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Deportationsfantasien, Untersuchungshaft wegen Terrorverdacht, Gelder aus Russland und China-Spionage – ganz Deutschland rätselt: Wie gefährlich ist die AfD? Muss die Partei verboten werden, bevor sie an die Macht kommt? Die Autoren Michael Kraske und Dirk Laabs, die seit Jahren im extremistischen Milieu recherchieren, liefern harte Fakten. Sie berichten aus ostdeutschen AfD-Brennpunkten, von AfD-Veranstaltungen, aus geheimen Chatprotokollen und Gesprächen mit Aussteigern. Ihr investigatives Buch zeigt: Die AfD arbeitet systematisch daran, Deutschland in einen autoritären, völkischen Albtraum zu verwandeln. Auf der Straße marschiert die AfD Seite an Seite mit Neonazis, Pegida und Reichsbürgern. Höcke und Co. hetzen in Reden und Schriften seit langem offen, aber zumeist unbemerkt gegen Minderheiten und die parlamentarische Demokratie. AfD-Mitglieder geraten unter Terrorverdacht. In vielen AfD-Büros arbeiten radikalste Kader aus der ultrarechten Szene unterhalb des medialen Radars. Die Autoren Michael Kraske und Dirk Laabs leuchten diese rechtsextremen Netzwerke rund um die AfD aus und zeigen, wie die Partei zu einer extremistischen Gefahr werden konnte. Sie haben dafür mit Aussteigern gesprochen, AfD-Politiker auf der Straße und in digitalen Hass-Kammern beobachtet sowie interne Dokumente ausgewertet. Ihr dramatischer Befund: Die Partei setzt ihren Plan, das Land radikal nach völkischen Vorstellungen umzubauen, Schritt für Schritt um, ohne bislang wirksam bekämpft zu werden. Die Recherchen von Kraske und Laabs machen zudem deutlich: Ein AfD-Verbot wäre nur der erste Schritt – die demokratischen Institutionen und Strukturen müssen insgesamt viel wirksamer als bisher gegen Angriffe geschützt werden. Doch die Zeit dafür wird knapp!
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Michael Kraske/Dirk Laabs
Angriff auf Deutschland
Die schleichende Machtergreifung der AfD
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
1. Akute Gefahr für Deutschland – Warum die AfD gestoppt werden muss
1.1 Ein Geheimplan? Offener Angriff unterhalb des Radars!
1.2 Terrorverdächtige und extremistische Netzwerke – Die ultraradikalen Kader der AfD
1.3 Inside AfD – Aussteiger packen aus
Eine unvollständige Chronik
1.4 Ein Land voller Hass – Das Deutschland der AfD
1.5 Wenn die Wut unkontrollierbar wird – gewalttätige AfD-Mitglieder und Politiker
1.6 Cashcow Parlament – wie Mitarbeiter von AfD-Abgeordneten die rechte Szene aufbauen
1.7 Die AfD – Seite an Seite mit Reichsbürgern, Neonazis und Demokratiefeinden
1.8 Fake News und TikTok-Hits – Warum die AfD den digitalen Raum beherrscht
1.9 Kampfzone Kommune – Radikalisierung und Normalisierung
1.10 Die Internationale der Demokratiefeinde – wie AfD-Politiker Deutschland verraten und verkaufen
1.11 Der Feind im Inneren – Die Richter, Polizisten und Soldaten der AfD
2. AfD-Verbot – Warum ein Verfahren notwendig und möglich ist
2.1 Pro und Contra
2.2 Richtig und wichtig
3. Demokratische Lösungen – Es zählt jeder Tag!
3.1 Der AfD keine Macht, nirgends!
3.2 Die Versuchung der Konservativen – Standhaft bleiben!
3.3 Ruhe bewahren und Nerven behalten!
3.4 Polizei, Justiz und Verfassungsgericht schützen!
3.5 Demokratie langfristig fördern!
3.6 Demokratie muss immer wieder neu gelernt werden!
3.7 Zusammenhalten! Die gesamte Zivilgesellschaft ist gefragt!
3.8 Die Rolle der Medien – Schluss mit Appeasement! Wissen vernetzen!
3.9 Solidarität mit den Betroffenen!
3.10 Mehr Mut wagen! Mehr Selbstbewusstsein zeigen! Mehr Ehrlichkeit in der Politik!
Zum Dank und zur Entstehung dieses Buches
Anmerkungen
1. Akute Gefahr für Deutschland – Warum die AfD gestoppt werden muss
2. AfD-Verbot – Warum ein Verfahren notwendig und möglich ist
3. Demokratische Lösungen – Es zählt jeder Tag!
Zum Buch
Vita
Impressum
Lange bevor Millionen Menschen gegen die AfD auf die Straße gehen werden, feiert die rassistische Pegida-Bewegung in Dresden ein Jubiläum. Eine Menschenmenge steht dicht gedrängt unweit der imposant erleuchteten Frauenkirche vor der Bühne und wartet auf den Star-Gast des Abends. Es ist ein Februarabend im Jahr 2020, unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Hier startet und endet heute der 200. «Spaziergang», wie jene, die eine vermeintliche «Islamisierung des Abendlandes» heraufbeschwören, ihre Demos nennen. Von dieser Bühne hat der vorbestrafte Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann jüngst noch politische Gegner in NS-Jargon als «Schädlinge», «Parasiten» und «Maden» bezeichnet. In einer lupenreinen Vernichtungsfantasie sprach er darüber, wie der gesellschaftliche Graben geschlossen werden könnte. Alle Unterstützer der «Volksfeinde» sollten rein in den Graben, so Bachmann damals: «Wir werfen sie in den Graben. Dann schütten wir diesen Graben zu.»[1]
Diese Hass-Rede hat die zumeist männlichen, mittelalten bis älteren Zuschauer nicht davon abgehalten, an diesem Winterabend wieder zu Pegida zu gehen. Neben einigen jungen Männern im Outfit von Hooligans – dunkle Regenjacken, Turnschuhe – sind es vor allem unscheinbare Normalbürger in Anorak oder Steppjacke. Etliche Besucher begrüßen sich per Handschlag oder Kopfnicken. Man kennt sich in dieser verschworenen Gemeinschaft. Zwei ältere Frauen versuchen aufgeregt, einen Blick auf die Bühne zu erhaschen – zwischen schwarz-rot-gelben und Pegida-typischen Wirmer-Fahnen mit schwarzgelbem Kreuz auf rotem Grund hindurch. Höflich fragen sie, ob es dem Reporter etwas ausmachen würde, ein wenig zur Seite zu treten: «Wir sind doch gekommen, um den Herrn Höcke zu sehen.» Als der Thüringer AfD-Chef dann die Bühne betritt, gibt es kein Halten mehr. Die Frauen klatschen hektisch in die Hände und fallen mit hohen Stimmen in einen vielstimmigen Chor ein: «Höcke! Höcke! Höcke!» Inmitten dieser aufgekratzten Menge zu stehen ist ein beklemmendes Gefühl. Man wird Zeuge eines verstörenden Personenkults.
Björn Höcke, ehemaliger Gymnasiallehrer in Hessen, beginnt mit einer verbalen Verbeugung vor seinen sächsischen Gastgebern. Es sei ihm eine «besondere Ehre», hier zu sprechen. Pegida habe Geschichte geschrieben. Darüber, dass hier gegen Menschen schon mal als asoziale «Maden» und «Parasiten» gehetzt wird, verliert er kein Wort. Seine Rede ist dann nicht weniger als eine Kampfansage an die pluralistische Demokratie.[2] Ohne sie namentlich zu erwähnen, zielt der starke Mann der AfD auf NGOs wie die Amadeu Antonio Stiftung, Beratungsstellen von Opfern rechter Gewalt und Initiativen gegen Rassismus und Antisemitismus, deren Arbeit durch Förderprogramme der Länder und des Bundes finanziert werden: «Auch das werden wir abstellen, wenn wir in Regierungsverantwortung sind.» Der Staat dürfe nicht als «Ideologieproduzent» auftreten. Es folgt eine unverhohlene Drohung: «Deswegen werden wir diese sogenannte Zivilgesellschaft, die aus Steuergeld-Millionen finanziert wird und sich daraus nährt, dann leider trockenlegen müssen.» Wieder begeisterte Rufe: Höcke! Höcke! Später dann ein dumpfer, aggressiver Chor: «Widerstand! Widerstand!» Redner und Anhänger schaukeln sich vor der hell erleuchteten Silhouette der Frauenkirche gegenseitig hoch. Die Menge jubelt, als Höcke ankündigt, endlich «wieder Politik für unser Volk» machen zu wollen. In dieser Rhetorik ist kein Raum für unterschiedliche gesellschaftliche Interessen und Ziele – sie kennt nur eine Art von Deutschen.
