Möglichkeit zur Sterbehilfe grundsätzlich offen gegenüber stehe und die Durchführbarkeit prüfen werde. Wir vereinbaren, regelmäßig Kontakt zu halten. Über den Pflegedienst der Station oder den Betreuer für Demenzkranke kann ich leicht für eine Terminvereinbarung erreicht werden.

Ab dem ersten Tag im Pflegeheim zeigt Cornelia, dass sie nicht hierbleiben will. Sie regt sich fürchterlich auf, wenn der Pfleger sie zu ihrem Zimmer bringt, sie will sich auch partout nicht ausziehen und zu Bett gehen. Sie sagt, dass hier ein Irrtum vorliegt, dass sie nicht hierbleibt und sie zu ihrem Mann will. Sie läuft dauernd durch die Station und sucht den Ausgang. Wenn um elf Uhr abends der Schichtwechsel stattfindet, steht sie mit ihrer Jacke am Ausgang. In der ersten Nach und nach gelingt es dem Nachtpfleger, sie zu beruhigen; gegen drei Uhr morgens hat er soweit ihr Vertrauen gewonnen, dass er sie zu Bett bringen kann.

Am nächsten Tag kommt ein Mitarbeiter des Zentrums für Pflegeleistungen [Centrum Indicatiestelling Zorg (CIZ)]3, um zu prüfen, ob Cornelia überhaupt auf einer geschlossenen Station verbleiben darf. Sie führen ein Gespräch unter vier Augen. Nach Ablauf des Gesprächs berichtet der Mitarbeiter des Zentrums für Pflegeleistungen, dass Cornelia zwar keine Bereitschaft zum Bleiben, aber auch keinen Widerstand gegen einen Verbleib zeigt. Das bedeutet, dass sie auf der geschlossenen Station bleiben darf. Aus diesem Gespräch lässt sich ableiten, dass ihre Demenz so weit fortgeschritten ist, dass sie die Konsequenzen des Gespräches nicht überblickt und keine logischen Schlussfolgerungen zieht: Sie hat sich nicht gegen einen Verbleib im Pflegeheim gewehrt, obwohl sie mit ihrem Verhalten am Abend zuvor überdeutlich gemacht hatte, das sie wegwollte. Eine Stunde später läuft sie schon wieder über den Flur, auf der Suche nach dem Ausgang. Sie gönnt sich keinen Augenblick Ruhe, isst kaum etwas und ist eigentlich auch nicht zu beruhigen.

In den Tagen danach verändert sich ihr Verhalten kaum. Morgens ist sie oft noch ausgeglichen, aber ab mittags nimmt die innere Unruhe zu. Sie sucht die Nähe zu anderen Bewohnern und wickelt sie in ihre unruhigen und verwirrten Geschichten ein. Die anderen müssen mit zum Ausgang. Spät am Abend läuft eine ganze Gruppe von Bewohnern hinter ihr her. Es wird immer schwieriger, sie zu Bett zu bringen, und sie schläft auch immer später ein, denn sie meint, dass sie nach Hause muss, um für ihre Mutter zu sorgen. Andere Bewohner hält sie vom Schlaf ab, indem sie deren Schlafzimmer einfach betritt. Sie begreift nicht, dass andere schlafen wollen und es lästig finden, wenn sie ungefragt hereinkommt. Das führt zu Streit, bei dem sie ihre Mitbewohner schlägt und stößt. Und natürlich hauen die Mitbewohner zurück. Das macht Cornelia wütend und traurig, aber was die Pfleger auch versuchen, um sie zu beruhigen, nichts hilft. In der dritten Nacht ist die Unruhe auf der Station so groß, dass der Pfleger den Verdacht hat, dass die Unruhe auf einer körperlichen Beeinträchtigung beruht, wie z.B. einer Blasenentzündung. Aber die Untersuchung bringt kein positives Ergebnis. Das Verhalten beruht allein auf Frustration.

