Angst und Angstmacherei - Markus Marterbauer - E-Book

Angst und Angstmacherei E-Book

Markus Marterbauer

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Beschreibung

Wie bezahlen wir die wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Krieg? Markus Marterbauers und Martin Schürz’ Plädoyer für einen besseren Sozialstaat

Neoliberale Wirtschaftspolitik betrachtet Angst als mobilisierenden Faktor. Sie schürt Angst vor Altersarmut, sozialem Abstieg und dem bevormundenden Staat. Doch ist es das, was wir angesichts von Pandemie, Krieg und Klimakrise brauchen? Markus Marterbauer und Martin Schürz plädieren für eine Wirtschaftspolitik, die begründeten Ängsten gezielt entgegenwirkt, die Verängstigten bestärkt, Hoffnung weckt und Freiheit schafft. In einer Gesellschaft, in der Wenige Milliarden besitzen, darf es keine Armut geben, und es darf nicht mit Angstmacherei Politik betrieben werden. Ein Plädoyer für hohe Mindeststandards in einem besseren Sozialstaat, Löhne, von denen man gut leben kann, und eine Begrenzung des Reichtums.

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Über das Buch

Wie bezahlen wir die wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Krieg? Markus Marterbauers und Martin Schürz’ Plädoyer für einen besseren Sozialstaat Neoliberale Wirtschaftspolitik betrachtet Angst als mobilisierenden Faktor. Sie schürt Angst vor Altersarmut, sozialem Abstieg und dem bevormundenden Staat. Doch ist es das, was wir angesichts von Pandemie, Krieg und Klimakrise brauchen? Markus Marterbauer und Martin Schürz plädieren für eine Wirtschaftspolitik, die begründeten Ängsten gezielt entgegenwirkt, die Verängstigten bestärkt, Hoffnung weckt und Freiheit schafft. In einer Gesellschaft, in der Wenige Milliarden besitzen, darf es keine Armut geben, und es darf nicht mit Angstmacherei Politik betrieben werden. Ein Plädoyer für hohe Mindeststandards in einem besseren Sozialstaat, Löhne, von denen man gut leben kann, und eine Begrenzung des Reichtums.

Markus Marterbauer Martin Schürz

Angst und Angstmacherei

Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht

Paul Zsolnay Verlag

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Markus Marterbauer, Martin Schürz

Impressum

Inhalt

Hoffnung gegen Angst

Angst und Wirtschaftspolitik

Sozialstaat mindert Ängste

Sinnerfüllte Erwerbsarbeit

Löhne, von denen man gut leben kann

Eine Politik für Null Armut

Angst vor dem Unbehaustsein

Zur fernen Welt der Milliardärinnen und Milliardäre

Vermögenssteuer stärkt Sozialstaat und Demokratie

Erbschaftssteuer: Angst vor dem Tod oder Furcht vor einer Bagatelle?

Grenzen gegen die Angst

Literaturverzeichnis

Hoffnung gegen Angst

Angst trifft die Menschen in Zeiten von Pandemie und Krieg unvermittelt. Der mit den hohen Energiepreisen verbundene markante Anstieg der Lebenshaltungskosten verschärft die ohnehin schwierige soziale Lage der Armen und der unteren Einkommensgruppen eklatant. Einschränkungen der Kaufkraft sind bis weit in die Mitte der Gesellschaft spürbar. Unter den Auswirkungen des Klimawandels, der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der vielfältigen gesellschaftlichen Spaltungen leiden tendenziell alle. Doch die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich nicht für alle. Es gibt auch einige, die viel gewinnen.

Die fünf Tech-Riesen Apple, Microsoft, Tesla, Amazon und Alphabet erzielten allein im Jahr 2021 einen Gewinn von 271 Milliarden Dollar, um 40 Prozent mehr als 2019. Die zehn reichsten Milliardäre der Welt besitzen etwa gleich viel Vermögen wie die ärmsten 40 Prozent der Menschheit. Allein Amazon und Google gaben in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 7,5 Millionen Dollar für offenes Lobbying in der US-Politik und vermutlich noch mehr an indirekten Zahlungen aus. Die indische Ökonomin Jayati Ghosh von der Universität Massachusetts nimmt diese Zahlen zum Anlass, eine Besteuerung der Übergewinne dieser »Vampirgesellschaften« und des Überreichtums der Milliardär:innen zu verlangen (Ghosh 2022). Während die einen viel zu wenig haben, um halbwegs gut leben zu können, haben die anderen viel zu viel. Sie haben nicht nur zu viel an Gewinnen und Vermögen, sondern auch ein Übermaß an Macht, welche sie in Wirtschaft, Medien und Politik einsetzen, um die Gesellschaft zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der großen Mehrheit zu lenken.

In der Wirtschaftsforschung schlägt sich diese gesellschaftliche Herausforderung bislang kaum nieder. Die Gleichzeitigkeit von Bedrohung der einen und wachsendem Überreichtum der anderen, von einem Viel-zu-Wenig und einem Viel-zu-Viel, von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Polarisierung wird negiert. Sie wäre mit gesellschaftspolitischen Wertungen verbunden, und diese werden in den Wirtschaftswissenschaften nur ungern einbekannt. Politik wird verächtlich gemacht und dabei übersehen, dass bereits die Entscheidung, zu welchen Themen geforscht und welchen Fragestellungen nicht nachgegangen wird, auch auf subjektiven Wertungen der Forschenden basiert. Viele Ökonominnen und Ökonomen ziehen sich in eine vermeintlich unpolitische Modellwelt des allgemeinen Gleichgewichts zurück und treffen ad hoc Annahmen zum Verhalten von Menschen. Damit tragen sie zur Verteidigung eines fragwürdigen gesellschaftlichen Status quo bei, weil die eminenten Fragen nach Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit, sinnerfüllter Arbeit und Freiheit keine Rolle spielen. Eine Auseinandersetzung mit den Ängsten und Hoffnungen der Leute passt nicht in ihre Denkkategorien. Die Wirtschaftsforschung negiert allzu oft die Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung und ihren möglichen Beitrag dazu.

In den Anfängen der modernen Ökonomie war das nicht so. Für Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx und John Stuart Mill, die großen Begründer der klassischen Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts, war es selbstverständlich, Analysen der wirtschaftlichen Zusammenhänge in Kombination mit philosophischen und moralischen Überlegungen zu verfolgen. Sie scheuten keine Werturteile. Heute sind es die Franzosen Thomas Piketty, Gabriel Zucman, der Amerikaner Dani Rodrik oder die Bulgarin Stefanie Stantcheva und viele ihrer Kolleg:innen, welche die Erforschung unseres Wirtschaftssystems mit Fragen der politischen Veränderbarkeit und konkreten Vorschlägen zu gesellschaftlichen Reformen verknüpfen.

Gesellschaftskritische Ökonomie sieht sich nicht als Naturwissenschaft, sondern als Teil der Sozialwissenschaften. Sie leistet eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und zielt auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, vor allem der Benachteiligten. Das ist mit expliziten normativen Wertungen verbunden: Eine deutliche Verringerung der Vermögensbestände der Reichen würde eine effektive Bekämpfung von Armut ermöglichen. Die Einschränkung der individuellen Mobilitätswünsche vom Kurzausflug in den Weltraum bis zum Ankerplatz der Luxusyacht kann ein kleiner Teil des Kampfes gegen den Klimawandel sein.

Wir legen in diesem Buch vorab unsere gesellschaftspolitischen Ziele offen: soziale Gerechtigkeit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, hohe Lebensqualität und mehr Freiheit für alle. Wir stehen in den sozialen Auseinandersetzungen auf der Seite der sozial Benachteiligten und der von Ängsten gequälten Menschen.

»Wenn man die Welt ändern will, muss man die Wirtschaft ändern«, meinte der große österreichische Ökonom Kurt Rothschild. Gesellschaftskritische Ökonomie zielt daher auf konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge, die Leid reduzieren und Ängste mildern, die die Lebensbedingungen der Armen und der arbeitenden Bevölkerung verbessern, die Sicherheit geben und Vertrauen schaffen, die einen angstfreien und solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern und aus denen Hoffnung und Freiheit entstehen können.

Wir halten jedoch nichts von der in der Wirtschaftsforschung weit verbreiteten Attitüde paternalistischer Problemlösung. Forschungsergebnisse verweisen auf Probleme, aber sie weisen noch nicht den Weg zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensprobleme. Zu schnell geht es manchen Expertinnen und Experten darum, Anreize für die Arbeitsaufnahme durch Leistungskürzungen festzulegen oder mittels »kleiner Stupser« die Menschen zu einem adäquaten Verhalten zu dirigieren. Soziale Fragen sind jedoch meist komplex, und wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse fallen nicht mit den konkreten Lebenserfahrungen der Leute zusammen. Wissenschaftliche Erkenntnis kann nicht einfach in lebensweltliche Orientierung übersetzt werden. Wirtschaftspolitische Empfehlungen müssen stets im historischen und sozialen Kontext reflektiert werden. Interessengegensätze und ungleiche Verteilung von politischer und ökonomischer Macht sind zentral. Gerade die so gerne mit wissenschaftlicher Gewissheit vorgebrachten Empfehlungen der ökonomischen Fachleute erfüllen uns immer wieder mit Skepsis. Ihnen fehlt allzu oft die kritische Reflexion der Grenzen des eigenen Fachwissens und der implizit vorhandenen persönlichen Werturteile.

