Angelina Maginie - Iw Aziz - E-Book

Angelina Maginie E-Book

Iw Aziz

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Beschreibung

Nach dem Unfall hat Angelina immer noch mit ihrem Gedächtnisverlust zu kämpfen. Dennoch versucht sie, sich auf ihr neues Leben in Narro, dem Wohnort ihrer Großeltern, einzustellen. So nett die Menschen in Narro erscheinen, spürt Angelina, dass hier andere Sitten herrschen. Ihre Großmutter Susanna gibt ihr mit ihren Launen immer wieder Rätsel auf, und Angelina fragt sich zunehmend, warum ihre Mutter so wenig über ihre Vergangenheit gesprochen hat. Auch an der neuen Schule läuft nicht alles harmonisch. Die zunehmenden Konflikte stürzen Angelina in eine große Verwirrung und lassen sie langsam an ihrem Verstand zweifeln. Ein unerwartetes Wiedersehen lässt Angelina hoffen, aber wird es reichen, um ihr Leben wieder mit Mut und Zuversicht anzugehen? Angelina Maginie und der goldene Käfig - Band II ist zu verstehen als eine Art Puzzle des Unterbewusstseins - gefangen zwischen schmerzender Realität und fantastischer Imagination. Die Leser*innen werden erneut eingeladen, Angelinas Identitätssuche zu folgen und erfahren die Bedeutung transgenerationaler Traumata. Altersempfehlung: Ab 12 Jahren Band zwei einer Trilogie. Der erste Band erschien unter dem Titel: Angelina Maginie und das verloren geglaubte Ich

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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Starry-Starry-Night-Markus, für David!

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

I Verführung

Kapitel I Nachts in Narro

Kapitel II Der grosse Tag

Kapitel III Das Kaffeekränzchen

Kapitel IV Carly

Kapitel V Martha und der zauberhafte Laden

Kapitel VI Die Herbstferien

II Verwirrung

Kapitel VII Alles neu

Kapitel VIII Susanna liegt

Kapitel IX Frau Hen

Kapitel X Die Freundin

Kapitel XI Verlaufen

Kapitel XII Begegnungen

III Tod

Kapitel XIII Abgrund

Kapitel XIV Macht und Ohnmacht

Kapitel XV Leben und Überleben

Kapitel XVI Der Name

Kapitel XVII Happy Birthday

Kapitel XVIII – Teil I Das verloren geglaubte Ich

Kapitel XVIII – Teil II Das verloren geglaubte Ich

Epilog

Die Traumrealität

Wunsch aus Kindertagen

Bald

Quellenverzeichnis

PROLOG

Nie hätte ich gedacht, dass ich in so eine Situation kommen könnte. Ich meine, in eine so ausweglose. Aber dann passieren diese Dinge und du stehst da und wünschst, es sei alles nur ein Traum gewesen.

Zwei Monate sind seit diesem schrecklichen Unfall vergangen, als ich mit meinen Eltern auf dem Weg in die Sommerferien war. Ich hatte auf der Rückbank unseres Autos gesessen und mich gefreut, nichtsahnend, dass ein Wirbelsturm uns bei der Überfahrt mit der Fähre in die Tiefen des Ozeans und meine Eltern in den Tod reißen würde. Seither wünsche ich mir, dass ich in die Vergangenheit reisen könnte, um alles rückgängig zu machen – den Wirbelsturm, das Fährunglück, den Tod meiner Eltern. Sie würden einfach so durch die Tür spaziert kommen, würden sagen: »Da bist du ja. Komm, lass uns nach Hause fahren.« Und ich würde sagen: »Klar, ich komme gleich.«

Ja, meine Familie … meine Familie, das waren meine Mutter Ava, mein Papa Albert und meine Katze Ally. Mein Papa war ein sehr geduldiger Mensch, der Ruhepol der Familie, während meine Mutter eher quirlig war, lustig und verträumt.

