Unsere frühesten Verletzungen – und wie sie in nahen Beziehungen ausheilen können. - Franz Renggli - E-Book

Unsere frühesten Verletzungen – und wie sie in nahen Beziehungen ausheilen können. E-Book

Franz Renggli

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Beschreibung

Ich beschreibe, wie eigene frühkindliche, emotionale Verletzungen unsere Paarbeziehung und unseren Umgang mit eigenen Kindern beeinflussen und leider auch beinträchtigen können – und wie es möglich ist, aus Negativspiralen auszusteigen und glückliche Beziehungen zu Partner/Partnerin bzw. den Kindern zu erreichen. Schwerpunkte des Buches sind u.a.: - Pränatale Körperpsychotherapie - die emotionale Relevanz der Empfängnis - traumatische Schwangerschaften und Geburten - lebenslang wirkende Prägungen durch die frühe Mutter-Kind-Beziehung - Schwierigkeiten von Babys beim Stillen oder Durchschlafen - Dynamiken in Paar- & Familienbeziehungen - Umgang mit heftigen Gefühlen & emotionalen Verletzungen - Gelingende Kommunikation im Paar - Psychische Abspaltungen - Opfer- und Täter-Dynamiken - Mein Konfliktmodell

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort Ludwig Janus

Vorwort des Autors

Einführung in die pränatale Psychologie und in meine Arbeitsweise

Meine Arbeitsweise

TEIL 1 BABYS, KINDER UND IHRE ELTERN – DIE ARBEIT MIT FAMILIEN

Pius

Sebastian

Matthias

1. Die Hintergründe meiner Arbeitsweise

Meine Forschungen zur frühen Mutter-Kind-Beziehung

Mein spiritueller Hintergrund und mein Glaube an die Reinkarnation

Die pränatale Psychotherapie im Schnittpunkt zwischen Wissenschaft und Spiritualität

Der Übergang der Seele von der geistigen in die materielle Welt

Meine Arbeitsweise mit Babys, Kindern und ihren Eltern

Mirjam und Matthias mit Luca

Ines, ihr Ex-Mann Adi und ihre drei erwachsenen Söhne

2. Einführung in die Dynamik der Familien

Fabian und Gertrud mit ihrem Sohn Wilhelm

Judith und ihre Schwestern mit ihrer Mutter

Niklaus und Elisabeth mit ihren Kindern Theodor und Marion

Schlussbetrachtungen

3. Familien mit Babys und Kleinkindern

Sandra und Robert mit ihren Kindern Luca und Verena

Martin und Marion mit Joshua

Die Voraussetzungen für meine Arbeit mit Babys und Kleinkindern

Meine Arbeitsweise mit einem Baby und seinen Eltern

Die Begleitung eines Babys durch eine Krise

Meine Arbeit mit den Eltern

Schwierigkeiten beim Stillen, beim Ein- oder Durchschlafen

Traumatische Geburten

Traumatische Erlebnisse von der Zeugung bis in die Schwangerschaft

4. Babys, Kinder und ihre Familien: Einige Gedanken zum Schluss

TEIL 2 PAARE

1. Einführung in meine Arbeitsweise

Dorothea

Die Hintergründe meiner Arbeitsweise

Die Konsequenzen für meine Arbeit

2. Arbeit mit einem Paar: Hansueli und Rahel

Hansueli

Rahel

Hansueli und Rahel in der Paargruppe

Mein Verständnis von Hansuelis Geschichte

Rahels Geschichte

Die Paardynamik zwischen Hansueli und Rahel

3. Über Grenzen und Verletzungen

Über das Erleben eines kleinen Babys

Über Grenzverletzungen bei Kindern

Die Körpersprache erlernen: Was ist eine Aktivierung?

Vom Umgang mit heftigen Gefühlen und Verletzungen

Über Kommunikationsregeln in Paarbeziehungen

Meine Arbeitsthesen auf einen Blick

4. Rollen und Spaltungen

Sarah und Andi

Meine Ideen und Fantasien zu Sarah und Andi

Thomas und Evelyn

Meine Ideen und Fantasien zu Evelyn und Thomas

Meine Fantasien und Bilder zu Maria und Daniel

Abschliessende Bemerkungen

6. Es gibt ein Recht auf Trennung

Astrid und Robert

Lea und Paul

Die pränatale Dimension von Verletzungen

Mein Konfliktmodell

Meine Hoffnung für die Zukunft

Ein persönliches Nachwort

Dank

Bibliografie

Impressum

Fussnoten

Vorwort Ludwig Janus

Als Franz Renggli mich gebeten hat, ein Vorwort zu seinem Buch «Familien- und Paartherapien – Die Bedeutung der allerfrühesten Erfahrungen» zu schreiben, war mir klar, dass das eine grosse Herausforderung ist, weil wir auf ganz verschiedenen Wegen zur pränatalen Psychologie gefunden haben. Wie er in seinem Nachwort schreibt, war er von ganz früh in seiner Erwachsenenzeit unmittelbar mit der Realität allerfrühester vorsprachlicher Erfahrungen vertraut und hat von daher den Kontakt zu bedeutenden Pionieren der pränatalen Psychologie gesucht, um die Realität seiner Erfahrungen besser und tiefer zu verstehen. Ich hingegen habe mich von der Lektüre der Werke von Otto Rank zur Präsenz vorsprachlicher Erfahrungen mit der Mutter in der therapeutischen Situation, in der kulturellen Gestaltung und in unserem Leben überhaupt zur Erweiterung meiner inneren Wahrnehmung anregen lassen. Dies habe ich dann in einem allmählichen Prozess konkreter Selbsterfahrung bei dem großen Pionier der pränatalen Psychologie William Emerson vertieft, auf den sich Franz Renggli auch immer wieder bezieht. Darum kann ich den enormen Wert und die Tiefe der Erfahrungserweiterung würdigen, die Franz Renggli in seinen Selbsterfahrungskursen und Seminaren vermittelt.

In ungewöhnlicher Weise hat er sich selbst und seine Klienten in Kontakt mit unser aller elementaren Verletzlichkeit gebracht. In diesem Sinne hat seine Arbeit eine grundsätzliche Bedeutung, und darum kann ich jedem Psychotherapeuten nur empfehlen, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Das Problem besteht darin, dass wir zurzeit noch in einer Gesellschaft leben, die die Wirklichkeit vorsprachlicher Erfahrungen vor, während und nach der Geburt nur sehr begrenzt – wenn überhaupt – für möglich hält und im günstigen Fall auch nur ahnungshaft. In diesem Sinne eilt Franz Renggli in seiner Arbeit seiner Zeit beziehungsweise dem Common Sense und den mit diesem verbundenen Experten weit voraus.

