Angst ums Abendland - Daniel Bax - E-Book

Angst ums Abendland E-Book

Daniel Bax

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Beschreibung

Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor Islamfeinden fürchten sollten! Pegida. Islamischer Staat. Charlie Hebdo. Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen wird aufgehoben. Die Debatte um den Islam in Europa, um Moscheen und Mohammed-Karikaturen hört nicht auf, und von Michel Houellebecq bis Thilo Sarrazin, von Alice Schwarzer bis Marine Le Pen kommt es dabei zu ungewöhnlichen Allianzen.Aber wovor muss man Angst haben? Dieses Buch gibt eine Antwort. Wer hat Angst vorm Muselmann? rechtspopulistische Parteien wie die"Alternative für Deutschland" und Bewegungen nutzen die Abneigung gegenüber dem Islam als reibstoff. Aber Vorurteile gegenüber Muslimen und ihrer Religion sind in allen Schichten und über alle politischen Lager hinweg verbreitet - in ganz Europa. Denn die Angst vor dem Islam ist tief in der europäischen Geschichte verwurzelt. Aber eine übersteigerte Angst vor Muslimen droht die Grundlagen dessen zu zerstören, was Europa ausmachen sollte.

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DANIEL BAX

ANGST UMS ABENDLAND

Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten

eBook Edition

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-589-0© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015Satz: Publikations Atelier, DreieichDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Angst vor der Islamisierung

1 Der Albtraum der Republik? Ein Spaziergang durch Neukölln

Teil 1Eine kurze Geschichte der Islamophobie

2 Die Erfindung des Abendlandes Ein vielseitiger Kampfbegriff

3 Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit (1) Das christliche Erbe: Luther und andere Hassprediger

4 Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit (2) Voltaire und die unvollendete Aufklärung

5 Der »Kampf der Kulturen« beginnt Von Betty Mahmoody bis Samuel Huntington: Ein neues Feindbild nimmt Form an

6 Vom Ressentiment zur Ideologie Eurabien ist überall

7 Vom Wort zur Tat Von Bat Ye’or bis Breivik

8 Die Retter des Abendlandes 2.0 Die Modernisierung des Rechtspopulismus

9 Der Siegeszug der Rechtspopulisten Von rechts außen in den europäischen Mainstream

10 Die Kronzeugen Wofür Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad gut sind

Teil 2Klischees und Konflikte

11 Ist der Koran ein Buch der Gewalt? Aufklärung statt Suren-Pingpong

12 Wer ist der Martin Luther des Islam? Warum der Islam keine Reformation braucht

13 Schweineköpfe auf der Baustelle Moscheen und andere Streitigkeiten

14 Wofür steht Charlie? Karikaturen und die Grenzen der Satire

15 Wer wird hier unterdrückt? Das Kopftuch und andere Freiheiten

16 Religionskritik oder Rassismus? Der Aufstieg der falschen Antifaschisten

Teil 3Wie geht der Kulturkampf weiter?