Dann wird deutlich, wie weit außerhalb des demokratischen Diskurses sich Höcke bewegt. Deutschland nennt er ein «Irrenhaus». Könnte man ein Dach darüberziehen, wäre dieses Land «eine geschlossene Anstalt». Höcke greift frontal die demokratische Praxis sowie gewählte Regierungen an: «Und ich möchte an dieser Stelle ergänzen, dass Deutschland ein ganz besonderes Irrenhaus ist. Nämlich ein Irrenhaus, in dem die Patienten tatsächlich denken, dass sie die Ärzte sind.» Das Publikum dankt ihm den Spruch mit höhnischem Gelächter. Auch die beiden weiblichen Fans nebenan sind entzückt. So spricht niemand, der demokratischen Wettbewerb akzeptiert. Demokraten unterstellen einander keine psychischen Krankheiten. Sie verhöhnen einander nicht mit Hasssprache. Aus Höcke spricht an diesem Abend pure Demokratieverachtung. Eingestreute Lippenbekenntnisse zur parlamentarischen Demokratie und zur Menschenwürde wirken da wie Hohn.
Der gebürtige Westfale aus der Kleinstadt Lünen ist ein mittelmäßiger Redner. Gern greift der ehemalige Geschichtslehrer auf bewährte Textbausteine zurück. Wer ihn häufiger hört, erkennt die immer gleichen Versatzstücke. Seinen Auftritt vor den dankbaren Anhängern in der Pegida-Hochburg Dresden beendet Höcke denn auch mit einem seiner sprachlichen Lieblingsbilder. Zunächst verbreitet er aber noch eine rechte Verschwörungstheorie, warnt vor einer angeblich geplanten, nicht näher beschriebenen «Transformation», die er raunend «der große Umbau» nennt. Ziel sei die «Überwindung der Völker» und «der Kulturen». Seine Erzählung knüpft an das rechtsextreme Konzept des Ethnopluralismus an, das die Homogenität von Völkern und Kulturen (anstelle des diskreditierten Rasse-Begriffs) anpreist. Die Vermischung von Kulturen und Ethnien (durch Migration, also durch Menschen) wird von neurechten Vordenkern wie dem französischen Autor Alain de Benoist als Zerstörung und Vernichtung gebrandmarkt. Der ebenfalls neurechte Autor Pierre Krebs brachte die Idealvorstellung des modernisierten Rechtsextremismus auf eine griffige Formel, als er das «Modell einer heterogenen Welt homogener Völker, und nicht umgekehrt» propagierte.[3] Aus diesem ideologischen Baukasten bedient sich der AfD-Politiker in Dresden, um den verhassten «Kartellparteien», wie er politische Konkurrenten unterschiedslos nennt, die Zerstörung Deutschlands zu unterstellen. Die Erzählung vom drohenden Untergang gehört zum Standard-Repertoire seiner Reden.
Angst zu schüren ist unverzichtbar, denn nur so kann sich Höcke als großer Retter aufspielen. Nur wenn die behauptete Bedrohung monströs erscheint, braucht es ja überhaupt Rettung. Schließlich beendet er seinen Auftritt beim Pegida-Jubiläum mit jenem Sprachbild, das er offenbar für so gelungen hält, dass er es auf Straßen und Plätzen gern wiederholt: «Diese verbrauchten Parteien, sie lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl. Drehen wir diesen Wasserhahn jetzt ab.» Im Klartext: Deutschland wird von den demokratischen Parteien angeblich schleichend und fast unmerklich vernichtet. An dieses heraufbeschworene Horrorszenario knüpft Höcke sein Versprechen: Die AfD und ihr Fußvolk auf der Straße werden diesen perfiden Akt der Vernichtung stoppen.
Als der Thüringer AfD-Chef den Demokraten im Land vor Ausbruch der Corona-Pandemie den Kampf ansagt, gibt es längst keinen Zweifel mehr an dessen rechtsextremer Agenda. Im Dresdner Brauhaus Watzke hat Höcke im Januar 2017 auf Einladung der Jungen Alternative (JA) das Holocaustmahnmal in Berlin als «Denkmal der Schande» verhöhnt und als Ersatz für «diese dämliche Bewältigungspolitik» eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad» gefordert.[4] Ein geschichtsrevisionistischer Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur. Es soll endlich Schluss sein mit der lästigen Verantwortung, die sich aus dem Menschheitsverbrechen Holocaust ergibt. Stattdessen schwört Höcke seine Anhänger auf eine Revision der Geschichte und die Rückbesinnung deutscher Größe ein. «Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten», ruft er seinen Anhängern zu. «Man wollte unsere Wurzeln roden.» Mit «systematischer Umerziehung» habe man das nach 1945 auch fast geschafft. Damit soll jetzt Schluss sein. Auschwitz soll als historischer Fixpunkt aus dem Weg geräumt werden. Erst danach kann die historisch diskreditierte völkische Ideologie wiederbelebt werden.
An welche Wurzeln Höcke anknüpfen will, hat er im Jahr 2015 beim neurechten Institut für Staatspolitik (IfS), bei seinem Weggefährten Götz Kubitschek in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) klargemacht. Da verbreitete er eine krude, aus dem Tierreich auf den Menschen übertragene Theorie über einen afrikanischen «Ausbreitungstyp» und einen europäischen «Platzhaltertyp» mit angeblich unterschiedlichen «Reproduktionsstrategien».[5] In Afrika sei das die «Klein-r-Strategie», in Europa hingegen die «Groß-K-Strategie». Höcke sprach also über Afrikaner wie über Blattläuse und über Europäer wie Löwen. Diese Rassetheorie (ohne Verwendung des Begriffs Rasse) und vor allem sein Geschichtsrevisionismus wurden ihm innerparteilich fast zum Verhängnis. Zwar wurde Höckes Ideologie auch von vermeintlich Gemäßigten toleriert, doch sorgte man sich zunehmend um das Image der Partei.
Der damalige Bundesvorstand – dem auch schon die spätere Parteichefin Alice Weidel angehörte – beantragte nach Höckes Skandal-Rede in Dresden Anfang 2017 den Parteiausschluss. Der Antrag hatte es in sich. Die Parteiführung warf Höcke eine übergroße Nähe zum Nationalsozialismus vor. Das Landesschiedsgericht der AfD in Thüringen schmetterte den Versuch, den Scharfmacher rauszuschmeißen, im Mai 2018 jedoch ab.[6] Am Ende durfte er nicht nur bleiben, sondern ging sogar gestärkt aus allen Machtkämpfen hervor. Auch Alice Weidel musste klein beigeben. Seither agiert sie in der AfD von Höckes Gnaden. Nicht nur das: Auch die deutsche Öffentlichkeit hat sich im Zeitraffer an Höcke gewöhnt. Nur drei Jahre nach dem gescheiterten Rauswurf des Skandalpolitikers Höcke wurde die AfD bei der Bundestagswahl im September 2021 in dessen Wahlheimat Thüringen stärkste Kraft.
Der Aufstieg von Björn Höcke ist umso verstörender, als dieser bereits zwei Jahre vor seinem Auftritt beim Pegida-Jubiläum in seinem Buch «Nie zweimal in denselben Fluss» ethnische und politische Säuberungen für den Fall der Machtübernahme angedroht hat. Mit jenem Begriff, der erst Jahre später für ein politisches Beben sorgen sollte. In jenem Buch raunt er, es werde ein «großangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein».[7] Dabei werde man nicht «um eine Politik der wohltemperierten Grausamkeit» herumkommen. Dass die angestrebte Vertreibung von Menschen aus Deutschland nicht ohne Zwang und Gewalt erfolgen kann, wird deutlich, wenn der Autor erklärt, «dass sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden».
Eine solche Politik liefe auf millionenfache Entrechtung hier lebender Menschen hinaus. Da diese Deutschland mehrheitlich sicher nicht freiwillig verlassen würden, müssten die ihrer Rechte Beraubten durch Deportationen weggebracht werden – wohin auch immer. Das düstere Szenario eines rassistisch motivierten staatlichen Gewalt-Projekts. «Vor allem eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben», prophezeit Höcke. «Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.» Als moralische Grundwerte dürfen wohl die Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit gelten. Die Schreckensvision von einem «großangelegten Remigrationsprojekt» ist aber ohne massenhafte staatliche Gewalt undenkbar.
Neben ethnischen deutet Höcke in seinem Buch auch politische Säuberungen an. Betroffen wären davon alle, die eine völkisch-rassistische Politik nicht mittragen wollen: «Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen.»[8] Die «deutsche Unbedingtheit» werde garantieren, so Höcke, «dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken». Wenn die ersehnte Wendezeit gekommen sei, «dann machen wir keine halben Sachen». In einer Demokratie verliert man aber keine «Volksteile», weil durch die Verfassung individuelle Freiheit, Pluralismus und Minderheitenrechte garantiert sind. Ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen lassen sich nur in einem Willkürregime entrechten, in Lager sperren oder ermorden. Der Historiker Götz Aly hat Höckes Andeutungen als «eindeutig verfassungsfeindlichen Aufruf, Waffen zu vergraben und Nächte der langen Messer vorzubereiten», bezeichnet.[9]
Die Absichten und Ziele von Björn Höcke sind also keineswegs geheim, sondern liegen seit langem offen. Höcke ist in der AfD auch kein isolierter Sonderling, sondern wurde vom heutigen Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland im Jahr 2019 demonstrativ als «Mitte der Partei» bezeichnet.[10] Auch Parteichefin Alice Weidel ist mittlerweile eine politische Komplizin. Höckes Radikalität hat ihm weder öffentlich geschadet noch der AfD den Aufstieg zur völkischen Volkspartei im Osten verbaut. Journalistische Medien pflegen weiterhin einen geradezu naiven Umgang mit dem fanatischen Ideologen. So fragte der Moderator in einem MDR-Sommerinterview ausgerechnet den Rechtsextremisten Höcke, ob die AfD denn nun eine Brandmauer gegen rechts errichten wolle. ZDF-Moderator Markus Lanz räumte Co-Parteichef Tino Chrupalla in seiner Talkshow im Februar 2024 die Deutungshoheit ein, als dieser erklären durfte, er halte Höcke nicht für rechtsextrem.[11] Ganz so, als sei das eine Frage des Bauchgefühls und nicht von politikwissenschaftlichen Kriterien. Erstaunlicherweise blieb die Ankündigung für ein «großangelegtes Remigrationsprojekt», das Höcke als Buchautor in Umrissen anschaulich werden lässt, rund sechs lange Jahre ohne nachhaltigen gesellschaftlichen Aufschrei.