Er eröffnet mit seinen konkreten Beispielen einen neuartigen weiten therapeutischen Raum einer prinzipiellen Offenheit für alle Erlebnisschichten von der vorgeburtlichen Zeit bis zur aktuellen Situation. Dies ist ihm möglich, weil er sich in seiner beruflichen Entwicklung als Psychotherapeut mit den verschiedensten therapeutischen Ansätzen vertraut gemacht hat und sich deshalb sowohl auf psychoanalytisches Verstehen als auch auf körpertherapeutische Präsenz unmittelbar beziehen kann. Dabei kann er in besonderer Weise auch die so erstaunlichen Resonanzphänomene in der Gruppe und in der Aufstellungsarbeit nutzen. Dadurch kann deutlich werden, in welchem Ausmass sich Babys und Kinder im Konfliktfeld ihrer Eltern befinden, eben schon in der vorgeburtlichen Zeit und in der nachgeburtlichen Zeit sowieso. In Paartherapien kann sich zeigen, wie sich diese primären Bedingungen in den Konflikten in Partnerbeziehungen wiederholen, womit sie aber auch einer Reflexion zugänglich gemacht werden können. Dabei geht es immer wieder darum, einen Konflikt mit der Partnerin oder dem Partner als ungelösten Konflikt in sich selbst zu verstehen und nachträglich zu verarbeiten.

Als Leser wird einem bei der Lektüre der Fallbeispiele von Franz Renggli auch die Einengung unserer üblichen therapeutischen Ansätze bewusst, die immer nur Ausschnitte aus der Erlebniswirklichkeit einer Klientin oder eines Klienten vermitteln, welche aber immer – wie Renggli überzeugend beschreibt – in das Flechtwerk eines familiären Entwicklungsgeschehens eingebunden sind und darüber hinaus in die Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit. Als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Bedeutung der nachgeburtlichen Bezogenheit im ersten Lebensjahr im Rahmen der Bindungsforschung allgemeiner verstanden wurde, hat Renggli die kulturpsychologische Bedeutung dieser Erkenntnis erkannt, die wesentlich darin besteht, dass in den sogenannten Hochkulturen Mutter und Kind nach der Geburt getrennt wurden. Das bedeutete und bedeutet immer noch eine basale Beziehungstraumatisierung, deren Folge aber auch darin bestand, dass die in Stammeskulturen weithin bestehende intuitiv-instinktive Bezogenheit auf die Mutter beschädigt wurde, was wiederum den Vorgang und die Kraft des Gebärens beeinträchtigte.

Diese basale Traumatisierungsebene erklärt viele bizarre Elemente unserer Gesellschaften, insbesondere die diese Gesellschaften durchziehenden umfassenden Abhängigkeitsstrukturen, die den Verlust der frühen Mutterbeziehung im ersten Lebensjahr ersetzen sollen: der göttliche Herrscher, der König, der Kaiser, der Papst, der Diktator, der Herr, der Gottesstaat, die Nation usw. sollen die emotional überlebenswichtige frühe Mutter ersetzen. In diesen kompensierenden Konstrukten manifestieren sich die erstaunlichen kreativen Kräfte, die ein Hintergrund für die so bemerkenswerte kulturelle Entwicklung der Menschheit in ihrer Geschichte sind. In diesem Sinne verstand Otto Rank die Kreativität als das evolutionsbiologische Radikal des Homo sapiens. Demzufolge kann man auch das Werk von Frank Renggli als eine erstaunliche kreative Leistung ansehen, indem er alle Anregungen unserer so vielfältigen Psychotherapie-Landschaft für seine Erweiterung des therapeutischen Verstehens und der therapeutischen Situation um die Dimension der Erfahrungswirklichkeit von Schwangerschaft und Geburt nutzt. Wir können nur dankbar sein, dass es ihm seine kognitiven Fähigkeiten ermöglichten, dies auch in diesem Buch konkret zu vermitteln. Damit wird zugänglich, dass das Kind von seiner vorgeburtlichen Zeit an ein erlebendes Wesen im Beziehungsfeld mit seinen Eltern ist.

Ein Problem für den im Sinne des heutigen Common Sense «normalen» Leser besteht darin, dass Renggli sich in wesentlicher Hinsicht auf eine innere Wahrnehmung einer spirituellen Dimension bezieht. Das führt teilweise zu apodiktischen Formulierungen, was eben auch damit zusammenhängt, dass das «Spirituelle» als Ressource für eine höhere Einsicht in der bisherigen Geschichte systematisch machtmäßig missbraucht worden ist und darum in Misskredit geraten ist. Natürlich meint es Renggli nicht in diesem Sinne, sondern in dem Sinne, dass es im therapeutischen Prozess sowohl bei den Klientinnen und Klienten als auch beim Therapeuten zu plötzlichen Einsichten und Verstehensmöglichkeiten von komplexesten Zusammenhängen kommen kann, die wie «Wunder» wirken. Man kann diese «Wunder» aber auch so verstehen, dass mit der erweiterten Wahrnehmung der vorgeburtlichen Dimension auch die mit dieser Zeit verbundenen seelischen Kräfte eines magischen und mythischen Erlebens und deren Potenziale wieder zugänglich werden und dies dann als eine höhere Wirklichkeit imponiert. Das wäre in Zukunft zu diskutieren.

Weil nun aber für viele die Geschichte des Machtmissbrauchs durch «spirituell» begründete Autoritäten noch so nah ist, besteht die Gefahr, dass das Buch von Renggli einfach verworfen wird. Das wäre mehr als bedauerlich, und ich kann davor nur warnen, weil dann der ungeheure Erfahrungsreichtum darin zum Nachteil der potenziellen Leser und zum Nachteil von Klientinnen und Klienten verloren ginge, ebenso wie die Möglichkeit eines tieferen Verstehens von gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen. Aber es geht nicht nur um einen Nachteil, sondern mehr noch um eine Frage der Verantwortung: die pränatalen und perinatalen Bedingungen sind eigenständige Ursachenfelder für spätere Schwierigkeiten im Leben und für neurotische und psychosomatische Erkrankungen. Konkret ist das Kind, wie erläutert, vor der Geburt eingebunden in das emotionale Feld der Familie und so insbesondere den ungelösten Traumatisierungen der Eltern ausgesetzt und damit belastet. Die Ausblendung dieser Aspekte ist ein wichtiger Hintergrund für die oft unbefriedigenden Ergebnisse von psychotherapeutischen Behandlungen. Es geht also auch um eine ärztlich-psychologische Verantwortung.

