Angst in deinen Augen - Tess Gerritsen - E-Book
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Angst in deinen Augen E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

Hätte Nina Cormier ihrem Verlobten das Ja-Wort gegeben, wäre sie jetzt tot. Doch da er sie in letzter Minute vor dem Altar stehen lassen hat, explodiert die Bombe in einer leeren Kirche. Detective Sam Navarro vom Portland Police Departement steht vor einem Rätsel: Hat der Anschlag etwas mit der Bombenexplosion zu tun, die Navarros Partner erst kürzlich das Leben kostete? Oder war die Kirche vielleicht doch nur ein rein zufällig ausgewähltes Ziel? Die Tat trug die Handschrift des berüchtigten Attentäters Vincent Spectre - aber der ist seit einem halben Jahr tot. Navarros einziger Anhaltspunkt ist und bleibt Nina. Und so kümmert er sich ab sofort persönlich um ihre Sicherheit - in der Hoffnung, tiefere Einblicke zu gewinnen …

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Seitenzahl: 339

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HarperCollins®

Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 1996 by Tess Gerritsen Originaltitel: »Keeper of the Bride« Erschienen bei: Mira Books, Toronto

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: rawf8, HorenkO / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959679473

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Terrina und Mike – Aloha!

1. KAPITEL

Die Hochzeit fand nicht statt. Sie war geplatzt. Schluss, aus, vorbei. Alles kaputt.

Nina Cormier saß vor dem Spiegel im Ankleidezimmer der Kirche und fragte sich, warum sie nicht einmal weinen konnte. Sie wusste, dass tief in ihrem Inneren der Schmerz wütete, überdeckt von einer seltsamen Gefühllosigkeit, aber sie spürte ihn nicht. Noch nicht. Sie konnte nur dasitzen und ihr Spiegelbild aus tränenlosen Augen anstarren – das wunderschöne Bild einer Braut. Wie feiner Nebel lag der hauchdünne Schleier um ihr Gesicht. Bezaubernd das elfenbeinfarbene Satinkleid mit schulterfreiem, mit Saatperlen besticktem Mieder. Zu einem weichen Knoten zusammengefasst die langen schwarzen Haare. Alle, die sie an diesem Morgen im Ankleidezimmer gesehen hatten – ihre Mutter, ihre Schwester Wendy, ihre Stiefmutter Daniella –, hatten gesagt, sie sei eine wunderschöne Braut.

Ja, das wäre sie gewesen – wenn der Bräutigam so nett gewesen wäre, aufzutauchen.

Tatsächlich hatte er nicht einmal den Mut aufgebracht, es ihr persönlich zu sagen. Nach sechs Monaten, in denen sie geplant und geträumt hatte, erhielt sie seine Absage gerade mal zwanzig Minuten vor Beginn der Zeremonie, zu allem Überfluss überbracht von seinem Trauzeugen.

Nina,

ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken. Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid. Ich werde die Stadt für ein paar Tage verlassen. Ich rufe dich an.

Robert

Sie zwang sich, die Nachricht noch einmal zu lesen.

Ich brauche Zeit … Ich brauche Zeit …

Wie viel Zeit braucht ein Mann? fragte sie sich.

Vor einem Jahr war sie mit Dr. Robert Bledsoe zusammengezogen. Nur so können wir herausfinden, ob wir zusammenpassen, hatte er ihr gesagt. Mit einer Heirat ging man eine so umfassende, so auf Dauer angelegte Bindung ein, dass er keinen Fehler begehen wollte. Mit einundvierzig Jahren hatte Robert schon genügend Erfahrung mit katastrophal verlaufenden Beziehungen gemacht. Noch mehr Fehler wollte er unter allen Umständen vermeiden. Wollte sichergehen, dass Nina wirklich die Frau war, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.

Sie war sich sicher gewesen, dass Robert der Mann war, auf den sie gewartet hatte. So sicher, dass sie noch am selben Tag, an dem er vorgeschlagen hatte, zusammenzuziehen, direkt nach Hause gefahren war und ihre Koffer gepackt hatte …

»Nina? Nina, mach die Tür auf!« Ihre Schwester Wendy rüttelte am Türknauf. »Bitte, lass mich rein.«

Nina ließ den Kopf sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich will jetzt niemanden sehen.«

»Du brauchst jetzt jemanden um dich.«

»Ich will einfach nur allein sein.«

»Hör zu, die Gäste sind alle gegangen. Die Kirche ist leer. Hier draußen bin nur noch ich.«

»Ich will jetzt mit niemandem reden. Geh einfach nach Hause, ja? Bitte, geh einfach.«

Vor der Tür blieb es lange völlig still. »Wenn ich jetzt wegfahre«, sagte Wendy schließlich, »wie kommst du dann nach Hause? Irgendwer muss dich doch fahren.«

»Dann rufe ich mir eben ein Taxi. Oder bitte Reverend Sullivan, mich nach Hause zu fahren. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

»Du bist sicher, dass du nicht reden möchtest?«

»Ganz sicher. Ich rufe dich später an, in Ordnung?«

»Wenn du das wirklich willst.« Wendy schwieg einen Moment. Dann setzte sie so giftig, dass es durch die schwere Eichentür zu hören war, hinzu: »Robert ist ein Arschloch, weißt du. Das kann ich dir jetzt auch sagen. Ich habe ihn schon immer für ein Arschloch gehalten.«

Nina antwortete nicht. Sie saß am Ankleidetisch, den Kopf in den Händen, und wollte weinen, aber es kam keine einzige Träne. Sie hörte, wie sich Wendys Schritte entfernten, dann nur noch die Stille der leeren Kirche. Immer noch kamen keine Tränen. Sie konnte jetzt nicht über Robert nachdenken. Stattdessen kreisten ihre Gedanken hartnäckig um die praktischen Seiten einer abgesagten Hochzeit. Die Speisen, die für den Empfang bereitstanden und nicht gegessen werden würden. Die Geschenke, die sie zurückgeben musste. Die Flugtickets nach St. John Island, die nicht erstattungsfähig waren. Vielleicht sollte sie einfach allein auf ihre Hochzeitsreise gehen und Dr. Robert Bledsoe vergessen. Ja, sie würde allein fliegen, nur sie und ihr Bikini. Dann würde sie dieser Geschichte, die ihr das Herz gebrochen hatte, wenigstens eine gesunde Bräune abgewinnen können.

Langsam hob sie den Kopf und betrachtete noch einmal ihr Spiegelbild. Doch keine so schöne Braut, dachte sie. Ihr Lippenstift war verschmiert, ihr Haarknoten begann sich zu lösen. Sie verwandelte sich in ein Wrack.