Die Wirtschaftspolitik ist heute von der Idee bestimmt, dass Verhaltensanreize Menschen in die richtige Richtung lenken sollen. Wir sehen das kritisch. Denn in der Praxis bedeutet das eine Erhöhung des wirtschaftlichen Drucks und der sozialen Not. Die neoliberale Idee eines degressiven Arbeitslosengeldes, das den Sozialtransfer mit der Dauer der Arbeitslosigkeit absenkt, soll Anreize zur Aufnahme von Arbeit setzen. In der Realität zwingt sie Menschen entweder zur Annahme mieser Jobs, von denen sie nicht leben können, oder verschärft die ohnehin horrende Armut unter den Arbeitslosen. Die Menschenverachtung dieser Ideen ist offensichtlich. Sie stammen aus dem Laboratorium ökonomisch bessergestellter Eliten, die sich weder mit den Lebensrealitäten der Armen noch jenen der Beschäftigten auseinandergesetzt haben. Das fundamentale Recht auf politische Gleichheit würde bedeuten, dass die Benachteiligten an politischen Entscheidungen tatsächlich teilhaben. Sie hätten dann etwa auch die Chance, Verhaltensanreize für die Reichen zu formulieren. Die Wirtschaftswissenschaft müsste jedenfalls bereit sein, vernachlässigte Themen wie Elend und soziale Beschämung, Angst und Furcht einer demokratischen Befassung zuzuführen.

Wir betrachten die Ängste und Hoffnungen der Leute in zwei unterschiedlichen Welten: in der des Einkommens und in der des Vermögens. In der Einkommenswelt lebt die überwiegende Mehrheit der Menschen von ihrem Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Arbeit. Nur sehr Reiche können von ihrem Einkommen aus dem Besitz an Aktien, Immobilien und Unternehmen leben. Arme, Arbeitslose und Pensionist:innen leben von Sozialtransfers. In der Einkommenswelt dominieren Lebenserfahrungen der Lohnarbeit. Die Löhne finanzieren den größten Teil des Sozialstaates. Die Schaffung des Sozialstaates war eine Antwort auf die Verwerfungen des Kapitalismus, auf die unvermeidbaren Gefahren des Lebens und die durch sie ausgelösten Ängste. Der Sozialstaat bedeutete enormen gesellschaftlichen Fortschritt. Doch es bestehen auch eklatante Schwächen und vielfältige Widersprüche. Viele Risiken im Leben werden durch das Sozialversicherungssystem abgedeckt. Hierzu zählen Unfälle und Krankheit ebenso wie die mit Lohnarbeit verknüpften Notlagen von Arbeitslosigkeit und einer mangelnden Absicherung im Alter. Soziale Dienste vom Kindergarten bis zur Gemeindewohnung erhöhen die Lebensqualität entscheidend. Doch andere Gefahren wie fehlende Pflegeversorgung, Armut trotz Erwerbsarbeit, Kinderarmut oder fehlende Versorgung bei psychischen Erkrankungen verlangen nach tiefgehenden Veränderungen im Sozialstaat.

Soziales Wohlergehen benötigt mehr als Geld. Die materiellen Lebensbedingungen sind wichtig, doch sie zählen nicht allein. Es  ist das subjektive Lebensgefühl, das erst Zufriedenheit und Glück ermöglicht. Deshalb sind etwa die Almosen reicher Philanthrop:innen für Arme zwar vielleicht gut gemeint, doch von ihnen gehen keine Rechte und daher keine Sicherheit aus. Und allzu oft beschämen sie die Empfänger:innen tiefgehend. Ebenso kann ein politischer Zwang zur Lohnarbeit Menschen entwürdigen, und zwar nicht nur jene, die zu etwas Ungewolltem gezwungen werden, sondern auch jene, die den Zwang ausüben.

Neben der Welt von Einkommen und Sozialstaat steht die Welt des Vermögens. In ihr dominieren die Vorstellungen und Interessen von Überreichen, denn große Vermögen sind auf wenige konzentriert. Ihr Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Kultur ist groß. Diese Schieflage in der gesellschaftlichen Machtverteilung gefährdet solidarische Lösungen der gesellschaftlichen Probleme und stellt in fundamentaler Weise die Demokratie in Frage. Der exorbitante Reichtum in der Gesellschaft zeigt, dass die Bewältigung der großen Krisen, von jener des Klimawandels bis zu jener der sozialen Ungleichheit, nicht an der Finanzierung scheitern müsste. Geld ist genug da. Der Sozialstaat ist nicht unfinanzierbar. Aber die Finanzierungsstruktur muss verändert werden. Armut kann beendet werden, aber die dafür notwendigen Verteilungskämpfe müssen geführt werden.

Miese Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, anhaltende Arbeitslosigkeit, tiefe Kinderarmut, fehlende Gesundheitsversorgung und Pflegemisere im Alter sind nicht unvermeidlich. Exzessiver Reichtum und exzessive Privilegien der Reichen sind kein unvermeidbares factum brutum. In einer funktionierenden Demokratie ist die Einigung auf eine Begrenzung des Reichtums denkmöglich. Ein die Ängste mildernder Sozialstaat für alle kann geschaffen und weiterentwickelt werden. Die Ohnmacht der vielen angesichts der exorbitanten Macht der wenigen ist verständlich, aber ein Naturgesetz ist sie nicht. Eine gelebte Demokratie der Hoffnung und Angstbewältigung ist die relevante Einspruchsinstanz. In ihr wird es möglich, die vielfältigen und auch widersprüchlichen Interessen der Mehrheit zu einer solidarischen Reform des Wirtschaftssystems und der Gesellschaft zu formen.

Unsere wirtschaftspolitischen Überlegungen stellen die Lebenserfahrungen der Menschen in den Mittelpunkt. Wir gehen von subjektiven Wahrnehmungen aus und rücken Angst ins Zentrum unserer Überlegungen, weil diese das Leben der Menschen erschüttert. Angst entsteht aus einem Ausgeliefertsein gegenüber den Interessen der Mächtigen, aus Armut und fehlender Absicherung. Angst stellt aber auch die elementare Voraussetzung für das Bestehen der Herrschaft der Mächtigen dar. Mit Angstmacherei werden die Armen und die Arbeitenden kleingehalten und zu einem bestimmten Verhalten genötigt.

Wir bauen unsere Überlegungen auf dem theoretischen Ansatz eines Liberalismus der Furcht der amerikanischen Politologin Judith Shklar auf. Daraus ergibt sich eine emanzipatorische Perspektive der Wirtschaftspolitik. Ihre Aufgabe ist es, zuallererst die Ursachen von Angst zu bekämpfen. Die Leute müssen in die Lage versetzt werden, wichtige Entscheidungen ohne Furcht zu treffen. Es geht deshalb um solidarische Begrenzungen, um Untergrenzen im Sozialstaat und Obergrenzen beim Privatvermögen, die die Menschen ermächtigen.

Wir setzen an den vielfältigen Verwerfungen der kapitalistischen Verhältnisse an und analysieren konkrete Erscheinungsformen von Ängsten. Wir loten das Veränderbare im Bestehenden aus. Deshalb ist der Horizont unserer Ideen zu den Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb der kapitalistischen Grundordnung ein begrenzter.

Wir arbeiten Reformvorschläge aus, die an konkreten sozialen Problemen ansetzen. Unsere Ideen wollen erste Schritte nach vorne weisen. Sie sind erweiterbar und lehnen sich an das von Dani Rodrik und Stefanie Stantcheva entwickelte Modell einer »Politik für inklusive Prosperität« an. Dieses ermöglicht einen reformatorischen Zugang in unterschiedlichen Bereichen des Wirtschaftslebens und für unterschiedliche soziale Gruppen. Die Umsetzung einzelner Politikmaßnahmen ermöglicht nächste konkrete Schritte ebenso, wie sie eine Vision jenseits des kapitalistischen Rahmens erlaubt. So kann eine gesellschaftskritische Ökonomie eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft zumindest denken. Zukunftsoffenheit und Unabgeschlossenheit sind elementar. In der Geschichte findet sich keine unvermeidbare Entwicklung in eine bestimmte Richtung.

Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus ist evident. In einer liberalen Demokratie hat jede Bürgerin und jeder Bürger eine Stimme. Doch im Kapitalismus sind es die Menschen mit mehr Vermögen, welche den Gang der Geschichte beeinflussen. Einer Herrschaft von Überreichen, einer reichtumsfreundlichen Politik und einer Verherrlichung marktradikaler wirtschaftspolitischer Positionen werden in diesem Buch Daten und Argumente entgegengesetzt. Dies tun wir jedoch ohne zu glauben, dass es in der Wirtschaftspolitik allein um einen machtfreien Wettstreit der besten Ideen geht. Fragen der Macht und ihrer Verteilung können in Politik und Gesellschaft niemals ausgeblendet werden.

Minouche Shafik, Direktorin an der London School of Economics and Political Sciences, skizziert in ihrem weltweiten Bestseller Was wir einander schulden die Konturen eines Gesellschaftsvertrags für das 21. Jahrhundert. Sie konstatiert: »Wir leben zunehmend in ›Du bist auf dich allein gestellt‹ Gesellschaften, eine Situation, die sich in politischer Wut, einer Epidemie psychischer Probleme und der Angst von Jung und Alt um ihre Zukunft niederschlägt.« (Shafik 2021, S. 247)

Um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen, ist es heute unverzichtbar, die ökonomische, politische und kulturelle Macht der Überreichen zu brechen. Das kann nur gelingen, wenn der Schein der Ideologien, auf denen diese Macht aufbaut, durchbrochen wird. Es gilt die Vorstellung zu entzaubern, eine wirtschaftspolitische Förderung des Reichtums würde durch unsichtbare Mechanismen schlussendlich auch der arbeitenden Bevölkerung zugutekommen. Die Vorstellung einer »Trickle down economics« entpuppte sich als leeres Versprechen, das in Wahrheit nur eine Besserstellung der Vermögenden im Auge hatte. Kulturell sind die Mären vom Reichwerden auf Basis von Leistung, Risiko und Innovation immer noch wirkungsmächtig. Politisch zielen die Freiheitsvorstellungen von Vermögenden und ihrer Vermögensverteidigungsindustrie auf eine Heiligsprechung von Privateigentum und eine Zurückdrängung demokratischer Anliegen. Doch die Vermögensmehrung basiert immer mehr auf Erbschaften und unlauteren Machenschaften. Vermehrt werden Steuerhinterziehungen, Klüngeleien und Korruption über Whistleblower und kritische Journalist:innen sichtbar gemacht.