Der erfolgte dann umso lauter nach dem sogenannten Geheimtreffen von Potsdam, das die Rechercheplattform «Correctiv» im Januar des Superwahljahrs 2024 aufdeckte.[12] In einem Landhotel hatte der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner vor AfD-Politikern, CDU-Leuten, Mitgliedern der Werteunion, Rechtsextremisten und Unternehmern seine Pläne für eine «Remigration» vorgestellt. Eingeladen hatte dazu Correctiv zufolge auch der ehemalige Düsseldorfer Zahnarzt Gernot Mörig, der schon vor vielen Jahren als «Bundesführer» des extrem rechten «Bund Heimattreuer Jugend» (BHJ) aufgefallen war.[13] Nach der Enthüllungs-Story «Geheimplan gegen Deutschland» gingen bundesweit Millionen Menschen gegen Vertreibungspläne und gegen die AfD auf die Straße. Die Demonstrationen wuchsen zur größten Protestwelle in Deutschland nach 1945 an. Auf Transparenten erteilten die Teilnehmer jeglichen Deportationsfantasien und völkischer Ideologie eine Absage.
Erst der investigative Blick durchs Schlüsselloch und die journalistische Erzählung vom klandestinen Hinterzimmertreffen öffneten Millionen Menschen die Augen darüber, was sich hinter dem harmlos anmutenden Begriff «Remigration» verbirgt. Nämlich die rassistisch motivierte Absicht, Schülerinnen aus ihren Klassen, Nachbarn aus Wohnhäusern und Kolleginnen aus Betrieben zu reißen. Aus keinem anderen Grund als einer rassistischen Reinheits-Ideologie. Es brauchte journalistische Undercover-Arbeit und heimlich aufgenommene Schnappschüsse von mutmaßlichen Verschwörern, damit millionenfach verstanden wurde: Die meinen uns. Es geht um unsere Freunde.
Anders als die Schlagzeile vom «Geheimplan» suggeriert, war daran inhaltlich nichts wirklich neu, wie ja bereits ein Blick in Höckes Pamphlet gezeigt hat. Vielmehr hat der von Höcke in die AfD eingespeiste Begriff der Identitären Bewegung in der Partei längst Karriere gemacht. Im Sommer 2023, also schon Monate vor dem Treffen von Potsdam, trat beim Bundesparteitag der AfD in Magdeburg die Europa-Kandidatin Irmhild Boßdorf aus NRW ans Mikrofon und rief dazu auf, nicht den menschengemachten Klimawandel, sondern den «menschengemachten Bevölkerungswandel» zu fürchten. Dieser solle Europa «in eine Siedlungsregion für Millionen Afrikaner und Araber umwandeln». Masseneinwanderung sei immer das Problem und niemals die Lösung, giftete die Kandidatin im typischen AfD-Sound, um dann zu fordern: «Die Lösung lautet Remigration. Millionenfache Remigration.»[14]
Doch solche Reden blieben eine Randnotiz. Um die so lange apathische Mehrheit im Land aufzuwecken, bedurfte es der verstörenden Correctiv-Geschichte. Die Erschütterung darüber entfachte eine beispiellose Bereitschaft zur Verteidigung der Demokratie. Bemerkenswert am Auslöser dieser Massenproteste waren die exponierte Rolle des verpönten rechtsextremen Spindoctors Sellner als Einflüsterer sowie der illustre, lagerübergreifende Kreis der Gäste, der Assoziationen an antidemokratische Zirkel in der späten Weimarer Republik weckte. Der Ort ließ an die Wannsee-Konferenz denken, wo der Holocaust geplant und organisiert wurde. Völkische Reinheitsfantasien verfangen offenkundig auch heute wieder bis in reaktionäre, bürgerlich-konservative Kreise. Inhaltlich ist der Versuch, konkrete Bevölkerungsgruppen für eine staatlich organisierte ethnische Säuberung zu definieren, ein Beleg dafür, dass unter dem Label «Remigration» tatsächlich konkrete Vertreibungspolitik organisiert werden soll. Aber auch dafür, dass die AfD für ihren Anschlag auf unser Zusammenleben derzeit offenbar noch über kein finales Gesamtkonzept verfügt.
Gleichwohl machen dieses und andere Vernetzungstreffen wie etwa im bayerischen Dasing mehr als deutlich, dass «Remigration» weit mehr als ein radikal rechter PR-Kampfbegriff ist.[15] In Dasing trat nach Angaben des bayerischen Verfassungsschutzes ebenfalls Sellner als Redner auf, auch AfD-Landtagsabgeordnete nahmen an diesem Treffen teil.[16] Die Umsetzung eines staatlich-rassistischen Gewaltprojekts wird im Lager der extremen Rechten offenkundig vorbereitet. Darüber können auch die verzweifelten Versuche der AfD, das Label zu retten, nicht hinwegtäuschen. Die AfD-Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla haben nach der Correctiv-Veröffentlichung gebetsmühlenartig behauptet, das Treffen von Potsdam sei Privatsache gewesen. Aber Pläne für die massenhafte Vertreibung von Menschen aus Deutschland sind weder privat noch harmlos. Das bewies nicht zuletzt die AfD selber. Nach der Enthüllung verlor der Referent von Alice Weidel, Roland Hartwig, ehemaliger Spitzenjurist der Bayer AG seinen Job. Konkrete Gründe wurden zunächst nicht genannt. Allerdings hatte er an den Treffen in Potsdam teilgenommen.[17]
Der Rechtsextremist Sellner hat nach dem aufgeflogenen Treffen bestritten, dass es bei «Remigration» um «gewaltsame Vertreibung» und die «willkürliche Entrechtung von Bevölkerungsgruppen» gehen soll.[18] Primäre Zielgruppe seien vielmehr jene, die sich «über Asylbetrug einen Aufenthaltsstatus erschlichen haben». Hinzu kämen «Nichtstaatsbürger, die eine kulturelle, wirtschaftliche und kriminologische Belastung darstellen». Diese Formulierung öffnet jedoch Tür und Tor für politische Willkür gegen Minderheiten. Darüber hinaus nimmt Sellner als Österreicher drittens auch «nichtassimilierte Eingebürgerte» als Zielgruppe für seine Pläne ins Visier. Mit anderen Worten: deutsche Staatsbürger. Das Grundgesetz kennt aber keine Pflicht zur Assimilierung. Es garantiert vielmehr individuelle Freiheit, um innerhalb der rechtlichen Grenzen eigene kulturelle oder religiöse Vorstellungen ausleben zu können.
Die AfD inszenierte sich als Opfer einer «Schmutzkampagne», verglich die investigative Recherche mit «Stasi-Methoden» (so u.a. die Parteichefs Chrupalla und Weidel), also mit systematischer staatlicher Überwachung durch das flächendeckende DDR-Spitzelsystem, und sprach von einem der größten Skandale in der bundesdeutschen Geschichte überhaupt. Propagandistische Nebelkerzen und Desinformation sollten ablenken und Verwirrung stiften. Pläne für ein vermeintlich reineres, homogeneres Deutschland werden in diesem Buch noch ausführlich analysiert. An dieser Stelle nur so viel: Der AfD-Vordenker Björn Höcke steht parteiintern mit seiner Haltung Seite an Seite mit Funktionären aller Partei-Ebenen.
Gemeinsam mit dem Thüringer AfD-Chef veröffentlichten die Fraktionsvorsitzenden der fünf ostdeutschen Bundesländer, darunter Ulrich Siegmund (Sachsen-Anhalt, ein Teilnehmer am sogenannten Geheimtreffen in Potsdam), Hans-Christoph Berndt aus Brandenburg und Jörg Urban aus Sachsen, eine gemeinsame Stellungnahme zur «Remigration».[19] Darin beteuern sie, bei ihrem Vorgehen gegen sogenannte «Sozialmigration» nach Recht und Gesetz vorgehen zu wollen, und kündigen eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts an. Das AfD-Personal ist um einen legalistischen Eindruck bemüht. Es ist aber auch ausdrücklich von «Assimilationsdruck auf nichtintegrierte Ausländer» die Rede. Am Ende fordern die AfD-Spitzenpolitiker in unheilvollem Duktus nationalistische Homogenität: «Deutschland muss wieder deutscher werden.»[20] Darin spiegelt sich genau jenes völkische Denken, das die AfD nach außen hin so gern bestreitet.
