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Angst und Geborgenheit – das sind die beiden Pole menschlicher Existenz. Ständig pendelt unser Leben zwischen ihnen hin und her. Wie kommt das? Wo liegt die Quelle unserer Angst und unserer Sehnsucht nach Geborgenheit? Der junge Schweizer Portmann-Schüler und Psychoanalytiker Dr. Franz Renggli machte sich mit dem Instrumentarium interdisziplinärer Wissenschaft, der Verhaltensforschung, der Psychoanalyse und der Ethnologie, auf die Suche. Er gelangte in seinem erstmals 1974 erschienenen Buch zu neuartigen, folgenschweren Einsichten: • Ängste des Kleinkinds sind angeboren, das heißt stammesgeschichtlich determiniert. • Ängste lassen sich bestimmten, in der Psychoanalyse beschriebenen Entwicklungsphasen des Kleinkindes zuordnen. • Die spezifische Behandlung des Kleinkinds durch die Mutter in jeder Entwicklungsphase hat eine spezifische Charakterstruktur des Erwachsenen mit einem mehr oder minder großen Maß an Angst und Geborgenheit zur Folge. • Die Charakterstruktur der Erwachsenen bestimmt den Charakter der Kultur. Kinder werden weiterhin schreien. Angst und die Suche nach Geborgenheit werden weiterhin existieren – aber durch Rengglis Analyse sind sie konkreter, der Reflexion zugänglicher und damit lenkbarer geworden.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Franz Renggli
Angst und Geborgenheit
Soziokulturelle Folgen der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr
Ihr Verlagsname
Ergebnisse aus Verhaltensforschung, Psychoanalyse und Ethnologie
Angst und Geborgenheit – das sind die beiden Pole menschlicher Existenz. Ständig pendelt unser Leben zwischen ihnen hin und her. Wie kommt das? Wo liegt die Quelle unserer Angst und unserer Sehnsucht nach Geborgenheit?
Der junge Schweizer Portmann-Schüler und Psychoanalytiker Dr. Franz Renggli machte sich mit dem Instrumentarium interdisziplinärer Wissenschaft, der Verhaltensforschung, der Psychoanalyse und der Ethnologie, auf die Suche. Er gelangte in seinem erstmals 1974 erschienenen Buch zu neuartigen, folgenschweren Einsichten:
• Ängste des Kleinkinds sind angeboren, das heißt stammesgeschichtlich determiniert.
• Ängste lassen sich bestimmten, in der Psychoanalyse beschriebenen Entwicklungsphasen des Kleinkindes zuordnen.
• Die spezifische Behandlung des Kleinkinds durch die Mutter in jeder Entwicklungsphase hat eine spezifische Charakterstruktur des Erwachsenen mit einem mehr oder minder großen Maß an Angst und Geborgenheit zur Folge.
• Die Charakterstruktur der Erwachsenen bestimmt den Charakter der Kultur.
Kinder werden weiterhin schreien. Angst und die Suche nach Geborgenheit werden weiterhin existieren – aber durch Rengglis Analyse sind sie konkreter, der Reflexion zugänglicher und damit lenkbarer geworden.
Dr. phil. Franz Renggli, 1942 in Zug/Schweiz geboren, studierte in Basel Zoologie bei Professor Adolf Portmann, erhielt die Ausbildung als Psychoanalytiker im Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Freiburg und arbeitete von 1971 bis 1975 als Psychotherapeut an einer staatlichen Psychotherapiestation für Kinder und Jugendliche in Basel.
Für die neueren Bücher und Publikationen einerseits und für die Weiterentwicklung der Therapie-Methoden von Franz Renggli in Richtung pränatale Psychologie/Psychotherapie andererseits siehe seine Website: www.franz-renggli.ch
Was ist eine Kultur? Was ist das Charakteristische an der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr? Welchen Einfluß hat die Kinderbehandlung auf die Kultur? Eine Antwort auf diese Fragen kann gefunden werden, wenn die Ergebnisse dreier Wissenschaftsgebiete, nämlich der Psychoanalyse, der Ethnologie und der Verhaltensforschung, miteinander verbunden werden.
Seit mehr als fünfzig Jahren stellt die Psychoanalyse Sigmund Freuds die These auf, daß die ersten drei Lebensjahre insofern die entscheidendste Lebensphase ist, als hier alle wesentlichen Charakterzüge des später erwachsenen Menschen ausdifferenziert werden. Wilhelm Reich hat das in seiner ‹Charakteranalyse› (1933) so formuliert: «Jede Neurose baut sich ausnahmslos auf Konflikten der Kindheit vor dem vierten Lebensjahr auf.»[1] Zu diesen Vorstellungen kommt die Psychoanalyse durch die Beschäftigung mit dem erwachsenen psychisch kranken Menschen, indem sie von seinen Konflikten, Erlebnisweisen und Ängsten Rückschlüsse zieht auf die frühe Kindheit. Dadurch war es ihr möglich, das sogenannte psychoanalytische Entwicklungsmodell zu schaffen, das sich mit den Ängsten und Bedürfnissen des Kleinkindes beschäftigt und diese zu verstehen versucht.
Die vorliegenden ethnologischen Feldberichte über heute lebende Naturvölker enthalten dagegen – mindestens zum Teil – detaillierte direkte Beobachtungen sowohl über das Kleinkind als auch über den Erwachsenen, das Gruppenleben und das heißt die Sozialstruktur und schließlich über die Kultur selbst, wobei ich hier unter Kultur das Gesamt an religiösen Vorstellungen, Idealen, Zeremonien, Institutionen und Gesetzen verstehe. An Hand dieser Berichte ließe sich also fragen, ob Querverbindungen zwischen der Mutter-Kind-Beziehung einerseits und der Kultur als Ganzem andererseits hergestellt werden dürfen. Dazu müßte aufgezeigt werden, wie im einzelnen durch die Kinderbehandlung – und das heißt durch die Mutter-Kind-Beziehung – im ersten Lebensjahr die Erlebnis- und Verhaltensweisen, die Bedürfnisse und Ängste der Erwachsenen in einem bestimmten Volk beeinflußt werden. Genau dieses Ziel setzt sich das vorliegende Buch.
Die hauptsächliche Schwierigkeit einer solchen Untersuchung bestand darin, die Kinderbehandlung, wie sie in den ethnologischen Berichten beschrieben ist, adäquat beurteilen und auswerten zu können. Die einzige hierfür geeignete Methode ist das erwähnte Entwicklungsmodell der Psychoanalyse. Jedoch ist dieses Modell in unserer Kultur und für unsere Kultur geschaffen und daher auf fremde und das heißt Naturvölker kaum anwendbar.
Es war deshalb notwendig, ein neues Modell über die Entwicklung des Kleinkindes zu erarbeiten. Dazu griff ich auf die Verhaltensforschung zurück, die zu ähnlichen Ergebnissen wie die Psychoanalyse gekommen ist, und zwar durch direkte Beobachtung allerdings an Jungtieren. So konnte beispielsweise Konrad Lorenz an seinen Prägungsversuchen demonstrieren, daß bei allen höheren Tieren (Vögeln und Säugern) in der ersten Zeit nach der Geburt irreversible Lernprozesse ablaufen, die das ganze Leben des betreffenden Individuums grundlegend beeinflussen. Daher habe ich zunächst die bis heute bekannten und beobachtbaren Verhaltensweisen des Kleinkindes zusammengestellt, sodann die stammesgeschichtlichen Vorformen der Mutter-Kind-Beziehung im Tierreich näher untersucht, und zwar deshalb, weil sich der Mensch erst in der geologischen Neuzeit aus affenartigen Vorfahren entwickelt hat. Damit aber gelang es, Ursprung und Funktion der kleinkindlichen Verhaltensweisen, der Bedürfnisse und Ängste, neu zu erklären. Mit Hilfe dieses biologischen Fundaments war es nun auch möglich, das ‹alte› psychoanalytische Entwicklungsmodell neu zu sehen, wesentlich auszubauen und innerhalb des Modells neue Akzente zu setzen, und zwar so, daß dieses neue Modell nicht mehr nur auf das Kleinkind in unserer Kultur anwendbar ist, sondern den Schlüssel bildet für die Auswertung ethnologischer Feldberichte. Damit konnte ich auch die Anfangsfragen zu klären versuchen, nämlich: Wie sehen die soziokulturellen Folgen der Mutter-Kind-Beziehung aus?