Eine Wirtschaftspolitik der Hoffnung setzt auf Maßnahmen zugunsten der vielen und begrenzt den Reichtum der wenigen. Die Freiheit der vielen basiert auf sozialer Sicherheit durch Untergrenzen, Mindeststandards im Sozialen und Ökonomischen, sowie Obergrenzen bei Demokratiegefährdung durch Überreichtum. So ermöglicht sie ein selbstbestimmtes Leben.

Auch innerhalb der Erwerbsarbeit gilt es, mehr Momente der Freiheit zu eröffnen. Das kann die Mitbestimmung über die eigene Tätigkeit und den eigenen Arbeitsplatz ebenso betreffen wie die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Dabei geht es primär um das gesellschaftspolitische Ziel, mehr frei verfügbare Zeit für die wichtigen Dinge im Leben zu erreichen. Die Erwerbstätigkeit gewährt den Menschen heute nicht so viel an Freiheit, wie möglich wäre. Wäre Lohnarbeit für alle sinnerfüllt, dann wären die Zumutbarkeitsbestimmungen und Sanktionen des AMS nicht notwendig. Doch viele der Jobs, die heute wegen »Arbeitskräftemangel« nicht zu besetzen sind, bieten unzumutbare Arbeitsbedingungen, schlechte Löhne und inakzeptable Ausbeutungsverhältnisse. Wir zeigen, mit welchen Mitteln die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verändert, die Rechte und Potentiale von Arbeitslosen und Erwerbstätigen gestärkt werden können.

Der marxistische Psychoanalytiker Erich Fromm hat soziale Minimalrechte anschaulich beschrieben: Das Recht, welches jede Besitzer:in eines Hundes oder einer Katze dem Haustier zugesteht, kann Menschen wohl kaum verweigert werden. Haustiere müssen keine Leistung nachweisen, um gefüttert zu werden (Fromm 1989a, S. 353). Alle Menschen haben das unveräußerliche Recht zu leben. Das umfasst auch ein Recht auf Wohnen und gesundheitliche Absicherung.

Ein emanzipatorischer wirtschaftspolitischer Ansatz hat eine klare Ausrichtung: Er will Angst mindern und Freiheitsräume erweitern. Das ermöglicht und verstärkt Hoffnungen auf ein besseres Leben. Von neoliberaler Seite wird suggeriert, bei Freiheit gehe es allein um den Abbau staatlicher Beschränkungen. Das ist historisch begründet, weil Freiheit gegen die Macht von absolutistischem Herrscher und Aristokratie erkämpft werden musste. Und es hat auch heute etwas für sich, wenn es um das Schikanieren der Bezieher:innen von Sozialhilfe geht, um die Behandlung der Bürgerinnen und Bürger als Bittsteller:innen auf staatlichen Ämtern, um autoritäre Anwandlungen bei der Polizei und staatlichen Überwachungsapparaten, um Regulierungen der Märkte zugunsten der großen Konzerne. Freiheit für die Bevölkerung braucht mehr, sie hat Voraussetzungen. Ausreichendes Einkommen etwa durch Mindestlöhne, Sicherheit etwa durch eine Sozialversicherung, Versorgung mit den Basisdiensten etwa durch das soziale Gesundheits-, Bildungs- und Pflegesystem. Doch die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger wird heute von der Konzentration von Eigentum und Macht bei den Milliardär:innen gefährdet. Emanzipatorische Wirtschaftspolitik sucht Herrschaft zu überwinden, Selbstbestimmung an Stelle von Fremdbestimmung zu setzen und Unterdrückung nicht zu dulden. Das schafft Hoffnung auf ein besseres Leben.

Für dieses Buch haben wir Gespräche mit sechs Personen geführt. Diese bringen ihre eigene Weltsicht ein, berichten von ihrem gesellschaftlichen Engagement, ihren Hoffnungen und Ängsten. Unsere Gesprächspartner und -partnerinnen zeigen auch Perspektiven auf, die quer zu unseren eigenen liegen. Damit ergänzen sie oder problematisieren sie unsere Sichtweisen. Aber in jedem Fall unterstreichen sie unsere Vorstellung von einem konstruktiven Miteinander von unterschiedlichen Gedanken und Handlungen. Auch wir als die beiden Autoren von Angst und Angstmacherei haben in manchen Fragen divergierende wirtschaftspolitische Ansichten und gesellschaftspolitische Überzeugungen. Aus diesen unterschiedlichen Positionen entstand beim Schreiben teils ein datenbegründeter Konsens und dann und wann auch ein reflektierter Dissens. Einhellige ökonomische Erkenntnis wäre sowieso schwierig, weil sie ein viel zu ambitioniertes Ziel in einer zerrissenen Gesellschaft ist. Die Bereitschaft, sich auf andere Menschen einzulassen und gelebte Widersprüche auszuhalten, ist von elementarer Bedeutung.

Unser beider Weltsichten, welche in dieses Buch einfließen, basieren auf vielerlei: Die akademische volkswirtschaftliche Ausbildung ist nur eine Quelle und sicher nicht die wichtigste. Die soziale Herkunft und Kindheitserfahrungen, unterschiedliche Temperamente, frühe Erfahrungen in manueller Lohnarbeit und mit dem Sozialstaat formten uns ebenso wie Arbeit in unterschiedlichen Institutionen und politisches Engagement. Alle diese persönlichen Aspekte unterscheiden uns auch im Alter voneinander.

Während der eine Autor des Buches durch postkeynesianische wirtschaftstheoretische Zugänge geprägt wurde, waren es beim anderen die Leseerfahrungen spätmarxistischer kritischer Theorie. Und während Ersterer als Berater der Wirtschaftspolitik die Sorgen und Interessen der arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt rückt, bewegen den anderen individuelles Leid, erfahren in seiner psychotherapeutischen Arbeit mit materiell armen und traumatisierten Kindern.

Beide fungieren wir seit langem als Experten in wirtschaftspolitischen Institutionen, und dort geht es uns um Präzision in der Datenanalyse, faktenbasierte und rationale Begründung der wirtschaftspolitischen Positionen. Erkenntnisleitend ist für uns beide die schiefe Machtverteilung in der Gesellschaft, die Gleichzeitigkeit von Armut und schlecht bezahlter Lohnarbeit auf der einen und von immensem Reichtum bei wenigen auf der anderen Seite. Der deutsche Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr meinte, Beruf müsse als »Eigen-Arbeit« verstanden werden, die ungeachtet nötiger Zeiten des Ausruhens das ganze Leben umfasst. »Die Fülle der Niederlagen erträgt nur derjenige, der die Widersprüche und Ambivalenzen nicht dichotomisch zerschlägt und der das eigene Konzept trotz aller Enttäuschungen bewahrt.« (Narr 1999, S. 37) Wir wollen uns diese Mischung aus paradoxer Hoffnung und konzisem Realitätssinn bewahren.

Angst und Angstmacherei ist vielen Menschen verpflichtet, die unser Denken vor und während der Entstehung dieses Buches geprägt haben. Sie werden im Buch angesprochen, allerdings haben wir uns bemüht, Zitate auf ein Minimum zu beschränken. Auch viele Wegbegleiter:innen und Freund:innen haben durch Kritik, Widerspruch und Ermutigung unsere Gedanken entscheidend beeinflusst. Ihnen danken wir und hoffen, dass mit unserem Buch ein Beitrag zu einem möglichen gesellschaftlichen Aufbruch gelingt.

Angst und Wirtschaftspolitik

Menschen sind im Leben von unterschiedlichen Ängsten betroffen. Doch alle kennen wir Angst, sie ist Teil unseres Lebens. Angst zählt zu den negativen Grundemotionen neben Ärger, Traurigkeit, Verachtung und Ekel.

Während die Furcht sich auf konkrete Ereignisse und Gefahren bezieht, ist Angst diffuser. Sie beschreibt eine Grundstimmung, sie meint ein Gefühl der Bedrohung. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch schrieb im Vorwort zu seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung: »Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser Zustand ist die Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht.« Furcht hat man etwa vor einer drohenden Kündigung und einer zu erwartenden Delogierung. Angst ist unbestimmter. Menschen haben Angst vor dem Tod, aber sie ängstigen sich auch vor Herausforderungen des Lebens.

Die Gefühle der Menschen sind für die wirtschaftliche Entwicklung von enormer Bedeutung. Wer einen Job hat, aber um sich herum einen Anstieg der Arbeitslosigkeit wahrnimmt, kann furchtsam werden. Menschen beginnen dann möglicherweise aus Vorsicht zu sparen.

Das sogenannte Angstsparen verringert die Nachfrage nach Gütern, damit sinkt auch deren Produktion und so auch die Beschäftigung. Angst vor Arbeitslosigkeit kann auf diese Weise selbst Arbeitslosigkeit schaffen.

Daher sind Ängste, ob sie nun eine Reaktion auf eine reale oder nur auf eine vermeintliche Bedrohung bilden, wichtig für die Wirtschaftspolitik. Sie motivieren das Verhalten von Menschen. Angst kann zu Flucht, zu Aggression, zu einem Kleinmachen, zum Verstecken oder schlussendlich zur Resignation führen.

Neben der Angst sind viele andere Gefühle in wirtschaftlichen und politischen Belangen von Bedeutung: Gier und Neid sind wohl die bekanntesten. Aber auch Großzügigkeit, Solidarität und Mitleid spielen eine wichtige Rolle für die Verfassung der Gesellschaft. Doch es ist Angst, welche elementar für die Menschen ist. Zudem zählt Angst zu jenen Gefühlen, die funktional für die Erhaltung von Herrschaft sind. Mächtige erzeugen Angst, um ihre Herrschaft zu sichern. Bereits Niccolò Machiavelli hat in Der Fürst die Wichtigkeit der Furcht der Untergebenen für den Fürsten betont. Für den Herrscher ist es viel »sicherer gefürchtet, als geliebt zu werden« (Machiavelli 2013, S. 116). Die Angst der Untertaninnen und Untertanen erschwert ihr Aufbegehren. Nicht umsonst heißt es, dass Angst lähmt. Herrschaft lebt von Angst, und sie lebt gut davon. Auch der demokratische Staat verbreitet in bestimmten Bereichen unseres Lebens bewusst Angst, mag sein Versprechen auch lauten, Angst zu nehmen.