17 Was wollen die Islamgegner? (1) Die halbherzigen Jakobiner

18 Was wollen die Islamgegner? (2) Für Kreuz und Vaterland

19 Die Steigbügelhalter des Rechtspopulismus Die Verantwortung der Medien

20 Im Dauerfeuer Wie Muslime gemacht werden – und was es mit ihnen macht

Ausblick

Was Europa zusammenhält

Literatur

Anmerkungen

Danksagung

Vorwort

Haben Sie auch Angst vor dem Islam? Wenn ja, dann sind Sie nicht alleine. Mehr als jeder Zweite in Deutschland empfindet den Islam als bedrohlich. Auch ich fürchte mich manchmal vor dem Islam. Zumindest vor dem Islam, der mir im Fernsehen und anderen Medien begegnet – dem Islam der Fanatiker, die Attentate gegen Andersdenkende begehen, oder dem barbarischen Islam der sektiererischen Bürgerkriegsmilizen, die sich »Islamischer Staat« oder »Boko Haram« nennen. Ich kenne viele Menschen, die selbst oder deren Eltern aus muslimischen Ländern stammen, und weiß, dass sie sich – egal, ob gläubig oder nicht – vor diesem Islam genauso fürchten wie ich. Und ich fürchte mich wie sie auch vor anderen Extremisten: vor Rechtsradikalen, die alle hassen, die nicht so sind wie sie. Oder vor jenen, die die berechtigte Angst vor dem Islam der Fanatiker ausnutzen, um selbst Hass zu schüren. Ich sehe mit Sorge, wie gut es ihnen gelingt, das Misstrauen gegen die Mehrheit der Muslime zu schüren, wie rechtspopulistische Parteien davon profitieren und das Klima vergiften, wie die Rechte einer religiösen Minderheit beschnitten werden und wie auch dieser Hass in Gewalt umschlagen kann. Hier, in Europa, auch in Deutschland. Davon handelt dieses Buch.

Einleitung

Die Angst vor der Islamisierung

Als Oswald Spengler begann, an seinem Buch Der Untergang des Abendlandes zu arbeiten, war er in keiner allzu guten Verfassung. »Wenn ich mein Innenleben betrachte«, schrieb der damals 31-jährige Schriftsteller und Kulturphilosoph in sein Tagebuch, »ist es ein Gefühl, das alles, alles beherrscht hat: Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor Verwandten, Angst vor Menschen, vorm Schlaf, vor Behörden, vor Gewitter, vor Krieg, Angst, Angst.« In dieser Stimmungslage schrieb er seinen Abgesang auf die westliche Zivilisation, deren unvermeidlichen Niedergang er vorhersagte.1

Spengler war 1911 nach München-Schwabing gezogen, wo er von einem kleinen Erbe lebte, er fühlte sich allein und isoliert. Aber als kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der erste Teil seines zweibändigen Hauptwerks erschien, sollte er damit ein großes Echo auslösen und in konservativen Kreisen zum intellektuellen Idol aufsteigen. Mit seiner Mischung aus Hybris und Hass auf Demokratie und Moderne wurde Spengler von vielen, die genauso empfanden wie er, als Visionär und mutiger Denker gefeiert.

Es fällt nicht schwer, in Thilo Sarrazin und anderen, ebenso reaktionären Autoren wie Éric Zemmour, dem französischen Sarrazin, die geistigen Nachfolger von Oswald Spengler zu sehen. In ihrer romantischen Verklärung der Vergangenheit, ihrem kulturpessimistischen Blick in die Zukunft und ihrem verbissenen autoritären Charakter tut sich da manche Parallele auf – vor allem aber in der Resonanz, die sie gefunden haben. Denn auch wenn ihr Werk intellektuell deutlich weniger anspruchsvoll ist, haben Sarrazin in Deutschland und Zemmour in Frankreich eine vergleichbare Wirkung entfaltet wie einst Spengler in der Weimarer Republik. Ihr Erfolg spiegelt die Krisenstimmung einer Gesellschaft wider, in der viele den Glauben an die Zukunft verloren zu haben scheinen. Der einzige Unterschied: Oswald Spengler und seine Anhänger fürchteten die Demokratie, die liberale Gesellschaft, den Kommunismus. Thilo Sarrazin, Éric Zemmour und ihresgleichen fürchten heute den Islam – aber eben auch die gesellschaftliche Vielfalt, die liberalen und verweichlichten »Gutmenschen« und ihre angeblich »falsche Toleranz«.

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der »Islamisierung«. Es regt die Fantasien von Schriftstellern wie Michel Houellebecq oder Leon de Winter an, die ihre Angstlust geradezu zelebrieren, es gießt Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Parteien in Europa, von Italien über die Schweiz bis Skandinavien, und es treibt Fußballhooligans und besorgte Bürger von Mittelengland über die Niederlande bis Köln und Dresden auf die Straße. Ein Europa, das nicht mehr von seinen christlich-abendländischen Traditionen oder aufgeklärt-säkularen Idealen geprägt wird, sondern von den Regeln eines konservativen Islam: Diese Aussicht erscheint vielen angesichts des demografischen Wandels und der zunehmenden Einwanderung als gar nicht mehr so abwegig.