Die AfD reagierte jedenfalls hochgradig nervös auf die Enthüllungs-Story. Nicht nur, weil sie in ihrem völkischen Kern durchschaut wurde, sondern weil sich ihrem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg endlich Millionen von Menschen überall im Land mit eindeutigen Botschaften entgegenstellten. Die lauteten: Wir lassen dieses vielfältige Deutschland nicht in einen völkischen Willkürstaat verwandeln. Wir lassen nicht zu, dass Freunde und Kolleginnen für rassistische Reinheitsfantasien geopfert werden. Wir werden diese Demokratie verteidigen. Oder ganz einfach auf den Punkt: Nie wieder!
Bemerkenswert war, dass nicht nur in Hamburg, Köln, München oder Leipzig Zehntausende Menschen zur Verteidigung der liberalen Demokratie auf die Straße gingen. Nicht nur in mittelgroßen Städten wie Stuttgart, Bielefeld, Hannover, Magdeburg oder Dresden, sondern auch Menschen in vielen rechten Hochburgen im Osten – von Mecklenburg-Vorpommern über Sachsen bis Thüringen: in Anklam, Bautzen, Freiberg oder Gera. Auch in kleinen sächsischen Orten wie Döbeln, Grimma, Dippoldiswalde oder Waldheim. Da, wo es Mut erfordert, weil rechtsextreme Strukturen und Akteure stark sind und über Jahre Hegemonie im Alltag errichtet haben, gegen die kaum jemand aufzubegehren wagt. Wo 200 Demonstrierende ein starkes Signal sind, weil dort jeder jeden kennt und bekennende Demokratinnen und Demokraten vielerorts eben nicht mehr – wie so oft fälschlicherweise behauptet wird – die Mehrheit sind.
Die Mutigen dort haben von Anfeindungen, Provokationen, vermummten Hooligans und versuchten Übergriffen durch rechtsextreme Störer auf ihre Demos berichtet. Im sächsischen Dippoldiswalde attackierte ein 26-Jähriger einen Polizeibeamten. Ein Jugendlicher zeigte den sogenannten Hitler-Gruß.[21] Einschüchterungen und Drohgebärden gab es vielerorts. Beliebt ist bei rechten Aktivisten, Demonstrierende aus bedrohlich kurzer Distanz abzufilmen. Die Rechtsextremisten in der ostdeutschen Provinz reagierten auch deshalb so aggressiv, weil sie seit Jahren die Macht über die Straße ausüben und sich ihnen bei den regelmäßigen Mobilisierungen gegen die Corona-Maßnahmen und im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine kaum jemand entgegengestellt hat. Nun wurde ihre Hegemonie offen in Frage gestellt. Das empfanden sie als Provokation und Kampfansage.
Infolge der demokratischen Mobilisierung sanken die bundesweiten Umfragewerte für die AfD zwar auf unter 20 Prozent, doch blieb sie in ostdeutschen Ländern wie Thüringen oder Sachsen, wo sie vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wird, weiterhin stärkste Kraft mit Werten über 30 Prozent. Auch die Kommunalwahl in Thüringen im Mai 2024 brachte vorerst nicht den von ihr erhofften Durchmarsch in Rathäuser und Landratsämter. Doch schafften es die Kandidaten der Partei, die im Gegensatz zu den Regierungsparteien deutlich zulegen konnte, trotz diverser Skandale rund um das Spitzenduo für die Europawahl, Maximilian Krah und Petr Bystron, sowie erbitterter Machtkämpfe im Thüringer Landesverband vielerorts in die Stichwahlen. In Saalfeld-Rudolstadt forderten AfD-Abweichler den Parteiausschluss von Landes-Chef Höcke, woraufhin sie selbst kaltgestellt werden sollten. Höcke hatte mit Plakaten für eine «Alternative für den Landkreis Saalfeld-Rudolstadt» geworben – und damit gegen die unliebsamen, aber offiziell aufgestellten AfD-Kandidaten für den Kreistag.[22] Doch das interne Chaos schreckte viele Wählende offenbar nicht ab. In den Thüringer Kreistagen und Stadträten liegt die AfD nunmehr fast gleichauf mit der CDU vorn. Für das demokratische Lager ist also trotz der beeindruckenden Aufbruchstimmung im Land nach dem Potsdam-Treffen noch nichts gewonnen – und für die AfD nichts verloren.
Wie aber war es möglich, dass ein Rechtsextremist wie Björn Höcke mit seiner Partei überhaupt in die Nähe der Macht gelangen konnte? Welche Strategie verfolgt er dabei? Um zu verstehen, wie der AfD-Chefideologe seine demokratiefeindlichen Ziele verfolgt, lohnt ein Rückblick ins Jahr 2018. Da hat er in einer weithin unbekannten Rede vor Anhängern in einem Saal in Eisleben, Sachsen-Anhalt, tiefe Einblick in seine radikale Gedankenwelt gewährt.[23] Höcke erklärt darin, was er von dem italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci gelernt habe. Von Gramsci hat die Neue Rechte in Europa trotz dessen linker Vita das Konzept der kulturellen Hegemonie übernommen. Zentral ist die Erkenntnis, dass man zunächst die Meinungsführerschaft in der Gesellschaft gewinnen muss, bevor reale politische Macht erlangt werden kann. «Nur, wenn man den Zeitgeist beherrscht, kann man die kulturelle Hegemonie erwerben», doziert Höcke in Eisleben. Und nur, wenn man die kulturelle Hegemonie erworben habe wie einst die 68er, «kann man irgendwann und wirklich langfristig die politische Macht erwerben.» Die Neue Rechte nennt diesen strategischen Kulturkampf in Vorbereitung auf die Machtübernahme «Metapolitik».
Für dieses politische Langzeitprojekt führt die radikale Rechte einen «Kampf um die Köpfe». Höcke spricht in Eisleben vom «Kampf um die Begriffe»: «Wer die Begriffe prägt, der prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, der prägt den politischen Diskurs. Und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik, egal ob er in der Opposition ist oder in der Regierung.» Aus diesem Grund verunglimpft die AfD demokratische Parteien als «Altparteien-Kartell» oder «Deutschland-Abschaffer». Dahinter steckt der systematische Versuch, die parlamentarische Demokratie und ihre Repräsentanten zu diskreditieren und Demokratie stattdessen in ganz eigener Weise zu definieren. Nämlich als Umsetzung eines einheitlichen, antipluralistischen Willens, der als «Politik für das eigene Volk» ausgegeben wird. Folgerichtig hat Höcke bei einer Kundgebung im November 2022 in Erfurt behauptet, in Deutschland gebe es aktuell gar keine Demokratie. So funktioniert der Kampf um die Begriffe in der Praxis: Aus Weiß wird Schwarz. Aus der parlamentarischen Demokratie eine Parteienherrschaft, die das eigene Volk unterdrückt und die beseitigt werden muss.
Um sowohl die Grenzen des Sagbaren kontinuierlich weiter nach rechts verschieben zu können, gleichzeitig aber auch die bürgerliche Mitte nicht zu verschrecken, hat der neurechte Verleger und Einflüsterer Götz Kubitschek in seinem Magazin Sezession eine Strategie mit drei rhetorischen Methoden entwickelt, an der sich die AfD bis heute orientiert.[24] Kubitschek empfiehlt, mit gezielten «Brückenköpfen» in Grenzbereiche «des gerade noch Sagbaren und Machbaren» vorzustoßen. Durch «Verzahnung» soll zudem die «Auflösung klarer Fronten» bewirkt werden, indem man etwa Begriffe des politischen Gegners verwendet. Kalkulierte «Selbstverharmlosung» dient schließlich dazu, jegliche Kritik zu entkräften und die eigenen radikalen Ziele zu verschleiern. Aus diesem Grund sprechen AfD-Politiker vor den eigenen Leuten völlig anders als in TV-Talks, wo es Gauland, Chrupalla & Co. vor allem darum geht, demonstrativ die eigene Harmlosigkeit zur Schau zu stellen. Viele Redaktionen haben das bis heute nicht verstanden und gehen den AfD-Leuten auf den Leim, wenn diese ihre Partei als «konservative» oder «bürgerliche» «Rechtsstaatspartei» verniedlichen. Das strategische Repertoire im öffentlichen Diskurs reicht neben Selbstverharmlosung von Lügen über Desinformation bis zu Verschwörungserzählungen. Je nachdem, wer gerade der Adressat ist.
Höcke hat die AfD vor Anhängern als die «letzte evolutionäre Chance»[25] für Deutschland bezeichnet. Als Alternative zur Evolution bleibt für Veränderung der politischen Verhältnisse freilich nur die Revolution. Höcke selbst hat versucht, seine Worte herunterzuspielen. Angeblich wollte er mit dieser Aussage nur vor der Gefahr durch «Masseneinwanderung» warnen. Im November 2023 sagte Höcke bei einer Rede in Dresden, Deutschland befinde sich im «Stadium des «Vorbürgerkriegs». Wenn aber erst Bürgerkrieg herrscht – so lehrt es der Philosoph Thomas Hobbes –, fällt der Mensch in einen Naturzustand zurück, wo jedes Individuum im Kampf aller gegen alle das Recht auf Selbstverteidigung besitzt. Die behauptete Friedfertigkeit der AfD zeigt bisweilen verräterische Risse.