Martha Nussbaum hat in Königreich der Angst die mit Angst verbundenen Gefahren für die Demokratie betont. Ihre Kernthese lautet: Angst bedrohe die Demokratie mehr als jedes andere Gefühl. Sie sei primitiv und asozial. Angst verbinde sich mit Gefühlen wie Zorn, Ekel und Neid und führe zu Vereinzelung der Menschen. Angst werde zu einem politischen Gift. Die Ängstlichen werden in dieser Lesart abgewertet.

Wir wollen Angst nicht vorab moralisch stigmatisieren, sondern uns geht es darum, sie ernst zu nehmen und nach Möglichkeiten der Angstminderung zu suchen (Bude 2014, 2021, Baumann 2018). Daher müssen wir die Frage umkehren: Wie soll eine Demokratie mit den vorhandenen Angstgefühlen der Bürgerinnen und Bürger umgehen? Und spezifischer formuliert: Wie soll Wirtschaftspolitik den vielfältigen Ängsten in der Bevölkerung begegnen?

In Industrieländern ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung von Angststörungen und Depressionen betroffen (OECD 2021a, S. 124). Angststörungen sind pathologische Angstformen, die einer therapeutischen Behandlung bedürfen. Sie treten bei vielen Erwachsenen wenigstens einmal in ihrem Leben auf, oft gemeinsam mit schweren Depressionen. Zu den Angststörungen zählen phobische Störungen (F.40 nach der der ICD-10-Diagnostik), wie soziale Phobie, Agoraphobie und spezielle Phobien (etwa Klaustrophobie oder Tierphobie). Daneben gibt es Panikstörungen und generalisierte Angststörungen (F.41 nach der ICD-10-Klassifikation). Die Ersteren treten plötzlich auf, dauern aber nur kurz an. Eine generalisierte Angststörung dauert hingegen mindestens sechs Monate und kann objektlos sein, das heißt, sie unterscheidet sich klar von Furcht. Die Unterscheidung zwischen psychiatrischen Klassifikationen zu Angststörungen und den geläufigen Angstgefühlen bei Bedrohung kann fließend sein. Bei Depressionen sprechen wir von affektiven Störungen (F.32 nach der psychiatrischen ICD-10-Diagnostik), wo sich die Stimmungslage verschlechtert. Der Antrieb der Menschen sinkt und auch deren Aktivitätsniveau. Die Fähigkeit zur Freude wird schwächer, das Interesse wird geringer, und die Müdigkeit steigt. Oft ist dies mit Angst verbunden.

Die Covid-19-Pandemie trug zu einem Anstieg von Angststörungen und Depressionserkrankungen in besonderem Ausmaß bei. In manchen Ländern verdoppelte sich die Zahl der Betroffenen, so etwa in den USA, Großbritannien und Italien. In Österreich fiel dieser Anstieg noch deutlicher aus (siehe OECD 2021b, S. 4). Jason Schnittker schreibt in Unnerved von einem Zeitalter der Angst, welches einem Zeitalter der Depression folge. Dominierten im späten 20. Jahrhundert besonders die psychiatrischen Diagnosen schwerer Depression, so kommen nun verstärkt Befunde von Angsterkrankungen hinzu.

Nach Schnittker stehen Angsterkrankungen in Zusammenhang mit Veränderungen in Familienstrukturen, einem Anstieg der Einkommensungleichheit und ökonomischer Unsicherheit. Über die Zeit verschlechtert Angst die physische Gesundheit und die Lebensqualität der Menschen.

In der psychotherapeutischen Praxis wird daran gearbeitet, dass Menschen ihre Gefühle, Stimmungen und Handlungen besser verstehen und sich mit sich selbst wohler fühlen. Sie sollen sich in der Arbeitswelt und im Privaten weniger entfremdet erleben und durch ein gestärktes Selbstbewusstsein ihr eigenes Potential entdecken. Diese individuellen Prozesse geschehen jedoch immer in einem gesellschaftlichen Umfeld. Bereits die Gefühle selbst sind sozialisiert. Angst ist oft verpönt und wird in der Gesellschaft stigmatisiert. Das hat damit zu tun, dass sie auf Schwäche verweist, und Schwäche steht in einer Leistungsgesellschaft unter Verdacht. Menschen sollen ihre Angst daher mit der richtigen Einstellung selbst überwinden. Sie sollen aus ihrer Angst lernen und so widerstandsfähiger werden. Mit diesem Credo wird aber auch eine Leistungsideologie gefördert, die menschliche Schwäche verachtet und Stärke feiert. Die wirtschaftlich Schwachen werden kleingeredet und die vermeintlich Starken als Helden gefeiert.

Unser Ziel ist es, strukturelle, potentiell angstmachende Verhältnisse in der Gesellschaft offenzulegen und eine explizite Verbindung von den vielfältigen Ängsten der Menschen zu konkreten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik zu ziehen. Wir achten auf jene sozialen Strukturen, die als angsteinflößend wahrgenommen werden können. Dies können Armut und soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und schlechte Jobs, mangelnde Gesundheitsversorgung und fehlende Bildungschancen sein. Aber auch die demokratiezersetzende Macht der Vermögenden und eine Politik, die den Interessen der Vermögenden und nicht dem Gemeinwohl dient, können Angst einflößen.

Von den mannigfaltigen Gefühlen der Angst ausgehend, machen wir mit dem Ziel einer gerechten Gesellschaft konkrete Vorschläge zu einer Wirtschaftspolitik, die Angst mindern und Hoffnung machen will. Diese Vorschläge folgen dem Reformzugang der US-Ökonom:innen Dani Rodrik und Stefanie Stantcheva (2021a, 2021b). Es sind Ideen zu umsetzbaren Verbesserungen im Leben der Menschen. Entscheidend ist der Grundsatz inklusiver Prosperität: Im Streben nach Wohlstand und bei der Suche nach Wohlbefinden müssen die Interessen aller Menschen Berücksichtigung finden.

Prägende Kindheitsängste

Ängste können früh entstehen. Kinder sind zu Beginn ihres Lebens abhängig. Es ist meist die Mutter, welche nährt und schützt. Kinder brauchen in elementarer Weise eine liebevolle und fördernde Umgebung (Winnicott 2017). So gewinnen sie Sicherheit im Umgang mit den eigenen unvermeidlichen Ängsten. Kinder, die für ihr Alter besonders unangemessene Ängste erleben, kämpfen im Erwachsenenleben mit Ängsten, die sie als viel gefährdender wahrnehmen, als diese eigentlich sind. Stabil gebundene Kinder tun sich leichter, als Erwachsene angstfreie Beziehungen einzugehen.

Sigmund Freud, dessen Arbeiten zur Angst wegweisend waren, unterschied die Realangst von der neurotischen und der Gewissensangst. Diese drei Arten der Angst entsprechen den drei abhängigen Komponenten des Ichs bei Freud: Außenwelt, Es und Über-Ich. Dazu kommt die Signalangst, welche Gefahren anzeigt. Für Freud war Angst ein Knotenpunkt, an dem die wichtigsten Probleme unseres Seelenlebens zusammentreffen. Die Realangst ist eine Reaktion auf eine Wahrnehmung von äußerer Gefahr und hängt von unserem Machtgefühl gegenüber der Außenwelt ab.

Für unsere Betrachtung ist eine Unterscheidung zwischen realen Ängsten und neurotischen Ängsten nicht immer hilfreich. Denn die Trennlinien zwischen diesen beiden Angstformen sind unscharf. Recht rasch können politisch ungelegene Ängste als neurotisch abgetan werden. Umgekehrt kann neurotischen Ängsten aber auch eine zu hohe politische Relevanz zugeschrieben werden. Die Unterscheidung zwischen beiden Angstformen bleibt jedenfalls bedeutsam, weil in dem einen Fall die Psychotherapie die richtige Anlaufstelle ist, während im anderen Fall ein Eingreifen der Politik gefragt ist.

Der Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz spricht in Die Avantgarde der Angst von einer hysterisierenden Politik. Angstbereitschaft sei zwar für das Überleben notwendig, aber davon müsse neurotische Angst unterschieden werden. Plakativ formuliert er, die Angstbereitschaft werde nur auf die Suche geschickt nach Anlässen, um panikartig reagieren zu können. Diese neurotische Angst habe ein schädliches Ausmaß erreicht. So entstehe eine Angstindustrie, die gut von der grassierenden Panik lebe. Die Abwertung bestehender Ängste als hysterisch hat eine lange Tradition. Bolz versteht Angst als unbegründeten Alarmismus. Solche zuspitzenden Thesen leben selbst gut von der kritisierten Angstindustrie.

Das Ausmaß und die Form unserer Ängste werden geprägt durch Erfahrungen in der Kindheit. Die materiellen Umstände des Lebens der Eltern haben wesentlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit ihrer Kinder. Kinderarmut spielt eine Schlüsselrolle. In armutsbetroffenen Familien ist es besonders schwierig, das für Kinder notwendige Gefühl von Geborgenheit zu schaffen. Es sind die gesellschaftlichen Umstände, welche die materiellen und sozialen Bedingungen schaffen, in denen die kindliche Entwicklung stattfindet. Gelingt es, sichere Rahmenbedingungen zu gewährleisten, in denen Kinder nicht nur ihre kognitiven, sondern auch ihre sozialen und ihre emotionalen Fähigkeiten entwickeln können, dann können Angststörungen im Erwachsenenalter reduziert werden. Eine Gesellschaft, in der Kinderarmut zugelassen wird, achtet nicht auf diese Vulnerabilität. Sie ist verantwortlich für zunehmende Angststörungen und eine angsterfüllte Gesellschaft.