Allerdings sei noch ausdrücklich auf die folgende Einschränkung hingewiesen: Innerhalb meines Entwicklungsmodells habe ich mich allein auf das Sozialverhalten des Kleinkindes und auf seine Ich-Entwicklung konzentriert. Mindestens zwei große Trieb- oder Verhaltensbereiche bleiben damit unberücksichtigt, nämlich das sexuelle und vor allem das aggressive Verhalten, und zwar aus folgenden Gründen:
Bis heute fehlen detaillierte Beobachtungen über die Entwicklung von aggressivem Verhalten im ersten Lebensjahr. Bis heute kann nämlich bei der Beobachtung von aggressivem Verhalten beim Kleinkind noch nicht genügend unterschieden werden, ob es sich dabei um eine ‹normale› Entwicklung oder bereits um pathologische Phänomene, und das heißt um Symptome, handelt. Diese Unsicherheit ist bedingt durch die noch immer nicht eindeutig faßbaren Konzepte rund um das Phänomen der Aggression. Um es überspitzt zu formulieren: Innerhalb der Verhaltensforschung gibt es darüber so viele Konzepte, wie es Autoren gibt. Hier sei nur auf die beiden am weitesten voneinander abweichenden Meinungen hingewiesen. Die behavioristische Schule eines B.F. Skinner versucht, alle Aggressionsphänomene als Reaktion auf Enttäuschung oder Frustration zu erklären. Jede Art von Aggression ist somit ‹erlernt›. Dagegen stellt die Ethologie – begründet durch Konrad Lorenz – die These auf, daß es sich bei der Aggression um angeborenes Verhalten handelt. Eine Annäherung der beiden Standpunkte könnte vielleicht das Konzept eines Schutztriebes (des Paroxysmaltriebs P) nach Szondi bilden, wonach jedes Individuum, das in seiner Geborgenheit oder in seinem Schutzbedürfnis verunsichert wird oder sich sogar bedroht fühlt, unter anderem oder je nach Situation sich mit einer genetisch determinierten Bereitschaft von Angriffsverhalten wehren muß, und zwar mit dem Ziel, den Feind oder die Gefahr unschädlich zu machen. Angriff – und die polare Gegenstrebung: die Flucht – haben nach diesem Konzept die Funktion der Verteidigung und das heißt des Schutzes. Aber auch damit ist das Phänomen der Aggression in keiner Weise geklärt. Wird dieses Konzept allerdings auf das kleinkindliche Verhalten angewendet, so ist in jedem Schreien des Kindes – verstanden als Hilfeappell oder aber als Suchen nach Schutz bei der Pflegeperson – eine nicht zu übersehene oder sogar wesentliche aggressive Komponente mitenthalten.
Dies gilt mit Modifikationen auch für das sexuelle Verhalten des Kleinkindes. Oder umgekehrt formuliert: So schwere sexuelle Fehlprägungen wie beispielsweise der Fetischismus kann seinen Ursprung nicht erst im ca. dritten bis fünften Lebensjahr haben, sondern seine Wurzeln müssen ins erste Lebensjahr zurückverfolgt werden.
Diese beiden Einschränkungen, das Unberücksichtigtlassen des aggressiven und sexuellen Verhaltens in meinem Modell über das Kleinkind, aber muß sich der Leser immer vor Augen halten, um meine Ausführungen über das Kleinkind nicht einseitig zu verstehen.
Abschließend möchte ich meinem Lehrer in Zoologie und Anthropologie, Herrn Professor Adolf Portmann danken, der in mir das Interesse weckte für die Entwicklung des Menschen und ganz besonders für die Situation des Kindes im ersten Lebensjahr. Obwohl Professor Portmann in meiner Arbeit selten zitiert wird, ist meine Art des Denkens grundlegend durch ihn geprägt worden. Danken möchte ich auch allen Ausbildungsdozenten des Psychoanalytischen Instituts in Freiburg i. Br. (DPG), insbesondere dem Leiter, Herrn P.D. Dr. Theodor Hau. Durch seine vielen Anregungen und sein Wissen über die kleinkindliche Situation wurde meine Arbeitsweise stark beeinflußt. Ebenfalls möchte ich mich bei der Werner Reimers-Stiftung bedanken, durch deren Unterstützung diese Arbeit ermöglicht wurde. Besonders danken aber muß ich Herrn Dr. Wolfgang Ahlbrecht, Dr. Walter Angst, Professor Bernhard Hassenstein, Frau Elisabeth Hau, Herrn Dr. Paul Parin, Dr. Leopold Szondi, Dr. Peter Weidkuhn und Fräulein Dagmar Werner, die mein Skriptum gelesen und mir mit Ratschlägen, Hinweisen und vor allem Diskussionen weitergeholfen haben und mich so zu neuen Untersuchungen anregten. Ebenso danke ich meiner Lektorin beim Rowohlt Verlag, Frau Elisabeth Raabe, für ihre sorgfältige Redaktion und ihre Zusammenarbeit.
Ganz herzlich danken möchte ich schließlich meiner Frau, die während zweier kritischer Jahre an meiner Arbeit mitgeholfen hat.
F.R.
Grundbaustein aller künftigen Überlegungen ist das Verhaltensinventar, worunter die rein äußerlich beobachtbaren Verhaltensweisen des Kleinkindes im ersten Lebensjahr verstanden werden. Diese werden im folgenden so genau wie möglich dargestellt, wobei auf eine Interpretation weitgehend verzichtet wurde. Innerhalb dieses Verhaltensinventars habe ich die folgenden Verhaltensbereiche besonders berücksichtigt:
1. Die motorische Entwicklung, wozu auch die Manipulationsfähigkeit gehört, das heißt wie sich das Kind den Reizen und Gegenständen der Umwelt zuwendet und wie es sich mit ihnen beschäftigt.
2. Die Entwicklung der Sinnesorgane, wobei ich mich auf die Hör- und vor allem auf die Sehreize beschränken mußte, da bis heute fast nur darüber gearbeitet wurde.[1]
3. Die Äußerungen des Kindes. Welche Äußerungsmöglichkeiten besitzt das Kind, in welchem Alter und wofür setzt es diese ein?
4. Das Sozialverhalten.
Bei der Zusammenstellung dieses Verhaltensinventars stütze ich mich vor allem auf zwei Autoren, auf Charlotte Bühler und auf die von ihr zwischen 1925 und 1935 begründete Wiener Schule und auf den Amerikaner Arnold Gesell. Gesell beobachtete eine sehr große Anzahl von Kindern und konnte von daher sehr genau die einzelnen Reifeschritte des Kindes beschreiben, wann sie zum erstenmal auftreten, worin ihre Vorformen liegen, wodurch sie abgelöst oder wie sie verfeinert werden usw. Charlotte Bühler dagegen hatte vielmehr das gesamte Verhalten des Kindes im Auge, angefangen vom Schlaf über die Stimmungslage bis zu den vorwiegenden Interessen des Kindes, wofür und in welchem Alter.[2]
Im übrigen will das nun folgende Verhaltensinventar die Entwicklung aller Kinder, unabhängig von der Behandlungsmethode durch die Mutter, also unabhängig von Kultureinflüssen aufweisen. Da aber praktisch alle zitierten Beobachtungen an europäischen oder amerikanischen Kindern gemacht wurden, kann der Einfluß der Behandlungstechnik natürlich trotzdem nicht ganz ausgeklammert werden.[3]
In den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt verbringt das Neugeborene die meiste Zeit, nämlich etwa zwanzig Stunden am Tag, im Schlaf oder Dämmerzustand. Neben dieser außerordentlich langen Schlafzeit fällt als weiteres Merkmal die Hilflosigkeit des Kindes auf. So kann es beispielsweise die Lage seines Rumpfes nicht verändern, seinen Kopf nicht aufrecht halten usf. Seine Arme und Beine führen unkoordinierte, ungeordnete und unregelmäßige Bewegungen durch, die vom Kind scheinbar nicht beachtet und daher von Bühler als «impulsive» Bewegungen bezeichnet werden.[1]
Wenn man das Verhalten des Neugeborenen ganz allgemein als hilflos bezeichnet, so muß dies dahingehend ergänzt werden, daß alle seine lebenswichtigen Verhaltensweisen reflexhaft, und das heißt unabhängig von seinem Willen, gesteuert werden. Von den vielen am Neugeborenen und Kleinkind beschriebenen Reflexen[2] will ich hier nur zwei erwähnen. Allgemein bekannt ist der Greifreflex: Werden die Handflächen des Kindes mit einem Gegenstand stimuliert, zum Beispiel mit einem Stab, dann schließen sich seine Finger so stark, daß es die Last des freischwebenden Körpers eine Zeitlang tragen kann.[3] Ein zweites und sehr wichtiges reflexhaftes Verhalten ist das rhythmische Brustsuchen: Wird das Kind in die Trinklage gebracht, dreht es seinen Kopf seitlich hin und her; wird bei diesem Suchen seine Lippen- oder Mundregion durch den Brustnippel oder die Flasche berührt, öffnet es den Mund und versucht den Nippel mit dem Mund zu fassen.[4]
Bei dem Verhalten des Neugeborenen seiner Umwelt gegenüber kann ferner festgestellt werden, daß es auf die meisten Sinnesreize ablehnend reagiert, das heißt durch sie gestört wird. Auf heftige Sinnesreize, seien es Geräusche, Veränderungen der Lichtintensität oder Lageänderungen, antwortet es mit Schreck, zum Beispiel Augenaufreißen, unruhigen Bewegungen oder sogar mit Schreien.[5] Ganz empfindlich reagiert das Kind ferner auf Temperaturschwankungen.
Zum besseren Verständnis sei dies ablehnende Verhalten am Beispiel des Sehens näher erklärt. Von Senden[6] untersuchte den Beginn und die Entwicklung der optischen Wahrnehmung bei erwachsenen Personen, die infolge eines angeborenen grauen Stars blind zur Welt gekommen waren und deren grauer Star später operativ entfernt wurde. Diese Menschen sahen keine Formen, sondern nur verschiedene Intensitäten von Helligkeit bzw. Dunkelheit, und sie mußten erst mühsam lernen zu sehen, zum Beispiel eine ganz bestimmte Konfiguration von Helligkeitsverschiebungen mit dem ihnen bekannten Geräusch, daß jemand durch die Tür eintrat, zu kombinieren, so daß sie schließlich auch sahen (!), daß jemand durch die Tür in ihr Zimmer trat. Vor allem sei auch auf das Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung solcher Menschen beim erstmaligen Empfinden von Lichteindrücken hingewiesen. Die operierten Patienten erlebten das ‹Sehen› als einen psychischen Streß, für viele war es eine Qual, und einige wollten wieder blind werden.