In seinem Roman Unterwerfung, der 2015 erschienen ist, zeichnet der französische Schriftsteller Michel Houellebecq das Szenario eines kulturell ermatteten Frankreichs, das vor seiner muslimischen Minderheit kapituliert.2 Dank der Kollaboration der linksliberalen Eliten hat sich die ruhmreiche Sorbonne in Paris am Ende in eine »Islamische Universität« gewandelt, die von Saudi-Arabien finanziert wird, und wer dort lehrt, muss sich zum Islam bekennen. Schleichend haben sich die Polygamie und die Verschleierung durchgesetzt, die Frauen werden aus der Öffentlichkeit verdrängt und sind nur noch Heiratsmaterial. Houellebecq verbindet sein Eurabien-Szenario mit orientalistischen Haremsfantasien und pornografischen Einschüben, und man weiß nicht so genau, was daran ernst gemeint ist und was nicht.

Bei Thilo Sarrazin weiß man das leider schon. Auch er hat, am Ende seines Bestsellers Deutschland schafft sich ab, ein vergleichbares Niedergangsszenario entworfen.3 Die Selbstabschaffung Deutschlands setzt bei ihm im Jahr 2017 mit der ersten schwarz-grünen Bundesregierung ein. Im Jahr 2045 haben nach Sarrazins Schätzung bereits rund 30 Prozent der Erstwähler in Deutschland einen muslimischen Hintergrund, weshalb auf wundersame Weise schon fünf Jahre später mehr als die Hälfte aller deutschen Oberbürgermeister einen türkischen, arabischen oder afrikanischen Hintergrund haben – selbst in einer Stadt wie Weimar! Dort weigert sich das tiefreligiöse arabischstämmige Stadtoberhaupt, die historische Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek nach einem neuerlichen Brand wieder aufzubauen, weil es das Geld lieber für eine Moschee und eine Koranschule aufwenden will. Ab 2095 werden dann der Kölner Dom und viele andere Kirchen an Muslime übergeben, und das Bundesverfassungsgericht, dem viele türkisch- und arabischstämmige Richter angehören, entscheidet, dass Deutsch nicht mehr Schulsprache sein muss. Der Untergang des deutschsprachigen Abendlandes, wie wir es kennen, ist damit besiegelt.

Wenn es hingegen nach Henryk M. Broder geht, dann hieße der Bundespräsident im Jahr 2067 Mahmoud Watan-Sadr, neue Kirchtürme dürften nicht mehr das nächste Minarett überragen, und Bikinis, Pornokinos, Strip-Bars und Spielhallen wären verboten. So hat er sich das mal in einer Kolumne ausgemalt.4

Die Zukunftsvisionen von Houellebecq, Sarrazin und Broder sind, wie alle Anti-Utopien, in Wirklichkeit ein Kommentar zur Gegenwart. Ihnen allen geht es dabei nicht nur um die Muslime, die sie sich alle als eine ultrakonservative, homogene und unwandelbare Gruppe vorstellen, als eine Art Staat im Staate und damit als potentielle Gefahr. Ihre eigentliche Kritik zielt auf die Mehrheit in ihren Gesellschaften, der sie Selbstvergessenheit, Bequemlichkeit und Toleranz bis hin zur Selbstaufgabe vorwerfen. Die Pointe bei Houellebecq ist, dass er der Islamisierung Frankreichs am Ende durchaus etwas abgewinnen kann, sie erscheint ihm besser als die öde Gegenwart. Sarrazin dagegen trotzt: »Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen.«5

Sarrazin steht mit seinen Befürchtungen bekanntlich nicht alleine. Dass Europa durch eine angeblich massenhafte Einwanderung von Muslimen Gefahr laufe, sein Gesicht zu verändern, diese These haben selbst angesehene konservative Historiker wie Walter Laqueur und Bernard Lewis aufgestellt.6 Und warnt nicht auch der Ex-Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, vor einer schleichenden muslimischen Landnahme – erst in seinem Bezirk, dann im Rest der Republik? Und redet die bekannteste Feministin des Landes, Alice Schwarzer, nicht immer wieder von einer Unterwanderung Deutschlands durch Islamisten? Ganz zu schweigen von Hetzblogs wie »Politically Incorrect«, die täglich aufs Neue die Paranoia vor Muslimen befeuern?