Dossenheim bei Heidelberg, Dezember 2024

Ludwig Janus

Vorwort des Autors

Seit meinem ersten Buch «Angst und Geborgenheit» (1974) beschäftigt mich das Phänomen, dass ein Baby bei den Naturvölkern tagsüber wie auch nachts immer im Körperkontakt ist mit seiner Mutter oder einer anderen Betreuerperson. Ursprünglich bin ich Zoologe, weiss also, dass diese Form des Kontakts der natürlichen Lebenssituation unserer nächsten Verwandten, der Primaten, entspricht; bei ihnen kann sich ein Baby noch selbst mit Händen und Füssen am Fell seiner Mutter festhalten.

Ganz anders ist die Situation in allen Hochkulturen, in denen die Menschen in Städten getrennt voneinander als Kleinfamilien in eigenen Häusern leben. Eine emotionale Voraussetzung für diese entfremdete Lebensweise ist die Trennung der Mütter von ihren Babys, was ein heftiges Weinen und Schreien des Kindes nach sich zieht. Das hat zur Folge, dass in den Seelen aller Menschen in einer Hochkultur ein weinendes und tobendes Baby verborgen ist. Und es gilt: Je stärker die Hochkultur ausgeprägt, desto schärfer ist die Trennung eines Babys von seiner Mutter am Anfang seines Lebens. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen: Niemand ist verantwortlich für dieses Elend, niemand ist schuld daran. Die Trennung oder Entfremdung zwischen einer Mutter und ihrem Baby ist in allen Hochkulturen der Welt in irgend einer Form zu beobachten. Es ist dies die notwendige emotionale Anpassung an das entfremdete Leben in den Städten.

Speziell in unserer Kultur ist diese Trennung seit dem Beginn des Industriekapitalismus auf die Spitze getrieben worden. Eltern lassen ein Baby nicht mehr nur schreien, sondern «erziehen» es konsequent zum Schreien. Das eigene Zimmer für Kleinkinder wurde vor rund zwei- bis dreihundert Jahren «erfunden«: ein Baby braucht seine Ruhe. In der Folgezeit durfte eine Mutter schliesslich nur noch alle vier Stunden zu ihrem Kleinkind, «sonst wird es verwöhnt» – die grosse Befürchtung in unserer Kultur. Biologisch und psychologisch gesehen, ist diese Haltung ein absoluter Irrsinn – die emotionale Grundlage für unsere Kultur. Jedoch auch die Ursache für die krisenhafte und explosive Situation der heutigen Welt. Wir stehen am Rande eines möglichen Kollapses oder einer universellen Krise.1

Doch seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ist eine Trendumkehr festzustellen: Die Hippie-Mütter haben ihre Kleinkinder wieder, eingewickelt in grosse Tücher, auf dem Körper getragen. Und sie waren der Ausgangspunkt für eine neue Massenbewegung: Immer mehr Eltern erleben heute das Weinen ihrer Kleinkinder als Ausdruck von Todesangst. In ganz progressiven Familien darf ein Baby nachts wieder zwischen Mutter und Vater schlafen, eine Rückkehr zur ursprünglichen natürlichen Geborgenheit. Diese Entwicklung erachte ich als einen äusserst wichtigen Schritt in Richtung einer Heilung der verletzten Seelen in unserer Kultur. Und die Eltern wurden von keinem grossen Lehrer oder Meister zu diesem Schritt aufgefordert, sondern sie haben diese Entwicklung selber eingeleitet. Dabei müssen wir nicht warten, bis solche Babys als erwachsene Menschen die Geschicke unserer Gesellschaft bestimmen, denn die neue Generation von Eltern entwickelt zusammen mit ihren Kindern eine innere Selbstheilung. Zwar ist die Weltlage heute, wie erwähnt, gefährlich und explosiv – dieser «neue heile Kern» in der Menschheit wird jedoch niemals verloren gehen und unsere Zukunft bestimmen. Diese Hoffnung ist wie der erste Strahl der aufgehenden Sonne.

Ich bin seit 55 Jahren als Psychotherapeut in meiner eigenen Praxis tätig, zuerst als Psychoanalytiker, dann als Körperpsychotherapeut, und seit fast drei Jahrzehnten habe ich mich immer mehr der seelischen Entwicklung eines Kindes in der Schwangerschaft zugewandt, wobei mir alle Ergebnisse der pränatalen Psychologie, Psychotherapie und Medizin bekannt sind.2 Die modernsten Forschungen zeigen, dass wir bei der Ankunft in dieser Welt, bei der Zeugung voll empfindsame und erlebende menschliche Wesen sind. Somit kommt unsere Seele beim Übergang aus der geistig heilen Welt sofort in Kontakt mit den Erlebnisweisen beider Eltern. Der Ursprung all’ unserer Konflikte bis hin zu den heftigen Emotionen, haben ihren Ursprung in den unverarbeiteten Verletzungen unserer Eltern – und dies über mehrere Generationen zurück: ich nenne dies die Ahnenlinie. Wir sind alle zutiefst geprägt durch die psychotische Struktur unserer kapitalistischen Welt.

Das heisst, eine Seele erfährt die heftigsten Verletzungen an ihrem Lebensanfang – Verletzungen welche nachhaltig unser ganzes Erleben und Empfinden, unsere Gefühle und unser Verhalten prägt. Und diese Verletzungen können jederzeit im Leben wieder geweckt werden, so im Erleben der Kinderzeit und Pubertät, in der Wahl des Berufes oder unserer Partnerschaften. Aufgrund meiner langjährigen psychotherapeutischen Erfahrung stelle ich fest: Solche allerfrühesten Traumatisierungen werden im späteren Leben am stärksten von unseren Partnern oder Partnerinnen und von den eigenen Kinder wieder wachgerufen.

Damit aber ist eine neue Grundlage für die Bewältigung und Lösung von Konflikten in unseren Partnerschaften geschaffen, Konflikten, die sich in heftigen Gefühlen von Enttäuschung, Wut, Ablehnung oder von Distanz zu unseren Partnern ausdrücken: Partnerinnen und Partner lösen diese Emotionen jedoch nur aus – die wirkliche Ursache liegt in den ersten Verletzungen unserer frühen Geschichte verborgen. Aufgrund dieser Erkenntnis sollten Paare fähig sein können, sich in schwierigen Konfliktsituationen entsprechend zu verhalten: Wenn wir aktiviert sind, wenn ein Konflikt heftige Gefühle in uns geweckt hat, dann sollten wir bereit sein, erst mal zu warten und dabei unsere Partner/-innen nicht mit unseren Emotionen zu belasten. Warten, bis wir aus unseren frühen Verletzungen wieder «erwachen«, denn kein Trauma dauert ewig! Wenn wir diese Haltung konsequent leben, dann werden unsere Konflikte in der Partnerschaft zu einer optimalen Möglichkeit, unsere eigenen frühesten Verletzungen kennenzulernen und sie ausheilen zu lassen. Wie ich glaube ist dies der Sinn unseres Lebens.