In einer ähnlichen Situation befindet sich vermutlich auch das neugeborene Kind, allerdings mit dem Unterschied, daß ihm das Geräusch, daß jemand durch die Tür hereintritt, ebenfalls noch unbekannt ist. Jedoch muß man wissen, daß nicht nur Seh- und Hörreize für das Kind neu sind, ungewohnt sind ihm auch Geschmacks- und Geruchsempfindungen, ferner Reize aus dem Gleichgewichtsorgan (Labyrinth) oder von seinen Muskeln her (proprioceptiver Sinn), schließlich Tast- und Schmerzsinn, und, wie erwähnt, antwortet es besonders empfindlich auf Kältereize. Alle diese Arten von Wahrnehmungen waren im Mutterleib noch nicht oder erst partiell vorhanden. Bei der Umstellung vom Leben im Mutterleib zur Außenwelt wird das Kind somit von einem Reizschwall überflutet. Daß es darauf vorwiegend ablehnend und teilweise mit Schrecken reagiert, dürfte einleuchtend sein.
Allerdings muß hierzu eingeschränkt werden – und als Beispiel wähle ich wiederum das Sehen –, daß die optische Wahrnehmung bereits beim Neugeborenen strukturiert ist. Es scheint somit auf Lichtreize besser vorbereitet zu sein als die erwachsenen Patienten von Sendens. Schon das Neugeborene bevorzugt nämlich komplexere Figuren vor einfacheren, und von allen ihm offerierten Reizen fixiert es eine schematische Gesichtsfigur signifikant am längsten.[7]
Zu dieser Reizflut kommen außerdem die ganzen physiologischen Veränderungen hinzu: Unmittelbar nach dem Austreten aus dem Mutterleib muß das Kind mit dem Atmen beginnen, es muß Nahrung aufnehmen, das während der Schwangerschaft aufgenommene Fruchtwasser (Mekonium) verdauen und abgeben, und schließlich ist die Wärmeregulation wohl eine seiner wichtigsten Leistungen. Unter diesem Aspekt darf eine Geburt als die größte Umwälzung oder Veränderung innerhalb eines Menschenlebens bezeichnet werden.
In diesem Zusammenhang müßte die Frage gestellt werden, welche Abwehr- oder besser Schutzmechanismen das Kind besitzt, um diese enorme Umwälzung verarbeiten zu können. Schon erwähnt habe ich, daß seine Wahrnehmung bereits strukturiert ist, das heißt es ist – genetisch determiniert – auf diese Umstellung sicherlich vorbereitet. Spitz (1967) postuliert ferner eine erhöhte Reizschwelle, das heißt eine physiologisch bedingte allgemeine niedere Sensibilität des Kindes, welche es beispielsweise vor Geräuschen oder Sehreizen schützen soll. Jedoch macht Spitz über diese Reizschwelle keine genaueren Angaben. Zu vermuten ist schließlich, daß die lange Schlafdauer des Neugeborenen einen Schutz gegen die Überfülle von neuartigen Reizen bildet. Ferner haben Untersuchungen von Dement u.a. (1957; 1965) ergeben, daß das neugeborene Kind im Durchschnitt die Hälfte seiner Schlafdauer im ‹REM-Sleep›, das heißt im Traumschlaf, im Gegensatz zum traumlosen Tiefschlaf verbringt. Der Erwachsene dagegen träumt nur während ca. eines Viertels seines Schlafs, also während etwa zwei Stunden. Ob das neugeborene Kind so viel träumt, um die Fülle der Außenweltreize und die Empfindungen im eigenen Körper zu verarbeiten, was heute vom Traum des Erwachsenen angenommen wird, darf vermutet werden. Gegen diese Auffassung spricht möglicherweise die Tatsache, daß das Kind schon im Mutterleib etwa ab 6./7. Schwangerschaftsmonat träumt bzw. zu früh geborene Kinder einen noch längeren Traumschlaf als normal geborene Kinder aufweisen.[8]
Was aber weiß man über das Sozialverhalten des Neugeborenen? Bereits in diesem frühen Alter schreien die meisten Kinder, wenn sie nach der Ernährung in die Wiege zurückgelegt werden, das heißt, wenn sie auf dem Arm der Mutter nicht eingeschlafen sind. Positiv ausgedrückt bedeutet das: Die meisten Kinder werden beruhigt, sobald sie aufgenommen werden und bleiben häufig ruhig, sobald sie im Körperkontakt mit der Pflegeperson stehen.[9] Ferner kann das schreiende Kind beruhigt werden durch Ernährung, durch rhythmische Stimulation wie zum Beispiel Wiegen und schließlich durch einen Schnuller. Dieser schützt nach Wolff auch das schlafende Kind gegen störende Reize, und zwar auch dann, wenn es nicht daran saugt.
Salk (1962) konnte zeigen, daß Kinder, denen Herztöne auf Tonband vorgespielt wurden, entschieden weniger schrien, das heißt sie schliefen schneller ein bzw. konnten besser durchschlafen. Dabei erzielten nur Herztöne und keine anderen rhythmischen Töne oder Geräusche diese Wirkung. Er schließt aus seinen Versuchen, daß seine Versuchskinder offensichtlich weniger Angst haben.
Die Ergebnisse von Salk zeigen ferner, daß die Versuchskinder im Durchschnitt während der ersten vier Tage 40 Gramm zunahmen, während in unserer Kultur eine Gewichtsabnahme in den ersten Tagen nach der Geburt als normal betrachtet wird.[10] Die Vermutung liegt somit nahe, daß diese sogenannte normale Gewichtsabnahme in Wirklichkeit ein psychopathologisches Phänomen darstellt.
Die motorische Hilflosigkeit des neugeborenen Kindes ändert sich auch während des ersten Quartals kaum. Erst im dritten Monat kann es beispielsweise in Bauchlage den Kopf und die Schultern für längere Zeit über die Unterlage erheben, indem es sich auf den Vorderarmen aufrichtet, aber die Lage seines Körpers selbst kann es immer noch in keiner Weise verändern.[1] Im Gegensatz zu diesen nur langsam heranreifenden Körperbewegungen sind erste Lernvorgänge in der Ernährungssituation schon kurze Zeit nach der Geburt zu beobachten. In der 2./3. Woche wird das reflexhaft rhythmische Brustsuchen durch das gerichtete Brustsuchen abgelöst, das heißt, das Kind wendet den Kopf direkt der Reizquelle zu.[2] Im zweiten Monat schnappt es bereits nach der Brustwarze bzw. dem Sauger, wenn dieser in die Nähe der Mundregion gebracht wird.[3]
Wichtig sind in diesem Quartal die allmählich einsetzenden Experimentierbewegungen: Das Kind beugt und streckt, hebt und senkt Arme und Beine; es reibt einzelne Körperteile aneinander; es nimmt die Hände in den Mund oder ergreift eine Hand mit der anderen. Im Gegensatz zu den ‹impulsiven› Bewegungen des Neugeborenen sind diese Experimentierbewegungen koordiniert und regelmäßig und werden häufig genau wiederholt. Solches Strampeln mit den Beinen und Rudern mit den Armen wird zudem vom Kind beachtet, aber nicht etwa visuell, sondern rein proprioceptiv (mit dem Muskelsinn). Darüber hinaus werden diese Bewegungsübungen von lustvollen oder freudigen Ausdrucksbewegungen begleitet, so plaudert es beispielsweise vermehrt oder beginnt umgekehrt zu schreien, wenn es gewickelt wird, nachdem es vorher frei strampeln durfte.[1] Anzumerken ist hier, daß solche Experimentierbewegungen erst im Laufe des zweiten Quartals gegenüber den ‹impulsiven› Bewegungen überwiegen, die schließlich im dritten Quartal ganz verschwinden.
Mit diesen Experimentierbewegungen beginnt das Kind, seinen eigenen Körper zu untersuchen. In demselben Zusammenhang dürfen auch die Zungen- und Lippenspiele[2] gesehen werden: Das Kind leckt beispielsweise seine Lippen, oder es läßt die Zunge zwischen Lippen und Gaumen entlanggleiten. Ist der Mund dem Kind erst einmal vertraut, kann dieser zum ‹Wahrnehmungsorgan› werden, um die eigene Hand kennenzulernen: Es steckt sie in den Mund, saugt an einzelnen Fingern, an seinem Handrücken oder an seinem Gelenk. Gegen Ende des ersten Quartals, zwischen dem zweiten bis vierten Monat, beginnt das Kind dann auch, eine Hand mit der anderen zu ergreifen und seine Hände zu betrachten. Da seine Hand- und Armbewegungen aber noch unabhängig sind vom Sehen, das heißt vom Sehen her nicht gesteuert werden können, sind Bühler und Hetzer (1927) der Ansicht, daß das Kind die Hand in dieser Phase vorwiegend als bewegten Gegenstand wahrnimmt. Piaget (1936) drückt dasselbe aus, wenn er sagt, daß das Kind versuche, mit seinem Blick zu verfolgen, was seine Hände tun.
Dieses Hand- oder Finger-in-den-Mund-Nehmen, verstanden als Körpererforschung, muß deutlich gegen das Daumenlutschen abgegrenzt werden, welches ebenfalls in dieser Zeit einsetzt oder bei einigen Kindern schon bei der Geburt vorhanden sein kann. Gesell und Ilg (1937) konnten beobachten, daß die Reaktion des Hand-in-den-Mund-Nehmens oder auch Schreiens in der Ernährungssituation sofort dann auftritt, wenn dem Kind der Nippel entzogen wird. Die Kinder in dieser frühen Phase können somit noch keinen Aufschub ihrer Bedürfnisse ertragen. Das Saugen an einem Finger, das heißt das Lutschen, hat dabei eine beruhigende Wirkung für das Kind. Man vergleiche auch die Wirkung des Schnullers bei Neugeborenen. Aber erst gegen Ende des ersten Quartals kann das Kind diese ‹Selbstberuhigung› einigermaßen erfolgreich ausführen, weil es in der ersten Lebenszeit schon bei geringen inneren Spannungszuständen ‹impulsive› Bewegungen ausführt[3] und dadurch den Finger immer wieder aus dem Mund verliert. Nach Wolff (1969) ist das Daumenlutschen eine spezifische Reaktion des Kindes auf Angst, besonders wenn es verlassen wird.