In plötzlicher Wut langte sie nach oben und riss sich den Schleier vom Kopf. Haarnadeln flogen in alle Richtungen davon, und ihre schwarzen Haare fielen ihr wie befreit auf die Schultern. Zum Teufel mit dem Schleier. Sie warf ihn in den Mülleimer. Den Brautstrauß aus weißen Lilien und rosa Sweetheart-Rosen pfefferte sie schwungvoll hinterher. Das tat gut. Ihr Zorn schien ihre Adern wie ein neuer, energiereicher Kraftstoff zu durchfluten und gab ihr den Schwung, aufzuspringen.

Raschen Schrittes verließ sie das Ankleidezimmer, ihre Schleppe schleifte über den Boden, als sie das Kirchenschiff betrat.

Die Sitzbänke waren leer. Girlanden aus weißen Nelken schmückten den Gang, ein luftiges Gesteck aus rosa Rosen und Schleierkraut den Altar. Die Bühne war wunderschön bereitet für eine Hochzeit, die nun niemals stattfinden würde. Aber Nina nahm kaum wahr, was die Floristen in harter Arbeit so hübsch hergerichtet hatten, als sie am Altar vorbeischritt und den Gang hinunterging. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Ausgang. Flucht war alles, woran sie denken konnte. Selbst als Reverend Sullivan ihr besorgt nachrief, wurde sie nicht langsamer. Sie marschierte an all den blumigen Erinnerungen an das Fiasko dieses Tages vorbei und stieß die Doppeltür auf, die ins Freie führte.

Dort, auf den Stufen der Kirche, blieb sie abrupt stehen. Die Julisonne blendete sie, und ihr wurde plötzlich und schmerzlich bewusst, wie auffällig sie sein musste: eine einsame Frau im Brautkleid, die versuchte, ein Taxi herbeizuwinken. Erst jetzt, als sie wie erstarrt im grellen Nachmittagslicht stand, spürte sie, wie ihr die ersten Tränen brennend heiß in die Augen stiegen.

Oh nein, großer Gott, nein. Sie würde einen Zusammenbruch erleiden und hier auf der Treppe in Tränen ausbrechen. Ausgerechnet hier, wo man sie aus jedem Auto, das auf der Forest Avenue vorbeifuhr, sehen konnte.

»Nina? Nina, Liebes.«

Sie drehte sich um. Reverend Sullivan stand eine Stufe über ihr, Besorgnis in seiner freundlichen Miene.

»Kann ich etwas für dich tun? Irgendetwas?«, fragte er. »Wenn du möchtest, können wir hineingehen und reden.«

Sie schüttelte kläglich den Kopf. »Ich möchte fort von hier. Bitte, ich möchte einfach nur fort.«

»Natürlich, natürlich.« Sanft nahm er sie beim Arm. »Ich fahre dich nach Hause.«

Reverend Sullivan führte sie die Treppe hinunter und um das Gebäude herum nach hinten zum Parkplatz für die Angestellten. Sie nahm ihre Schleppe hoch, die sie bis jetzt hinter sich her geschleift hatte und die entsprechend verschmutzt war, bevor sie in seinen Wagen stieg. Da saß sie nun mit meterweise Satin auf ihrem Schoß.

Reverend Sullivan glitt hinters Steuer. Die Hitze im Auto war erdrückend, dennoch ließ er nicht den Motor an. Stattdessen saßen sie einen Moment in unbehaglichem Schweigen da.

»Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, welchen möglichen Grund der Herrgott für all das haben mag«, sagte er schließlich leise. »Aber ganz sicher gibt es einen Grund, Nina, auch wenn du ihn im Moment nicht sehen kannst. Ja, dir mag es vorkommen, als hätte der Herr sich von dir abgewandt.«

»Robert hat sich von mir abgewandt«, erwiderte sie. Schniefend griff sie nach einer sauberen Ecke ihrer Schleppe und wischte sich damit über ihr Gesicht. »Hat mir den Rücken zugekehrt und ist davongerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her.«

»Zwiespältige Gefühle gibt es häufig beim Bräutigam. Ich bin sicher, dass Dr. Bledsoe das Gefühl hatte, dies sei ein großer Schritt für ihn …«

»Ein großer Schritt für ihn? Ich nehme an, zu heiraten ist für mich nur ein kleiner Spaziergang durch den Park?«

»Nein, nein, du verstehst mich falsch.«

»Ach, bitte.« Sie schluchzte unterdrückt. »Fahren Sie mich einfach nach Hause.«

Kopfschüttelnd steckte er den Zündschlüssel ins Schloss. »Ich wollte dir nur auf meine unbeholfene Art und Weise erklären, dass davon die Welt nicht untergeht, Liebes. So ist das Leben. Das Schicksal hält immer Überraschungen für uns bereit, Nina, unerwartete Krisen. Dinge, die uns aus heiterem Himmel treffen.«

Im selben Moment erschütterte ein ohrenbetäubender Knall das Kirchengebäude. Die Explosion ließ die Buntglasfenster bersten, und ein Hagel aus bunten Glassplittern prasselte auf den Parkplatz. Zerfetzte Gesangsbücher und Bruchstücke von Kirchenbänken regneten auf den Asphalt.

Als sich der weiße Rauch allmählich legte, sah Nina, wie Blütenblätter sanft vom Himmel schwebten und sich vor Reverend Sullivans erschrockenen Augen auf der Windschutzscheibe niederließen.

»Aus heiterem Himmel«, murmelte sie. »Besser hätten Sie das nicht ausdrücken können.«

»Sie zwei haben eindeutig die größte Scheiße des Jahres gebaut.«

Sam Navarro, Police Detective in Portland, der dem sichtlich aufgebrachten Norm Liddell am Tisch gegenübersaß, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Im Besprechungszimmer der Polizeistation waren fünf Männer versammelt, und Sam dachte gar nicht daran, dem aufgeblasenen Staatsanwalt die Befriedigung zu gönnen, ihn vor aller Augen wanken zu sehen. Dem Vorwurf widersprechen wollte er allerdings auch nicht, denn sie hatten tatsächlich Scheiße gebaut. Er und Gillis hatten richtig große Scheiße gebaut, und infolgedessen war ein Polizist gestorben. Der Mann war ein Idiot gewesen, aber nichtsdestotrotz ein Polizist und damit einer von ihnen.

»Zu unserer Entlastung«, meldete sich Sams Partner Gordon Gillis zu Wort, »möchte ich darauf hinweisen, dass wir Marty Pickett keine Erlaubnis gegeben haben, sich dem Tatort zu nähern. Wir hatten keine Ahnung, dass er die Absperrung missachtet …«

»Sie leiteten den Einsatz am Ort der Bombenexplosion«, fiel Liddell ihm ins Wort. »Damit sind Sie verantwortlich.«

»Moment mal«, widersprach Gillis. »Officer Pickett trägt zumindest eine Teilschuld.«

»Pickett war ein Frischling.«

»Er hätte sich an das übliche Prozedere halten müssen. Wenn er …«

»Halt den Mund, Gillis«, sagte Sam.