Früher wurde Kindern Angst als Fehlverhalten und Schwäche vorgeworfen, die es zu überwinden gelte. Wer sich vor Gespenstern in der Dunkelheit fürchtete, sollte reifen und vernünftig werden. Angst zu haben, davor hatte man sich schon als Kind zu schämen. In der Schwarzen Pädagogik der Kindererziehung vor hundert Jahren erfüllte Angst eine elementare Rolle: Kinder sollten sich duckmäuserisch verhalten. Anpassung wies den rechten Weg. Heute wird die Angst von Kindern wenigstens nicht mehr als krankhaft und als irrational gebrandmarkt. Vielmehr wird versucht, ihre Bedeutung in der persönlichen Entwicklung zu verstehen.

In seinem wunderbaren Kinderbuch Wo die wilden Kerle wohnen zeigt Maurice Sendak, wie ausufernd kindliche Hass- und Vernichtungsgefühle sein können, aber auch was zu ihrer Zähmung führt. Voll Wut kündigt Max an, seine Mutter aufzufressen, die ihn ohne Abendessen ins Bett schickt. Die wilden Kerle repräsentieren seine Angst. Doch es gelingt ihm, seine Ängste auszuhalten und sie umzuwandeln. Max wird zum wildesten der wilden Kerle, gerade weil er vor seinen Gefühlen keine Angst hat. »Er starrte in alle ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen und machten ihn zum König aller wilden Kerle.«

Mag Angst heute auch für Kinder weniger schambesetzt sein als früher, so wird sie doch weiterhin von vielen nur als psychisches Leiden von Individuen betrachtet.

Es gibt daher eine ausufernde Ratgeberliteratur zu Ängsten und ihrer Überwindung. Im Mittelpunkt steht die Stärkung der persönlichen Widerstandsfähigkeit. Ziel ist es, individuelle Resilienzfaktoren zu stärken: Achtsamkeit, sich selbst positiv wahrnehmen, optimistisch in die Zukunft blicken, Situationen akzeptieren, oder sie selbst zu gestalten suchen und soziale Beziehungen pflegen. Die Liste der Empfehlungen ist lang und mutet ein wenig oberflächlich an. Ein fröhliches Temperament wirkt tatsächlich wie ein Schutzschild vor ausufernden Ängsten. Auch Dankbarkeit schützt vor Angst und Neid. All dies wird die Lebensqualität erhöhen. Doch manchen Menschen ist dies eben aufgrund ihrer depressiven Verstimmtheit oder ihrer Angststörung nicht möglich. Die Ratschläge wirken, als würde man zu depressiven Menschen sagen, sie sollen sich weniger Sorgen machen und sich mehr bewegen. Dies wird ein richtiger, aber angesichts der Symptomatik nur schwer umzusetzender Ratschlag sein.

Menschen haben Angst vor Demütigung, vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Dies sind höchst unterschiedliche Sachverhalte, doch gerade bei Armen kumulieren viele Ängste in einem Gefühl des Ausgeschlossenseins. Es ist nicht allein Lohnarbeit, von der man nicht leben kann und die keinen Sinn stiftet. Es ist nicht nur die fehlende Einhaltung von Rechten für Beschäftigte und die Herabwürdigung durch Chefs, welche ängstigt. Die Angst der Armen verschwindet auch nicht, wenn reiche, wohlwollende Philanthrop:innen ihnen helfen. Der Gestus der mitleidigen Gabe erfolgt von oben herab und beschämt die Hilfsbedürftigen. Arme wissen nur zu gut um die Wankelmütigkeit der Hilfsbereitschaft der Reichen. Mangelnde Verlässlichkeit, Unvorhersehbarkeit und Instabilität in Beziehungen halten Ängste am Leben. Der marxistische Psychoanalytiker Erich Fromm wusste, Angst ist ein unangenehmes Gefühl, das ebenso durch reale Gefahren bedingt sein kann wie durch einen inneren Zustand der Beunruhigung.

Oft ist aber auch von Ängsten die Rede, die gar keine sind. Nicht alle Sorgen und Bedenken haben die Schwere und Dramatik von tiefen Ängsten. Manche Kümmernisse werden in der Darstellung absichtlich übertrieben. Der Begriff der Angst darf auch nicht mit jenem des Interesses verwechselt werden. Nur weil Vermögende eine Steuer ablehnen, müssen sie noch keine Angst vor ihr haben. Aber auch Reiche können Verlustängste haben, die ihre Lebensqualität entscheidend mindern. Unternehmer:innen mögen fürchten, bei Arbeitskräfteknappheit höhere Löhne zahlen zu müssen und damit über weniger finanzielle Mittel für Gewinnausschüttungen zu verfügen. Sie mögen die Sorge haben, bei einer Vermögenssteuer einen aufwändigen Lebensstil nicht aufrechterhalten zu können. Doch es kann auch sein, dass sie eine Vermögenssteuer als Entwertung ihrer Person betrachten. Hierfür ist aber eine ermutigende Psychotherapie vonnöten und nicht eine verständnisvolle Wirtschaftspolitik.

Es ist daher kein leichtes Unterfangen, einen angemessenen Zugang der Politik zu den vielen Formen der Ängste der Menschen zu besprechen. Es gibt keine technokratisch zusammengestellte Liste relevanter Ängste, die eine Wirtschaftspolitik der Hoffnung gezielt abarbeiten kann. Von der Wirtschaftspolitik können Ängste geschaffen, gemindert, ignoriert oder bekämpft werden. In jedem Fall sind Ängste von Bedeutung für wirtschaftspolitisches Handeln.

Liberalismus der Furcht

Die Politikwissenschaftlerin Judith Shklar prägte einen theoretischen Ansatz, den sie als Liberalismus der Furcht bezeichnete. Jeder Mensch hat Anspruch auf ein Leben ohne Furcht. Aufgabe der Politik sei es, jene Entscheidungen zu treffen, welche die sozialen und politischen Quellen der Furcht mindern. Eine politische Ordnung muss auf einer Vermeidung von Furcht aufgebaut werden und verhindern, dass das Schlimmste eintritt. Für Shklar ist das Schlimmste die Grausamkeit der Menschen gegenüber den Mitmenschen. Axel Honneth stellt in seinem Vorwort zu Shklars Buch fest, historisch hätten die Menschen vor allem Angst gehabt, zum Opfer von Gräueltaten, Ausbeutung und Unterwerfung durch die Herrschenden zu werden. Thomas Hobbes hatte im Leviathan geschrieben, es findet sich nur »tausendfaches Elend, Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben« (Hobbes 1970, S. 116). Im Hobbes’schen Naturzustand gab es für niemanden gesicherte Eigentumsrechte. Ohne den Staat hatten die Menschen nichts. Die Menschen unterwarfen sich daher einem allmächtigen Staat aus Furcht vor einem gewaltsamen Tod. Tritt der Staat als mächtiger »Leviathan« auf, dann ist er in der Lage, diese Angst vor der Gewalt der anderen zu nehmen, doch dadurch verschiebt sich die Angst auf den Staat, der sich seinerseits grausam gegenüber den Menschen verhalten kann.

Deshalb konzipiert die politische Strömung des Liberalismus traditionell Abwehrrechte der Individuen gegenüber dem allmächtigen Staat. Freiheit musste gegen den Staat erkämpft werden. Im Extrem ist Freiheit die Abwesenheit staatlicher Regeln. Dabei nimmt Privateigentum eine besonders wichtige Rolle bei der Abwehr staatlicher Gewalt ein (Herzog 2013). Für Neoliberale wird Angst vor dem Staat erst durch Eigentum verringert, und dies ermöglicht Freiheit.

Ein Liberalismus der Furcht achtet hingegen auf alle Formen von Machtmissbrauch und Grausamkeiten, nicht nur jene des Staates. Dabei ist es wichtig, von den Lebenserfahrungen und den Gefühlen bedrohter Menschen auszugehen. Die Gefühle der Menschen dürfen nicht geringer geachtet werden als ihre Ideen. Politik muss sensibel für das empfundene Leid der Leute sein. Ganz besonders gilt es, auf die Verwundbarkeit der Schwachen zu achten. Axel Honneth spricht von einem Liberalismus von unten, der Shklars politische Theorie kennzeichne.

»Es wäre eine liberale Gesellschaft, in der die Regierung immer noch Zwang ausüben würde, aber nicht mehr als allgemein für unbedingt nötig erachtet, und in der niemand so arm wäre, sich verkaufen zu müssen und niemand so reich, andere kaufen zu können. Diese Formulierung stammt natürlich von Rousseau. Und sie dient dazu, den Liberalismus der Furcht mit einem demokratischen Ethos zu verbinden, das den Abbau sozialer Ungleichheiten verlangt.« (Shklar 2017, S. 40)

Wir halten eine besondere Sensibilität für Fragen der Ohnmacht und der Macht in ökonomischen Belangen für essenziell. Wir beziehen uns folglich vorrangig auf die konkreten Lebenserfahrungen von Leuten, die benachteiligt sind. Menschen, die krank oder pflegebedürftig sind, die arbeitslos wurden oder schlechte Jobs haben, Kinder und Alte, Armutsgefährdete und Ausgegrenzte. Wirtschaftspolitik braucht ein Sensorium für die Ängste dieser Menschen, um die Prioritäten richtig setzen zu können. Sonst werden manche Leute nicht gehört, während besonders Einflussreiche der Politik ihr Programm diktieren.

Der deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller steht in der Denktradition Judith Shklars. In seinem Buch Furcht und Freiheit formuliert er als Aufgabe der Politik, zunächst einmal den Hilfsbedürftigen zuzuhören. Denn diese können sich eben nicht auf das Wohlwollen des Staates verlassen. Unsere Hoffnung ist, dass Menschen für die Hilfsbedürftigkeit anderer sensibilisiert werden können. Dies ist vielleicht naiv, doch Mitgefühl muss eine Basis für die Überlegungen jeder emanzipatorischen Wirtschaftspolitik bilden. Denn diese muss solidarisch von Menschen für Menschen entwickelt werden, sie darf ihnen nicht paternalistisch von Politiker:innen, Philanthrop:innen oder Expert:innen übergestülpt werden.