Während das Neugeborene auf die meisten Reize und Empfindungen – seien sie vom eigenen Körper oder aus der Umwelt – vorwiegend ablehnend reagiert, wendet sich das Kind im Laufe des ersten Quartals immer mehr diesen Sinneswahrnehmungen zu. Es beginnt nicht nur seinen eigenen Körper zu erforschen, wie oben geschildert, sondern es nimmt allmählich auch Umweltreize aufmerksam auf.
Nach den Beobachtungen von Bühler und Hetzer (1927) liegt gegen Ende des ersten Monats der Höhepunkt der negativen Ausdrucksbewegungen, worunter sie Schreien, Erschrecken, unruhige Bewegungen usf. verstehen. In der Folgezeit sinken diese schnell ab zugunsten der Zuwendung zu den Umweltreizen, seien es Hör- oder Sehreize usf. und schließlich auch Sensationen oder Empfindungen aus dem eigenen Körper. Der Schnittpunkt zwischen negativen und positiven Ausdrucksbewegungen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Lächeln usf., liegt nach Bühler aber erst im zweiten Quartal, das heißt erst dann überwiegen die positiven gegenüber den negativen Reaktionen. Im Zusammenhang mit dem Schreien sei auch die Klang-Spektrogrammanalysen von Wolff (1969) hingewiesen. Nach seinen Ergebnissen hat jede Art von Vokalisation im ersten Quartal ihren Ursprung im Schreien oder in einem Äquivalent des Schreiens von geringerer Intensität. An Sprachäußerungen werden in diesem frühen Lebensabschnitt vor allem Vokalplaudern ohne Konsonanten gefunden. Ein solches Plaudern kann im dritten Monat bereits in längere Stimmübungen übergehen.[1]
Die einzelnen Entwicklungsschritte des Kindes seien wiederum am Beispiel des Sehens erläutert. Schon kurze Zeit nach der Geburt dreht das Kind den Kopf nach hellen Stellen oder Flächen.[2] Im zweiten Monat kann es bereits eine Person mit seinen Augen im Raum verfolgen, sein Gesichtskreis erweitert sich also.[3] Blickt das Kind ein vorgezeigtes Objekt noch im zweiten Monat verzögert an, so erfolgt im dritten Monat ein promptes und regelmäßiges Fixieren.[4] Ferner haben Versuche von Polak u.a. (1964) ergeben, daß im dritten Monat auch das räumliche Sehen einsetzt. Dagegen entwickelt sich das Wahrnehmen von kleinen Objekten, und das heißt das Scharfsehen, erst im zweiten Quartal.[5]
Ein Problem der optischen Wahrnehmung möchte ich hier speziell erwähnen, nämlich das Konstanzsehen, mit welchem sich vor allem Piaget (1936) beschäftigt hat. Setzt man sich eine Brille aus Prismen auf, so zeigt sich die Umwelt, wie sie eigentlich auf der Retina abgebildet ist, nämlich um 180° gedreht (oben–unten vertauscht). Versucht man, mit einer solchen Brille zu laufen oder gar eine Treppe hochzugehen, so stellen sich sofort Schwindel und Unheimlichkeitsgefühle ein, weil alle vertrauten Gegenstände der Umwelt sich bei jeder Eigenbewegung mitbewegen. Piaget vermutet nun, daß das Kleinkind ähnlich sieht: Nicht es selbst bewegt sich, sondern die Gegenstände der Umwelt sieht es sich bewegen. Zu welchem Zeitpunkt diese Art von Sehen aufhört zugunsten eines hirnphysiologisch bedingten, auskorrigierenden Konstanzsehens, ist bis heute nicht geklärt.
Gegen solche Auffassungen sprechen praktisch alle neueren Experimente an Kleinkindern, die den Schluß nahelegen, daß das Sehen des Kindes wahrscheinlich zu einem großen Teil genetisch vordeterminiert ist.[6] So konnte Bower (1971) zeigen, daß neugeborene Kinder auf ein herannahendes, das heißt sich vergrößerndes Objekt mit Schrecken reagieren. Bereits Neugeborene erwarten somit – obwohl sie noch keine Erfahrungen mit Gegenständen besitzen – von einem herannahenden Objekt taktile Konsequenzen. Vielleicht noch erstaunlicher ist die Beobachtung, daß bereits so kleine Kinder um die Permanenz der Objekte wissen: Auch wenn ein Objekt hinter einem anderen verschwindet, wissen sie noch um dessen Gegenwart.[7] In dieselbe Richtung weisen auch Beobachtungen von Gibson und Walk (1960), welche zeigen, daß Kinder, die zu kriechen beginnen, bereits vor einem Abgrund erschrecken, obwohl auch sie dazu noch keine Erfahrung sammeln konnten.
Wie das Neugeborene erlebt das Kind auch in den ersten drei Monaten Kontakt in erster Linie durch unmittelbare Nähe zu einer Pflegeperson, das heißt in Form von Körperkontakt. Beobachtungen von Schaffer und Emerson (1964 a) ergaben, daß praktisch alle Kinder in diesem Alter beruhigt werden können, indem man sie auf den Arm nimmt. Umgekehrt beginnen sie zu weinen, wenn sie aus der Körperkontaktsituation in die Wiege zurückgelegt werden. Allerdings können sie teilweise dadurch beruhigt werden, daß man zu ihnen spricht[1], das heißt, sie unterscheiden schon in diesem frühen Alter (ab erstem Monat) die menschliche Stimme von allen anderen akustischen Reizen.[2] Als Reaktion darauf versucht das Kind, ins Gesicht der betreffenden Person zu blicken oder aber später zu lächeln.
Dieselbe Verhaltensweise, nämlich ins Gesicht der Pflegeperson zu blicken, zeigt das Kind im zweiten Monat auch in der Ernährungssituation, aber erst dann, wenn es allmählich satt wird. Die Beobachtung von Spitz (1967), nach welcher Brustkinder öfter ins Gesicht der Mutter blicken als Flaschenkinder, ist falsch. Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall.[3]
Solche Beobachtungen weisen darauf hin, daß vom Kind die unmittelbare Nähe immer noch primär als Kontakt erlebt wird. Andererseits beginnt es schon in diesem Alter, die Anwesenheit einer Person als Kontakt zu erleben: Nicht nur das Hören, das heißt die menschliche Stimme, sondern auch das Sehen, das heißt das bloße Hinzutreten einer Pflegeperson, kann beruhigend wirken[4], und das heißt kann vom Kind als Kontakt erlebt werden.
Wichtig aber ist das Faktum, daß das Sozialverhalten des Kindes in diesem frühen Alter noch undifferenziert ist.
Sogenanntes indiscriminate attachment nach Schaffer und Emerson (1964 a). Dabei bedeutet attachment die Tendenz des Kindes, die Nähe von anderen Individuen seiner Art zu suchen.
Diese Art von Kontaktbedürfnis ist nach Schaffer eher stimulus- als objektorientiert, was bedeutet: Das Kind strebt in erster Linie nach Nähe oder besser nach Körperkontakt, und dieses Kontaktstreben ist noch nicht auf einen bestimmten Partner, auf die Mutter, gerichtet.
Sogenanntes specific attachment. Aus diesen Gründen habe ich das Wort Mutter bisher vermieden und an Stelle davon jeweils von einer Pflegeperson gesprochen. Allerdings kennt das Kind seine Mutter bereits im dritten Monat, und eventuell schon früher. Doch dieses Kennen der Mutter, der Beginn des specific attachment zeigt sich erst in ganz geringen Nuancen: So lächelt oder plaudert das Kind zum Beispiel vermehrt zur Mutter, es läßt sich durch sie schneller beruhigen oder folgt ihr länger mit dem Blick im Raum als anderen Personen.[5] Obwohl das specific attachment somit eindeutig im dritten Monat beginnt, überwiegt das indiscriminate attachment – das ungerichtete Streben nach Nähe – auch noch im zweiten Quartal. Erst zwischen dem sechsten bis achten Monat kann das spezifisch auf die Mutter gerichtete Kontaktbedürfnis bei allen Kindern eindeutig und klar beobachtet werden.