Diese Angstpropaganda zeigt Wirkung, sie mündet nicht zuletzt in Protestbewegungen auf der Straße und in eine neue Partei, die »Alternative für Deutschland«, die bereits in mehrere Parlamente eingezogen ist. Alarmiert durch die steigende Zahl von Flüchtlingen, von denen viele aus muslimischen Ländern stammen, gingen zur Jahreswende 2014/2015 mehrere Tausend Menschen in Dresden und anderswo auf die Straße. Als »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz »Pegida«, demonstrierten sie auch gegen Politik und Medien, denen sie vorwarfen, nichts gegen diese Entwicklung zu unternehmen. Es wäre zu einfach, diese Demonstranten als Einfaltspinsel abzutun, die sich von schlichten Parolen verführen lassen. Denn wo haben sie ihre Islamangst denn her? Sicher nicht zuletzt von Bestsellerautoren wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky, die nicht nur in der Bild-Zeitung als »mutige Tabubrecher« und Klartext-Sprecher gefeiert wurden, und von anderen Stichwortgebern wie Alice Schwarzer, Udo Ulfkotte oder Necla Kelek, die seit Jahren jeweils auf ihre Weise das Schreckensbild einer schleichenden Islamisierung Deutschlands an die Wand malen.

Mit der Realität haben solche Überfremdungsängste wenig zu tun, schon rein demografisch sind sie absurd. Muslime machen in Deutschland rund 5 Prozent der Bevölkerung aus, wenn man den Begriff ziemlich weit fasst. Denn von den über achtzig Millionen Einwohnern der Bundesrepublik stammen etwa vier Millionen zumindest in zweiter Generation aus muslimischen Ländern wie der Türkei, Bosnien oder Iran. Damit ist zwar noch lange nichts darüber ausgesagt, wie religiös diese Menschen sind. Doch seit dem 11. September 2001 ist es in Mode gekommen, von all diesen Menschen als Muslimen zu sprechen, auch wenn sie Atheisten, Agnostiker oder entschiedene Säkularisten sind. Dabei sind die wenigsten von ihnen in islamischen Verbänden und Gemeinden organisiert, nur eine Minderheit lebt streng religiös. Und nichts spricht dafür, dass sie heimlich einen Gottesstaat anstreben, wie es Houellebecq, Sarrazin oder Broder unterstellen. Die »Muslimisierung der Muslime« hat die Islamwissen-schaftlerin Katajun Amirpur diese Tendenz einmal genannt, die auch zu einer Islamisierung der Integrationsdebatte geführt hat – als ob alle sozialen Probleme, von Jugendgewalt und Bildungsferne bis zu Langzeitarbeitslosigkeit, mit der Religion zu erklären wären. Nur so konnten die gewalttätigen Ausschreitungen in den Vorstädten von Frankreich und Großbritannien von manchen zu Vorboten eines ethnischen Bürgerkriegs stilisiert werden.

Deutschland liegt, was den Anteil von Einwanderern aus muslimischen Ländern und deren Nachkommen an seiner Bevölkerung betrifft, innerhalb der EU mit 5 Prozent im oberen Mittelfeld. In Nachbarländern wie Frankreich (7,5 Prozent), den Niederlanden (6,0 Prozent), Belgien (5,9 Prozent) und Österreich (5,4 Prozent) ist ihr Anteil an der Bevölkerung etwas höher, in Großbritannien (4,8 Prozent) und Schweden (4,6 Prozent) liegt er ein bisschen niedriger.7