Eine Wirtschaftspolitik, die sensibel gegenüber den Lebenserfahrungen der Menschen sein will, kann Ängste nicht kategorisch als alarmistisch relativieren. Im Gegenteil, sie muss auf konkrete Furcht und diffuse Ängste mit Mitgefühl reagieren. Nun können wahrgenommene Gefahren übertrieben werden, und nicht jedes Gefühl der Angst begründet die Notwendigkeit eines Eingriffs der Wirtschaftspolitik. Nur weil jemand Angst hat, hat er noch nicht recht. Angst ersetzt kein Argument. Letztlich geht es nicht allein um das Ausdrücken einer authentischen Emotion, sondern um ein sachlich gerechtfertigtes wirtschaftspolitisches Handeln. Dabei darf das Gefühl der Angst von Menschen von der Politik nicht übersehen werden.

Manche Nöte fordern unmittelbar zum wirtschaftspolitischen Handeln auf. Existenzängste der Armen verlangen von einer Wirtschaftspolitik der Hoffnung eine unmittelbare Hilfe gegen Armut. Materielles Leid von Kindern darf einfach nicht sein. Das Fehlen eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung, Gesundheit, Freizeitmöglichkeiten und Lebenschancen verlangt nach einem besonderen Augenmerk auf solidarische Hilfen zu Beginn des Lebens. Die Sorgen um fehlenden Schutz bei Krankheit und Pflegebedürftigkeitmachen einen Sozialstaat notwendig, der den Menschen Sicherheit gibt. Die Distanz zwischen Arm und Reich muss verkleinert werden, damit nicht aus sozialen Abhängigkeitsverhältnissen neue Ängste entstehen. Erst existenzielle Sicherheit ist die Basis für eine, hoffentlich gelingende, Suche nach einem sinnerfüllten Leben.

Die Politik reagiert auf diffuse Ängste in der Gesellschaft zuweilen durch das Schaffen von Feindbildern. Ängste werden dann ideologisch genutzt, um andere Menschen abzuwerten und auszugrenzen. So kann von relevanten gesellschaftlichen Herausforderungen abgelenkt werden. »Die faulen Arbeitslosen«, »die Bildungsfernen«, »die Ausländer:innen und die Wirtschaftsflüchtlinge«. Sie alle bilden das verachtenswerte Andere und gefährliche Fremde. Während jene Personen, die am schlimmsten von fehlendem Schutz und sozialer Ausbeutung betroffen sind, am grausamsten behandelt werden, begegnet die Politik den Sorgen der Vermögenden oft mit anteilnehmender Unterwürfigkeit. In einer vorgeblichen Leistungsgesellschaft werden Ängste privatisiert und in die Eigenverantwortung Einzelner abgegeben, so als wären existenzielle Notlagen selbstverschuldet und individuell lösbar. So erfüllen Ängste eine noch zu wenig bedachte Funktion für die Stabilisierung einer ungleichen Gesellschaftsordnung.

Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung machen will, ist der angemessene Umgang mit zwei Ängsten von entscheidender Bedeutung, der Versagensangst und der Statusangst. Beide Angstformen stehen in engem Zusammenhang mit der herrschaftsabsichernden Ideologie des Neoliberalismus, welche den Vermögenden Leistungsstärke und einen hohen Status zuschreibt. Und beide Angstformen weisen auf die wohl tiefste Angst von Menschen hin: jene vor gesellschaftlicher Ächtung und Vereinsamung. Die Angst, ausgestoßen zu werden, ist vermutlich eines unserer stärksten Gefühle.

Die Versagensangst ist in einer sich als Leistungsgesellschaft verstehenden Gemeinschaft weit verbreitet. Eine Mischung aus strukturellen Faktoren des Kapitalismus, staatlicher Angstmache und psychischer Vulnerabilität vertieft diese Angst. Im Kapitalismus müssen sich die Eigentumslosen als Lohnarbeitende verdingen. Sorgearbeit und kreative Eigenarbeit sind nicht hinreichend für ein Überleben. Gehen Menschen keiner Erwerbsarbeit nach, bleibt ihnen nur die Hoffnung auf Zuwendungen durch die Familie, Kirche oder Befreundete und das vom Staat zugestandene Minimum. Dieser Zwang zur Lohnarbeit wird im Kapitalismus durch eine Ideologie der Meritokratie gestützt und zugleich verschleiert. Die gesellschaftlich Erfolgreichen sind in der neoliberalen hegemonialen Erzählung die vorgeblich Risikofreudigen und Angstlosen. Die keiner Erwerbsarbeit Nachgehenden sind die Verlierer:innen mit psychischen Problemen oder Bildungsnachteilen. Arbeitsunwilligkeit wird als ihre Charaktereigenschaft gesehen. Das Problem wird nicht im Wirtschaftssystem verortet, das Überflüssige produziert, sondern in einem Milieu von Versagenden. Der Staat sucht daher die Leistungsbereitschaft der Einzelnen zu erhöhen. Angst wird zu einem individuellen Problem umgedeutet. Zur konkreten Furcht vor Arbeitslosigkeit, zu niedrigen Löhnen, prekären Arbeitsverhältnissen und unsicheren Wohnverhältnissen tritt dann das angstmachende Gefühl bei den Betroffenen hinzu, selbst schuld an allem zu sein. All jene, die immer wieder vergeblich versuchen mitzuspielen, werden steigende Versagensängste beobachten, wenn sie wiederholt scheitern. Unvermeidlich beschämt dies und mindert das Selbstwertgefühl.

Eng verknüpft damit ist die Statusangst. Diese ist auf die gesellschaftliche Stellung der Menschen gerichtet. Eine auseinanderlaufende Einkommens- und Vermögensverteilung, die einhergeht mit einer Bewunderung der Reichen und einer Verachtung der Armut, erhöht den Stress beim Versuch, trotzdem anerkannt zu werden (Schürz 2022). Menschen teilen die Angst vor Missachtung. Statusängste betreffen daher sowohl die Ängste der Mitte vor einem sozialen Abstieg als auch die Ängste der Reichen vor einer Vermögens- und Erbschaftssteuer oder einer Enteignung ihres Privateigentums.

Eine emanzipatorische Wirtschaftspolitik muss darauf ausgerichtet sein, Statusfragen zu relativieren und Versagensängste zu mildern. Emanzipatorische Wirtschaftspolitik will Menschen ermutigen und nicht disziplinieren.

Allgegenwärtige Statusängste

Auf den ersten Blick könnte vermutet werden, Statusangst könne nur bei den Reichen und allenfalls in der gesellschaftlichen Mitte vorkommen. Die Reichen können sich ängstigen, die mit ihrer gesellschaftlichen Stellung verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Privilegien zu verlieren. Die Mittelschicht kann befürchten, ihren gewohnten Lebensstandard zu verlieren. Arme scheinen per Definition keinen gesellschaftlichen Status zu haben. Doch das ist eine verengte Perspektive auf die menschliche Psyche. Arme Menschen lehnen zu Recht die verfehlte Redeweise von den »sozial Schwachen« ab. Viele Arme empfinden sich selbst als stark, weil sie gelernt haben, unter schwierigsten Bedingungen zu bestehen. Sie entwickeln Stolz, weil sie die Härten des Daseins meistern. Wir können daher davon ausgehen, dass es überall in der Gesellschaft subtile Statuskonkurrenz gibt.

Status ist ein komplexer Begriff. Es kann dabei um Einkommen oder um das materielle und immaterielle Vermögen gehen. Doch Status ist keine Eigenschaft des Vermögens oder eines hohen Einkommens. Geld bringt nicht zwangsläufig einen hohen gesellschaftlichen Status mit sich. Ist Reichtum etwa durch Handel mit Drogen, Waffen oder Menschen entstanden, so kann der gesellschaftliche Status der Vermögenden gering sein. Status bedarf der Wahrnehmung durch andere, und es ist nicht offensichtlich, wer die relevante Gruppe der Bewertung bildet. Es kann sich um Leute aus einer ähnlichen Einkommens- oder Vermögensschicht handeln, aber auch um kulturelle Milieus oder Wertegemeinschaften. Die russischen Oligarch:innen mit ihren Wohnsitzen in London und Paris, ihren Yachten und Fußballklubs verloren ihr Ansehen in der Öffentlichkeit, als der russische Präsident Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete. Ob sie von anderen Milliardärinnen und Milliardären bedauert werden, ist eine offene Frage. Menschen sind wankelmütig in ihren Statuszuordnungen. Denn unsere Gesellschaft ist nicht nur über Arbeit, Konsum und Vermögensmehrung vernetzt, sondern auch über Gemeinschaftsgefühle, über Solidarität und Werte, wie nicht zuletzt den historisch mächtigen Nationalismus. Werden gemeinschaftsfreundliche Gefühle geschwächt, so steigen die Statusängste. Wenn man sich nicht mehr auf die Solidarität der Gesellschaft, der sozialen Klasse oder der Wertegemeinschaft verlassen kann, dann wächst die Unsicherheit.

Statusangst spielt im medialen Diskurs eine große Rolle. Doch allzu oft drängt sich eine besonders artikulationsfähige gesellschaftliche Mitte mit ihren Abstiegssorgen lautstark vor (Bude 2014, S. 60 ff). Die besonders Reichen schweigen lieber in der Öffentlichkeit und üben ihren Einfluss auf anderen Wegen aus. Arme Leute, ihre Sorgen und Bedürfnisse werden oft erst gar nicht gehört. Deshalb besteht in der medialen Öffentlichkeit viel Raum für die kleinen Sorgen der Mittelschicht. Oft geht es dabei um individuelle Kränkungen. Wieso bevorzugt die Chef:in die Arbeitskolleg:in, warum bekommt die Freund:in ein höheres Einkommen, wieso haben die eigenen Kinder keinen Zugang zu einer bestimmten Schule oder bekommen keinen Platz im begehrten Kindergarten, warum fahren die Nachbar:innen ein größeres Auto, weshalb kann ich mir keine Eigentumswohnung leisten, warum ist die Arbeitskolleg:in bereits in Pension?