Verbringt das Kind in der ersten Zeit nach der Geburt nahezu zwanzig Stunden pro Tag in Schlaf- und Dämmerzuständen, so verschiebt sich das Verhältnis zwischen Schlaf- und Wachzeit in den folgenden Monaten sehr rasch. Bereits im Laufe des zweiten Quartals liegt das Kind fast so lange wach, wie es schläft, und dieses Verhältnis ändert sich bis zum Ende des ersten Lebensjahres nur noch unwesentlich. Schlaf- und Wachzeit sind zu diesem Zeitpunkt etwa gleich lang.[1]
Was das motorische Verhalten betrifft, lernt das Kind in diesem Lebensabschnitt, seine Rumpfmuskulatur zu beherrschen: So kann es sich im sechsten Monat vom Rücken auf den Bauch drehen, wenn es will, und umgekehrt. Vor allem aber werden in diesem Quartal die Bewegungen der Arme mit dem Sehen koordiniert, das heißt, das Kind kann seine Hände vom Sehen her steuern. Während es im ersten Quartal einen vorgezeigten Gegenstand nur fixierte, beginnt es nun bei dessen Anblick, mit den Armen zu rudern. Im fünften Monat streckt es beide Hände einem Objekt entgegen, und im sechsten Monat kann es schließlich danach greifen.[2]
Das Kind beginnt nun, einen Gegenstand, den es in der Hand festhält, zu betrachten, es kann ihn hin- und herbewegen, ihn betasten oder daran kratzen, und schließlich kann es sein Spielzeug auch gegen die Bettwand reiben oder klopfen. Es beginnt somit, nicht nur Spielgegenstände, sondern auch seine nähere Umgebung abzutasten. So zum Beispiel ergreift es seine Decke, betastet die Wände seines Bettes, und während des Trinkens legt es seine Hände auf die Brust der Mutter oder es versucht, aktiv nach der Flasche zu greifen. Auch das Gesicht seiner Kontaktperson möchte es betastend ergreifen.[3] Für das Erforschen der Gegenstände spielt aber nicht so sehr das Sehen und auch nicht das Betasten, sondern vielmehr das ‹Objekt-in-den-Mund-Nehmen› eine entscheidende Rolle.[4] Wann immer das Kind einen Gegenstand festhält oder später anfassen kann, führt es diesen nach kürzerer oder längerer Zeit zum Mund, um daran zu saugen und um ihn mit den Lippen und der Zunge zu betasten. Der Mund ist somit das erste ‹Wahrnehmungsorgan›, mit welchem das Kind seine Umwelt zu erforschen beginnt.[5] Diese Verhaltensweisen des ‹Objekt-in-den-Mund-Nehmens› beginnt etwa im vierten Monat, erreicht den Höhepunkt im 6./7. Monat und klingt erst gegen Ende des ersten Lebensjahres oder noch später ab.[6]
Das Kind verhält sich im zweiten Quartal aber nicht nur aktiv den Objekten gegenüber, sondern es reift in ihm auch eine Beziehung zu den Gegenständen heran. Beim Spielen beginnt es zu plaudern oder zu lächeln. Versucht man ihm ein Spielzeug zu entziehen, so zeigt es Unmut, es fängt sogar an zu schreien oder zeigt einen ersten Widerstand. Verliert es einen Spielgegenstand, kann es den Kopf in die entsprechende Richtung drehen und suchen und schließlich das Objekt wieder aufheben.[7]
Einen der wichtigsten Entwicklungsschritte des Kindes in dieser Phase stellt das Körpererforschen dar. Bereits im ersten Quartal beginnt es, mit seinem Körper vertraut zu werden, und zwar durch die Experimentierbewegungen einerseits und durch die Zungen- und Lippenspiele andererseits. Im dritten und vierten Monat erforscht es dann ganz intensiv seine Hände, saugt an einzelnen Fingern, betastet und ergreift seine Hände gegenseitig. Schließlich betrachtet es sie alternierend oder es verfolgt die einzelnen Bewegungen seiner Finger. In dieser Zeit erforscht das Kind aber auch sein Gesicht: Es greift zum Beispiel nach seinen Augen, reibt sie – was später ein universelles Zeichen von Müdigkeit darstellt –, legt seine Hände auf die Nase oder fährt mit der Hand über sein ganzes Gesicht. Doch nicht nur das Gesicht, sondern auch seinen Körper beginnt es, ertastend zu begreifen. Es kratzt an einzelnen Stellen, oder aber es zupft an seiner Kleidung. Gegen Ende dieses Quartals setzt dann eine größere Beinaktivität ein. Das Kind strampelt stärker und häufiger, und schließlich streckt es seine Beine hoch in die Luft. Es beginnt dann, nach seinen Beinen, Knien und Füßen zu greifen, betastet und betrachtet sie. Dieses Körpererforschen ist im wesentlichen zwischen dem siebten bis neunten Monat dadurch abgeschlossen, daß das Kind seinen Fuß oder seine Zehen in den Mund nimmt.[1] Auf einen Aspekt des Körpererforschens sei noch speziell hingewiesen. Sicher ist es kein Zufall, daß die Hände vom Kind erst genau erforscht werden, bevor sie ihre eigentliche Funktion, das Greifen und Betasten, übernehmen. Derselbe Vorgang wird auch im Zusammenhang mit den Beinen und Füßen beobachtet: Erst werden sie mit den Händen, dann visuell und schließlich mit dem Mund genau erforscht, und all das, bevor sie ihre erste Funktion der Lokomotion, nämlich das Kriechen, im 8./9. Monat übernehmen können.
Neben dem intensiven Körpererforschen befindet sich das Kind des zweiten Quartals in der Sehphase. Die entsprechende Hörphase ist nach Bühler und Hetzer (1927) etwas früher erreicht: Auf akustische Reize reagiert das Kind im dritten Monat am längsten. Im 4./5. Monat wird dieses sehr intensive Reagieren durch vermehrt freudige Zuwendung zu akustischen Reizen abgelöst. Zur selben Zeit gilt die größere Aufmerksamkeit des Kindes den optischen Reizen. Bühler (1931) leitet aus diesen Beobachtungen eine Regel ab, die nicht nur für das Hören und Sehen, sondern für die Entwicklung des Kleinkindes ganz allgemein gilt: Die leichte und freudige Bewältigung einer Situation erfolgt erst zu einem Zeitpunkt, wo die anstrengendste Bemühung darum und das intensive Interesse daran bereits vorüber sind.
Optische Umweltreize können für das Kind sogar attraktiver sein als die Nahrungsaufnahme. Im fünften und sechsten Monat unterbricht es sie häufig, nachdem der erste Hunger gestillt ist. Mit absorbiertem Interesse betrachtet es dann die Umgebung, um erst danach seine Mahlzeit zu beenden.[1] Das Bedürfnis zu sehen ist somit stärker als der Hunger. Dieses Verhalten kann aber nur im zweiten Quartal beobachtet werden, denn nach Abklingen der Sehphase konzentriert sich das Kind wieder völlig auf seine Nahrungsaufnahme und bricht diese erst bei voller Sättigung ab.
Zu betonen ist, daß dieses intensive Verhalten der Umwelt gegenüber nur dann auftritt, wenn das Kind schon eine bestimmte Menge getrunken hat, denn im dritten und teilweise auch vierten Monat noch fängt das Kind sofort an zu schreien, wenn es die Flasche sieht. Genauso reagiert es mit Schreien, wenn ihm während der Ernährung die Flasche für kurze Zeit entzogen wird, oder aber es nimmt seine Hand in den Mund. In denselben Situationen schreit das Kind im 5./6. Monat nicht mehr sofort, ja es kann sogar durch den Anblick der Flasche vor der Ernährung beruhigt werden.[2] Das Kind erwirbt also seine erste Fähigkeit, warten zu können, in diesem Quartal, während noch jeder Nippelentzug sicher bis zum vierten Monat eine Enttäuschung oder ein Frustrationserlebnis ist.
Im Zusammenhang mit der Ernährung seien hier auch die Sattheitsreaktionen des Kindes erwähnt. Dies drücken die Kinder im ersten Quartal meist dadurch aus, indem sie einschlafen. Zusätzlich können sie auch den Kopf von der Nahrungsquelle zurückziehen, indem sie den Nippel mit der Zunge ausstoßen oder aber den Kopf wegdrehen. Im zweiten Quartal kann sich das Kind auch in einer spielerischen Weise mit dem Nippel beschäftigen, zum Beispiel durch Ausstoßen und Wiedereinsaugen, oder aber es kann die Flasche mit beiden Händen von sich schieben. Ähnliche Beobachtungen können auch in anderen Situationen, zum Beispiel beim Ohrenputzen gemacht werden: Das Kind versucht, den störenden Reiz fernzuhalten. Bühler und Hetzer (1927) betrachten dies als Übergang von früher diffusen Fluchtbewegungen im ersten Quartal zu den nun ersten gezielten Abwehrbewegungen. Im dritten und vierten Quartal kann das Kind als Ausdruck von Sattheit dann auch den Mund eng geschlossen halten, oder es hält den Löffel und die Flasche abwehrend fest. Feste Nahrung kann mit Lippen und Zunge wieder ausgesprüht werden. Zu Beginn des zweiten Lebensjahres wird das Kind bei Sattheit den Kopf schütteln und mit ca. eineinhalb Jahren ‹nein› sagen können.[3]
Schon im zweiten, aber sicher im dritten Monat lächeln die meisten Kinder. Dabei ist das Lächeln in diesem frühen Zeitpunkt eine vorwiegend reflexhafte, das heißt durch ganz bestimmte Gestaltkonfigurationen auslösbare Verhaltensweise: In erster Linie sind hier das Gesicht des Menschen, aber auch die Stimme zu erwähnen.[1] Im zweiten Quartal dagegen zeigt das Kind diese Verhaltensweise immer stärker spontan. Das Lächeln ist dabei eine Möglichkeit des Kindes, aktiv Kontakt zu suchen, die Aufmerksamkeit der Pflegeperson auf sich zu ziehen oder auch bereits bestehenden Kontakt zu verlängern. Ähnliche Kontaktsuchmechanismen wie das Lächeln sind: Das Blicken ins Gesicht der Pflegeperson, das Plaudern oder das Armeentgegenstrecken.[2] Wie stark diese Initiativen des Kindes werden können, kann aus den grausamen Experimenten von Dennis (1941) abgelesen werden. Dennis wollte wissen, wie sich ein Kind – im konkreten Fall war es ein Zwillingsmädchenpaar – mit einem Minimum an sozialem Kontakt entwickeln würde. Zu diesem Zweck reduzierte er jede Pflegehandlung bei Ernährung oder Wickeln auf ein absolutes Minimum und nahm auch sonst keinerlei Kontakt mit den Kindern auf. Doch im Laufe des zweiten Quartals wurde diese Kontaktinitiative, das aktive Suchen nach Kontakt der Kinder durch Blick-Nachfolgen, Lächeln und Plaudern so intensiv, daß Dennis sich gezwungen sah, seine Experimente mindestens teilweise abzubrechen: Er gab den Kontaktinitiativen der Kinder nach. «Bemerkenswert ist, daß die Zwillinge dem Versuchsleiter gegenüber so positiv reagierten, daß dieser deren negative Reaktion nicht filmen konnte, denn bei jeder Annäherung hörte das Weinen auf und die Kinder lächelten.»[3]
Vor allem Bowlby (1969) hat sich mit der Funktion des Lächelns und Plauderns sehr eingehend beschäftigt und diese beiden Verhaltensweisen gegenüber dem Schreien abgegrenzt. Auch das Schreien des Kindes hat Signalcharakter mit der Funktion, die Pflegeperson zum Kind zu bringen; aber das Schreien ist primär ein Hilfeappell. Im Gegensatz dazu lächelt und plaudert das Kind, wenn es wach, zufrieden und nicht einsam ist, keinen Hunger oder Schmerz hat. Schreien löst bei der Pflegeperson das Verhalten aus, das Kind in irgendeiner Weise zu beschützen, es zu nähren oder zu beruhigen. Lächeln und Plaudern dagegen haben eine ganz andere Wirkung: Die Pflegeperson lächelt oder plaudert zurück, sie streichelt das Kind oder beschäftigt sich sonst in einer spielerischen Weise mit ihm oder nimmt es in den Arm. Durch das Lächeln usf. wird die Pflegeperson ‹gezwungen›, mit dem Kind Kontakt aufzunehmen. Erwähnt sei auch die Beobachtung von Ambrose[4], daß nämlich die meisten Kinder zu lächeln aufhören, wenn sie auf den Arm genommen werden: Das Ziel ihres Lächelns ist damit erreicht. Alle diese Kontaktinitiativen, wie ins Gesicht der Mutter zu blicken, ihr mit dem Blick nachzufolgen, vor allem aber zu lächeln und zu plaudern, haben ferner die Wirkung, daß die Bindung der Mutter an ihr Kind stark intensiviert wird.