Genau die gleiche innere Haltung empfehle ich Eltern in der Beziehung mit ihren kleinen Kindern: Je weniger wir versuchen, sie zu verändern, sprich: zu erziehen, desto mehr sind wir bereit, die Botschaft zu hören und anzunehmen, die sie uns aus der geistigen Welt bringen möchten. Denn in meiner langjährigen therapeutischen Arbeit habe ich erfahren, dass eine Seele nicht nur von Anfang an gesehen und willkommen geheissen werden möchte, sondern genauso intensiv vom Wunsch erfüllt ist, die –durch eigene frühe Verletzungen eingeschränkte und begrenzte – Liebe ihrer Eltern zu unterstützen und zu vertiefen. Kinder sind zutiefst besorgt um ihre Eltern. Sie sind ein Geschenk.

In diesem Buch beginne ich nach einer nur kurzen Einführung in die pränatale Psychologie und Psychotherapie mit konkreten Beispielen, wie ich mit Menschen und mit Paaren arbeite. Auf dem Hintergrund meiner Erfahrung dringe ich dabei sofort auf die Ebene der frühesten und grössten Verletzungen vor. Die Leserinnen und Leser erhalten so die Möglichkeit, mir bei meiner täglichen Arbeit über die Schulter zu sehen, sie werden aber auch unmittelbar konfrontiert mit den tiefsten Ängsten unserer Gesellschaft, mit den psychotischen Strukturen unserer Zeit. Die Lektüre wird möglicherweise die eigenen Traumatisierungen wecken, das tiefste Innere berühren. Deshalb sollte jede Leserin, jeder Leser darauf achten, wie sie oder er sich am besten schützen kann, um nicht in den Abgrund unserer Schmerzen und Verletzungen, in den Abgrund unseres Irrsinns gerissen zu werden, der in allen unseren Seelen schlummert. Ich möchte den Lesern im Gegenteil wünschen, diese eigenen Abgründe allmählich kennenzulernen, um sich daraus zu befreien.

Basel, im Februar 2025

Franz Renggli

Einführung in die pränatale Psychologie und in meine Arbeitsweise

Vor weit mehr als hundert Jahren hat Sigmund Freud beschrieben, wie die frühesten Erfahrungen kleiner Kinder ihr ganzes Leben beeinflussen und bestimmen. Freud ist der Entdecker der Psychoanalyse, der Tiefenpsychologie, des Unbewussten, und seine Erkenntnisse sind die Grundlage der gesamten Psychologie und Psychotherapie – bis heute.

Später wurden seine Erkenntnisse von der Verhaltensforschung, durch die Beobachtung von Tieren bestätigt: War der österreichische Zoologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz beim Schlüpfen von jungen Gänschen anwesend, so haben sie später ihn als Mutter erlebt; sie wollten immer bei ihm sein und sind ihm überallhin gefolgt. Dieses Phänomen wurde als Prägung bezeichnet, nämlich dass die ersten emotionalen Lernerfahrungen eines Jungtieres entscheidend sind für sein ganzes Leben. Sie sind nicht mehr umkehrbar.3

Die Tiefenpsychologie und die Psychotherapie wurden aus dem Impuls heraus entwickelt, seelisch leidenden Menschen zu helfen. Vor rund hundert Jahren hat der österreichische Psychoanalytiker Otto Rank zudem entdeckt, dass nicht nur die früheste Kindheit, sondern bereits die Geburt und die Erlebnisse im Mutterleib entscheidend sind, um das Verhalten, die Ängste und Erlebnisweisen eines Menschen zu verstehen. Als einer seiner Nachfolger hat etwa der ungarische Psychoanalytiker Nandor Fodor in einem Buch aufgezeigt, wie Träume auf ein schwieriges Geburtserlebnis hinweisen können (siehe Anhang). Ein typischer Geburtstraum ist zum Beispiel, wenn wir vor einer übergrossen Bedrohung fliehen müssen, und je mehr wir uns anstrengen, zu entkommen, desto mehr stecken wir fest und können uns nicht mehr bewegen. Fodors Schüler, der Engländer Francis Mott, konnte umgekehrt zeigen, wie jeder Traum auf einer pränatalen Ebene verstanden werden kann, wie er auf Erlebnisweisen in der Zeit der Schwangerschaft hinweist. Diese Entdeckungen der pränatalen Psychologie standen jedoch über viele Jahrzehnte ganz im Schatten der Mainstream-Psychotherapie.

Erst in den 1960er und 1970er Jahren ist dem tschechischen Psychiater Stanislav Grof ein Durchbruch gelungen: Mittels der bewusstseinserweiternden Droge LSD konnte er zeigen, wie das Erleben während der Geburt unser gesamtes Erleben und Verhalten prägt4. Auch sein Zeitgenosse, der Psychiater und Theologe Frank Lake, hat mit LSD gearbeitet. Er glaubte zu Beginn, dass seine Patienten dabei in einen psychotischen, einen paranoiden Zustand gefallen sind, weil sie beispielsweise berichteten, dass sie verbrüht oder erstochen würden. Erst als diese Patienten später ihre Mütter befragten, haben diese bestätigt, dass sie mit Heisswasserbädern oder mit dem Einführen von Nadeln in die Gebärmutter versucht hatten, eine Abtreibung zu erzwingen. Frank Lake musste erkennen, dass alles, was Menschen im LSD-Zustand erleben, einer Erfahrung während der Schwangerschaft entspringt. William Emerson hat bei Frank Lake gelernt und seine Erkenntnisse auf die Arbeit mit Babys übertragen, um sie von ihren Geburts- und Schwangerschaftstraumen zu heilen. Emerson ist der Altmeister in den USA; er hat eine grosse Anzahl von Schülern und Schülerinnen in pränataler Körperpsychotherapie ausgebildet.

In den letzten Jahrzehnten wurde das Seelenleben kleiner Menschenkinder auch direkt beobachtet. So hat etwa der US-amerikanische Hypnotherapeut David Chamberlain sechsjährige Kinder in Hypnose versetzt, um von ihnen ihre Geburtserlebnisse zu erfahren. Und weil die Mütter vergesslich sind, hat er auch diese in Hypnose versetzt und dabei festgestellt, dass die Geburtsgeschichten von Mutter und Kind absolut deckungsgleich sind – in seinem Buch «Woran Babys sich erinnern, Die Anfänge unseres Bewusstseins im Mutterleib» stellt er dar, wie die Geburt von «innen her», mit den Emotionen eines Babys, erlebt wird.5