Diese Sorgen der Mitte erfüllen auch eine wichtige Funktion zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse. Für Menschen mit Abstiegsängsten ist der eigene Status besonders wichtig, und sie nehmen am Statuswettbewerb der Gesellschaft intensiv teil. Wenn der soziale Aufstieg verstellt ist, soll wenigstens der Abstand nach unten gewahrt bleiben. Es ist eine unangenehme Charaktereigenschaft mancher Leute, das Wissen als tröstend zu empfinden, dass es anderen schlechter geht. Denn verachtet wird die Mitte der Gesellschaft im Gegensatz zu den Armen nicht.

Die Angst der Armen in wirtschaftlichen Belangen ist untrennbar mit Scham verbunden. Grundsätzlich wird weder über das eine noch über das andere gern gesprochen. Doch es ist die Angst vor Stigmatisierung, welche Arme daran hindert, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Auch in Österreich nimmt ein erheblicher Teil der Armutsgefährdeten die Leistungen der Sozialhilfe nicht in Anspruch. Selbst in Wien, wo über einen anonymen Zugang und gut aufbereitete Information aktiv versucht wird, die Inanspruchnahme zu erhöhen, bezieht etwa ein Drittel der Armutsgefährdeten keine Mindestsicherung. Persönliche Antragstellung, öffentliche Sichtbarkeit der Not, Angst, auch den noch vorhanden kleinen Besitz zu verlieren, und mangelndes Wissen über soziale Rechte verhindern besonders in kleinen Städten und Gemeinden die Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Dies zeigt, die Existenz des Sozialstaates allein nimmt den Menschen noch nicht alle Ängste. Und wird eine Sozialleistung nicht als Recht, sondern als Almosen konzipiert, dann beschämt sie die Betroffenen.

Für das Selbstverständnis einer Gesellschaft ist es kennzeichnend, wie sie mit den Hilfsbedürftigen umgeht. An der Mindestsicherung entscheidet sich die ideelle Ausrichtung des Gemeinwesens. Beim überlebensnotwendigen Minimum kann es nicht um Leistung gehen, sondern hier ist Bedarf das relevante Gerechtigkeitsprinzip. Wenn kein rechtlicher Anspruch auf die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse besteht, dann belegt das unsere These von der eminenten Rolle, die der Aufrechterhaltung der Angst in unserer Gesellschaft zukommt. Bestimmte Ängste werden mit Bedacht politisch am Leben erhalten.

Die aktuellen Kosten der Sozialhilfe von etwa einer Milliarde Euro jährlich sind angesichts der Größe des Sozialstaates ein geringer Betrag. Die Sozialausgaben betragen insgesamt 117 Milliarden Euro, die Sozialhilfe umfasst weniger als ein Prozent davon. Eine Handvoll österreichischer Milliardär:innen könnte diese Sozialleistungen für eine ganze Generation armer Menschen finanzieren, ohne deshalb selbst auch nur in die Nähe von Armut zu geraten. Doch gerade die Ärmsten in der Gesellschaft erfüllen eine dem Rest der Bevölkerung angstmachende Rolle. Das Wissen um ihr Vorhandensein und ihren niedrigen gesellschaftlichen Status dient als mahnendes Beispiel, wohin es mit in Armut geratenen Menschen kommen kann. Menschen ohne Geld sollen keine Freiheit außerhalb der Arbeitswelt finden. Jenseits der Welt der Erwerbsarbeit sollen es sich nur die Reichen einrichten können.

Versagensangst durch Leistungsfetischismus

Ging es der Wirtschaftspolitik früher um Vollbeschäftigung und gerechte Verteilung, so ist nun viel von Chancengleichheit und sozialem Aufstieg durch Bildung die Rede. Geht es um den sozialen Aufstieg der einen, so werden meist jene übersehen, die unten bleiben. An den strukturellen Unterschieden zwischen Unten und Oben in der Gesellschaft ändert sich dann nichts. Ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, wie er politisch gerne gefeiert wird, muss keine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards bedeuten, denn oft kommt das Wirtschaftswachstum nur ganz wenigen zugute. Erst wenn auch die breite Mehrheit der Menschen materielle Verbesserungen erfährt, wenn die Armut und die Kluft zwischen Arm und Reich verringert wird, wenn Schritte in Richtung eines guten Lebens für alle erfolgen, erst dann ist sozialer Fortschritt zu konstatieren.

Neoliberale halten nicht viel vom Ziel der Chancengleichheit. Friedrich August von Hayek lehnte die wirtschaftspolitischen Eingriffe ab, die notwendig wären, um gleiche Chancen für alle herzustellen. Konsequent erkannte er, dass die wirtschaftliche Freiheit der Eliten in nicht akzeptabler Weise eingeschränkt würde. Deshalb meinte Hayek: »Die Menschen in Umstände zu versetzen, wo jeder gleiche Chancen hat, ist extremer Totalitarismus.« Für eine emanzipatorische Wirtschaftspolitik reicht das Ziel der Chancengleichheit andererseits nicht aus. Selbst wenn massiv in Familien, Kindergärten und Schulen investiert wird, besteht Chancenungleichheit fort. Zu groß sind die Unterschiede in den sozialen Ausgangsbedingungen. Zudem verfehlt der Diskurs um Chancengleichheit Arme oft allein deswegen, weil er nicht mit ihren beschämenden Lebenserfahrungen und Versagensängsten zusammengeht. Eine Wirtschaftspolitik der Hoffnung darf nicht allein auf den Aufstieg talentierter Arbeiterkinder in die Mittelschicht abzielen, sondern muss das Wohlergehen aller Menschen anstreben. Doch selbst von sozialdemokratischer Politik wird heute statt Vollbeschäftigung und gerechter Verteilung der Einkommen und Vermögen oft nur noch der Bildungsaufstieg propagiert. Die damit einhergehende Verachtung gegenüber allen, welche den sozialen Aufstieg nicht schaffen, wird nicht hinreichend bedacht. Michael Sandel stellte jüngst in seinem Bestseller Vom Ende des Gemeinwohls klar: Der politische Versuch, den Enttäuschungen der Arbeiterklasse etwas entgegenzuhalten, muss zuerst die eigene elitäre Herablassung beachten. Ungleichheit wird oft über behauptete Leistungsunterschiede verteidigt. Fast niemand sei so unverfroren zu argumentieren, die Reichen sollten reich sein, weil sie Kinder reicher Eltern sind, meint Sandel. Das beherrschende Argument für Ungleichheit ist vielmehr, dass ungleiche Lebensbedingungen aus ungleicher Leistungsbereitschaft entspringen.

In der Psychologie gilt Angst oft als Antrieb für kulturelle Leistungen. Der Angst ins Gesicht schauen, ihr etwas Positives abgewinnen und angstmachende Umstände verändern, lauten dann die Losungen. Im ideologischen Narrativ neoliberaler Wirtschaftspolitik verstärkt sich dies aber ins Extreme. Angst vor Prüfungen und Furcht vor der Chef:in gilt dann bereits fast als Nachweis der Leistungsbereitschaft, weil sie zeigen, dass man es ernst meine und mitspielen wolle. Doch Angst ist keine gute Lehrmeisterin. Angstbewältigung als Triumph, der uns stärker macht, ist meist reine Propaganda. Eine gerechte Gesellschaft darf nicht primär auf Leistung als einendem Prinzip aufbauen. Das Leistungsprinzip in den Mittelpunkt zu stellen führt zu mannigfaltiger Angst. Menschenwürde bleibt allen Menschen eigen, selbst wenn sie keine Leistungen vollbringen.

Wirtschaftspolitik der Angstmacherei

Bedrohlich sind zu geringe Löhne, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und ein Verlust des Arbeitsplatzes. Angst gibt es vor politischer Willkür, vor Krankheit oder Armut im Alter, vor fehlender Versicherung im Fall von Arbeitslosigkeit. Überbordende Schulden, Angst vor Delogierung und Verlust der Wohnung, Angst, ein Pflegefall zu werden und keine ausreichende Versorgung zu haben, markieren elementare Formen menschlicher Angst. All diese Bedrohungen können von der Wirtschaftspolitik angsterhöhend oder angstmindernd beeinflusst werden.

Der Staat ist in der Denktradition der neoliberalen »österreichischen Schule der Nationalökonomie«, deren bekanntester Vertreter Friedrich August von Hayek ist, das Übel, und er bildet die primäre Ursache von Angst. Damit ist auch die Angst vor Mehrheitsentscheidungen in der Demokratie verbunden. Eine Mehrheit könnte theoretisch für eine Vermögenssteuer optieren, für mehr Sozialleistungen oder für eine Regulierung von Preisen. Alle diese Maßnahmen würden die Freiheit der wirtschaftlichen Eliten einschränken. Hayek trat konsequenterweise für eine begrenzte Demokratie ein, in der grundlegende Entscheidungen von einem Rat der Weisen und nicht von der demokratischen Mehrheit im Parlament getroffen werden. Thomas Biebricher zitiert in seinem Buch Die politische Theorie des Neoliberalismus eine Aussage von Hayek aus der chilenischen Tageszeitung El Mercurio. »Daher würde ich persönlich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung vorziehen, der es an Liberalität mangelt.« (Biebricher 2021, S. 112)

Die Freiheit von Menschen in einer Demokratie wird durch Rechte gesichert, und das Recht auf Eigentumsfreiheit ist dabei zentral. Doch Eigentumsfreiheit bedeutet meist nicht eine Welt von Kleineigentümer:innen, sondern kann umschlagen in einen politischen und wirtschaftlichen Machtmissbrauch weniger Vermögender. Die Angst der Menschen vor der Macht von Milliardär:innen wird wenig beachtet. Hayek schrieb in Der Weg zur Knechtschaft, es könne nur Angst vor dem Staat geben, aber nicht Angst vor Multimillionär:innen. »Wer würde nicht einsehen, daß ein Multimillionär, der mein Nachbar und vielleicht mein Arbeitgeber ist, weit weniger Macht über mich hat als der kleinste Funktionär, der die Zwangsgewalt des Staates ausübt und von dessen Belieben es abhängt, ob und unter welchen Bedingungen man mir zu leben und zu arbeiten erlaubt.« (Hayek 1971, S. 138)

Reiche werden zwar gerne bewundert und genießen in unserer Gesellschaft einen hohen Status. Doch auch wer bewundert, kann Ängste vor seinem Idol haben. Viele Menschen erkennen in ihrem instinktiven Urteil zu »denen da oben« die gefährliche Verbindung von politischen und ökonomischen Eliten. Nur wird ihr Gefühl zumeist als dumpfes Ressentiment denunziert. Im Fall von Krieg und Nationalismus bahnt sich dieses Gefühl seinen Weg und wird zu einer Mehrheitsmeinung. Ein historisches Motto der Französischen Revolution lautete, die Armen geben ihr Blut, die Reichen wenigstens ihr Geld. Im Zug des russischen Krieges gegen die Ukraine stehen die russischen Oligarch:innen im Fokus. Die ukrainischen Oligarch:innen bleiben unerwähnt, obwohl sie über umfangreiche Möglichkeiten verfügen würden, das Leid ihrer Landsleute zu lindern. Und die westlichen Milliardär:innen bleiben bewundert. Dennoch lassen all die Schlupflöcher für das Vermögen russischer Oligarch:innen staunen.