Ohnehin sollte der legalistische Kurs der Partei auf dem Weg zur Macht nicht mit demokratischen Absichten verwechselt werden. Höcke hat in seiner Eislebener Rede unter Rückgriff auf die griechische Mythologie davon gesprochen, die Republik und das angeblich herrschende «medial-politische Establishment» seien zu einem «politischen Augiasstall geworden». Gemeint ist damit ein stark verdreckter Raum – oder umgangssprachlich: ein Saustall. «Wir müssen diesen Augiasstall ausmisten», rief Höcke seinen begeisterten Zuhörern zu. «Dieses Land braucht eine politische Grundreinigung. Das muss Anspruch und Ziel der AfD sein.» Vorstellungen von einer Reinigung des vermeintlich dekadenten demokratischen Systems sind ein Wesensmerkmal des Faschismus. Auch hier also wieder: die Aussicht auf ethnische und politische Säuberungen für den Fall der Machübernahme durch die AfD.
Mit seinen Reinheitsfantasien ist Höcke in der AfD keineswegs allein. Erinnert sei daran, was der heutige Landesvorsitzende der AfD in Baden-Württemberg, Markus Frohnmaier, bereits im Jahr 2015 bei einer Rede in Erfurt an linke «Gesinnungsterroristen» und einen «Parteienfilz» adressierte: «Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und zwar nur für das Volk gemacht, denn wir sind das Volk, liebe Freunde.» Solche Ermächtigungsfantasien lassen Raum für staatliche Willkür, Entlassungen bis hin zu systematischer Gewalt. Bezeichnenderweise war dieser Verbalradikalismus für den Nachwuchspolitiker Frohnmaier in der AfD kein Karriere-Killer, sondern im Gegenteil ein Sprungbrett, das ihm Aufmerksamkeit und Erfolg bescherte.
Ein Verzicht auf Gewalt und Militanz auf dem Weg zur Macht wird übrigens innerhalb der Neuen Rechten gern taktisch begründet – nicht ethisch-moralisch oder rechtlich. So hat Martin Sellner in seinem programmatischen Essay «Der kommende Aufstand» rechten Fantasien von einem Tag X des gewaltsamen Aufstands mit der pragmatischen Begründung eine Absage erteilt, diese seien «für das rechte Lager nicht nur schädlich und unnötig, sondern auch wesensfremd». Schließlich stehe die politische Rechte für Ordnung und Staatlichkeit. Ähnlich wie der neurechte Verleger Götz Kubitschek trete er, Sellner, daher für Gewaltfreiheit und die «Ausscheidung aller militanten Spinner» ein. Der Grund dafür sei nicht Feigheit oder eine «bürgerlich-pazifistische Attitüde, sondern realistische Voraussicht». Das klingt nicht gerade nach einer kategorischen Ablehnung von Gewalt, sondern nach taktischen Erwägungen. Sellner und das von Götz Kubitschek als verantwortlichem Redakteur geleitete Magazin Sezession sind wichtige Impulsgeber für die AfD. Wir werden indes aufzeigen, wie ambivalent das Verhältnis zu rechter Militanz innerhalb und rund um die Partei de facto ist. Und wie inkonsequent der Umgang mit jenen Kadern ist, die von einem politischen Umsturz träumen. Nicht mal beim Thema Rechtsterror ist die Haltung eindeutig. Im Gegenteil: Die AfD facht das Feuer mit an.
Für all jene, die nicht den Reinheitsvorstellungen der AfD entsprechen, ist das verbale Zündeln von rechts schon jetzt brandgefährlich. In ihrem Lieblings-Café in Erfurt sitzt Sultana Sediqi und erzählt von ihrem Alltag in der AfD-Hochburg Thüringen. Die 19-Jährige war als Kind mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen. Nach einer belastenden Zeit in einer Sammelunterkunft, die sie Lager nennt, kamen sie vor einigen Jahren nach Erfurt, wo Sultana mittlerweile ihr Abitur machte. Die junge Frau erklärt, warum sie sich politisch zu engagieren begann. Nachdem ein erwachsener Rassist einen Jugendlichen aus Syrien in einer Erfurter Straßenbahn gedemütigt und brutal zusammengeschlagen hatte, wollte sie nicht länger schweigen. Da wusste sie: «Ich muss was tun.» Trotz aller Warnungen der Eltern und ihrer Lehrerin, das sei doch zu gefährlich, hielt sie auf einer Demo gegen Rassismus eine kurze Rede. Gezittert habe sie, als sie ans Mikro trat, erinnert sie sich. Dann sprach sie darüber, dass sie den Rassisten weder ihre Angst noch ihren Hass schenken werde. Trotzig forderte sie ihren Platz ein: «Wir sind nicht ein Teil oder Gäste dieser Gesellschaft. Wir sind diese Gesellschaft und wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Wir alle gehören zu dieser Welt. Zu Deutschland. Zu Erfurt.» Für ihre bewegenden Worte bekam sie viel Zuspruch. Seither engagiert sie sich bei dem Verein «Jugendliche ohne Grenzen» für junge Menschen mit einer Migrationsgeschichte, gibt Workshops, hält Reden bei Demos, hilft Geflüchteten bei der Wohnungssuche und hält Kontakt zu diesen Familien. Sultana Sediqi gibt all jenen eine Stimme, die sonst oft unsichtbar und ungehört bleiben.
Sie redet, schreibt und träumt in Deutsch. In geschliffenem Deutsch, um genauer zu sein. «Trotzdem wird mir täglich widergespiegelt, dass ich fremd bin», sagt sie. «Das stetige Gefühl von Angst und Unsicherheit ist immer präsent. Egal, wo ich bin. Beim Friseur, beim Arzt, in der Straßenbahn.» Neulich stand sie am Anger in der Erfurter Innenstadt, als ein rechter Demonstrationszug vorbeikam. Bei diesen hybriden Protesten laufen Aktivisten des Bündnisses «Freies Thüringen», das nach den Erkenntnissen der Mobilen Beratung in Thüringen (MOBIT) durch Verschwörungs- und Reichsbürger-Ideologie geprägt wird, mit AfD-Anhängern, Querdenkern und anderen radikalen Gruppen. Als die Demonstranten vorbeiliefen, habe sie die Panik in den Augen von Menschen gesehen, die wie sie eine Migrationsgeschichte haben. Eine Mutter habe ihre Kinder fest an sich gedrückt, berichtet Sultana: «Ich habe gemerkt, wie viel Angst mich selbst überkommt.» Sie, die sonst so unerschrocken und mutig ist.
Im sogenannten «heißen Herbst», den die extreme Rechte Ende des Jahres 2022 ausrief, schürte Björn Höcke bei einer Kundgebung in der Nähe des Erfurter Landtags auf perfide Weise Hass gegen Geflüchtete. Da hat er vorgerechnet, dass ukrainische Flüchtlinge auf rund 1000 Euro Sozialleistungen pro Monat kommen. «Und eine Rentnerin, die drei Kinder großgezogen hat, die erhält meines Wissens 751 Euro», rief Höcke. «Und das ist das, was mir die Zornesröte ins Gesicht treibt.» Mit seiner Wutrede, die Rente und Sozialleistungen vermischte, um Geflüchtete und Deutsche gegeneinander auszuspielen, provozierte der AfD-Politiker beim Publikum ein gellendes Pfeifkonzert und hasserfüllte Rufe: «Verrat!» Höcke versteht es, den Furor jener zu wecken, die meinen, zu kurz zu kommen. Die AfD wird nicht müde, Migranten und Kriegsflüchtlinge als dreiste Profiteure des Sozialstaats zu brandmarken. Der Hass, der auf diese Weise geschürt wird, breitet sich aus wie ein unsichtbares Gift. In Familien, Wohnhäusern und Schulen. Mit ihrem «Kampf um die Köpfe» ist die AfD in der Offensive und schafft immer neue Ansteckungseffekte.
Aus Worten werden immer häufiger Taten. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt, die sich im Bundesverband VBRG organisieren, warnen seit Jahren eindringlich vor rassistischen Mobilisierungen und der Stigmatisierung von Minderheiten. Weil daraus erfahrungsgemäß rechte Gewalt bis hin zu Rechtsterror erwachsen kann wie seinerzeit bei der Gruppe Freital in Sachsen, die im Umfeld der Anti-Asylproteste entstand und Anschläge auf eine Unterkunft für Geflüchtete sowie auf politische Gegner verübte. Sultana Sediqi hat von einer ukrainischen Familie erfahren, deren Töchter weinend aus der Schule kamen und erzählten, dort beleidigt und bespuckt worden zu sein. Eine Mutter aus Afghanistan vertraute ihr an, dass ihr Sohn nachts aufwache und sie bitte sie mögen doch zurück nach Afghanistan gehen. Mitschüler aus der Grundschule hätten ihm zu verstehen gegeben: Du gehörst nicht hierher! Du musst dahin zurück, wo du hergekommen bist! Sultana kennt viele solcher Geschichten. Einige Zeit nach dem Interview in dem Erfurter Café wird sie in der Bundespressekonferenz in Berlin an der Seite der Opferberatungen auftreten, weil die Zahl der rechten, rassistischen und antisemitischen Angriffe auf Kinder und Jugendliche explodiert ist. Von 2021 auf 2022 hat sich die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen fast verdoppelt – auf 520.[26] Die permanente Agitation gegen Minderheiten bekommen immer stärker auch die Schwächsten zu spüren.