Im zweiten Halbjahr übernehmen die Arme und Beine die Funktion der Lokomotion: Das Kind lernt sich fortzubewegen, was die Grundlage zum aktiven Erforschen und Erkunden der Umwelt darstellt. Im achten Monat kann sich das Kind auf gewinkelten Armen meist erst rückwärts schieben, kurze Zeit später auch nach vorwärts ziehen, was als Krabbeln bezeichnet wird. Erst im 9./10. Monat braucht es zur Fortbewegung auch seine Beine. Das Kind kann den Körper von der Unterlage abheben und sich auf Händen und Knien vorwärts bewegen: es kriecht. Im 10./11. Monat lernt es dann, sich zum Stehen hochzuziehen. Kurze Zeit später kann es sich beispielsweise an Möbeln festhalten und dabei seine Hände verschieben, so daß es dann fähig ist zu gehen. Seine ersten selbständigen Schritte macht es aber erst zu Beginn des zweiten Lebensjahres: Im 14./15. Monat lernt es laufen.[1]
Voraussetzung dafür, daß ein Kind im 10./11. Monat gehen kann, ist, daß es, wenn es sich an Möbeln festhält und dabei seine Hände verschiebt, den einmal gemachten Griff wieder lösen muß, um sich an einer neuen Stelle festzuhalten. Speziell Gesell und Amatruda (1965) haben sich mit diesem Problem beschäftigt, daß nämlich das Kind sehr wohl im sechsten Monat greifen lernt, aber erst im neunten Monat einen Gegenstand willentlich loslassen kann, und auch dann nur, um einen anderen Gegenstand zu ergreifen. Jedes Loslassen vor dem neunten Monat ist somit unbeabsichtigt: Dem Kind fällt gegen seinen Willen ein Gegenstand aus der Hand. Erst im 11./12. Monat erfolgt dann ein spielerisches Üben dieses Loslassenkönnens. So wirft das Kind im vierten Quartal unermüdlich Gegenstände weg, oder aber es legt ein Objekt ganz vorsichtig nieder, um es wieder aufzuheben und an eine andere Stelle hinzulegen, zurückzunehmen usf.
Diese Übungen werden zur Voraussetzung zum Aufeinanderstellen von zwei Gegenständen, zum Bauen, eine Fertigkeit, welche das Kind erst im zweiten Lebensjahr erlernt.
Trotz dieses spielerischen Übens von Loslassen kann ein Kind auch gegen Ende des ersten Lebensjahres ein Spielzeug im Sozialkontakt mit dem Erwachsenen nicht spontan hergeben. So streckt es beispielsweise einen Ball dem Erwachsenen entgegen, aber ohne ihn loslassen zu können. Ein spielerisches Geben und Nehmen von Spielsachen setzt dann erst zu Beginn des zweiten Lebensjahres ein. Das Loslassen, Sich-von-etwas-Trennen ist somit für das Kind viel schwieriger und wird in der Entwicklung später erreicht als das Greifen, das Besitzergreifen eines Objekts. Diese Regel gilt auch für das Sozialverhalten.
Im zweiten Quartal befand sich das Kind in einer Hör- bzw. Sehphase, die im dritten Quartal durch eine Greif- und Manipulationsphase abgelöst wird: Zwischen dem sechsten bis achten Monat greift das Kind ‹blind› nach allen Gegenständen, die in seiner Nähe und auch außerhalb seiner Reichweite liegen.[1] Herzka (1967) nennt diese Zeitspanne auch eine Periode des Besitzergreifens. Während dieser Greifphase untersucht das Kind die Objekte, wie früher erwähnt, primär mit dem Mund.
Wichtiger aber als das Erforschen ist das unablässige Manipulieren mit den Objekten im dritten Quartal: Das Kind schlägt mit einem Würfel kräftig auf den Tisch, klopft unermüdlich mit einer Rassel gegen seine Bettwand oder es schüttelt aktiv eine Puppe. Wenn es im achten Monat fähig wird, gleichzeitig zwei Gegenstände in sein Spiel mit einzubeziehen, reibt es sie aneinander oder klopft sie gegeneinander. Während dieses rastlosen Manipulierens beachtet das Kind seine Spielsachen kaum.[2] Hetzer (1931) charakterisiert das Spiel des Kindes in dieser Phase folgendermaßen: Es manipuliert einen Würfel noch genauso wie seine Klapper oder wie eine Puppe, das heißt, es kümmert sich noch nicht um die Eigenart des Materials, es handhabt die Spieldinge noch in einer unspezifischen Weise.
Erst im vierten Quartal setzt ein systematisches Untersuchen der Objekte ein. Das Kind fügt zwei Gegenstände sorgfältig und langsam aneinander, als ob es sie vergleichen wollte, es dreht ein Spielzeug langsam in seinen Händen um, wechselt es von einer Hand in die andere, betrachtet es dabei aufmerksam, betastet es, läßt seine Hand über Unebenheiten gleiten oder kratzt an gewissen Stellen. Das Kind beginnt also, seine Spielgegenstände zu betrachten, es erforscht das Material der Objekte, und zwar auf Kosten der Schnelligkeit und Lebhaftigkeit der Bewegungen und Manipulationen mit dem Objekt.[3]
In den früheren Abschnitten habe ich jeweils beim Spiel- und Erkundungsverhalten immer auch das Körpererforschen erwähnt. Was den eigenen Körper betrifft, ist diese Art von Erforschen im dritten Quartal im wesentlichen dadurch abgeschlossen, daß das Kind seine Beine und Füße untersucht. Immer stärker dagegen möchte das Kind nun das Gesicht und den Körper seiner Kontaktperson, vor allem seiner Mutter, erkunden. So greift es nach ihren Haaren, es steckt den Zeigefinger in die Augen und Nasenlöcher, versucht, die geschlossenen Lippen und Augenlider zu öffnen oder es betastet ihre Zähne.[4] Nach Piaget (1945) fängt das Kind dann zu Beginn des zweiten Lebensjahres an, seine Körperteile mit denjenigen des Erwachsenen zu vergleichen, zum Beispiel berührt es das Auge des Erwachsenen und dann sein eigenes. Dasselbe gilt für die Nase, die Zunge usf.