Wir lebten in Silona, einer kleinen Stadt im Süden, in der es keine Hektik zu geben schien. Die Menschen waren entspannt, vielleicht sogar zu entspannt. Um ehrlich zu sein, fand ich mein Leben in den letzten Jahren oft langweilig. Alles hatte seine geregelten Abläufe, nie passierte etwas Unvorhergesehenes, was mein Leben mit einem Hauch von Abenteuer hätte versehen können. Es war ein friedliches Leben, für das meine Eltern gesorgt hatten, nicht sonderlich aufregend, aber friedlich.

Ein wenig Aufregung kehrte aber regelmäßig ein, wenn wir in den Sommerferien nach Nuria reisten. Nuria ist eine Insel im mittleren Meer. Dort verbrachten wir unsere Ferien in einem kleinen Holzhaus auf einem Hügel, in der Nähe einer alten Mühle. Viele Familien aus Silona reisten im Sommer auf die Insel, daher traf man auf viele bekannte Gesichter, so auch auf Tom, der damals mein bester Freund war. Er war ein mutiger Junge, mit dunklen, wuscheligen Locken, die so wild waren wie sein Temperament. Zwischen uns hatte es nie etwas Böses gegeben. Kein Neid, keine Missgunst, einfach Freundschaft.

Dann kam der Sommer meines dreizehnten Geburtstags, der alles verändern sollte. Ich war besonders ängstlich zu dieser Zeit und ich kann mich erinnern, wie ätzend ich das fand. Nicht, dass ich sonst eine Draufgängerin gewesen wäre, aber in diesem Sommer wollten die Sorgen zunächst nicht von mir lassen, als hätten sie eine diebische Freude, in meinem Kopf Karussell zu fahren. Mit dem Schlafwandeln ging es los. Ihr wisst noch, was passiert ist, oder? Ich wandelte im Schlaf zur blauen Bucht, stürzte von den Klippen ins Meer und wurde (wirklich wahr) von Delfinen gerettet. Von dieser Nacht an gab es keinen Platz mehr für Sorgen; ich wollte die rätselhaften Ereignisse um die Delfine verstehen und Tom half mir dabei, so gut er konnte.

Wir erlebten einen fantastischen Sommer und ich lernte mich neu kennen. Ich fand heraus, dass ich mit der Kraft meiner Gedanken die Zeit anhalten und mich in eine magische Wasserwelt versetzen konnte. Tat ich das, konnte ich auch Kontakt zu den Delfinen aufnehmen, allen voran zu Faranghis. Aber leider blieben so viele Fragen ungeklärt. Warum war es den Delfinen so wichtig, dass ich meine Fähigkeiten trainierte? Und vor wem oder was sollte ich beschützt werden?

Egal, wie oft ich die Delfine im folgenden Jahr zu mir rief, ich wurde nicht schlau aus ihren rätselhaft formulierten Gesängen. Aber ich trainierte meine Fähigkeiten, wie sie es von mir verlangt hatten. Ich saß mitten in einer Klassenarbeit und … FLIPP … hatte ich die Zeit angehalten, sodass ich in Ruhe über alle Aufgaben nachdenken konnte. Mir war abends langweilig und … FLIPP … hatte ich das Wasser zu mir gerufen, genoss den Anblick der gewaltigen Wasserspirale um mich herum, erfreute mich daran, den Delfinen ganz nah sein zu dürfen. Mein Selbstvertrauen wuchs ins Unermessliche und dazu gesellte sich ein Gefühl von Unantastbarkeit. Nuria würde mir die Antworten schon liefern, dachte ich zu jener Zeit. Auf Nuria würden sich die restlichen Puzzleteile meiner Geschichte bestimmt auffinden lassen.

Doch es kam anders. Ein Jahr später erwartete mich kein Abenteuer, sondern die große Katastrophe meines Lebens. Der Wirbelsturm ergriff die Fähre. Viele Menschen starben, auch meine Eltern. Ich überlebte, zumindest Bruchstücke von mir. Ihr wisst vielleicht noch, wie es war, als ich im Krankenhaus aufwachte und mich an so gut wie nichts erinnern konnte? Das hat sich, zum Glück, geändert, aber nur teilweise, denn auch heute noch habe ich große Erinnerungslücken.

Mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt, aber das Rad der Zeit dreht sich ungeniert weiter. Meine ganze Verzweiflung, meine Fassungslosigkeit, was bringt die mir? Nichts. Ich habe begriffen, dass das Leben kein Film ist. Irgendwie muss ich damit klarkommen. Heute lebe ich nicht mehr in Silona, sondern in Narro bei meinen Großeltern. Ich lebe nicht mehr in einer Wohnung, sondern in einem riesigen Haus. Mit dem Ende der Sommerferien besuche ich nicht mehr meine alte Schule, sondern die Kaiser-Khan-

Schule für Mädchen. In meinem neuen Zimmer gibt es nichts aus meinem alten Leben, gar nichts. Keine Erinnerungen, kein Schmerz, hatten meine Großeltern erklärt. Sie hatten sich darum bemüht, meinen Umzug möglichst schnell zu organisieren, sodass ich nicht gezwungen war, zurückzublicken. Später, so hatten sie erklärt, irgendwann, wenn ich stabil wäre, könne ich gerne meine alte Heimat besuchen. Nur Ally, mein schwarzes Kätzchen mit dem weißen Fleck über dem rechten Auge, sie ist mir geblieben. Was für ein Glück!

Wahrscheinlich denkt ihr nun: Aber du hast doch die Delfine! Und deine Fähigkeiten! Und da habt ihr recht. Nur, dass ich mich daran noch nicht erinnern kann. Der Sprung von den Klippen, meine geheimen Treffen mit Tom, das Debakel um Odilo, die Gespräche mit Faranghis und meine Flipps (so wie ich sie nenne) durch die Zeit – es ist alles weg. Keine Erinnerung, keine Superkräfte. Ich versuche zu befolgen, was Oma und Opa sagen. »Du musst nach vorne blicken, stets nach vorn!« Und obwohl ich merke, dass mich das sehr anstrengt, ist es das, was ich jeden Tag versuche …

I VERFÜHRUNG

A golden prison was given to me,

was my illness and my shelter …

KAPITEL I

NACHTS IN NARRO

Angelina konnte nicht schlafen. Es war zwei Uhr morgens. Sie lag in ihrem neuen Bett in dem herrschaftlichen Haus ihrer Großeltern in der Rosenstraße 25 und fragte sich, ob sie grundsätzlich und überhaupt noch in der Lage war zu schlafen. Langsam nervten diese Schlafprobleme echt.