Die italienische Psychoanalytikerin Alessandra Piontelli beobachtete Babys während der ganzen Zeit der Schwangerschaft ihrer Mutter. Dabei nutzte sie eine einfache Methode: Sie begleitete die schwangeren Mütter zu ihren Ultraschall-Untersuchungen, bei denen sie Kontakt mit ihren Babys im Bauch aufnahmen. Und sie beobachtete diese Kinder auch während der Geburt bis zu ihrem sechsten Lebensjahr. So konnte Piontelli feststellen, dass das Erleben und Verhalten eines Babys schon während der ganzen Schwangerschaft voll ausgebildet und erkennbar sind. Die belgische Psychologin Bea van den Bergh schliesslich hat Mütter in der Schwangerschaft beobachtet, die in Angstzustände, Panik oder aber in Depressionen gefallen sind. Anschliessend hat sie deren Kinder bis zum 20. Lebensjahr begleitet. Und auch Bea van den Bergh konnte beobachten, dass das Erleben und Verhalten von Kleinkindern nach der Geburt voll ausgebildet sind: Diese werden während der ganzen Schwangerschaft geprägt!6

Vor einigen Jahrzehnten haben die Erkenntnisse über die pränatale Entwicklung des Menschen nochmal einen neuen Durchbruch erlebt – diesmal von der medizinischen Wissenschaft her. Der britische Mediziner David Barker hat herausgefunden, dass die Schwangerschaft darüber entscheidet, ob ein Mensch im späteren Leben dazu neigt, eher gesund oder eher krank zu sein. Zudem wird der Grundstein grosser Krankheiten schon in der Schwangerschaft gelegt, so etwa, ob der betreffende Mensch später im Leben dazu neigt, Diabetes (Blutzucker), Fettleibigkeit, koronare Störungen (wie Herzinfarkt oder Schlaganfall) oder aber Schizophrenie zu entwickeln. Darüber hinaus konnte gezeigt werden: Je früher ein Trauma erlebt wird, desto nachhaltiger ist seine Wirkung.7 Entsprechend diesen medizinisch und wissenschaftlich erforschten Fakten hat die pränatale Psychologie und Psychotherapie dasselbe Phänomen, den Ursprung des Leidens in der Schwangerschaft, schon seit hundert Jahren beschrieben.

Meine Arbeitsweise

Zu Beginn meiner therapeutischen Laufbahn war ich Psychoanalytiker, danach habe ich meine Methode in Richtung Körperpsychotherapie weiterentwickelt. In den «klassischen» Therapien beginnt das Seelenleben erst nach der Geburt.8 Im Gegensatz dazu ist die pränatale Psychologie und Körperpsychotherapie zur Erkenntnis gekommen, dass ein Seelenleben nicht nur bei der Geburt, sondern schon während der ganzen Zeit der Schwangerschaft vorhanden ist – bis zurück zur Zeugung. Mit anderen Worten: Sobald Eizelle und Samenzelle aufeinandertreffen, entsteht ein neues Menschenkind mit einem voll ausgebildeten Erleben und Bewusstsein – so die Erfahrungen der modernsten pränatalen Körperpsychotherapie.

Nun ist allgemein bekannt: Wenn wir uns zurückerinnern (das autobiografische Gedächtnis), so beginnen unsere ersten Erinnerungsfetzen vielleicht im zweiten, sicher aber im dritten Lebensjahr, dann nämlich, wenn die Sprache einsetzt. Unser Erinnerungsvermögen ist somit an Sprache gebunden.9 Soweit unsere bewussten Erinnerungen. Doch von der Körperpsychotherapie10 her können wir Therapeuten die Erfahrung machen, dass der Körper nichts vergisst; im Körperbewusstsein ist alles gespeichert – bis zurück zum Anfang.

Daraus leitet sich sofort eine wichtige Gesetzmässigkeit ab: Wenn wir einen Menschen in die Zeit zurückbegleiten wollen, als seine Mutter mit ihm schwanger war, ist die Sprache ein völlig ungenügendes Mittel. Suchen Menschen meine Hilfe – früher in Einzeltherapien in meiner Praxis, heute in meinen Seminaren11 – ich nenne sie Reisen in die eigene Schwangerschaft –, dann lasse ich sie zu Beginn immer erst die Konflikte, Ängste oder andere Gründe schildern, deretwegen sie mit mir arbeiten möchten – seien es depressive Verstimmungen, irgendwelche Körperschmerzen oder Konflikte in der Partnerschaft. Dann folgt meine stets gleiche Frage: Was spürst du im Körper, wenn du das erzählst? Die Antworten darauf sind natürlich äusserst mannigfaltig.12 Und diese tiefste Ebene, die Körperebene, verknüpfe ich dann mit den Gefühlen, mit den Emotionen. Auf diesen beiden Ebenen arbeite ich während des gesamten Prozesses. Sprache ist dabei nur ein Mittel, um noch tiefer in einen Prozess vorzudringen. Menschen, die immer wieder sprechen, die von den verschiedensten Erinnerungen und Erlebnisweisen erzählen müssen, versuchen nach meiner Erfahrung, sich an bewusste Erinnerungen zu klammern, um nicht in die wirklich grossen Tiefen vordringen zu müssen.

Damit bin ich mitten in meiner Arbeit. Und weil diese Arbeit für viele Menschen erst mal ein völlig unbekanntes Neuland darstellt, habe ich darüber ein Buch geschrieben: «Früheste Erfahrungen – ein Schlüssel zum Leben», eine allgemein verständliche Einführung in die pränatale Körperpsychotherapie mit vielen Beispielen, in denen ich genauer schildere, wie ich Menschen in diese frühe Zeit, in die Schwangerschaft zurückbegleite.

Dabei machte ich die Erfahrung: Wenn ein Mensch in einer Gruppe erklärt, dass er gerne an sich arbeiten möchte, ist das wie das Einsinken der Seele in eine Gebärmutter. Und diese Seele, die aus dem Jenseits kommt, möchte jetzt auf diese Welt, zu diesen Eltern kommen, um eine neue Erfahrung zu machen. Kurze Zeit später werden regelmässig bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gruppe heftige Gefühle und Körperreaktionen geweckt. Ich bitte sie jeweils, diese Emotionen, Körpersensationen oder Schmerzen uns Therapeuten mitzuteilen. Dabei handelt es sich um abgespaltene Teile aus dem Erleben der «reisenden» Person oder aber von ihrer Ursprungsfamilie. Es sind «Rollen», welche die Teilnehmenden einer Gruppe übernehmen. Sie spüren etwas, das der reisenden Person nur teilweise oder vielleicht sogar ganz unbekannt ist.

So kann es beispielsweise vorkommen, dass eine oder sogar mehrere Personen in der Gruppe einschlafen, was ein Hinweis dafür ist, dass in der reisenden Person ein starker Anteil an Erschöpfung verborgen liegt. Wird jemand ärgerlich, ja sogar wütend, beginnt haltlos zu weinen, spürt Ängste, vielleicht sogar Panik, erlebt jemand migräneartige Kopfbeschwerden oder Herzschmerzen, dann sind alle diese heftigen, schwierigen Emotionen und schmerzhaften Körperzustände abgespaltene Gefühlselemente, welche der auf «Reise» befindlichen Person nicht oder nur ungenügend bekannt oder aber in ihrer Ursprungsfamilie unterdrückt worden sind. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer helfen also mit ihren Gefühlen und Körperreaktionen, das Trauma der Hilfe suchenden Person freizulegen – Ursprünge ihrer Verletzung in der Schwangerschaft.