Sein Partner schaute ihn an. »Sam, ich versuche nur, unsere Position zu verteidigen.«

»Das wird uns nicht das Geringste nützen. Unsere Rolle als Prügelknaben steht offensichtlich fest.« Sam lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Liddell über den Konferenztisch hinweg. »Was wollen Sie, Herr Staatsanwalt? Eine öffentliche Auspeitschung? Unsere Kündigung?«

»Niemand verlangt von euch, dass ihr kündigt«, mischte sich Chief Abe Coopersmith ein. »Und diese Diskussion bringt uns nicht weiter.«

»Es muss eine Disziplinarmaßnahme geben«, erklärte Liddell. »Wir haben einen toten Polizisten …«

»Glauben Sie, ich wüsste das nicht?«, fauchte Coopersmith. »Ich bin derjenige, der die Fragen der Witwe beantworten musste. Ganz abgesehen von den Blutsaugern von der Presse. Erzählen Sie mir keinen Scheiß von uns und wir, Herr Staatsanwalt. Der da gestorben ist, war einer von uns. Ein Polizist. Kein Anwalt.«

Überrascht sah Sam seinen Chief an. Dass Coopersmith sich auf seine Seite stellte, war eine ganz neue Erfahrung. Der Abe Coopersmith, den er kannte, war ein Mann weniger Worte, von denen noch weniger lobend ausfielen. Aber Liddell war mit seinem Angriff bei ihnen allen angeeckt, denn wenn Polizisten unter Beschuss gerieten, hielten sie immer zusammen.

»Zurück zum eigentlichen Problem, in Ordnung?«, fragte Coopersmith. »Wir haben einen Bombenleger in der Stadt. Und das erste Todesopfer. Was wissen wir bislang?« Damit richtete er seinen Blick auf Sam, der die neu gebildete Bomben-Einsatzgruppe leitete. »Navarro?«

»Nicht gerade viel«, gab Sam zu. Er öffnete einen Aktenordner und nahm einen Stapel Kopien heraus, die er an die anderen vier am Tisch versammelten Männer verteilte – Liddell, Chief Coopersmith, Gillis und Ernie Takeda, den Sprengstoffexperten vom Maine State Crime Labor. »Die erste Explosion ereignete sich gegen zwei Uhr fünfzehn morgens. Die zweite gegen zwei Uhr dreißig. Diese zweite hat das R. R. Hancock Lagerhaus so ziemlich dem Erdboden gleichgemacht und kleinere Schäden an den beiden angrenzenden Gebäuden verursacht. Der Wachmann von der Nachtschicht fand die erste Bombe. Ihm waren Einbruchsspuren aufgefallen; deshalb durchsuchte er das Gebäude und entdeckte die Bombe auf einem Schreibtisch in einem der Büros. Sein Anruf ging um ein Uhr dreißig hier ein. Gillis traf gegen ein Uhr fünfzig vor Ort ein, ich um zwei. Wir hatten den Gefahrenbereich abgesperrt, und das Spezialfahrzeug war gerade vorgefahren, als die erste Bombe hochging. Dann, fünfzehn Minuten später – noch bevor wir das Gebäude durchsuchen konnten – explodierte die zweite. Und tötete Officer Pickett.« Sam warf Liddell einen kurzen Blick zu, aber diesmal zog der Staatsanwalt es vor, den Mund zu halten. »Dynamit vom Hersteller DuPont.«

Kurz herrschte Schweigen im Raum. »Doch nicht die gleiche Chargennummer wie bei den beiden Bomben im letzten Jahr?«, fragte Coopersmith.

»Doch, sehr wahrscheinlich«, erwiderte Sam. »Beim einzigen seit Jahren gemeldeten großen Dynamitdiebstahl hier in der Gegend wurde genau die Charge mit dieser Nummer entwendet.«

»Aber Spectres Bombenanschläge wurden vor einem Jahr aufgeklärt«, warf Liddell ein, »und wir wissen, dass Vincent Spectre tot ist. Wer also baut diese Bomben?«

»Vielleicht haben wir es mit einem Lehrling von Spectre zu tun. Mit jemandem, der sich nicht nur die Vorgehensweise seines Meisters angeeignet hat, sondern obendrein zu seinen Dynamitvorräten Zugang hat. Die wir, wenn ich darauf hinweisen darf, nie gefunden haben.«

»Sie haben noch nicht zweifelsfrei geklärt, ob das Dynamit zu der gestohlenen Charge gehört«, widersprach Liddell. »Vielleicht besteht zwischen dieser Sache und Spectres Bombenanschlägen überhaupt keine Verbindung.«

»Ich fürchte, es gibt weitere Indizien«, sagte Sam, »und die werden Ihnen nicht gefallen.« Er sah hinüber zu Ernie Takeda. »Leg los, Ernie.«

Takeda, dem es nie leichtfiel, vor anderen zu sprechen, hielt seinen Blick auf den Laborbericht gesenkt, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Ausgehend von den Materialien, die wir am Tatort gefunden haben«, sagte er, »können wir unter Vorbehalt feststellen, wie der Sprengsatz konstruiert war. Wir glauben, dass der elektrische Zünder von einem elektronischen Verzögerungsschalter ausgelöst wurde. Der Zünder war über eine Prima-Zündschnur mit dem Dynamit verbunden. Die Dynamitstäbe waren mit fünf Zentimeter breitem, grünem Isolierband gebündelt.« Takeda räusperte sich und blickte endlich auf. »Es handelt sich um den gleichen Verzögerungsschalter, den der verstorbene Vincent Spectre bei seinen Bombenanschlägen im letzten Jahr benutzt hat.«

Liddell sah Sam an. »Das gleiche Schaltschema, dieselbe Dynamit-Charge? Was zum Teufel geht hier vor?«

»Offensichtlich«, meldete sich Gillis zu Wort, »hat Vincent Spectre ein paar seiner Fertigkeiten vor seinem Tod weitergegeben. Jetzt haben wir es mit einem Bombenleger zweiter Generation zu tun.«

»Was uns für unser Puzzle noch fehlt«, setzte Sam hinzu, »ist das psychologische Profil dieses Neulings. Spectres Bombenanschläge waren kaltblütig ausgeführt, und es ging nur um Geld. Er wurde angeheuert, um den Job zu erledigen, und das tat er – bumm, bumm, bumm. Effizient. Effektiv. Dieser neue Bombenleger muss erst noch ein Muster entwickeln.«

»Mit anderen Worten«, sagte Liddell, »Sie erwarten, dass er wieder zuschlagen wird.«

Sam nickte müde. »Leider ja. Genau das erwarte ich.«

Es klopfte an der Tür, und eine Streifenpolizistin schaute herein. »Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben einen Anruf für Navarro und Gillis.«

»Ich nehme ihn entgegen«, sagte Gillis, erhob sich schwerfällig und ging hinüber zum Wandtelefon im Besprechungszimmer.