Zur Sprachentwicklung sei angemerkt, daß das Kind im zweiten Halbjahr vermehrt Konsonanten bildet. Diese äußert es meist nicht einzeln, sondern serienmäßig. Im Übergang vom dritten zum vierten Quartal beginnt es, diese Lautserien in einzelne Silben aufzulösen, was nach Herzka (1967) die Voraussetzung für die Bildung der ersten Worte darstellt. Am Ende des ersten Lebensjahres äußert das Kind dann zwei bis drei Worte, wobei es aber die Bedeutung von mehreren Worten kennt. Ende des ersten und mit Beginn des zweiten Lebensjahres fängt das Kind auch an, seine Mutter mit Ma-ma-Lauten zu rufen.[5]
Wie bereits erwähnt, ist das Sozialverhalten des Kindes im zweiten Quartal dadurch charakterisiert, daß es immer stärker aktiv wird, das heißt die Initiative ergreift, um mit seiner Pflegeperson und mit anderen Personen in Kontakt zu kommen, sei es durch Lächeln, Plaudern usf. Dieses Kontaktsuchen des Kindes ist noch praktisch unterschiedslos auf alle Personen gerichtet (indiscriminate attachment). Im 5./6. Monat jedoch lächelt ein Kind nicht mehr spontan auf eine fremde, ihm unbekannte Person: Entweder bleibt es ihr gegenüber indifferent oder aber es betrachtet sie erst längere Zeit, bevor es zu lächeln beginnt.[1]
Parallel zu dieser Entwicklung gegenüber fremden Personen richtet das Kind im dritten Quartal sein Kontaktsuchen immer stärker auf seine hauptsächliche Pflegeperson, auf seine Mutter (specific attachment): Es plaudert schneller und häufiger oder lächelt nur noch beim Anblick der Mutter; es verfolgt mit den Augen ihre Bewegungen länger als diejenigen einer anderen Person; es möchte nur noch von der Mutter in den Arm genommen werden; durch eine andere Person kann es unter Umständen nicht mehr beruhigt werden; es schreit, wenn die Mutter weggeht; es schreit jedoch nicht, wenn eine andere Person den Raum verläßt; wenn es kriechen kann, versucht es nur der Mutter nachzufolgen, und schließlich ist die Mutter auch das Zentrum, von welchem aus die Umwelt erforscht wird.[1] Diese Verhaltensweisen des Kindes, welche spezifisch auf eine Pflegeperson gerichtet sind, möchte ich als Bindung des Kindes an die Mutter bezeichnen. Bowlby (1969) betrachtet den auf eine Person (Mutter) gerichteten Kontaktwunsch des Kindes als so entscheidend, daß er für dieses Phänomen einen eigenen Begriff prägte und von der «Monotropie» des Kindes spricht.
In der Literatur wurde bisher folgender Aspekt des Bindungsverhaltens wenig beachtet: Das Kind versucht, mit einer unermüdlichen Intensität, die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu lenken und ist nicht zufrieden, bevor ihm dies nicht gelungen ist. So plaudert es beispielsweise oder es streckt ihr seine Arme entgegen, bis es schließlich von der Mutter auf den Arm genommen wird oder sie sich in einer anderen spielerischen Weise mit ihm beschäftigt. Wenn das Kind kriechen gelernt hat und sich von der Mutter weg bewegt, wird dieser Besitzanspruch innerhalb des Bindungsverhaltens nicht etwa geringer, sondern eher größer. Hierfür ein anschauliches Beispiel: Eine Mutter kann neben ihrem spielenden Kind ohne Schwierigkeiten Haushaltsarbeiten verrichten, weil sie mit ihm immer wieder Kontakt aufnehmen kann, sei das durch einen Blick, ein kurzes Plaudern usf. Es ist der Mutter aber kaum möglich, eine Tätigkeit auszuführen, die ihre volle Aufmerksamkeit erfordert, zum Beispiel einen Brief schreiben oder schlafen. In solchen Situationen wird sie durch ihr Kind immer wieder gestört, es beginnt sofort zu protestieren.
Bisher habe ich das Bindungsverhalten des Kindes so dargestellt, als konzentriere es sein gesamtes Kontaktbedürfnis allein auf eine Person – die Mutter. Dies ist insofern richtig, als daß das Kind nur eine Person als seine Mutter akzeptiert, und beispielsweise nur von ihr effektiv beruhigt werden kann, nur von ihr aus die Umwelt uneingeschränkt erforschen kann usf. Jedoch konnten Schaffer und Emerson (1964 a) folgende Gesetzmäßigkeit beobachten: Ein Kind mit einer starken Bindung an seine Mutter neigt dazu, auch zu anderen Personen, zum Beispiel Tanten, Beziehungen oder gar Bindungen zu knüpfen. So weint das Kind beispielsweise auch dann, wenn diese Tante den Raum verläßt. Umgekehrt gilt: Ist ein Kind schwach an seine Mutter gebunden, kann es keine Beziehungen oder Bindungen zu anderen Personen aufnehmen. Ainsworth (1967) gibt für dieses Phänomen folgende Erklärung: Je unsicherer ein Kind in seiner Bindung zur Mutter ist, desto mehr sind seine Bestrebungen, auch Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, blockiert, und ich möchte hinzufügen, weil seine ganzen Bestrebungen und Bemühungen sich darin beschränken, mindestens zu einer Person eine zuverlässige Beziehung aufzubauen, mindestens seine Mutter besitzen zu dürfen. Wichtig ist, daß diese Gesetzmäßigkeit nur für das erste Lebensjahr gilt, sie hat nach Schaffer keine Geltung mehr für das ältere Kind.
Schaffer und Emerson konnten ferner zeigen, daß die Stärke und Intensität der Bindung des Kindes an die Mutter von den beiden folgenden Faktoren abhängig ist:
1. Wie prompt sie auf das Schreien des Kindes in seinen ersten Lebensmonaten reagiert, oder allgemeiner ausgedrückt: Wie groß ihre Bereitschaft und ihr Verständnis ist, auf die kindlichen Bedürfnisse einzugehen.
2. Mit welcher Intensität sie sich mit dem Kind beschäftigt. Hierunter ist nicht die Routinepflege des Kindes zu verstehen, sondern der spontane soziale Kontakt der Mutter zum Kind, indem sie beispielsweise auf sein Kontaktsuchen eingeht. Umgekehrt bedeutet das: Wird ein Kind schreien gelassen oder aber werden nur seine physiologischen Bedürfnisse befriedigt, dann ist ein solches Kind schwach oder gar nicht an seine Mutter gebunden.[2]
Gleichzeitig mit dem Bindungsverhalten des Kindes an seine Mutter werden auch seine Reaktionen auf ihm unbekannte, das heißt fremde Personen intensiver. Es betrachtet sie nicht länger kritisch wie im zweiten Quartal, sondern wendet sich beim ersten Anblick meist in irgendeiner Form vom fremden Menschen ab. Bleibt der Fremde allerdings in einer angemessenen, kritischen Distanz vom Kind entfernt, so wird es sich allmählich an ihn gewöhnen können, und dies um so schneller, je weniger der Fremde irgendwelche Kontaktinitiativen ergreift. Nach einer gewissen Zeit wird das Kind allmählich den Blickkontakt zu dieser Person suchen, ihr zulächeln oder zu ihr hinkriechen, wenn es dazu bereits fähig ist, und schließlich wird das Kind die fremde Person auch näher untersuchen wollen, beispielsweise durch Betasten, indem es sich an ihr hochzieht usf. Nur nach Zutrauen – oder besser nach dem Grad der Annäherung des Kindes – darf der Fremde auf sein Kontaktsuchen eingehen. Ergreift er dagegen selbst irgendwelche Initiativen oder geht gar sofort auf das Kind zu, ohne die kritische Distanz und die kritische Zeit bis zur Gewöhnung zu beachten, dann zeigt das Kind Fremdenangst: Diese kann sich vom Zeichen eines Unbehagens über Wimmern bis zum lauten Schreien steigern.
Die Fremdenangst tritt auch dann auf, wenn das Kind auf dem Schoß der Mutter sitzt. Die Zeichen von Angst sind aber viel stärker, wenn es von der Mutter in irgendeiner Form getrennt ist oder wenn sie gar abwesend ist. Nicht nur die Distanz des Fremden, sondern auch die Distanz der Mutter zum Kind spielt bei der Fremdenangst somit eine wesentliche Rolle. Wichtig ist ferner, daß diese Zeichen von Angst vom Kind nicht nur gegenüber fremden Personen geäußert werden, sondern auch in fremden Umgebungen: Hier wird sich das Kind erst einmal nicht von der Mutter wegbewegen und sich an all das Neuartige gewöhnen müssen, bevor es die ersten Erkundungen in der unmittelbaren Nähe der Mutter unternimmt. Beim geringsten Erschrecken kehrt es dabei sofort zu ihr zurück. Bekannt ist in diesem Zusammenhang auch, daß Kinder, auch noch Zwei- und Dreijährige, an fremden Orten in der ersten Nacht große Mühe haben einzuschlafen.[1]
Zur zeitlichen Datierung der Fremdenangst sei noch erwähnt, daß sie im dritten Quartal sehr stark ausgebildet ist[2], daß sie aber stark auch noch im zweiten und teilweise dritten Lebensjahr beobachtet werden kann.[3] Und ich möchte hinzufügen: Fremdenangst ist selbstverständlich auch beim erwachsenen Menschen – wenn auch abgeschwächt – noch vorhanden.
Im ersten Quartal und auch später kann das Kind universell beruhigt werden, wenn man es aufnimmt, und umgekehrt beginnt es zu schreien, wenn es ins Bett zurückgelegt wird, das heißt wenn es den Körperkontakt verliert. Diese Verhaltensweise wird im Laufe der Entwicklung allmählich schwächer, weil es auch das Sehen der Mutter als Kontakt erleben kann. Dagegen beginnt das Kind im zweiten Halbjahr vorwiegend dann zu schreien, wenn die Mutter den Raum verläßt, worin sich das Kind befindet, das heißt, wenn sie sich außerhalb seiner Seh- und Hörweite wegbewegt. Dieses Phänomen wird als Trennungsangst bezeichnet.[1]
Gegen Ende des ersten Lebensjahres kann es sogar aus verschiedenen Verhaltensweisen der Mutter ihr unmittelbar bevorstehendes Weggehen vorausahnen und schreit eventuell schon, bevor die Mutter das Zimmer effektiv verlassen hat.