Das Zentrum meiner Arbeit ist aber nie, das Trauma, die ursprüngliche Verletzung freizulegen, sondern immer die heilendeNeuerfahrung: Was hätte ich damals in meiner Schwangerschaft gebraucht, als ich als kleines Baby so völlig hilflos dieser Bedrohung ausgeliefert war? Was für ein Schutz wäre notwendig gewesen? Was hätte ich gebraucht, um mich gesehen, wahrgenommen und geliebt zu fühlen? Und diese heilende Neuerfahrung muss möglichst tief im Körper empfunden und verankert werden, damit die betreffende Person sich später im Alltag jederzeit daran zurückerinnern kann. Ein Anker, der jederzeit wieder aktiviert werden kann, wenn er gebraucht wird.

Genauso sorgfältig wie die reisende Person begleite ich auch alle Teilnehmer/-innen der Gruppe, die in ihrer Rolle schwierige Gefühle oder Körperschmerzen übernommen haben. Ich frage im Prozess immer wieder: Was kannst du jetzt brauchen, was täte dir gut, um wieder in dein inneres Gleichgewicht zu kommen? Umgekehrt ist ein Prozess erst dann abgeschlossen, wenn nicht nur die reisende Person, sondern alle begleitenden Teilnehmer/-innen der Gruppe wieder eine innere Ruhe und ein Gleichgewicht gefunden haben. Ist irgendjemand im Raum noch «aktiviert», verbunden mit starken Gefühlen oder unangenehmen Körperempfindungen, dann ist der Prozess noch nicht abgeschlossen und beendet.

Die pränatale Psychologie konnte die Erfahrung machen, dass das Seelenleben während der ganzen Zeit der Schwangerschaft eines Babys vorhanden ist, und diese Erfahrungen können einwandfrei wissenschaftlich nachgewiesen werden. Dem amerikanischen Wissenschaftstheoretiker und Meditationsexperten Ken Wilber kommt zudem das Verdienst zu, in allen seinen Werken aufgezeigt zu haben: Nur wenn wir die Wissenschaften, wie sie im Westen entwickelt worden sind, mit den Meditationstechniken, der Spiritualität des Ostens verbinden können, ohne dass ein Bereich den anderen dominiert, nur dann wird es uns möglich, zu einem neuen Menschen- und Weltbild zu gelangen. Ken Wilbers Gedankengut bildet die Grundlage der modernen pränatalen Körperpsychotherapie, entwickelt von der pränatalen Körperpsycho-therapeutin Wendy McCarty.

Damit ist die pränatale Körperpsychotherapie zu einem der Wegbereiter geworden, wenn es darum geht, die Wissenschaften mit der Spiritualität zu verbinden. So meint beispielsweise der Hypnosetherapeut David Chamberlain, der in akribischer Kleinarbeit alles zusammengetragen hat, was wir über Babys in der Schwangerschaft wissen, dass wir diese nicht verstehen können, wenn wir sie nicht auch von der spirituellen Seite her betrachten. Laut Wendy McCarty bedeutet dies, dass ein Mensch aus zwei verschiedenen Arten von Bewusstsein besteht: dem menschlichen und höchst verletzlichen Bewusstsein, der Ebene der Wissenschaften, und dem primären göttlichen Bewusstsein, das wir in der Umgangssprache als «Seele» bezeichnen. Beide zusammen, das verletzlich-menschliche Bewusstsein und das primäre Bewusstsein, die Seele, bilden eine Einheit, die wir so wenig trennen dürfen wie Körper und Seele. Zusammen bilden sie stets einen Menschen, den wir einmal mehr vom Körper her und ein andermal mehr von der Seele her betrachten können.

Die moderne pränatale Körperpsychotherapie überschreitet also die Grenzen der Wissenschaft und verbindet sie mit der spirituellen Dimension der Menschen. Wir sind zur Überzeugung gekommen, dass eine Seele schon vor der Zeugung existiert und im Jenseits ihre Eltern gewählt hat, um mit ihnen zusammen eine neue Erfahrung zu machen. Das bedeutet, dass wir Menschen alle schon viele Male gelebt haben – es ist der Glaube an die Reinkarnation. Oder um es nochmal anders auszudrücken: Unser Bewusstsein existiert schon seit einer sehr langen Zeit. Wir sind schon viele Male als Menschen auf die Welt gekommen. Unser Bewusstsein ist somit schon durch viele Erdenleben geformt und geprägt worden: Wir alle kommen als starke und alte Persönlichkeiten auf diese Welt.

In diesem Zusammenhang zitiere ich ein weiteres Mal William Emerson, der die Erfahrung machen konnte, dass die Seele am Lebensanfang, bei der Zeugung und in der ersten Zeit danach, noch ein höheres Bewusstsein besitzt als wir erwachsenen Menschen. Dieses geht infolge unserer Verletzungen allmählich verloren, und es ist unsere Lebensaufgabe, dieses ursprüngliche Bewusstsein, mit dem wir das göttliche Jenseits verlassen haben, mit dem Älterwerden wieder zu erlangen. Das ist der Sinn unseres Lebens. Was mich betrifft, so ist die Art und Weise, wie ich Menschen verstehe und begleite, mit zunehmendem Alter spiritueller geworden.

Noch eine letzte Anmerkung in diesem Kapitel: Babys, Kleinkinder, haben mich ein Leben lang begleitet. In meiner ganzen wissenschaftlichen Forschung habe ich drei Bücher über sie geschrieben. Alle drei sind zusammengefasst in «Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit». Und seit ich mich in der zweiten Hälfte meiner mehr als 50-jährigen therapeutischen Tätigkeit der pränatalen Körperpsychotherapie zugewandt habe, arbeite ich mit Babys auch therapeutisch. Mit diesen kleinen Menschenkindern bin ich in grosser Liebe und Bewunderung verbunden. Die Erfahrung mit Babys hat auch meine ganze Arbeitsweise mit erwachsenen Menschen und mein Verständnis Erwachsener entscheidend beeinflusst und geprägt. So möchte ich im ersten Teil meines Buches erst einmal versuchen, meine Arbeit mit Familien, mit Eltern und ihren Babys und Kleinkindern darzustellen.