Liddell konzentrierte sich immer noch auf Sam. »Das ist also alles, womit Portlands Polizei aufwarten kann? Wir warten auf den nächsten Bombenanschlag, damit wir ein Muster erkennen können? Und das gibt uns dann vielleicht, nur vielleicht, eine Idee, was zum Teufel wir dagegen tun können?«

»Ein Bombenanschlag, Mr. Liddell«, erwiderte Sam ruhig, »ist ein feiger Akt. Es ist eine Gewalthandlung, bei der der Gewalttäter nicht anwesend ist. Ich wiederhole: nicht anwesend. Wir haben keine Identität, keine Zeugen, keine …«

»Chief«, fiel Gillis ihm ins Wort und legte den Hörer auf. »Gerade wurde wieder einer gemeldet.«

»Was?«, fragte Coopersmith.

Sam war schon auf den Beinen und eilte zur Tür.

»Was war es diesmal?«, rief Liddell. »Wieder ein Lagerhaus?«

»Nein«, erwiderte Gillis. »Eine Kirche.«

Als Sam und Gillis bei der Good Shepherd Church ankamen, hatte die Polizei den Ort des Geschehens bereits abgesperrt. An der Straße vor der Kirche hatte sich eine Zuschauermenge eingefunden. Drei Streifenwagen, zwei Feuerwehreinheiten und ein Rettungswagen parkten kreuz und quer an der Forest Avenue. Der Lkw des Bombenräumdienstes stand neben der Eingangstür zur Kirche – beziehungsweise neben dem, was von der Eingangstür übrig war. Die Tür war aus ihren Angeln gesprengt worden und unten vor der Treppe gelandet. Überall lagen Glasscherben. Der Wind hatte die zerfetzten Seiten aus Gesangbüchern wie welkes Laub auf dem Gehweg verteilt. »Das war eine große«, fluchte Gillis.

Als sie sich dem Absperrband näherten, wandte sich der leitende Polizist erleichtert an sie. »Navarro! Gut, dass du zur Party kommen konntest.«

»Verletzte oder Tote?«, fragte Sam.

»Keine, soweit wir wissen. Die Kirche war zum Zeitpunkt der Explosion leer. Reine Glückssache. Für zwei Uhr war eine Hochzeitsfeier angesetzt, aber die wurde in letzter Minute abgesagt.«

»Wessen Hochzeit?«

»Irgendein Arzt. Die Braut sitzt da drüben im Streifenwagen. Sie und der Pastor haben die Explosion vom Parkplatz aus miterlebt.«

»Ich spreche später mit ihr«, sagte Sam. »Lasst sie nicht weg. Den Pastor auch nicht. Erst suche ich im Gebäude nach weiteren Bomben.«

»Besser du als ich.«

Sam legte seine Panzerweste aus sich überlappenden Stahlplatten in Nylon an, dazu eine Schutzmaske für den Fall, dass er eine zweite Bombe entdeckte. Ein Bombentechniker, der genauso ausgestattet war wie er, wartete bereits an der Kirchentür auf den Befehl, das Gebäude zu betreten. Gillis würde draußen neben dem Bombenräumwagen warten; diesmal bestand seine Aufgabe darin, die nötigen Werkzeuge anzureichen und den Bombenwagen einsatzbereit zu machen.

»Okay«, wandte Sam sich an den Techniker. »Dann mal los.«

Durch das klaffende Loch, das vom Eingang übrig war, betraten sie die Kirche.

Als Erstes fiel Sam der Geruch auf – stark und leicht süßlich. Dynamit, dachte er. Er erkannte den Geruch sofort. Die Wucht der Explosion hatte die hinteren Kirchenbänke umgeworfen. Weiter vorn, in der Nähe des Altars, waren die Bänke zersplittert. Sämtliche Buntglasfenster waren geborsten, sodass auf der Südseite diffuses Sonnenlicht durch die leeren Fensteröffnungen hereinfiel.

Wortlos und automatisch trennten Sam und der Techniker sich und gingen die gegenüberliegenden Seiten des Kirchenschiffs ab. Eine gründlichere Untersuchung würde später stattfinden; jetzt ging es erst einmal nur darum, etwaige weitere Bomben aufzuspüren. Der Tod von Marty Pickett lastete noch immer schwer auf Sams Gewissen, und er dachte gar nicht daran, andere Polizisten in das Gebäude zu lassen, bevor er es nicht für sicher erklärt hatte.

Die beiden Männer bewegten sich parallel durchs Kirchenschiff, angespannt Ausschau haltend nach allem, was irgendwie nach einem möglichen Sprengkörper aussah. Die vielen Trümmer sorgten dafür, dass sie bei ihrer Suche nur langsam vorankamen. Je weiter sie im Kirchenschiff nach vorn kamen, desto größer war der angerichtete Schaden und desto deutlicher roch es nach explodiertem Dynamit. Wir kommen näher, dachte Sam. Die Bombe musste irgendwo hier vorn gelegen haben …

Vor dem Altar, an einer Stelle, wo die erste Bankreihe gestanden haben musste, fanden sie den Explosionskrater. Er maß etwa einen Meter im Durchmesser und war flach; die Explosion hatte den Teppich und den Bodenbelag darunter zerfetzt, den Betonboden aber kaum angekratzt. Ein flacher Krater war typisch für eine langsame Explosion – auch das passte zu Dynamit.

Später würden sie sich das noch genauer ansehen, aber jetzt setzten sie erst einmal ihre Suche fort. Als sie mit dem Kirchenschiff fertig waren, nahmen sie sich die Flure, die Ankleideräume und die Warteräume vor. Keine Bomben. Dann kam der Anbau mit den Büros, dem Besprechungszimmer und dem Raum, in dem die Sonntagsschule abgehalten wurde, an die Reihe. Keine Bomben. Sie verließen das Gebäude durch eine Hintertür und suchten die gesamten Außenmauern ab. Keine Bomben.