Ihr Ehemann kommt fast täglich zu Besuch. Das findet Cornelia sehr schön, aber der Abschied ist jedes Mal ein Drama. Ein paar Tage nach der Aufnahme im Pflegeheim nimmt er sie mit für eine Autofahrt. Sie genießt die Fahrt und die Zeit mit ihm, aber in dem Moment, in dem er sie zur Station zurückbringt, schlägt ihre Stimmung um. Sie ist wütend, dass er sie zurücklassen will und greift ihn physisch an. Später erzählt er dem Betreuer für Demenzkranke, dass er in den 55 Jahren, die sie sich kennen, noch nie mit ihr gekämpft hat. Er ist schockiert. Cornelia ist den restlichen Tag verärgert und in der Nacht kommt es zu heftigen Zusammenstößen mit den Mitbewohnern. Mitten in der Nacht steht sie schreiend auf dem Flur. Es gab Streit mit einem Mitbewohner über eine Handtasche. Der Pfleger trifft die beiden an, wie sie wütend am Schulterriemen ziehen, die Tasche baumelt zwischen ihnen.

Wir besprechen Cornelias Fall in der Verhaltensvisite, das ist eine Konsultation mit dem hauptverantwortlichen Pfleger, dem Psychologen und dem Seniorenarzt. In dieser Runde besprechen wir die Ereignisse der ersten Tage nach Cornelias Aufnahme und versuchen zu verstehen, was in ihr vorgeht, warum sie dieses extreme Verhalten zeigt, um ihre eigentlichen Bedürfnisse zu finden, die wir vielleicht befriedigen können. Der wichtigste Punkt scheint, dass sie ihren Mann vermisst, vor allem abends und nachts. Das ist ein Problem, das wir nicht lösen können. Uns erscheint es sinnvoll, wenn sich der Ehemann mit dem Pfleger über den Zeitpunkt der Verabschiedung abstimmt, damit Cornelia in dem Moment vom Pfleger abgelenkt wird und sie nicht sieht, dass ihr Mann geht. So sollte er ohne große Probleme die Station verlassen können. Auch erscheint es der Eingewöhnung zuträglich, wenn er während der nächsten paar Wochen nicht mehr täglich zu Besuch kommt, da das Abschied nehmen zu heftig ist – für beide.

In den darauf folgenden Wochen sehen wir allerdings keine Verringerung ihrer Kundgebungen von Trauer, Angst und Frustration. Cornelia gewöhnt sich überhaupt nicht an das Leben auf der Station. Bei ihr ist es nicht so, dass Ruhe und Regelmäßigkeit des neuen Tagesablaufs entspannend wirken im Vergleich zur letzten Phase zu Hause, mit dem täglichen Pendeln zwischen zuhause und Tagesbetreuung und einem übermüdeten Ehemann. Vor allem abends und nachts schlägt Cornelia gegen Türen und Fenster und tritt gegen Wände. Tagsüber kann sie nicht aufhören, jeden auf der Station zu dirigieren und kommandieren. Man sieht, dass es sie verrückt macht, dass das Dirigieren und Kommandieren nicht funktioniert. Diese Misserfolge machen ihr unbewusst ihren Kontrollverlust deutlich. Sie reagiert mit Wut. Ihre Wut beruht auf ihrer Angst. Angst davor, das Leben nicht mehr im Griff zu haben und am Chaos im Kopf unterzugehen. Angst, weil sie weiß, dass ihr nichts mehr von dem gelingt, worin sie früher so gut war: Führungsverantwortung als stellvertretende Direktorin einer Grundschule und der Umgang mit Kindern, Eltern und Lehrern. Die Angst lässt sie ständig versuchen, ihre Umgebung doch zu kontrollieren. Weil dies nicht funktioniert, ist Verzweiflung die Folge.