TEIL 1BABYS, KINDER UND IHRE ELTERN – DIE ARBEIT MIT FAMILIEN

In meiner Arbeit als pränataler Therapeut habe ich mit Erwachsenen und mit Gruppen die Erfahrung gemacht, dass alle heftigen Erschütterungen im Leben unsere alten Wunden, unsere Urverletzungen aufs Neue zutage fördern. Diese archaischen Schmerzen werden uns am Lebensanfang zugefügt: in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in der Babyzeit. Sie reproduzieren und vertiefen sich durch unsere Erfahrungen als Kinder und Jugendliche und schliesslich auch bei unseren Konflikten in einer Partnerschaft – das Thema des zweiten Teiles meines Buches.

In den Therapiesitzungen mit Familien – Babys, Kindern und ihren Eltern – konnte ich erfahren, dass auch diese kleinen Wesen mit ihrem Verhalten, ihren Gefühlen und Ängsten, ihren Schwierigkeiten und Anfälligkeiten – kurz: mit ihrer Existenz – die alten Traumen und Verletzungen der Eltern aufleben lassen, Verletzungen, die diese vielleicht teilweise verdrängt oder ganz abgespalten haben. «Die Kinder weinen die Tränen ihrer Eltern» heisst ein früherer Artikel von mir – Gefühle, die Eltern unter Umständen verborgen bleiben mussten, damit sie überleben konnten. Und am heftigsten werden solche Gefühle und Erschütterungen natürlich bei derjenigen Person geweckt, die ein Kind betreut – in unserer Kultur in der Regel die Mutter.

Wie ich ursprünglich zu meiner Arbeit mit Familien gekommen bin, sei hier kurz erwähnt. Ich habe mein Berufsleben als Psychotherapeut in einer Institution für Kinder und Jugendliche begonnen, die so schwer gestört waren, dass sie weder zu Hause noch in einer öffentlichen Schule tragbar waren, sogenannte Borderline-Persönlichkeiten. In diesem Heim haben wir Therapeuten jeden Monat in einer Gruppe gemeinsam mit allen Kindern und Jugendlichen wie auch deren Eltern gearbeitet. Dabei sind unendlich komplexe Phänomene und Beziehungen aufgetreten; manchmal hatten wir gar den Eindruck, die Gruppe würde in einem Chaos ertrinken. Diese ersten grundlegenden Erfahrungen mit Eltern und ihren Kindern standen am Beginn meiner späteren Arbeit als Familientherapeut. Mein Engagement für diese Patienten war extrem hoch. Ich erinnere mich beispielsweise an den Vater eines Jugendlichen, der unter starken Schulterschmerzen litt – er stand kurz vor einer Operation –, und nach einigen Sitzungen hatte ich seine Beschwerden übernommen, während er schmerzfrei wurde.

Kurze Zeit später eröffnete ich meine private Praxis als Psychoanalytiker, zu Beginn mit einem klassischen Setting von drei Sitzungen pro Woche. Einzeltherapien mit Kindern und Jugendlichen habe ich in meiner Praxis nie durchgeführt – ich bin dem Familiensetting treu geblieben. Erst als ich meine Sichtweise und mein Verständnis des menschlichen Verhaltens auf das Gebiet der pränatalen Körperpsychotherapie ausdehnte, habe ich angefangen, auch mit Babys zu arbeiten. Ausgangspunkt waren der Altmeister in Amerika William Emerson und sein Schüler Ray Castellino – bei beiden habe ich diese Art der Arbeit erlebt. Familien haben mich also ein Leben lang begleitet und zutiefst bewegt. Speziell die Arbeit mit Babys ist zu einer zentralen Herzensangelegenheit geworden. Babys haben meine gesamte Arbeit in pränataler Körperpsychotherapie zutiefst beeinflusst und verändert.

Doch ich will nicht mit trockener Theorie aufzeigen, wie ich mit Eltern und ihren Babys arbeite, sondern anhand konkreter Beispiele. Diese Geschichten von Kleinkindern sind sehr berührend und können bei Ihnen möglicherweise starke Emotionen hervorrufen. Bitte geben Sie sich beim Lesen den notwendigen emotionalen Raum – ein solcher Prozess könnte auch bei Ihnen eine heilende Wirkung auslösen.

Pius

Die Eltern kommen mit ihrem zweijährigen Buben zu mir, weil er seit seiner Geburt fast ununterbrochen weint. Die kleinste Enttäuschung oder Frustration löst sofort einen heftigen, manchmal stundenlangen Weinanfall aus. Am Anfang der Therapiestunde passiert nach kürzester Zeit genau das Gleiche: Pius ist untröstlich wegen eines kleinen Widerstands der Mutter. Er ergreift ihre Hand und zieht sie in Richtung Ausgang. Seine Geste ist eindeutig, er fordert die Mutter auf, mit ihm nach Hause zu gehen. Zudem rollt er sich in seiner Verzweiflung mehrmals über den Boden, bis er einen Widerstand spürt, um dann mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Dieses Verhalten zeigt er eine Stunde lang – und alle Versuche der Eltern, ihn zu trösten, sind ergebnislos. Auch mich erschüttern diese Szenen völlig, sie sind nur schwer zu ertragen. Solche Ausbrüche ihres Sohnes erlebe sie mehrmals am Tag, sie sei mit den Nerven völlig am Ende, sagt die Mutter. Eigentlich wollten sie und ihr Mann kein zweites Kind – das ältere Kind haben sie für die Zeit der Therapie bei der Oma zu Hause gelassen. Aber als sich Pius angekündigt habe, hätten sie sich bald umstellen und auf ihr neues Kind freuen können. Allerdings, sagt die Mutter, habe sie sich zu Beginn der Schwangerschaft viel übergeben und sei oft krank gewesen.

Die Erfahrungen in der Praxis und das Gefühl, dass sowohl die Eltern als auch ich an die Grenze unserer Kräfte gelangt sind, vermitteln mir schliesslich ein inneres Bild: Mit seiner endlos tiefen Verzweiflung, mit seiner Depression drückt Pius sein «Lebensgefühl» aus. Scheinbar fühlt er sich auf dieser Welt nicht willkommen geheissen und ist sich völlig im Unklaren, was er hier zu suchen hat. Er will «nach Hause», und diese Aufforderung bedeutet: Er möchte zurück in die geistige Welt, aus der er gekommen ist. Diese Fantasie schildere ich Pius in ganz einfachen Worten und äussere die Vermutung, er drücke mit seinem Weinen aus, dass er zurück ins Jenseits wolle; er wolle gar nicht leben. Mir scheine, er habe jede Hoffnung in diese Welt verloren. Pius hört mir aufmerksam zu.