Wir argumentieren, dass sowohl die Angst vor dem Staat als auch jene vor mächtigen Mitmenschen von Relevanz sind: jene in grausamen Kriegen begründete Angst vor einem absolutistischen Staat, der die Freiheit nimmt, genauso wie jene vor den Überreichen in einer Fassadendemokratie, welche die Freiheit zu einer Konsumfreiheit am Markt reduzieren.

Auf der einen Seite kann ein Appell an das Gemeinschaftsgefühl, an eine nationale Kraftanstrengung gegen einen Außenfeind oder eine Naturkatastrophe als Basis für eine Politik gegen Angst dienen. Es hängt aber von vielen Faktoren ab, ob dieses Gemeinschaftsgefühl wirklich entsteht. US-Präsident Franklin D. Roosevelt hat mit seinem New Deal in den 1930er Jahren versucht, der Wirtschaftskrise in einer gemeinsamen nationalen Kraftanstrengung entgegenzuwirken. Sein Ausspruch »The only thing we have to fear is fear itself« (Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst) wurde zu einer viel zitierten, aber auch missverstandenen Losung. Der Motivationscharakter der Aussage ist unverkennbar: Wenn wir gemeinsam die Furcht überwinden, dann hält uns nichts auf. Appelliert wird an die Menschen, sich nicht zu fürchten, sondern gemeinsam zu handeln. Ein »Fürchtet euch nicht« soll Zuversicht geben. Doch die Aussage, dass wir nur die Furcht zu fürchten haben, nimmt uns die Furcht ja noch nicht, sondern legt sogar den Fokus auf diese. Es ist daher nicht unbedingt angstmindernd. Zudem ist Furcht in einer Krise bestimmt nicht das Einzige, was wir zu fürchten haben.

Adam Cohen hat in seinem Buch Nothing to fear die Entstehungsgeschichte dieses Schlüsselsatzes der Inaugurationsrede von Roosevelt beleuchtet (Cohen 2009, S. 38 ff). Der Redenschreiber Roosevelts, Louis Howe, sei ein Mensch gewesen, der nur Kriminalromane und Zeitungen gelesen habe. Im Werbungsteil einer Zeitung dürfte er über den wenig originellen, aber pathetischen Spruch gestolpert sein. Und da Roosevelt keine optimistische Rede halten wollte, sondern aufmuntern und zum Handeln aufrufen, war die PR-Botschaft passend einfach gestrickt.

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte mit ihrer Losung »Wir schaffen das gemeinsam« in der Fluchtbewegung 2015 keine Angst aufkommen zu lassen und eine gemeinschaftsstärkende politische Initiative zu setzen. Das war mutig und sollte die Hilfsbereiten stärken. Letztlich gelang es ihr nicht, das Gemeinschaftsgefühl war kurzlebig und konnte nicht aufrechterhalten werden.

Auf der anderen Seite macht Politik Menschen bewusst Angst. Zuerst werden diese in Angst versetzt, und dann wird ihnen eine bestimmte politische Maßnahme als einzig mögliche Lösung präsentiert. Die Wirtschaftspolitik in ihrer neoliberalen Ausprägung etwa produziert bewusst Ängste vor dem Staat und bietet danach marktorientierte Lösungen an. Ängste sollen zu einem bestimmten Verhalten motivieren: Sie sollen etwa die Bereitschaft erhöhen, privat vorzusorgen, risikobereiter zu werden, mehr Aktien zu halten, in Bitcoin zu investieren. Menschen sollen befürchten, auf einem Sparbuch bei niedriger Verzinsung und hoher Inflation nicht ausreichend finanzielle Reserven bewahren zu können. Neoliberale Wirtschaftspolitik versucht Leute gezielt in bestimmte Verhältnisse hinein zu ängstigen. Andererseits mindert neoliberale Politik die Furcht der Eigentümer:innen, indem sie reichenfreundliche Gesetze, Schutz des Vermögens vor Besteuerung, Steuersenkungen für Kapitaleinkünfte und immer neue Subventionen für Unternehmen betreibt. Gleichzeitig schürt sie die Angst Armer mit Leistungskürzungen bei den untersten sozialen Netzen, mit verstärkter Kontrolle und Beschämungsritualen. Neoliberale Politik braucht die Angst der Ärmsten, um erfolgreich für die Freiheit der Eigentümer:innen werben zu können. Sie behauptet Leistungsanreize durch Steuersenkungen für Reiche und Sozialkürzungen für Arme zu setzen und zielt auf eine Umverteilung von unten nach oben ab.

Wer Menschen von Eigentum an Immobilien überzeugen will, benötigt deren Angst, jederzeit ihre Miet- oder Sozialwohnung verlieren zu können. Besteht diese Angst nicht, dann bietet jede Wohnung die gleichen Nutzungsmöglichkeiten, egal ob sie im Eigentum steht oder nur ein Mietverhältnis vorhanden ist. Daher ist die Existenz des sozialen Wohnbaus und eines starken Mieterschutzes für die ideologischen Proponent:innen der Eigentümergesellschaft ein Problem. Aus einer Gemeindewohnung oder einer Genossenschaftswohnung wird man schwerer delogiert als aus einer befristeten Mietwohnung oder einer Untermiete.

Wer Menschen private Vorsorge für den Ruhestand einreden will, braucht zuerst deren Angst vor einem Zusammenbruch des öffentlichen Pensionssystems und die damit verbundene Sorge, am Ende des Lebens vor dem finanziellen Nichts zu stehen. Allein die Gier, ohne Arbeit und nur durch Kurssteigerung auf den Aktienmärkten zu Vermögen zu kommen, ist nicht hinreichend für eine Abwendung vom öffentlichen Pensionssystem und eine Hinwendung zu privaten Pensionsfonds. Die Faszination möglicher spekulativer Gewinne konterkariert kein Sicherheitsstreben. Bei einer guten öffentlichen Altersvorsorge wird die Angst vor Altersarmut gering sein. Die Warnungen vor der Unfinanzierbarkeit des sozialen Pensionssystems, bevorstehenden Kürzungen von Pensionen, der Erhöhung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters und die Warnung vor Altersarmut bilden die angstmachende wirtschaftspolitische Strategie der Neoliberalen.

Wer die Mindestsicherung auf ein almosenartiges System der Sozialhilfe umstellt, will nicht im Budget sparen und die Leistungsbereiten begünstigen, sondern will Angst machen. Die wirtschaftspolitische Botschaft lautet: Verlasst euch nicht auf die Solidargemeinschaft. Wer den Arbeitslosen in einer tiefen Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit die Anhebung des Arbeitslosengeldes auf ein armutsfestes Niveau verweigert, der will den Arbeitslosen Angst machen. Den Arbeitslosen, den prekär und befristet Beschäftigten soll signalisiert werden, dass sie es in ihren Ansprüchen an die Erwerbsarbeit, an Arbeitsbedingungen und Löhne billiger geben müssen.

Wer die soziale Akzeptanz der Gesellschaft für Vermögenskonzentration erhöhen will, braucht die Angst der Kleineigentümer:innen vor einer Enteignung ihres Schrebergartens, der geerbten Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung oder des Sparbuches. Neoliberale Wirtschaftspolitik lenkt die Angst der Menschen meist auf Themen, wo für einige wenige große private Profite zu erwarten sind.

Eine Politik, die das Eigentum der Reichsten in der Gesellschaft besteuern will, sei auch fähig, den einkommensschwachen Personen ihren Schrebergarten und das Auto zu nehmen. Dieser bizarre Spin wird immer wieder bemüht. Diesbezügliche Ängste entstehen in der Psyche der Leute nicht von allein, sondern folgen einer neoliberalen Lenkung, die ihnen ihre spezifische Form gibt.

Darauf basieren die angstmachenden Märchen von einer Vermögenssteuer, die Menschen ihre hart erarbeiteten Ersparnisse, und einer Erbschaftssteuer, die Kindern das Dach über dem Kopf nehmen. Die Verlustangst ist dabei auf eine mögliche Enteignung durch den Staat und nicht auf den Ausschluss durch mächtige Eigentümer:innen gerichtet. Privateigentum kann nur zu einem einenden Moment in der Gesellschaft werden, wenn der gemeinsame Feind der Staat ist. Oft werden daher vorhandene Ängste in der Bevölkerung von den Mächtigen weg hin zum Staat verschoben. Bezieher:innen von Sozialhilfe müssen den Behörden Einblick in ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse gewähren und sind umfassender staatlicher Kontrolle ausgesetzt. Reiche Menschen werden für Sozialhilfebezieher:innen hingegen nur selten sichtbar, ihr Gegenüber sind die Sozialbürokratie der Gemeinden und die Einwanderungsbehörde.