Sie vermisst ihren Ehemann weiterhin. Schlafengehen ohne ihn bleibt natürlich etwas ungewohnt, wenn sie ein halbes Jahrhundert keine Nacht ohne ihn verbracht hat. Sie sucht ihn weiterhin Tag und Nacht. Sie meint ihn in anderen Bewohnern oder deren Besuch zu erkennen. Sie nimmt dann Kontakt mit ihrem vermeintlichen Mann auf. Das führt zu enttäuschenden Reaktionen: Die Mitbewohner zeigen nur ein verlegenes Lachen oder gehen weg, ohne etwas zu sagen, oder sie reagieren mit Wegschieben oder sogar Boxen. Cornelia versteht dies natürlich überhaupt nicht. Es passiert regelmäßig, dass ein Besucher die Station verlässt und sie mitgehen will, weil sie meint, dass der Besucher ihr Mann sei. Dies verursacht genau die gleichen, herzzerreißenden Szenen, wie wenn ihr eigener Mann geht.

Nach ein paar Wochen erhält Cornelia Melatonin (ein natürliches Schlafhormon), um besser einschlafen zu können. Dadurch ist sie weniger übermüdet, aber es verbessert nicht ihren Zustand. Sie bleibt todunglücklich. Ferner sehen wir eigentlich nur weiteren Rückschritt in ihrer Demenz. Sie kann die Toilette nicht finden und verrichtet ihr Geschäft mitten im Zimmer der Mitbewohner. Offenbar empfindet sie dies selbst als sehr unangenehm: Wenn ein Pfleger zufällig reinkommt, schaut sie beschämt und verlässt fluchtartig das Zimmer. Problematisch ist, dass Cornelia nicht anzeigt, dass sie eine Toilette sucht, sodass die Pfleger ihr nicht helfen können. Auch isst sie sehr schlecht. Sie hat keinen Appetit. Sie verliert schnell an Gewicht – ein beunruhigendes Zeichen.

Ich führe regelmäßig kurze Gespräche mit ihr und ich beobachte sie auf der Station. Ich merke, dass sie mit dem Wort Demenz nichts mehr anfangen kann. Sie meint auch, dass ihr Erinnerungsvermögen früher schlechter war, aber dies nun glücklicherweise besser geworden sei. Das ist für mich ein Zeichen, dass ihr Erkrankungsbewusstsein stark zurückgegangen ist, von Krankheitseinsicht kann keine Rede mehr sein. Ich beobachte, wie sie in den Spiegel schaut, und über „die alte Frau dort, die im Zimmer steht“ spricht: Cornelia erkennt ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr. Das erklärt vielleicht folgendes Verhalten: Vom Flur aus kann man durch Fenster in die Wohnzimmer der Station schauen. Wenn es dunkel ist und sie dann durch die Fenster schaut, redet und winkt sie, auch wenn niemand im Wohnzimmer ist. Vielleicht winkt sie ihrem eigenen Spiegelbild. Es besteht aber auch die Vermutung, dass sie die Stühle als Kinder wahrnimmt. Ein verwirrender Zustand!

Wenn man Cornelia Gesellschaft leistet, führt sie unendlich lange Monologe. Sie hört nicht auf zu reden, auch nicht, wenn man eineinhalb Stunden bei ihr sitzt. In diesen Monologen erzählt sie variationsreich (teils mit erfundenen Worten), dass sie es auf der Station schrecklich findet, dass alle anderen sie ärgern und langweilen. Während dessen weint sie viel und es gibt keinen fröhlichen Augenblick. Sie zeugt nur von Trauer und unglücklich sein. Sie zeigt ihre Hände, weil diese schmerzen: Blaue Flecken und kleine Risse, verursacht durch das Schlagen gegen Türen, durch feste Handgriffe der Mitbewohner oder durch gekratzt werden. Die Pfleger melden auch, dass immer öfter blaue Flecke an ihrem Körper auftreten: Diese kommen durch Hinfallen oder dadurch, dass die Mitbewohner sie treten und schlagen4. Die Pfleger versuchen, Cornelia vor den Mitbewohnern und die Bewohner vor Cornelia zu schützen. Wenn Cornelia den Mitbewohnern zu dicht auf die Pelle rückt, erhält sie Schläge, weil diese sich belästigt fühlen. Aus Cornelias Sicht aber, möchte sie doch nur mit ihrem Ehemann sprechen. Der Pfleger, der dazwischen tritt, ist für Cornelia das Problem, denn er hindert sie am Gespräch mit ihrem Mann; das macht sie