Sultana Sediqi kämpft weiter gegen den alltäglichen Rassismus, vernetzt sich mit Gleichgesinnten, tauscht Geschichten aus und erhebt bei Kundgebungen immer wieder ihre Stimme für Geflüchtete – und gegen die allgemeine Gleichgültigkeit. Bei Demos hält sie zornige Reden gegen die «Festung Europa» und eine unmenschliche Abschiebepraxis. Wohlwissend, dass viele andere das nicht nur hinnehmen, sondern sogar gutheißen. Währenddessen wird die AfD immer stärker. Auf der Bühne klingt die angehende Studentin kämpferisch, entschlossen, angetrieben vom Mut und von der Wut einer Verzweifelten. Unter vier Augen wirkt Sultana oft nachdenklich und verletzlich. Mitunter fühlt sie eine große Ohnmacht. Ständig sei sie dem Gefühl ausgesetzt: «Ich könnte vielleicht angegriffen werden.» Sie weiß, dass sich dramatisch anhört, was sie von ihrem Leben in Erfurt erzählt: «Aber die Lage ist dramatisch.»
Sultana Sediqi erlebt und erfährt alltäglich, wie das Zusammenleben durch Rassismus und Ausgrenzung vergiftet wird – wohlgemerkt in einer Zeit, in der die AfD nicht an der Macht ist. Wie viele ihrer deutschen und nichtdeutschen Freundinnen und Freunde sorgt sich die junge Frau sehr darum, wie es in Thüringen und in Deutschland weitergehen wird. Die Bedrohung nehme ein Ausmaß an, «das wir nicht kontrollieren können». Die Unsicherheit, die sie Tag für Tag begleitet, kommt ihr bekannt vor. Sie dachte eigentlich, sie habe dieses beklemmende Gefühl für immer hinter sich gelassen – damals in Afghanistan. «Ich weiß nicht, was mich noch erwartet», sagt Sultana.
Wenn die Hubschrauber der Bundespolizei Terrorverdächtige zum Haftrichter am Bundesgerichtshof einfliegen, ist es mit der Ruhe in Karlsruhe vorbei. Die Piloten landen mitten in der Stadt in der Nähe des Schlosses auf einem kleinen Rasenabschnitt hinter dem Haupthaus des Gerichts. Egal ob die RAF-Terroristin Daniela Klette nach Jahren auf der Flucht, Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds, junge Mitglieder der islamistischen Terrororganisationen Islamischer Staat oder al-Qaida – sie alle wurden von bewaffneten Polizisten nach der Landung aus dem Helikopter zum Bundesgerichtshof gebracht.
Am 7. Dezember 2022 ist eine AfD-Politikerin an der Reihe. Mehrere Polizisten führen die 58 Jahre alte Birgit Malsack-Winkemann vom Hubschrauber zum Gebäude, über ihre Schultern hängt eine Daunenjacke, so ist nur zu erahnen, dass ihr Handschellen angelegt worden sind. Gut ein Jahr zuvor war die Juristin noch Bundestagsabgeordnete, wo sie mit Dr. Malsack-Winkemann aufgerufen wurde, wenn sie an der Reihe war. Das Bundeskriminalamt hatte gegen Malsack-Winkemann seit Monaten ermittelt, weil sie mit Dutzenden anderen Verdächtigen geplant haben soll, die Demokratie mit Gewalt abzuschaffen. Zum Auftakt, so hatte das Bundeskriminalamt ermittelt, sollten vor allem aktive und ehemalige Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) den Bundestag stürmen. Zu den anderen Beschuldigten gehörten tatsächlich ehemalige führende Offiziere der Bundeswehr, von denen ein Verdächtiger im Rang eines Generals mehrere Auslandseinsätze des KSK geleitet hatte – darunter die in Afghanistan und im Kosovo, Länder, die zeitweise in Bürgerkriegen versunken waren, grauenhaftes Morden erlebt hatten. Von einem Bürgerkrieg träumten auch die deutschen Verschwörer.
Malsack-Winkemann war vor ihrem Flug nach Karlsruhe am Morgen an ihrem Wohnort in Potsdam festgenommen worden, Dokumente, Sprachnachrichten und weitere digitale Spuren belasteten sie schwer. Ein Komplize hatte der Richterin geschrieben: «Die ganze Regierung ist in diese Korruption verwickelt … Damit wir in Frieden und Einklang miteinander leben können, müssen diese korrupten Gestalten ausgemerzt werden.»[27] Ausgemerzt. Malsack-Winkemann widersprach nicht. Der Bundesgerichtshof stellte später fest, dass ihre persönlichen Vorbereitungen auf einen Umsturz auch dadurch belegt würden, dass die Polizei bei ihr einen Revolver und eine «halbautomatische Selbstladebüchse mit Zielfernrohr» sowie rund 7000 Patronen gefunden hatte. Die AfD-Politikerin unterschrieb zudem eine Verschwiegenheitserklärung, bekam ein Satellitentelefon und soll – ohne Erfolg – versucht haben, weitere Mitglieder für die Gruppe anzuwerben, die sich den Namen «Patriotische Union» gegeben hatte. Filme auf dem Smartphone eines Beschuldigten zeigten zudem, dass sie noch im Spätsommer 2022 mutmaßliche Komplizen zweimal durch den Bundestag geführt hatte, um, so der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, auszukundschaften, wie der Bundestag im alten Reichstagsgebäude, das Symbol der deutschen Nachkriegsdemokratie, am besten von innen heraus eingenommen werden könnte.[28]
In den Befragungen durch die Bundesanwälte gab die AfD-Politikerin fast alles zu, die Planungen, den Waffenbesitz, die Existenz der Gruppe – außer die entscheidenden Punkte: Weder ein Umsturz noch ein gewaltsames Eindringen in das Reichstagsgebäude seien geplant gewesen. Der Haftrichter am BGH quittierte das mit dem Satz: «Die Beschuldigte wird jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit durch zahlreiche Beweismittel überführt werden. Ihre ideologische und verschwörungstheoretische Ausrichtung wird bestätigt durch zahlreiche mit Mitbeschuldigten gewechselte Chatnachrichten und bei ihr aufgefundene Schriftstücke …»[29] Und, so der BGH, das war nicht alles. «Vorbereitungshandlungen für eine bewaffnete Erstürmung des Reichstagsgebäudes» würden durch Beweise gestützt, die das BKA sammeln konnte, als man die Verdächtigen observiert und ihre Telefone überwacht hatte. Es existierten also Filme, Fotos, Aufnahmen, Transkripte.
Eine AfD-Politikerin als mutmaßliche Rechtsterroristin – belastet durch eine Vielzahl von Beweisen. Für die Partei ein Super-GAU. Die Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla gaben sich nach der Festnahme ihrer Parteifreundin umgehend kleinlaut und staatstragend: «Von dem Fall haben wir heute, wie die meisten Bürger auch, erst aus den Medien erfahren.» Und: «Wir verurteilen solche Bestrebungen und lehnen diese nachdrücklich ab.»[30]
Das schien erstmal zu reichen. In der Folge wurde die AfD-Führung nur selten direkt und nicht fortgesetzt auf die genaue Rolle von Malsack-Winkemann innerhalb der AfD von Reportern angesprochen. Ein Besuch Weidels bei einer Wahlkampfveranstaltung in Malsack-Winkemanns Wahlkreis wurde anfangs nur von wenigen Medien aufgegriffen, obwohl die Terrorverdächtige selber ein Video des Auftritts veröffentlicht hatte.[31] Dort ist Weidel zu hören, untermalt von getragener Musik, wie sie sagt: «Ich möchte mich bedanken …, dass sie eine so versierte Fachpolitikerin in den Bundestag geschickt haben, sie ist wirklich eine tolle Politikerin …» Dann, direkt in die Richtung von Malsack-Winkemann: «Sie haben einfach eine sehr, sehr gute Reputation in den Ausschüssen. Sie machen unwahrscheinlich viel Arbeit, sie räumen so viel Arbeit für die Fraktion weg in Ihren Fachausschüssen. Und da wollte ich mich auch bei Ihnen erst mal für Ihre tolle Arbeit bedanken.»[32] Für Ihre tolle Arbeit bedanken … – wie eng war also die Beziehung der beiden? Was haben Malsack-Winkemann – die tolle Politikerin – und Weidel politisch in den Jahren vor der Festnahme besprochen? Diese Fragen hat Weidel nie beantwortet – auch nicht gegenüber den Autoren dieses Buches.[33]
Malsack-Winkemann war eng an weitere führende AfD-Politiker und Politikerinnen gebunden, darunter Beatrix von Storch, ebenfalls Juristin. Sie ist die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD-Fraktion und hatte gemeinsam mit Malsack-Winkemann erfolgreich über die Berliner Liste für den Bundestag 2017 kandidiert, beide verbrachten deshalb diverse Parteiveranstaltungen zusammen. Auch Beatrix von Storch beantwortet zu ihrer Beziehung zu der mutmaßlichen Rechtsterroristin keine Fragen.[34] Genauso wenig wie Dr. Gottfried Curio, Physiker, ebenfalls auf der Berliner Liste, sogar Vorsitzender des Bezirksverbands Steglitz-Zehlendorf, dem auch die Richterin angehörte. Der innenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion sagte zwar nach der Festnahme seiner Parteifreundin im Bundestag, dass es sich bei ihren mutmaßlichen Komplizen um «kriminelle Staatsfeinde» handle.[35] Doch dann relativierte er die Gruppe mit Hilfe eines Zitats von Otto Schily. Der ehemalige Bundesinnenminister der SPD hatte die Beschuldigten als «skurrile Spinner» beschrieben.[36] Curio machte schließlich Werbung für seine Partei – ausgerechnet als Bollwerk gegen den rechten Terror: «Die Existenz und Arbeitsfähigkeit der AfD» sei «die beste Versicherung des Parlamentarismus gegen politische Bestrebungen, die sich reichsbürgerhaft außerhalb des demokratischen Systems stellen.» Die Partei stehe für den «parlamentarischen Weg». Die Frage war nur: parlamentarischer Weg wohin? Geht es am Ende nicht auch Teilen der AfD um das Ziel, das Parlament in seiner jetzigen Form abzuschaffen? Weidel, von Storch, Curio – sie alle standen Malsack-Winkemann nahe, kamen aber mit Plattitüden davon, mussten sich nie ausführlich zu ihrer persönlichen und politischen Verbindung zu der Terrorverdächtigen äußern.