Die Verhaltensweisen des Kindes bei Trennungsangst bestehen in Protest bis zu wütenden Schreiausbrüchen, oder es verfällt in eine sinnlose, motorische Unruhe. Das etwas ältere Kind versucht bei der Trennung der Mutter nachzukriechen; hinzu kommt dann im zweiten Lebensjahr das Suchen der Mutter an bekannten Stellen. Bei länger andauernder Trennung von der Mutter wird das Kind meist ruhig, das heißt seine allgemeine Aktivität ist reduziert. Es zeigt Gefühlsäußerungen von Traurigkeit bis zur Apathie. Jede Art von Erkundungs- und Neugierdeverhalten wird dann meist ganz eingestellt. Wird das Kind bei einer anderen Person zurückgelassen, verlangt es ununterbrochen deren Aufmerksamkeit.
Die Trennungsangst beginnt, wie erwähnt, im ersten Lebensjahr, erreicht ihre maximale Intensität jedoch zwischen dem 12. bis 18. Monat[2], zu einem Zeitpunkt also, wo das Kind laufen lernt. Erst im dritten Lebensjahr werden die Trennungsangst-Reaktionen schwächer: Im Übergang vom dritten zum vierten Lebensjahr können Kinder die Abwesenheit, das heißt die Trennung von der Mutter, akzeptieren. So spielen sie beispielsweise trotz der Trennung mit anderen Kindern und brauchen ihr Neugierdeverhalten nicht zu reduzieren. Und erst in diesem Alter können sich Kinder an einem fremden Ort sicher fühlen, wenn eine Mutter-Ersatzfigur anwesend ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sie die Bekanntschaft mit der Ersatzfigur schließen konnten, bevor die Mutter wegging.[3]
Ainsworth (1967) konnte folgende Beziehungen oder Gesetzmäßigkeiten zwischen Bindungsverhalten und Trennungsangst beobachten. Kinder, die in einer Trennungssituation nicht weinen, sind schwach an die Mutter gebunden. Das Umgekehrte trifft aber nicht unbedingt zu: Kinder, die auf eine Trennungssituation sehr heftig mit Angst reagieren, können entweder sehr stark an die Mutter gebunden sein oder aber ihre Bindung ist sehr ambivalent und voller Angst. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gelangen auch Schaffer und Emerson (1964 a), was die Fremdenangst betrifft: Kinder nämlich, die keine Angst- oder Furchtreaktionen vor fremden Menschen zeigen, sind nicht oder nur schwach an ihre Mütter gebunden. Es ist somit wahrscheinlich, daß Kinder mit ausgeprägter Fremdenangst eine überstarke oder sehr ambivalente Bindung an ihre Mutter erleben.
Zum besseren Verständnis seien noch einmal die Verhaltensweisen des Kindes bei Fremdenangst und Trennungsangst einander gegenübergestellt: Bei der Fremdenangst versucht das Kind sich zurückzuziehen oder einer Situation, einem Objekt zu entfliehen, das es als alarmierend empfindet; bei Trennungsangst versucht das Kind zur Person oder zur Stelle zu gehen oder aber zu bleiben, wo es sich sicher fühlt.[4] Oder anders ausgedrückt: Die Trennungsangst bezieht sich auf die Mutter selbst, nämlich auf das Verlassenwerden durch sie; dagegen bezieht sich die Fremdenangst auf die gesamte fremdartige Umwelt, im Gegensatz zur bekannten und vertrauten Mutterperson.
Welche Bedeutung nun kommt der Trennungsangst zu? Die Fremdenangst drückt aus, daß das Kind eine Bindung zu seiner Mutter herstellen konnte. Analog dazu bedeutet die Trennungsangst positiv ausgedrückt, daß das Kind die Mutter als secure base[1] benutzen kann, von der aus es die Welt zu erforschen beginnt. Was aber beinhaltet der Begriff der Mutter als secure base? Wenn das Kind fähig ist zu kriechen, bleibt es nicht immer in engem Kontakt mit seiner Mutter, sondern beginnt, sich zunehmend von ihr weg zu bewegen, um seine Umwelt zu erforschen oder mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen. Dabei werden die Abstände von der Mutter im Laufe der Entwicklung immer größer; im zweiten Lebensjahr kann sich das Kind schon außerhalb der Sichtweite der Mutter bewegen. Jedoch von Zeit zu Zeit – die Intervalle werden mit zunehmendem Alter natürlich länger – kehrt das Kind immer wieder zur Mutter zurück und versichert sich, daß sie noch da ist. Dieses Sich-Wegbewegen von der Mutter mit dem Ziel, die Umwelt zu erkunden, zeigt das Kind nur in der sicheren Gegenwart der Mutter, das heißt wenn es jederzeit zu ihr als secure base zurückkehren darf. Geht die Mutter dagegen weg, beginnt das Kind zu schreien: Es zeigt Trennungsangst. In ihrer Abwesenheit stellt es, wie früher erwähnt, jedes Neugierdeverhalten ein, insbesondere in fremden Umgebungen.[2] Das Erkundungsverhalten wird ebenfalls eingestellt, wenn das Kind erschrickt oder verletzt wird. In diesen Fällen kehrt es sofort zur Mutter zurück und sucht Zuflucht bei ihr.
Blatz meint zu seinem Begriff der secure base, daß das Gefühl der Sicherheit beim jungen Kind von der Gegenwart der Mutter abhängig sei und daß umgekehrt ein Gefühl autonomer, unabhängiger Sicherheit sich beim Kind nur entwickeln kann, wenn es die Mutter jederzeit als secure base benutzen kann. In diesem Sinne äußert sich auch Bowlby (1969): Ein Gefühl der Sicherheit kann sich nach ihm nur in Gegenwart der primären Kontaktperson entwickeln, wobei durch drohenden Verlust, das heißt durch Trennungsangst, aggressive Tendenzen beim Kind geweckt werden.[3]
An dieser Stelle sei noch auf folgende Parallelentwicklung zwischen motorischem Verhalten einerseits und sozialem Verhalten andererseits hingewiesen. Das sechs Monate alte Kind lernt greifen, und anschließend greift es ‹blind› nach allen ihm erreichbaren Gegenständen: Es befindet sich in einer Phase des Besitzergreifens. In derselben Phase nun reift im Kind das spezifisch auf eine Person gerichtete Kontaktbedürfnis heran, und ein ganz wesentlicher Aspekt dieses Bindungsverhaltens besteht darin, daß das Kind die Mutter voll für sich beanspruchen will, daß es sie in Besitz nehmen will. Die Parallelentwicklung zwischen rein motorischer Reifung und der Entwicklung des Sozialverhaltens kann aber noch weiterverfolgt werden. Erst im neunten Monat kann das Kind einen Gegenstand willentlich loslassen, was es dann im vierten Quartal immer wieder aufs neue übt. In der gleichen Phase kann das Kind auch die Mutter ‹loslassen›: Es hat kriechen gelernt und setzt dies ein, um sich von der Mutter wegzubewegen und seine Umwelt zu erforschen.
Damit habe ich das Verhaltensinventar, die Entwicklung der kindlichen Verhaltensweisen im ersten Lebensjahr, in den wesentlichen Zügen aufgezeigt. Im folgenden soll die Frage gestellt und beantwortet werden, inwiefern diese Verhaltensweisen des Kleinkindes angeboren, das heißt genetisch vordeterminiert sind und umgekehrt, inwiefern sie durch andere Behandlungstechniken oder aber durch Lernen verändert werden können.
Koch (1969) führte mit acht Kindern täglich mindestens eine halbe Stunde Bewegungsübungen durch, wobei er darauf achtete, daß die Kinder während dieser ‹Turnstunde› satt, zufrieden und ausgeschlafen waren. Sehr bald ergab sich nun, daß diese Kinder in ihrer Entwicklung um zwei bis vier Monate voraus waren. So konnten sie sich beispielsweise schon im dritten Monat aus der Rückenlage in die Bauchlage drehen und auch nach einem Spielzeug greifen, was normalerweise erst im sechsten Monat erreicht wird.[1] Ferner waren die Kinder zu Leistungen imstande, die in der Literatur überhaupt nicht beschrieben sind. So konnten sie im siebten Monat an einem Trapez hängen und mehrere Male hin und her schwingen, oder sie lernten zum selben Zeitpunkt, in vertikaler Richtung auf eine Leiter zu steigen. Koch hat damit überzeugend nachgewiesen, daß die Verhaltensweisen des Kindes, zumindest seine motorische Entwicklung, durch Lernvorgänge modifiziert werden können.
Zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangten Danzinger und Frankl (1934) bei ihren Untersuchungen an albanischen Kindern. Albanische Kinder liegen bis zum Ende des ersten Lebensjahres in einer Wiege und werden dabei so eng in Wickelbänder eingebunden, daß sie sich nicht bewegen können. In diesen Wickelbändern werden sie auch gesäugt und nur für die kurze Zeit des täglichen Bades ausgebunden. Diese so in ihrer Motorik weitgehend eingeschränkten Kinder können beispielsweise nicht oder erst verspätet greifen und lernen erst nach dem ersten Lebensjahr kriechen. Danzinger konnte nun beobachten: Ein zehn Monate altes Kind konnte zu Beginn der Untersuchung nicht einmal zwei Gegenstände gleichzeitig in der Hand halten, oder es unternahm erfolglose Greifversuche, war also in seiner Entwicklung auf der Stufe eines ca. fünf Monate alten Kindes. Diesem wurden nun anschließend an die erste Beobachtung Gegenstände zum freien Spiel überlassen, wobei es – natürlich gegen den Willen seiner Mutter – nicht gewickelt war und sich somit frei bewegen konnte. Nach einem Zeitraum von etwa zwei bis drei Stunden wurde dasselbe Kind noch einmal mit dem Bühlerschen Baby-Test[2]