Es war das Jahr 1997. Angelina war mittlerweile vierzehn Jahre alt. Seit acht Wochen lebte sie in Narro und seither war jede Nacht irgendwie anstrengend gewesen. Wobei diese Nacht eine ganz besondere war. Morgen war der erste Tag auf der neuen Schule. Dann wäre es besiegelt, dass sie ein neues Leben hatte. Wahrscheinlich würden die Mädchen sie verstohlen mustern, denn sie hatten alle bestimmt schon von ihr gehört. Von dem armen Mädchen, das ihre Eltern verloren hatte und das nun bei ihren Großeltern lebte. So etwas sprach sich in kleinen Ortschaften schnell herum, und in großen Ortschaften wahrscheinlich auch, wie Angelina befand. Jeder würde irgendetwas über sie erfahren haben, aber alle würden so tun, als wüssten sie von nichts – um sie nicht zu belasten oder weil sie mit schlimmen Schicksalen nichts zu tun haben wollten … als ob man von sowas angesteckt werden könnte. Und wer wollte sich schon freiwillig mit schlimmen Schicksalen beschäftigen? Angelina versuchte, mit ihrem Gesicht eine kühle Stelle auf ihrem Kopfkissen zu finden. Eigentlich wollte das doch keiner. Nur, wenn man selbst betroffen war, so wie sie, dann blieb einem nichts anderes übrig. Wahrscheinlich hatten die Eltern schon mit ihren Mädchen darüber geredet, dass ab morgen eine neue Schülerin in ihre Klasse gehen würde, dass es die Enkelin der Familie Kranz war und man schön nett zu ihr sein sollte. Na ja, das wäre nicht weiter schlimm. Sie schreckte auf, denn plötzlich war Ally auf ihr Bett gesprungen, die bis dahin friedlich in ihrem Körbchen geschlafen hatte. Schnurrend tastete sie sich zu Angelina vor, als hätte sie gemerkt, dass Angelina wach ist und damit auch wach genug, um Ally zu streicheln. Und das tat Angelina, denn es war schön, Ally an ihrer Seite zu spüren. »Oma hat zwar eine leichte Katzenallergie, aber das ist egal, hat sie gesagt«, flüsterte Angelina ihr zu, während sie ihre Katze ausgiebig hinter den Ohren kraulte. »Es ist egal, weil ich mich um dich kümmere, ich und nur ich«, fügte sie hinzu und genoss den Anblick ihrer Katze, die ihr Köpfchen an ihrer Hand schubberte. Oma hatte ihr gestern sogar Klamotten rausgelegt. Unglaublich. Das hätte ihre Mutter nie getan, aber na ja, sie durfte nicht zu viel von einer Frau erwarten, die immerhin schon fünfundsechzig Jahre alt war. Sie gab sich Mühe, das wusste Angelina. Sie hatte all diese Sachen gekauft, die Angelina nicht im Geringsten gefielen, aber Angelina hatte es nicht übers Herz gebracht, etwas zu sagen. Sie hatte ihr Zimmer in Rosa eingerichtet, nichts gegen Rosa, aber es war einfach nicht Angelinas Farbe. Dann die Klamotten. Lauter unbequemes, blumiges Zeug mit Rüschen. Vieles viel zu eng und eigentlich auch zu kurz. Aber immerhin, ein paar Jeans und T-Shirts waren auch dabei, und genau das wollte Angelina tragen. Hoffentlich wird Oma nicht beleidigt sein. Sie wollte ihre Großeltern nicht verärgern, wirklich nicht. Irgendwie sind sie ganz anders, als Mama es war. Wie seltsam die Welt doch ist, wenn man bedenkt, dass es immerhin ihre Eltern sind oder waren … Aber vielleicht war das der Grund, warum sie ihre Großeltern nicht so oft besucht hatten, überlegte Angelina. Ja, genau, vielleicht lag es nicht NUR an der weiten Entfernung, dass wir selten bei Oma und Opa waren. »Mal sehen, ob wir das noch rausfinden«, erklärte sie Ally, die sich zufrieden auf ihrem Kopfkissen ausgebreitet hatte. Angelina kuschelte sich an Ally heran, indem sie sich vorsichtig auf das kleine restliche Stück Kissen quetschte, und obwohl diese Position alles andere als bequem war, schlief sie schließlich ein.

Es folgte ein überaus verstörender Traum, bei dem Angelina nachts durch das Haus der Großeltern geisterte, so als würde sie schlafwandeln. Sie träumte, wie sie durch das große, hölzerne Treppenhaus schlich, hinauf in das Zimmer ihrer Großmutter Susanna. Das Zimmer von Opa Marten war schräg gegenüber. Ihre Großeltern hatten schon seit einigen Jahren getrennte Schlafzimmer, da Opa Marten morgens früh rausmusste und so lange arbeitete, dass er abends erst spät nach Hause kam. Vorsichtig öffnete sie die Tür und stellte sich nah an das Bett ihrer Oma. Sie betrachtete die alte Frau, der man gut ansehen konnte, wie hübsch sie in ihrer Jugend gewesen sein musste. Friedlich schnarchte sie vor sich hin, natürlich vollkommen unwissend darüber, dass sie gerade beobachtet wurde. Dann sprach Angelina plötzlich diese Worte: »Wir wissen beide, dass du es bist. Du bist es und nicht ich!«

Der Wecker erinnerte sie laut und unwirsch, dass die Nacht vorbei war und Angelina schreckte verstört aus ihrem Schlaf auf, nun, da sie gerade tief und fest geschlafen hatte. Sie stand auf, zog sich an und kämmte sich die Haare. So ein Scheiß. Was für ein schräger Traum. Etwas Besseres konnte mir wohl nicht einfallen.