Seriöse Prognosen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Muslime in Europa von 44,1 Millionen im Jahr 2010 bis zum Jahr 2030 auf etwa 58 Millionen erhöhen dürfte – das hieße, innerhalb von zwanzig Jahren von 6 auf 8 Prozent der Bevölkerung.8 Im Jahr 2050, so das Pew Research Center in Washington, könnten in ganz Europa die Muslime etwa 10 Prozent ausmachen. In diese Rechnung sind allerdings Russland mit seinen vielen Minderheiten und traditionell muslimisch geprägte europäische Staaten wie Albanien und Bosnien mit eingeschlossen.9

Nimmt man nur die Länder der Europäische Union, die Schweiz und Norwegen einmal mitgerechnet, dürfte die Zahl der Muslime hier von 18,2 Millionen im Jahr 2010 auf 29,8 Millionen im Jahr 2030 steigen – und damit von 4,5 Prozent auf 7,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Denn die Geburtenrate der muslimischen Einwanderer in Westeuropa nähert sich immer mehr dem Durchschnitt der Mehrheitsbevölkerung an – so, wie in muslimisch geprägten Schwellenländern wie der Türkei und Iran die Geburtenrate mit wachsendem Wohlstand stark eingebrochen ist. Wie man es auch dreht und wendet: Die Einwanderer, die meist seit den 1960er Jahren als Arbeitsmigranten nach Westeuropa gekommen sind, sind eine Minderheit, und sie werden das auch in Zukunft bleiben.

Durch die Muslime hat ihre Religion, der Islam, in Europa zweifellos an Gewicht gewonnen. Auch wenn sie eine Minderheit sind, stellen sie mancherorts schon die zweit- oder drittgrößte Religionsgemeinschaft. Das macht es nötig, das Verhältnis von Staat und Religion, das in Westeuropa nach Jahrhunderten oft blutiger Auseinandersetzungen zu seiner jetzigen Form gefunden hat, neu zu überdenken. Länder wie England und Dänemark besitzen noch immer eine Staatskirche, und in Norwegen und Schweden wurde sie zumindest formal erst vor kurzem abgeschafft.10 Dänemark ist eines der kulturell einheitlichsten Länder Europas, vier von fünf Dänen gehören bis heute ihrer Staatskirche an – vermutlich mit ein Grund, warum die Debatte um Einwanderung und den Islam dort besonders scharf geführt wird. Auch anderswo besitzen die Kirchen noch immer viel Einfluss und viele Privilegien. Italien hat den Katholizismus als Staatsreligion erst 1984 abgeschafft, und in Spanien und Belgien besitzt die katholische Kirche ebenfalls noch eine Vormachtstellung. In Frankreich dagegen gilt seit 1904 das Gebot einer strikten Trennung von Staat und Religion, das aber die einzelnen Religionsgruppen ganz unterschiedlich trifft, denn das katholisch geprägte Bürgertum hat seine eigenen Strukturen etabliert. Nur in Österreich ist der Islam bereits seit 1912 als Religion anerkannt – ein Erbe aus jener Zeit, als Bosnien noch zum Reich der Habsburger gehörte und neben Militärpfarrern und -rabbinern auch Militärimame in seiner Armee dienten.

Nun müssen sich all diese Länder auf eine größere religiöse Vielfalt einstellen. Und während die christlichen Kirchen überall an Auszehrung und Mitgliederschwund leiden, nehmen Moscheen im Stadtbild zu. Das kann Christen zu der irrigen Annahme verleiten, die Kräfteverhältnisse könnten sich irgendwann umdrehen, während es Atheisten irritiert, dass der Trend der Säkularisierung offenbar nicht zwangsläufig ist, wie viele in ihrem Fortschrittsoptimismus einmal geglaubt haben. Weil die Mehrheit der Muslime in Europa in Städten und Metropolen lebt, ist der Islam dort besonders sichtbar. In den Großstädten und Ballungsgebieten zeigen sich auch andere gesellschaftliche Veränderungen am deutlichsten: Einwanderung, Globalisierung, Wertewandel, räumliche und soziale Segregation. Muslime sind zu einem Symbol dieser Veränderungen geworden – und für manche zum Sündenbock. Das ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung und eines Unbehagens an der Gegenwart, für die der Islamhass ein Ventil geworden ist.