Viele Journalisten interessierten sich nach dem Auffliegen der «Patriotischen Union» dafür umso mehr für die abseitigen Details der mutmaßlichen Terror-Gruppe, der sich Malsack-Winkemann angeschlossen und der sie aktiv geholfen haben soll. So wurde die Gruppe nicht nur mutmaßlich von einem Prinzen der Familie der Reuß angeführt, Heinrich XIII., eine Astrologin gehörte laut den Anklägern ebenfalls zu den Verschwörern, zudem hatte Malsack-Winkemann zeitweise eine Wahrsagerin in ihrem Bundestagsbüro beschäftigt. Ein Reporter schrieb stellvertretend für viele Kollegen: «Wie soll man mit Bürgern umgehen, von denen man nicht genau weiß, ob sie nur gefährlich irre oder schon irre gefährlich sind?»[37]
Das Kabinett voller skurriler Charaktere verstellte den Blick auf den Ernst der Pläne. Ein Papier, das bei Malsack-Winkemann gefunden wurde, sprach Bände. So sollte in einer «Übergangsphase» die gesamte «Regierungsverwaltung» abgeschafft werden – auf Ebene des Bundes, der Länder und der Gemeinden. Auch «alle Legislativen», also die Parlamente, sollten aufgelöst werden. Parteien und parteinahe Stiftungen müssten verboten, Richter und sonstige Mitarbeiter «überprüft» werden. Die Gerichte würden nach dem Umsturz durch «Sondergerichtsbarkeiten» ersetzt werden, parallel dazu sollten besondere Tribunale, vom Militär geleitet, die Menschen in Deutschland aburteilen dürfen. Das Papier – offenbar, so der BGH, von der AfD-Politikerin selbst verfasst – schloss mit der Frage: «Mitarbeit bei Sondergerichtsbarkeit in erster Phase?» Andere Indizien zeigten zudem, dass Malsack-Winkemann selbst nach dem Sturz der Regierung für das Justizsystem zuständig sein sollte.
Dass diese Pläne von einem Mitglied der AfD entworfen worden waren, konnte Beobachter der Partei tatsächlich nicht überraschen. Über den Sturz des demokratischen Systems hatten andere Mitarbeiter, Abgeordnete und Anhänger der AfD seit Jahren gesprochen, geschrieben und verdeckt kommuniziert. Bald nach der Gründung der Partei wurden regelmäßig E-Mails und Chat-Nachrichten durchgestochen. Es ging in der Kommunikation von AfD-Mitarbeitern immer wieder um die Bekämpfung der Demokratie mit Waffengewalt und um die Vernichtung anderer Menschen. «Ich wünsche mir so sehr einen Bürgerkrieg und Millionen Tote. Frauen, Kinder. Mir egal. Es wäre so schön. Ich will auf Leichen pissen und auf Gräbern tanzen. Sieg Heil!»[38] Das schrieb Marcel Grauf, ehemals Mitglied in der NPD, bereits 2015 in einem Chat. Er war zu dem Zeitpunkt Mitarbeiter zweier AfD-Abgeordneter des Landtages in Baden-Württemberg, darunter Christina Baum, die inzwischen im Bundestag sitzt. Das Bundesvorstandsmitglied Baum ist selber ultraradikal. Sie warnte vor einem «schleichenden Genozid an der deutschen Bevölkerung durch die falsche Flüchtlingspolitik der Grünen». Und sie forderte im September 2019 «eine sofortige Rückführung – Remigration, damit Deutschland weiter leben kann». Dieter Görnert, AfD-Politiker aus Bayern, twittert gar 2016 öffentlich über Migranten: «Am besten das Pack zurück nach Afrika prügeln», und: «Auf der Stelle erschießen, dann wird sich das ganz schnell legen.»[39] Und jener Marcel Grauf aus Baden-Württemberg vermerkte in einem internen Chat: «Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.»[40] Enrico Komning, mittlerweile einer der parlamentarischen Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, hatte in einer internen Runde von AfD-Politikern aus Mecklenburg-Vorpommern 2016 gesagt: «(…) parlamentarischer Staat oder wie auch immer diese Demokratie heißt, (…) die wollen wir ja aber gar nicht. Die wollen wir doch abschaffen.»[41] Ebenfalls aus Mecklenburg-Vorpommern stammte der damalige AfD-Abgeordnete des Landtags in Schwerin Holger Arppe, der in einem Chat schrieb: «Wir müssen ganz friedlich und überlegt vorgehen, uns ggf. anpassen und dem Gegner Honig ums Maul schmieren aber wenn wir endlich soweit sind, dann stellen wir sie alle an die Wand. (…) Grube ausheben, alle rein und Löschkalk oben rauf.»[42] Nun war nach Überzeugung des BGH eine AfD-Politikerin noch weiter gegangen – wollte Worten Taten folgen lassen. Eine AfD-Politikerin, der man zu lange nicht genau genug zugehört hatte.
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Bevor Malsack-Winkemann zwei Mitbeschuldigte im Spätsommer 2022 durch das Parlament führte, war die Abgeordnete im Jahr zuvor abgewählt worden. Bei der Bundestagswahl hatte die AfD deutlich an Zustimmung verloren. Die Partei rutschte auf den fünften Platz, bekam nur noch 10,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, musste 17 Sitze im Parlament wieder räumen, was Malsack-Winkemann direkt betraf, da ihr Listenplatz nicht mehr ausreichte. Ihre kurze Karriere schien die Entwicklung der AfD widerzuspiegeln – der Spuk, so hofften viele Beobachter und politische Konkurrenten, könnte nun bald vorbei sein, die Partei auf Bundesebene zum Nischenphänomen werden.
Vier Jahre zuvor war der Schock in großen Teilen Deutschlands noch groß, als die AfD aus dem Stand über zwölf Prozent errungen hatte und drittgrößte Fraktion im Bundestag geworden war. Von den 94 neuen Abgeordneten der AfD waren im politischen Berlin nur wenige einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Das galt auch für Malsack-Winkemann. 54 Jahre, geschieden, zwei Kinder. Sie war 1993 nach Berlin gekommen und dort nach einem Studium in Heidelberg 1996 zur Richterin auf Lebenszeit ernannt worden. Über 20 Jahre lang Richterin am Landgericht Berlin, Sitz Charlottenburg, zuständig für Zivilsachen, Mitglied in der AfD seit 2013. Als sie gut drei Jahre später schon einen der besseren Listenplätze bei der AfD in Berlin bekommen hatte, fragte der Tagesspiegel bei ihr nach, wie sie denn politisch einzuordnen sei – sie gehöre zum «sehr gemäßigten Teil der AfD», antwortete für sie ein nicht namentlich genannter Sprecher.[43] Diese Einschätzung hielt sich überraschend hartnäckig. Andere Berichte, wie die der taz, dass die Richterin dagegen mit ihren Reden über Flüchtlinge durchaus aufgefallen sei – sie verstehe sich auf «flüchtlingsfeindliche Hetzreden» – drangen nicht durch, wohl auch, weil die taz keine konkreten Beispiele zitierte.[44] Wer da in den Bundestag gewählt werden sollte, erfuhr die Öffentlichkeit also nicht, Fakten blieben Mangelware. Auch weil die Kandidatin, so notierte wiederum der Tagesspiegel, gegenüber der Presse misstrauisch sei und sich politisch nicht äußern wolle, solange ihr Richter-Amt noch nicht ruhe.