Hastig stolperte sie die Treppen hinunter in die große Küche, in der bereits der Tisch gedeckt war. Ihre Oma stand in ihrem geblümten Morgenrock am Herd und schien sich sehr konzentriert damit abzumühen, möglichst wohlgeformte Pfannkuchen zu backen. »Hey, Oma«, murmelte Angelina und wartete gespannt darauf, was Oma zu ihrem Outfit sagen würde. Und tatsächlich, Angelinas Kleidungswahl verfehlte ihre Wirkung nicht. »Kind«, rief Susanna bestürzt, »aber, wie siehst du denn aus?« »Es ist einfach bequem, Oma, nicht so schön wie die Kleider, die du mir gekauft hast, aber bequem«, argumentierte Angelina, während sie ihre Großmutter umarmte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. »Oh, Pfannkuchen, die sehen ja lecker aus«, bemerkte sie, obwohl sie überhaupt keinen Hunger hatte. Die Bemerkung lenkte ihre Großmutter, wie geplant, von ihrer Kleidung ab. »O ja, die habe ich schon so lange nicht mehr zubereitet«, antwortete Susanna mit strahlenden Augen. »Und sieh nur, es gibt auch Kakao und frisches Obst.« Und da Angelina ihre Oma an diesem Morgen nicht zweimal enttäuschen wollte, setzte sie sich brav an den Tisch und aß so viel sie konnte. So viel, bis ihr deutlich schlecht war. »Okay«, rief Angelina, nachdem sie den letzten Bissen mit Mühe und Not runtergeschluckt hatte, »ich muss los.« Susanna sah ihre Enkelin an, als müsste sie gleich weinen. »Nun ja, jetzt ist es so weit. Hast du auch alles?« Angelina beantwortete ihre Frage mit einem Nicken. »Und soll ich wirklich nicht mitkommen?« »Nein, Oma, danke«, entgegnete Angelina ruhig, obwohl sie innerlich die Luft anhielt. Doch Susanna ließ schnell ab von der Idee, denn in der kurzen Zeit hätte sie sich nicht mehr fertig machen können. »Ist gut, meine Kleine, dann wünsche ich dir viel Erfolg!«, antwortete sie. »Alle erwarten dich und sind sehr freundlich. Du wirst schon sehen.«

KAPITEL II

DER GROSSE TAG

Angelina wäre am liebsten abgehauen, einfach weg, irgendwohin, wo sie keiner kannte und keiner etwas von ihr erwarten würde. Das tat sie natürlich nicht, stattdessen beeilte sie sich, um die Schule möglichst schnell zu erreichen. Ich muss ja doch hin. Dann lieber zu früh als zu spät. Sie schnappte ihre Tasche und sprintete nach draußen. Die Kaiser-Khan-Schule war nicht weit weg von dem Haus ihrer Großeltern; sie konnte zu Fuß laufen. Und da ihre Oma in den vergangenen Tagen darauf bestanden hatte, den Weg ein paar Mal mit ihr »abzulaufen«, wusste sie bereits, dass sie etwa fünfzehn Minuten brauchte, wenn sie gemütlich lief. Aber Angelina lief nicht gemütlich. Sie lief schnell. Vorbei an den prächtigen Vorgärten der Rosenstraße, die dem Namen alle Ehre machten. Denn die Rosenbüsche ragten, einer schöner als der nächste, über den Zäunen hervor, als ob sie um die Wette wuchsen, um sich in Schönheit und Größe zu übertrumpfen. Sie lief vorbei an den zahlreichen Hundebesitzerinnen und ihren Hunden, die ihre morgendliche Runde so dringend nötig hatten, vorbei an einem in der Nähe gelegenen Park, in dem bereits eifrig gejoggt wurde – und dann stand Angelina, innerhalb von sportlichen sieben Minuten, vor den ehrfürchtigen Toren der neuen Schule. Das Gebäude war alt, aber gut erhalten, wie Angelina fand, eine Mischung aus Märchenschloss und Einkaufszentrum, nur nicht so groß. Angelina hastete durch das bunte Treiben der vielen Mädchen, die sich bereits in verschiedenen Grüppchen zusammengefunden hatten, um sich nach den langen Sommerferien auf Stand zu bringen. Wie vereinbart lief sie zunächst zum Büro des Rektors, Herrn Karp. Sie hatte ihn bereits vor ein paar Tagen bei der Anmeldung kennengelernt. Er kannte seine Großeltern gut, nicht nur, weil auch schon ihre Mutter diese Schule besucht hatte, sondern auch, weil Herr Karp und ihr Großvater alte Schulfreunde waren. Angelina klopfte vorsichtig an die schwere Mahagoni-Tür und trat ein, als sie ein freundliches »Herein« hörte. Herr Karp sah aus wie ein Schulleiter aus einem dieser Schulfilme. Ein älterer Herr mit silbrig-weißem Haar und einem sauber gestutzten Bart. Er trug eine Brille, die extravagant auf seiner Nase thronte und ihm ein gelehrtes Aussehen verlieh.