Egal, wie man dieses Phänomen nun nennt, ob Islamophobie, Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit oder antimuslimischen Rassismus: Es ist längst mehr als nur ein dumpfes Vorurteil oder reines Ressentiment. Spätestens seit dem 11. September 2001 ist daraus eine richtiggehende Ideologie der Ungleichwertigkeit geworden – ein Gedankengebäude, mit dem sich argumentativ schlüssig begründen lässt, warum Muslimen nicht die gleichen Rechte wie anderen gewährt werden sollten. Es ist eine Ideologie, die ihre Vordenker, Spindoktoren und Propagandisten hat und die ihre speziellen Schlagworte und ihr eigenes Vokabular besitzt. Es ist eine Ideologie, die verschiedene Denkschulen kennt und Parteien, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Damit weist sie Parallelen zu anderen Ideologien aus der Vergangenheit auf, mit denen früher anderen Gruppen die Gleichberechtigung verwehrt wurde.

Die Angst vor der Islamisierung des Abendlandes ist nicht der erste Fieberschub, der westliche Gesellschaften erfasst hat. Nach den rassistisch konnotierten Warnungen vor einer »gelben Gefahr«, mit der die europäischen Kolonialmächte an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Furcht vor Aufständen der Völker Ostasiens schürten, und nach der »roten Gefahr«, mit der konservative Kreise in den Staaten des Westens in schrillen Tönen vor einer Eroberung, Unterwanderung oder Zersetzung ihrer Gesellschaften durch den kommunistischen Ostblock warnten, nun also die »grüne Gefahr« – die Panik vor einer islamischen Unterwanderung oder gar Machtübernahme.

Im ersten Teil dieses Buchs wird nachgezeichnet, auf welchen Geschichtsbildern die Bedrohungsängste von heute aufbauen und in welchen teils jahrhundertealten Vorurteilen sie wurzeln: eine kurze Ideengeschichte der Islamfeindlichkeit. Warum muss man dafür so weit ausholen? Weil es die Tendenz gibt, die Geschichte so umzuschreiben, dass sie sich in einen simplen »Clash der Kulturen«-Rahmen fügt. Das Wissen um den jahrhundertelangen Austausch und das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen sowie Muslimen und Juden wird von aktuellen Feindbildern überlagert. Und mancher moderne »Islamkritiker« bedient sich, wenn er gegen den Islam und dessen Propheten Mohammed polemisiert, der gleichen Bilder und Begriffe wie ein katholischer Theologe aus dem Mittelalter.

Die Islamfurcht hat in den Gesellschaften Europas in den letzten Jahren deutliche Spuren hinterlassen. Rechtspopulistische Parteien in ganz Europa schüren die Furcht vor dem Islam für ihre Zwecke. Mit ihren Forderungen bestimmen sie die Agenda, und einige haben sie bereits durchgesetzt. Die deutsche Debatte um Integration und Islam steht nicht für sich alleine, sie ist kein Ausdruck einer spezifischen »German Angst«, sondern hängt eng mit den Debatten in anderen westlichen Ländern zusammen. Denn die Szene der Islamgegner ist gut vernetzt, und zwischen manchen Protagonisten bestehen zum Teil enge Verbindungen.