Alice Weidel hatte in dem Werbevideo der Politikerin nicht übertrieben, Malsack-Winkemann übernahm sofort mehrere wichtige Funktionen in der ersten AfD-Fraktion. Malsack-Winkemann wurde stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen Union und Obfrau der AfD im Haushaltsausschuss.[45] Dass sie jedoch keinesfalls «sehr gemäßigt» ist, zeigte sie dann bald im Bundestag selbst. Am 3. Juli 2018 ergriff sie das Wort, als der Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit diskutiert wurde: «Weiter verweise ich auf eine Metaanalyse, über die das ‹Deutsche Ärzteblatt› am 23. Mai 2018 berichtete. Danach hat jeder vierte Migrant in Europa antibiotikaresistente Bakterien. Zwar fand man im Rahmen der Studie laut dem Ärzteblatt keine Hinweise auf eine Ansteckung der einheimischen Bevölkerung. Nach logischem Menschenverstand wäre es jedoch ein Wunder, wenn sich die einheimische Bevölkerung nicht ansteckt, wenn die Migranten unter ihr sind.»[46] Insbesondere der letzte Satz – «wäre es jedoch ein Wunder, wenn sich die einheimische Bevölkerung nicht ansteckt, wenn die Migranten unter ihr sind» – klang wie ein Echo, wie ein Satz, den man schon einmal gehört hatte. «Deutschland war allerdings jahrhundertelang gut genug, diese Elemente [gemeint waren die Juden, die Autoren] aufzunehmen, obwohl sie außer ansteckenden politischen und sanitären Krankheiten nichts besaßen.»[47] Gesagt hatte diese Sätze Adolf Hitler, am 30. Januar 1939, zum Jahrestag der «Machtergreifung» durch seine Partei, am Pult des Reichstags, der zu dem Zeitpunkt schon lange kein demokratisches Parlament mehr war, nachdem die NSDAP die Macht «ergreifen» konnte, obwohl sie bei der letzten freien Wahl 1932 nur 33,1 Prozent der Stimmen hatte gewinnen können.[48] Hitler sprach die Worte über ein Volk, das «außer ansteckenden und … sanitären Krankheiten nichts» besäße, in einem Ausweichgebäude und nicht im ursprünglichen Reichstagsgebäude. Der Reichstag war 1933 in Teilen niedergebrannt worden, was die NSDAP nutzte, um mit ihren Gegnern abzurechnen.
Die Abgeordneten unter der Kuppel des renovierten Reichstags, fast 80 Jahre, den Holocaust und einen Weltkrieg später, unterbrachen die Rede der AfD-Abgeordneten zwar aufgebracht – «ekelhaft», rief jemand aus den Reihen der SPD, der Abgeordnete Karl Lauterbach stieß nur «Oh Gott!» hervor, vom Bündnis 90/Die Grünen sagte eine Abgeordnete: «Und ist das auch ansteckend, was sie sagen?»[49] Aber kein Mitglied im Parlament stellte die Richterin umgehend inhaltlich, niemand benannte klar den Hitler-Sound als Hitler-Sound. Auch wurde ihre Rede nicht ad hoc auf Fakten überprüft, was ein Leichtes gewesen wäre. So sagt der von Malsack-Winkemann zitierte Text im «Deutschen Ärzteblatt» das Gegenteil von dem aus, was sie behauptet hatte.[50] Das Problem war nicht, dass Flüchtlinge antibiotikaresistente Keime einführen, wenn sie etwa nach Europa einreisen, sondern dass sie eine Antibiotikaresistenz entwickeln können, wenn sie auf zu engem Raum etwa in Auffanglagern für Flüchtlinge leben.[51] Doch genau das stellte niemand der anderen Abgeordneten fest, und Malsack-Winkemann legte noch nach: «Wenn jeder vierte Migrant mit antibiotikaresistenten Bakterien besiedelt oder infiziert ist, ist nicht nur eine gründliche Gesundheitsuntersuchung jedes Migranten notwendig, sondern auch eine Form der Quarantäne der erkrankten Migranten zum Schutz der einheimischen Bevölkerung. Denn unsere Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass die eigene Regierung sie vor eingeschleppten Krankheiten schützt.» Damit forderte sie unverblümt, dass es geschlossene Auffanglager für alle Flüchtlinge geben müsse, um sie zum vermeintlichen Schutz der Bevölkerung auf Krankheiten zu untersuchen, um schließlich die «erkrankten» Flüchtlinge in ein weiteres Lager zu stecken. Wiederum, ein schreckliches Echo.
Genau so hatten die Nazis die Einrichtung der jüdischen Ghettos in Polen begründet.
Die Besatzungsregierung nutzte damals die Furcht vor dem Fleckfieber, das im Ersten Weltkrieg hunderttausende Menschen getötet hatte, um die Juden in Polen in engen Vierteln einzupferchen, wie der Forscher Thomas Werther festgestellt hat.[52] Die Juden hätten fleckfieberinfizierte Läuse eingeschleppt, um «das Gastvolk zu schädigen», schrieb etwa der Leiter der Abteilung Gesundheitswesen des Generalgouvernements Polen, Jost Walbaum. Der jüdische Teil Warschaus wurde zur Quarantänezone ernannt, um die herum der sogenannte Warschauer Judenrat eine «Seuchenmauer» errichten musste.[53] Das Fleckfieber, virulent in vielen Teilen Europas, verbreitete sich dann im Warschauer Ghetto aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen besonders schnell. Walbaum sagte schließlich vor anderen Ärzten: «… es gibt nur zwei Wege. Wir verurteilen die Juden im Ghetto zum Hungertode oder wir erschießen sie. (…) Denn wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk von diesen Parasiten nicht infiziert und gefährdet wird, und dafür muss jedes Mittel recht sein.»[54] Das ist also die gedankliche Schablone, die Malsack-Winkemann anlegte, samt des Trugschlusses, dass es medizinisch eine gute Idee sein könnte, Menschen zu zwingen, auf engem Raum in Lagern zu leben. Aber auch der Punkt wurde im Bundestag nicht vertieft erörtert. Zufrieden verließ die Richterin das Pult, während die Spitzenpolitiker ihrer Fraktion in den ersten Reihen Beifall klatschten: Alice Weidel, Alexander Gauland, Dr. Bernd Baumann, Beatrix von Storch und wie sie alle heißen. Die NPD hatte es nie in den Bundestag geschafft. Aber ihr Hass war spätestens jetzt im Parlament angekommen.
Abgeordnete im Bundestag gaben in Gesprächen für dieses Buch zu, dass es durchaus Taktik war, die AfD nicht zu stellen, sondern sie größtenteils zu ignorieren. Das Problem war allerdings, dass Reden wie die von Malsack-Winkemann, die zugespitzten Verallgemeinerungen, die oft genug in radikale Lügen umschlugen, mit großem Erfolg per Facebook, Youtube, Instagram und später TikTok verbreitet wurden und dass die anderen Parteien dieser Kommunikationsart kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Grenzen wurden nur selten gesetzt, im Gegenteil: Die AfD verschob den Raum des Sagbaren Rede um Rede, Spruch um Spruch, Lüge um Lüge.
Malsack-Winkemann fiel noch durch andere Beiträge auf – sie behauptete, angeblich analphabetische Flüchtlinge würden Milliardenschäden verursachen, weil sie Arzneiverpackungen nicht lesen und verstehen würden, dann wiederum brachte sie bei Facebook den Tod eines Kindes ohne jeden Beleg mit der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln in Verbindung: «Erstes Todesopfer durch Maske? Schluss mit dem Irrsinn! Verschont wenigstens die Kinder, denn sie können sich nicht wehren! Nur noch #AfD!»[55] Manchmal wirkte es, als belächele etwa die damalige Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, die Richterin der AfD, die oftmals den Eindruck machte, als stünde sie neben sich, mit leicht zerzauster Frisur, und von ihrem Platz aus pedantische Zwischenfragen stellte, als ginge es ihr um Fakten, Details und das Ringen um die Wahrheit. Und nicht um die Machtergreifung zugunsten eines Wahnsystems mit Hilfe demokratischer Strukturen.
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Schon bevor die AfD 2017 das erste Mal in den Bundestag einziehen sollte, wurde in einem hitzigen Wahlkampf sehr bald deutlich, wer da auf dem Ticket der Partei auch in den Bundestag einziehen könnte – Rechtsextremisten, die mit der NPD sympathisierten und Anschläge von Rechtsterroristen entschuldigten, Terror verbal den Boden bereiteten. So bewarb sich Jens Maier in Sachsen um ein Mandat – auch er war Richter und ebenfalls wie Malsack-Winkemann aus dem Westen in den Osten gezogen. In seiner Geburtsstadt Bremen war Maier noch SPD-Mitglied, ehe er nach Sachsen umsiedelte, dort Richter wurde und der AfD beitrat. In Dresden war er lange am Landgericht für Zivilsachen zuständig für Presserecht und Ehrschutz. Dabei bekam er es auch mit NPD-Kritikern zu tun. Der Politologe Steffen Kailitz hatte als Sachverständiger beim Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht 2016 ausgesagt. Er stellte dort fest, die NPD wolle «Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund» vertreiben.[56] Die NPD – heute «Die Heimat» – verklagte den Politologen vor dem Landgericht. Zuständig war die Kammer von Richter Jens Maier. Er entschied im Mai 2016, dass Kailitz den Satz so nicht wiederholen dürfe. Nach vehementer öffentlicher Kritik ruderte Maier zurück und hob seine eigene Verfügung auf, das Gerichtspräsidium verwarf trotzdem die Idee, dass Maier als Richter abgesetzt werden könnte.[57] Er durfte fortan lediglich keine Medienfälle mehr verhandeln.