Endlich zufriedengestellt, ging Sam zurück zur Polizeiabsperrung, wo Gillis wartete. Dort legte er seine Panzerweste ab. »Das Gebäude ist sauber«, sagte er. »Steht das Durchsuchungsteam bereit?«

Gillis deutete zu den sechs Männern hinüber, die neben dem Bombenräumwagen warteten – zwei Streifenpolizisten und vier Kriminaltechniker, alle mit leeren Beweissicherungsbeuteln ausgestattet. »Sie warten nur auf ihren Einsatz.«

»Zuerst der Fotograf, damit er in Ruhe arbeiten kann. Wenn er fertig ist, schick das Team rein. Der Krater befindet sich ganz vorn, etwa in Höhe der ersten Bankreihe auf der rechten Seite.«

»Dynamit?«

Sam nickte. »Wenn ich meiner Nase vertrauen kann.« Er drehte sich um und musterte die Gaffer. »Ich rede jetzt mit den Zeugen. Wo ist der Pastor?«

»Wurde gerade ins Krankenhaus gefahren. Schmerzen in der Brust. Der ganze Stress.«

Sam seufzte gereizt. »Hat jemand mit ihm gesprochen?«

»Ein Streifenpolizist. Wir haben seine Aussage.«

»Okay«, sagte Sam. »Das heißt dann wohl, dass mir die Braut bleibt.«

»Sie wartet noch im Streifenwagen. Ihr Name ist Nina Cormier.«

»Cormier. Alles klar.« Sam bückte sich unter dem gelben Absperrband hindurch und drängte sich durch die wachsende Menge an Zuschauern. Sein Blick schweifte über die Polizeiautos, bis er auf dem Beifahrersitz eines Streifenwagens eine Silhouette ausmachen konnte. Die Frau rührte sich nicht, als er näher kam; sie blickte starr geradeaus wie eine Schaufensterpuppe in der Auslage eines Brautmodengeschäfts. Er beugte sich vor und klopfte leicht ans Autofenster.

Die Frau wandte sich ihm zu, und große dunkle Augen starrten ihn durch die Scheibe hindurch an. Trotz der zerlaufenen Wimperntusche war das sanft gerundete feminine Gesicht unleugbar hübsch. Sam bedeutete ihr, das Fenster herunterzudrehen, und sie kam seiner Aufforderung nach.

»Miss Cormier? Ich bin Detective Sam Navarra, Portland Police.«

»Ich möchte nach Hause«, sagte sie. »Ich habe schon mit so vielen Polizisten gesprochen. Kann ich bitte einfach nach Hause gehen?«

»Erst muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Ein paar?«

»Na schön«, gab er zu. »Eigentlich eher eine Menge Fragen.«

Sie seufzte. Erst jetzt sah er, wie müde sie wirkte. »Wenn ich Ihnen alle Ihre Fragen beantworte, Detective«, sagte sie, »lassen Sie mich dann nach Hause gehen?«

»Das verspreche ich.«

»Halten Sie Ihre Versprechen?«

Er nickte. »Immer.«

Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. »Klar doch«, murmelte sie. »Männer und Ihre Versprechen.«

»Wie bitte?«

»Ach, vergessen Sie’s.«

Er ging um den Wagen herum, öffnete die Tür auf der Fahrerseite und schob sich hinters Lenkrad. Die Frau neben ihm sagte nichts, saß einfach nur da in ergebenem Schweigen. Die bauschigen Lagen aus weißem Satin schienen sie regelrecht zu verschlucken. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, und seidige Strähnen schwarzen Haares hingen ihr lose über die Schultern. Sie bietet ganz und gar nicht das Bild einer glücklichen Braut, dachte er. Stattdessen wirkte sie geschockt und sehr allein.

Wo zum Teufel ist der Bräutigam?

Das instinktiv in ihm aufkommende Mitgefühl störte nur, und er unterdrückte es sofort, griff nach seinem Notizbuch und schlug eine leere Seite auf. »Nennen Sie mir bitte Ihren vollen Namen und Ihre Anschrift?«

Die Antwort war ein kaum hörbares Flüstern: »Nina Margaret Cormier, 318 Ocean View Drive.«

Er schrieb das auf. Dann schaute er sie an. Sie starrte immer noch auf ihren Schoß, sah ihn nicht an. »Okay, Miss Cormier«, sagte er. »Warum erzählen Sie mir nicht einfach ganz genau, was geschehen ist?«

Sie wollte nach Hause. Seit anderthalb Stunden saß sie nun schon in diesem Streifenwagen, hatte mit drei verschiedenen Polizisten gesprochen, hatte alle ihre Fragen beantwortet. Ihre Hochzeit war geplatzt, sie war gerade so mit dem Leben davongekommen, und die Leute da draußen an der Straße starrten sie die ganze Zeit an, als wäre sie eine Monstrosität aus einer Tingeltangelshow.

Und dieser Mann, dieser Polizist, der so viel Wärme ausstrahlte wie ein Stockfisch, erwartete allen Ernstes, dass sie ihm das alles noch einmal vorbetete?

»Miss Cormier«, sagte er seufzend. »Je schneller wir das hier hinter uns bringen, umso früher können Sie gehen. Was genau ist passiert?«

»Es gab eine Explosion«, sagte sie. »Kann ich jetzt nach Hause gehen?«

»Was meinen Sie mit einer Explosion?«

»Es gab einen lauten Knall. Jede Menge Rauch, zerborstene Fenster. Ich würde sagen, eine typische Explosion in einem Gebäude.«

»Sie sprachen von Rauch. Welche Farbe hatte der Rauch?«

»Wie bitte?«

»War er schwarz? Weiß?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Beantworten Sie bitte einfach die Frage.«

Sie seufzte verärgert. »Weiß, glaube ich.«

»Glauben Sie?«

»Na schön, ich bin mir sicher.« Sie drehte sich ihm zu und sah ihn an. Zum ersten Mal schaute sie ihm tatsächlich ins Gesicht. Wenn er gelächelt hätte, wenn auch nur ein Hauch von Wärme in seinem Gesicht gelegen hätte, wäre es ein wirklich nettes Gesicht gewesen. Er musste etwa Ende dreißig sein. Seine dunkelbraunen Haare hätten vor etwa zwei Wochen geschnitten werden sollen. Sein Gesicht war schmal, seine Zähne vollkommen gleichmäßig, und die tief liegenden grünen Augen blickten so durchdringend, wie man das von einem Polizisten erwarten konnte, der die Hauptrolle in einem Liebesfilm spielte. Nur war er kein Filmpolizist, sondern ein waschechter Cop mit einer Marke und kein bisschen charmant. Er musterte sie so vollkommen unbeteiligt, als versuchte er abzuschätzen, wie glaubwürdig sie als Zeugin war.

Sie erwiderte seinen Blick, während ihr verschiedene Gedanken durch den Kopf gingen. Hier sitze ich nun, die verstoßene Braut. Wahrscheinlich fragt er sich, was mit mir nicht stimmt. Welche schrecklichen Fehler ich habe, derentwegen ich vorm Altar versetzt wurde.

Sie vergrub ihre Fäuste in dem weißen Satin, der auf ihrem Schoß lag. »Ich bin sicher, der Rauch war weiß«, erklärte sie gepresst. »Ob das nun eine Rolle spielt oder nicht.«

»Es spielt eine Rolle. Es zeigt, dass kaum Kohlenstoff im Spiel war.«

»Oh, verstehe.« Was immer ihm das sagen mochte.