Im zweiten Teil geht es um die Klischees und stereotypen Behauptungen, welche die Debatte um den Islam in Europa prägen. Ist der Koran ein Buch der Gewalt? Braucht der Islam eine Reformation, einen Martin Luther? Sind Moscheen ein Zeichen aggressiver Landnahme? Ist das Kopftuch ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau? Und ist es wirklich die Meinungsfreiheit, die verteidigt wird, wenn es um das Recht geht, Mohammed-Karikaturen zu zeichnen? Worum geht es in den Konflikten, die sich an solchen Fragen entzünden? Dabei geht es nicht darum, den Islam zu verteidigen, sondern darum, die Dinge in eine andere Perspektive zu rücken.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Frage, wohin der Kulturkampf um den Islam in Europa führt. Denn die Angst vor dem Islam hat seltsame Bündnisse entstehen lassen. Sie hat Säkularisten, die sich eine stärkere Trennung zwischen Staat und Religion wünschen, mit konservativen bis fundamentalistischen Christen zusammengeführt, die um die Vormachtstellung des Christentums fürchten, und einen Schulterschluss von altgedienten Feministinnen mit neuen Rechten, die eine Rückkehr zur traditionellen und patriarchalen Familie propagieren, mit sich gebracht. Während die einen um die Errungenschaften von 1968 fürchten, arbeiten andere an der Restauration eines imaginären Abendlandes. Zusammen passt das zwar nicht, aber das wird vom gemeinsamen Feindbild Islam überdeckt. Deshalb geht es in dieser Debatte nicht nur um Muslime und den Islam. Es geht auch um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir alle in Zukunft leben wollen.

Um darauf eine Antwort zu finden, beginnt dieses Buch mit einem Ausflug in den Stadtteil, der wie kein anderer zum Symbol für eine angeblich gescheiterte Integration in Deutschland geworden ist: in den Berliner Bezirk Neukölln.

1 Der Albtraum der Republik? Ein Spaziergang durch Neukölln

Der kleine Kreis, der sich im Kulturhaus der Neuköllner Şehitlik-Moschee versammelt hat, besteht aus jungen Juden, Christen, Muslimen und Atheisten. Jeder hält einen Becher mit Traubensaft in der Hand, der angehende Rabbiner Armin Langer rezitiert das obligatorische Gebet, ein Gefäß mit Gewürzen wird herumgereicht und eine Hawdala-Kerze mit zwei Dochten entzündet, so dass sich deren Flammen vereinigen. Mit dieser Zeremonie begehen religiöse Juden jeden Samstag bei Einbruch der Dunkelheit das Ende des Sabbats. Die Mädchen mit den Kopftüchern kichern, im Hintergrund ertönt der Ruf des Muezzins. Es ist der muslimische Fastenmonat Ramadan, und die Moschee füllt sich mit Besuchern. Zugleich findet an diesem Wochenende das Kunstfestival »48 Stunden Neukölln« statt, und die Salaam-Schalom-Initiative hat dazu in die Neuköllner Şehitlik-Moschee eingeladen: zum gemeinsamen Ramadan-Fastenbrechen und dem jüdischen Sabbat-Ritual.

Die Şehitlik-Moschee ist die größte und schönste Moschee Berlins. Im osmanischen Stil erbaut sind ihre Minarette schon von weit her zu sehen. Sie grenzt an den größten Park der Hauptstadt, das ehemalige Rollfeld des Flughafens Tempelhof. Im Frühjahr hat die Moschee ein neues Begegnungszentrum eröffnet, mit orientalischem Diwan und Springbrunnen im Innenraum. Er dient der Salaam-Schalom-Initiative gelegentlich als Treffpunkt. »Wir verstehen uns nicht als interreligiöse Gruppe, sondern als politisches Bündnis«, stellt Hannah Tzuberi klar: »Wir wollen dem Bild entgegenwirken, dass Juden und Muslime sich gegenseitig hassen und dass Neukölln für Juden ein besonders gefährliches Pflaster wäre.«

Berlin-Neukölln? Ist das nicht dieser Stadtteil, der von arabischen und türkischen Familienclans beherrscht wird? In dem angeblich voll verschleierte Gestalten durch die Straßen huschen und Jungmachos den Kiez beherrschen? Wo christliche Schüler auf den Schulhöfen als »Schweinefleischfresser« beschimpft und angespuckt werden und die Polizei schon ganze Reviere aufgeben musste, weil eine islamische Paralleljustiz das Ruder übernommen hat, wie es nicht nur manche Boulevardzeitungen in Großbuchstaben behaupten? Wo Juden mit Kippa nicht vor Übergriffen sicher sind, wie manche jüdische Verbandsvertreter beklagen?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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