»Angelina, wie schön, dich zu sehen! Na, bist du aufgeregt?«, fragte er mit seiner tiefen, vollen Stimme. »Ja, so ziemlich«, gab Angelina zu, woraufhin Herr Karp gütig lachte und ihr versicherte, dass sie sich bestimmt schnell einleben würde. Dann klopfte es erneut und Herr Karp rief ein weiteres Mädchen herein. »Das ist unsere Liz, ich meine Elisabeth. Ihr werdet die gleiche Klasse besuchen. Vergangenes Jahr war sie Klassensprecherin, und wenn ich mich nicht täusche, wird sie dieses Jahr bestimmt wieder in dieses Amt gewählt«, erklärte Herr Karp. Liz kicherte höflich und reichte Angelina die Hand. »Herzlich willkommen an unserer Schule! Wenn du willst, führe ich dich noch ein wenig herum.« »Prima«, antwortete Angelina erleichtert. Liz hatte große blaue Augen, Sommersprossen und lange, dunkelblonde Haare, die zu einem Zopf geflochten waren. Sie verhielt sich aufmerksam, in ihrer Ausstrahlung lag allerdings auch etwas Kühles.

»Na gut, die Damen«, bemerkte Herr Karp, »dann wünsche ich einen gelungenen Start ins neue Schuljahr. Und, Angelina?«

»Ja, bitte?«

»Zögern Sie nicht, mich aufzusuchen, wenn etwas sein sollte. In Ordnung?«

»Ja, sicher, Herr Karp. Vielen Dank!«

Die beiden Mädchen verließen das Büro. Puh, das wäre schon einmal geschafft.

»In Ordnung«, übernahm Liz das Zepter. »Ich zeige dir erstmal die wichtigsten Sachen, heißt, unsere Cafeteria, die Bibliothek, unsere Sportplätze und natürlich die Toiletten. Du wirst sehen, dass hier alles sehr übersichtlich angeordnet ist, sodass man sich nicht verlaufen kann. Ach, und die Musikräume zeige ich dir auch noch, wenn du willst. Die sind ganz oben. Spielst du ein Instrument?«

»Ähem, nein.«

»Nein? Gar keins?« Liz sah sie verwundert an.

»Ähem, ich kann ganz gut singen«, antwortete Angelina eingeschüchtert.

»Sehr gut.« Liz schien wieder zufrieden zu sein. »Dann könntest du in unserem Schulchor singen. Und welchen Sport machst du? Hier an der Schule ist Volleyball sehr wichtig. Jedes Jahr liefern wir uns erbitterte Wettkämpfe mit der Mädchenschule aus dem Nachbarort.« Sie lachte.