»Haben Sie Feuer gesehen?«

»Nein, nein, kein Feuer.«

»Haben Sie etwas gerochen?«

»Sie meinen Gas oder so?«

»Irgendetwas.«

Sie runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste. Aber ich befand mich außerhalb des Gebäudes.«

»Wo genau?«

»Reverend Sullivan und ich saßen in seinem Auto. Auf dem Parkplatz hinter der Kirche. Ich hätte also kein Gas riechen können. Außerdem ist Erdgas geruchlos. Stimmt doch, oder?«

»Es ist schwer wahrzunehmen.«

»Also bedeutet das nichts. Dass ich es nicht gerochen habe, meine ich.«

»Haben Sie vor der Explosion jemanden in der Nähe des Gebäudes gesehen?«

»Reverend Sullivan. Und einige Familienangehörige von mir. Aber sie sind alle früher gegangen.«

»Wie steht es mit Fremden? War da jemand, den Sie nicht kannten?«

»Niemand war in der Kirche, als es passiert ist.«

»Ich spreche von der Zeit vor der Explosion, Miss Cormier.«

»Vorher?«

»Haben Sie jemanden gesehen, der nicht dorthin gehörte?«

Sie starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick aus grünen Augen, die nichts verrieten. »Sie meinen – glauben Sie etwa …?«

Er sagte nichts.

»Es war kein Gasleck?«, fragte sie leise.

»Nein«, erwiderte er. »Es war eine Bombe.«

Sie sank zurück, atmete schockiert und heftig aus. Kein Unfall, dachte sie. Ganz und gar kein Unfall …

»Miss Cormier?«

Schweigend sah sie ihn an. Irgendetwas daran, wie er sie beobachtete, jagte ihr Angst ein. Dieser ausdrucks- und gefühllose Blick in seinen Augen.

»Es tut mir leid, Ihnen diese Frage stellen zu müssen«, fuhr er fort, »aber Sie verstehen sicher, dass ich ihr nachgehen muss.«

Sie schluckte. »Welche … welche Frage?«

»Fällt Ihnen jemand ein, der Ihnen vielleicht den Tod wünscht?«

2. KAPITEL

»Das ist verrückt«, sagte sie. »Das ist vollkommener Blödsinn.«

»Ich muss die Möglichkeit in Betracht ziehen.«

»Welche Möglichkeit? Dass die Bombe mir gegolten hat?«

»Ihre Trauung war für vierzehn Uhr angesetzt. Die Bombe ist um vierzehn Uhr vierzig explodiert. Nahe der vordersten Sitzreihe. Nahe am Altar. Ich hege keine Zweifel daran, wenn ich mir die offensichtliche Wucht der Explosion vor Augen führe, dass Sie und Ihre gesamte Hochzeitsgesellschaft getötet worden wären. Oder doch zumindest sehr schwer verletzt. Wir reden hier von einer Bombe, Miss Cormier. Nicht von einem Gasleck. Nicht von einem Unglücksfall. Einer Bombe. Sie sollte jemanden töten. Und ich muss herausfinden, wer die Zielperson war.«

Sie reagierte nicht. Die Möglichkeiten waren zu schrecklich, um auch nur darüber nachzudenken.

»Wer gehörte alles zu Ihrer Hochzeitsgesellschaft?«, fragte er.

Sie schluckte. »Da war … da war …«

»Sie und Reverend Sullivan. Wer noch?«

»Robert – mein Verlobter. Und meine Schwester Wendy. Und Jeremy Wall, der Trauzeuge …«

»Wer noch?«

»Mein Vater – er sollte mich zum Altar geleiten. Ein Blumenmädchen. Ein Ringträger …«

»Mich interessieren nur die Erwachsenen. Fangen wir bei Ihnen an.«

Benommen schüttelte sie den Kopf. »Es – es ging nicht um mich. Es kann nicht um mich gegangen sein.«

»Warum nicht?«

»Weil es unmöglich ist.«

»Wie können Sie sich dessen so sicher sein?«

»Weil niemand mir den Tod wünschen würde!«

Ihr scharfer Ausruf schien ihn zu überraschen. Einen Moment schwieg er. Draußen auf der Straße drehte sich ein Streifenpolizist zu ihnen um und schaute herüber. Sam bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass alles in Ordnung war, und der Polizist wandte sich wieder ab.

Nina saß da, die Finger in den zerknitterten Stoff ihres Kleids gekrallt. Dieser Mann war einfach grässlich. Ein Sam Spade ohne jede Spur menschlicher Wärme. Obwohl es im Auto ziemlich heiß war, stellte sie fest, dass es sie fröstelte, und schuld war das völlige Fehlen erkennbarer Gefühlsregungen, das den Mann neben ihr auszeichnete.

»Können wir dieses Thema noch ein bisschen vertiefen?«, fragte er.

Sie erwiderte nichts.

»Haben Sie irgendwelche ehemaligen Freunde, Miss Cormier? Ex-Liebhaber? Leute, die über ihre Heirat möglicherweise unglücklich sind?«

»Nein«, flüsterte sie.

»Gar keine verflossenen Liebhaber?«

»Nicht … seit einem Jahr nicht mehr.«

»Sind Sie so lange mit Ihrem Verlobten zusammen? Ein Jahr?«

»Ja.«

»Seinen vollen Namen und seine Adresse, bitte.«

»Dr. Robert David Bledsoe, 318 Ocean View Drive.«

»Dieselbe Adresse wie Ihre?«

»Wir leben zusammen.«

»Warum wurde die Hochzeit abgesagt?«

»Das müssen Sie Robert fragen.«

»Das war also seine Entscheidung? Die Hochzeit abzusagen?«

»Wie heißt es doch so schön? Er hat mich vorm Altar versetzt.«

»Wissen Sie, warum?«

Ein bitteres Lachen war die Antwort. »Detective, ich bin zu der welterschütternden Erkenntnis gelangt, dass die Psyche von Männern mir ein absolutes Rätsel ist.«

»Er hat Sie überhaupt nicht vorgewarnt?«

»Es kam ganz genauso überraschend wie diese …« Sie schluckte. »Wie diese Bombe. Wenn es denn eine war.«

»Wann genau wurde die Trauung abgesagt?«

»Ungefähr halb zwei. Ich war schon in der Kirche, im Hochzeitskleid und allem, was dazugehört. Und dann tauchte Jeremy mit der Mitteilung auf – Roberts Trauzeuge. Robert hatte nicht mal den Mut, es mir selbst zu sagen.« Angewidert schüttelte sie den Kopf.

»Was stand in der Mitteilung?«

»Dass er mehr Zeit bräuchte. Und die Stadt für eine Weile verlassen wollte. Nichts weiter.«

»Kann es sein, dass Robert irgendeinen Grund hatte …«

»Nein, das kann nicht sein!« Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Sie fragen doch, ob Robert etwas damit zu tun hatte? Oder?«

»Ich schließe nichts einfach aus, Miss Cormier.«

»Robert ist unfähig zu Gewalttaten. Um Himmels willen – er ist Arzt!«

»In Ordnung. Lassen wir das erst einmal. Schauen wir uns die anderen Möglichkeiten an. Ich gehe davon aus, dass Sie berufstätig sind?«

»Ich arbeite als Krankenschwester im Maine Medical Center.«

»In welchem Bereich?«

»Notfallambulanz und Unfallstation.«

»Irgendwelche Probleme am Arbeitsplatz? Konflikte mit Kollegen?«

»Nein, wir kommen gut miteinander aus.«

»Gab es Drohungen? Von Patienten zum Beispiel?«

Sie stöhnte genervt auf. »Detective, glauben Sie nicht, ich wüsste, wenn ich Feinde hätte?«

»Nicht unbedingt.«

»Sie geben sich verdammt viel Mühe, mich paranoid werden zu lassen.«

»Ich bitte Sie, einen Schritt zurückzutreten und sich selbst zu betrachten. Ihr persönliches Leben. Denken Sie an all die Leute, die Ihnen eventuell Böses wollen.«

Nina sank auf dem Beifahrersitz zurück. All die Leute, die mich eventuell nicht mögen. Sie dachte an ihre Familie. Ihre ältere Schwester Wendy, der sie nie sonderlich nahegestanden hatte. Ihre Mutter Lydia, verheiratet mit einem wohlhabenden Snob. Ihr Vater George, inzwischen zum vierten Mal verheiratet mit einer blonden Trophäenfrau, die die Kinder ihres Mannes für lästig hielt. Eine einzige große, zerrüttete Familie, aber Mörder gehörten mit Sicherheit nicht dazu.

Sie schüttelte den Kopf. »Niemand, Detective. Es gibt da niemanden.«

Nach einem Moment klappte er seufzend sein Notizbuch zu. »Na schön, Miss Cormier. Ich schätze, das ist erst einmal alles.«

»Erst einmal?«

»Ich werde vermutlich noch weitere Fragen an Sie haben. Wenn ich mit dem Rest der Hochzeitsgesellschaft gesprochen habe.« Damit öffnete er die Fahrertür, stieg aus und schloss sie wieder. Durchs offene Fenster wandte er sich noch einmal an Sie. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was auch immer, rufen Sie mich an.« Er kritzelte etwas in sein Notizbuch, riss das Blatt heraus und reichte es ihr. Darauf standen sein Name – Detective Samuel I. Navarro – und eine Telefonnummer. »Das ist meine Durchwahl«, sagte er. »Außerdem bin ich rund um die Uhr über die Telefonzentrale der Polizei erreichbar.«

»Dann … kann ich jetzt also nach Hause?«

»Ja.« Damit wandte er sich zum Gehen.

»Detective Navarro?«

Er drehte sich wieder zu ihr um. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß er war, und sie fragte sich, wie dieser große schlanke Mann auf den Fahrersitz neben ihr gepasst hatte. »Ist noch irgendetwas, Miss Cormier?«, fragte er.

»Sie sagten, ich dürfe gehen.«

»Das stimmt.«

»Ich habe niemanden, der mich fahren könnte.« Sie nickte zur ausgebombten Kirche hinüber. »Und auch kein Telefon. Könnten Sie vielleicht meine Mutter anrufen? Damit sie kommt und mich abholt?«

»Ihre Mutter?« Er sah sich um, offensichtlich in der Hoffnung, dieses neue Ärgernis jemand anderem aufs Auge zu drücken. Schließlich ergab er sich in sein Schicksal, kam um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. »Kommen Sie. Wir können mein Auto nehmen. Ich fahre Sie.«

»Hören Sie, ich habe Sie nur darum gebeten, meine Mutter anzurufen.«

»Kein Problem.« Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. »Ich muss sowieso zu Ihrer Mutter.«

»Zu meiner Mutter? Warum?«

»Sie war Teil der Hochzeitsgesellschaft, also muss ich auch mit ihr reden. Da kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

Was für eine galante Art, sich auszudrücken, dachte sie.

Immer noch hielt er ihr die Hand hin. Sie ignorierte sein Hilfsangebot und kämpfte sich ohne seine Hilfe aus dem Auto. Das war gar nicht so einfach, weil ihre Schleppe sich um ihre Beine gewickelt hatte und sie sich mühsam aus dem Saum befreien musste. Als sie es endlich geschafft hatte, stellte sie fest, dass er sie sichtlich amüsiert beobachtete. Sie raffte ihre Schleppe an sich und hastete stoffraschelnd an ihm vorbei.

»Ähm, Miss Cormier?«

»Was?«, gab sie kurz angebunden zurück.

»Mein Auto steht in der anderen Richtung.«

Sie blieb stehen und spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Jetzt lächelte der Herr tatsächlich, nein, er grinste wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hatte.

»Der blaue Taurus da drüben«, erklärte er. »Die Tür ist offen. Ich bin gleich bei Ihnen.« Damit drehte er sich um und eilte zu den anderen Polizisten zurück.

Nina stolzierte zu dem blauen Taurus hinüber. Angewidert schaute sie durchs Seitenfenster. In diesem Auto sollte sie mitfahren? In diesem Schweinestall? Sie öffnete die Tür, ein Pappbecher kullerte ihr entgegen. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz lagen eine zerknüllte Tüte von McDonald’s, weitere Kaffeebecher und eine zwei Tage alte Ausgabe des Portland Press Herald. Der Rücksitz war begraben unter noch mehr Zeitungen, Aktenordnern, einer Aktentasche, einer Anzugjacke und – man sehe und staune – einem Baseball-Handschuh.

Sie sammelte den Müll auf der Beifahrerseite auf, warf ihn vor die Rücksitzbank und stieg ein. Hoffentlich war der Sitz wenigstens sauber.

Detective Kalt-wie-ein-Fisch kam auf das Auto zu. Er sah aus, als wäre ihm zu heiß, und wirkte abgehetzt. Die Hemdsärmel hatte er inzwischen hochgekrempelt, die Krawatte gelockert. Und während er versuchte, eilig wegzukommen, wurde er immer wieder von Polizisten aufgehalten, die irgendetwas von ihm wollten.

Endlich hatte er es geschafft, schob sich hinters Lenkrad und knallte die Fahrertür zu. »Okay, wo wohnt Ihre Mutter?«, fragte er.

»Cape Elizabeth. Hören Sie, ich sehe, dass Sie beschäftigt sind …«

»Mein Partner hält hier die Stellung. Ich setze Sie ab, rede mit Ihrer Mutter und mache einen Abstecher ins Krankenhaus, um mit Reverend Sullivan zu sprechen.«

»Großartig. So können Sie sogar drei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

»Ich halte viel von effizientem Arbeiten.«

Sie fuhren schweigend. Irgendwie sah sie keinen Sinn darin, sich um eine höfliche Unterhaltung zu bemühen. Für Höflichkeit hatte dieser Mann kein Gespür. Stattdessen schaute sie also aus dem Fenster und dachte verdrießlich über den Hochzeitsempfang nach, über die Häppchen, die für die Gäste bereitstanden, die niemals kommen würden. Sie würde anrufen und darum bitten müssen, dass die Lebensmittel an eine Suppenküche geleitet würden, bevor sie alle verdarben. Und dann waren da noch die Geschenke, Dutzende von Geschenken, die sich bei ihr zu Hause stapelten. Halt, nein, bei Robert zu Hause. Ihr Zuhause war es eigentlich nie gewesen. Sie hatte dort nur gewohnt, wie eine Mieterin. Es war ihre Idee gewesen, die Hypothek zur Hälfte mit abzuzahlen. Robert hatte immer wieder betont, wie sehr er ihr Unabhängigkeitsstreben respektierte, ihr Beharren auf ihrer eigenen Identität. In jeder guten Beziehung, so sagte er, teilte man sich Privilegien genauso wie Verantwortlichkeiten halbe-halbe. Und so hatten sie es von Anfang an gehalten. Wenn sie gemeinsam essen gingen, zahlten abwechselnd er und sie. Ja, sie hatte darauf bestanden, ihm zu zeigen, dass sie auf eigenen Füßen stand.

Jetzt kam ihr das alles so dumm vor.

Ich habe nie auf eigenen Füßen gestanden.Ich habe immer nur geträumt, mich nach dem Tag gesehnt, an dem ich Mrs. Robert Bledsoe sein würde. Genau darauf hatte ihre Familie gehofft, das hatte ihre Mutter von ihr erwartet: eine gute Partie zu machen. Sie hatten nie verstanden, warum Nina die Krankenpflegeschule besuchte, wenn nicht, um einen potenziellen Partner kennenzulernen. Einen Arzt. Nun, sie hatte einen kennengelernt.

Und was habe ich davon? Nichts weiter als einen Haufen Geschenke, die ich zurückgeben muss, ein Brautkleid, das ich nicht zurückgeben kann, und einen Tag, über den nie, nie Gras wachsen wird.

Es war die Demütigung, die sie am meisten erschütterte. Nicht die Tatsache, dass Robert gekniffen hatte. Nicht einmal die Tatsache, dass sie in der Kirche hätte sterben können. Die Explosion kam ihr immer noch unwirklich vor, so fern wie manche Fernseh-Melodramen. So fern wie der Mann neben ihr.

»Sie verkraften die Sache sehr gut«, sagte er.

Überrascht, dass Detective Kalt-wie-ein-Fisch etwas gesagt hatte, schaute sie ihn an. »Wie bitte?«

»Sie nehmen das alles sehr gelassen hin. Gelassener als die meisten.«

»Ich wüsste nicht, wie ich sonst reagieren sollte.«

»Nach einem Bombenanschlag wäre Hysterie nicht völlig abwegig.«

»Ich arbeite als Krankenpflegerin auf der Unfallstation. Hysterie ist mir fremd.«

»Trotzdem muss das ein Schock für Sie gewesen sein. Es kann durchaus noch zu emotionalen Nachwirkungen kommen.«

»Sie meinen, dies ist die Ruhe vor dem Sturm?«

»So in der Art.« Er sah sie kurz an, und ihre Blicke trafen sich – ganz kurz nur, dann schaute er schon wieder auf die Straße. Der Anflug von Menschlichkeit war vorbei. »Warum war Ihre Familie in der Kirche nicht bei Ihnen?«

»Ich habe sie alle nach Hause geschickt.«

»Man sollte meinen, Sie hätten sie um sich haben wollen, um wenigstens ein bisschen Rückhalt zu haben.«

Sie sah aus dem Fenster. »Meine Familie ist nicht gerade von der Rückhalt bietenden Sorte. Und ich schätze, ich wollte einfach nur … allein sein. Wenn ein Tier verletzt ist, Detective, dann zieht es sich zurück und leckt seine Wunden. Genau das hatte ich auch nötig …« Sie blinzelte gegen die unerwartet aufsteigenden Tränen an und verfiel wieder in Schweigen.

»Ich weiß, dass Ihnen jetzt nicht nach Reden zumute ist«, sagte er, »Aber vielleicht können Sie mir trotzdem eine Frage beantworten. Fällt Ihnen jemand anders ein, der Ziel dieses Anschlags gewesen sein könnte? Reverend Sullivan zum Beispiel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist der Letzte, dem irgendwer etwas würde antun wollen.«

»Es war seine Kirche. Er hätte sehr nah am Explosionsherd gestanden.«

»Reverend Sullivan ist der netteste Mensch auf Erden. Jeden Winter verteilt er Decken an die Obdachlosen auf den Straßen. Oder kümmert sich um Betten in der Obdachlosenunterkunft. Auf der Unfallstation rufen wir ihn, wenn wir uns um Patienten kümmern, die kein Zuhause haben.«

»Ich stelle nicht seinen Charakter infrage. Ich frage nach möglichen Feinden.«

»Er hat keine Feinde«, erklärte sie kategorisch.

»Und der Rest der Hochzeitsgesellschaft? Kann einer von ihnen die Zielperson gewesen sein?«

»Ich kann mir nicht vorstellen …«

»Der Trauzeuge, Jeremy Wall. Erzählen Sie mir von ihm.«

»Jeremy? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er hat gemeinsam mit Robert Medizin studiert. Arbeitet als Arzt im Maine Med. Als Radiologe.«

»Verheiratet?«

»Ledig. Überzeugter Junggeselle.«

»Was ist mit Ihrer Schwester Wendy? Sie war Ihre Brautjungfer?«

»Trauzeugin. Sie ist glücklich verheiratete Hausfrau.«

»Irgendwelche Feinde?«

»Keine, es sei denn, es gibt jemanden, der etwas gegen Perfektion hat.«

»Soll heißen?«

»Sagen wir einfach, sie ist die Traumtochter, die alle Eltern sich wünschen.«

»Im Gegensatz zu Ihnen?«

Nina zuckte die Achseln. »Wie haben Sie das erraten?«

»Na schön, jetzt bleibt noch eine Hauptperson. Die eine, die zufällig beschlossen hat, gar nicht erst zu kommen.«

Nina starrte blicklos geradeaus. Was kann ich ihm über Robert erzählen, wenn ich selbst absolut nichts über ihn weiß?