Danach wende ich mich auch seinem Vater zu, der heftig zu weinen beginnt. Er ist verzweifelt, weil seine Frau sich aus Erschöpfung immer stärker von ihm zurückzieht. Sie bestätigt dies: Sie benutze ihren Mann häufig als Sündenbock, um ihre ganze Verzweiflung, Frustration und Wut über ihre emotionale Situation zum Ausdruck zu bringen. Darüber ist sie selber entsetzt, denn sie spürt, dass sie ihren Mann eigentlich liebt. Infolge ihrer Erschöpfung habe sie sich ihm gegenüber jedoch fast ganz verschlossen. Hinzu kommt, dass der Vater selber ein unerwünschtes Kind war: Die Abweisung seiner Frau erlebt er wie eine Wiederholung seines früheren Schicksals. Ich unterstütze den weinenden Vater, indem ich meine Hand in der Höhe des Herzens auf seinen Rücken lege und ihn ermutige, seinen Tränen freien Lauf zu lassen. So kann sich Pius auf seinem Schoss allmählich beruhigen.

Schliesslich nimmt die Mutter Pius in ihre Arme, und nach kürzester Zeit ist er an ihrem Körper friedlich eingeschlafen. Sie ist deshalb sehr gerührt, weil er seit seiner Geburt noch nie an ihrem Körper einschlafen konnte. Im Gegenteil: Wenn sie ihn halten wollte, stemmte er sich mit Händen und Füssen und mit aller Kraft gegen sie und wehrte ihre Nähe ab. Ähnlich war die Situation beim Stillen: Pius wollte zwar im Arm gehalten werden, konnte sich aber nie ruhig fallen lassen und in Ruhe trinken – sofort hatte er sich gegen seine Mutter gewehrt. Nach all dem Schwierigen, das in dieser Therapiesitzung ausgesprochen und durchlitten wurde, entsteht jetzt in der Familie eine grosse Ruhe, und ein tiefer innerer Frieden breitet sich aus. Eine liebevolle Verbundenheit aller Familienmitglieder ist spürbar, eine Innigkeit, die sie bisher zusammen nicht erleben konnten.

Ein paar Wochen später erhalte ich von der Mutter einen Anruf. Pius sei seit dieser Sitzung wie verwandelt: Seine nähere Umgebung würde ihn kaum wiedererkennen. Er habe völlig aufgehört zu weinen, sei ein strahlender kleiner Bub geworden, der zum ersten Mal in seinem Leben herzlich lachen kann.13

Heute, fast 20 Jahre später und auf der Grundlage aller meiner bisherigen Erfahrungen, habe ich den Eindruck, dass es zwei Gründe gibt für diese «Wunderheilung», diesen dramatischen Umbruch im Leben des kleinen Pius. Erstens sind die Eltern von sehr weit her über viele Stunden zu mir gereist, was darauf hinweist, dass sie beide hochmotiviert waren, ihre eigenen Gefühle als Ursache für die Verzweiflung ihres Kindes wirklich zu spüren und zuzulassen. Sie haben geahnt, dass die Schwierigkeiten ihres Kindes nicht von ihrer persönlichen Lebenssituation getrennt werden darf. Und als weiteren Grund sehe ich meine hohe emotionale Anteilnahme am Schicksal dieser Familie, vor allem jenem der beiden Eltern. Etwas vereinfacht ausgedrückt, habe ich mit meiner Liebe ihre Gefühle aufgeschmolzen.

Zum ersten Mal wurden Pius’ Tränen vollumfänglich verstanden, seine Gefühle der Verzweiflung erhielten endlich den entsprechenden Raum. Und gleichzeitig durfte der Vater im «Nicht-Leben-wollen» seines Sohnes sein eigenes Schicksal wieder spüren und zulassen: seine Verzweiflung, die er ein Leben lang in sich eingeschlossen gehalten hatte. Dank meiner Unterstützung seines Herzraumes konnten seine Tränen endlich Ausdruck finden. Und dementsprechend durfte sich Pius an seinem Körper beruhigen. Die Mutter wiederum konnte dank dem, was in dieser Therapiesitzung zum Ausdruck gebracht wurde, die eigenen unterdrückten Liebesgefühle für ihren Mann wieder entdecken und zulassen. Auch deswegen, weil sie erleben konnte, dass ihr Verhalten und ihre Emotionen in keiner Weise gewertet worden sind. Endlich kann die so lange unterdrückte gegenseitige Liebe der Eltern wieder fliessen: eine Krise am Lebensanfang eines Babys als Chance zur Heilung der ganzen Familie.

Als weitere Beispiele für meine Arbeitsweise mit Babys erzähle ich nochmals von der Arbeit mit zwei Familien, bei der jeweils der Vater im Zentrum stand. Ich betone diesen Umstand deswegen, weil in der gesamten Psychologie-Literatur fast ausschliesslich über Mütter gesprochen wird, die letztlich an allem «schuld» seien. Im Gegensatz dazu zeigt mir meine Erfahrung, dass eine Seele im Jenseits beide Eltern ausgewählt hat, den Vater und die Mutter wie auch deren liebevolle Verbundenheit oder umgekehrt deren traumatische Hintergründe, um so eine nächste Lernerfahrung im neuen Leben machen zu können. Auf die Hintergründe der Reinkarnation komme ich später zurück.

Sebastian

Die Eltern des einjährigen Sebastian habe ich in ein Baby-Trauma-Seminar eingeladen, in dem ich interessierten Menschen jeweils zeige, wie ich mit einer Familie arbeite. Dabei können die zu Beginn passiven Zuschauer und Zuschauerinnen auch ihre «Rollen» wechseln und zu aktiven, die Familie unterstützenden therapeutischen Mitarbeitenden werden. Die heilende Wirkung solcher Seminare ist regelmässig viel höher, als wenn ich alleine in meiner Praxis arbeite.

Sebastians Eltern suchen meine Hilfe, weil ihr Sohn ausschliesslich auf seine Mutter konzentriert, an sie gebunden ist. Verlässt sie beispielsweise den Raum, beginnt er sofort heftig zu weinen und zu schreien; den Vater beachtet er überhaupt nicht. Dieses Verhalten brachte die Mutter an den Rand einer Erschöpfung. Zudem machen sich beide Eltern Sorgen wegen Sebastians Wutausbrüchen: Wenn ihm irgendwelche Grenzen gesetzt werden, kniet er sich auf den Boden und beginnt seinen Kopf dagegen zu schlagen.

Als die Familie ins Seminar kommt, schläft Sebastian in seinem Babywagen, und die Eltern fragen als Erstes, ob sie ihn wecken sollen. Nein, sie dürften ihn ruhig schlafen lassen, entgegne ich, so könnten sie erst einmal in Ruhe von ihren Schwierigkeiten erzählen. Wie fast immer in Familiensitzungen, beginne ich mit der Mutter zu arbeiten, um mich dann dem Vater zuzuwenden. Dieser erklärt mir sofort, dass das Schlagen des Kopfes auf den Boden «sein Symptom» sei, das er bis zur Pubertät ebenfalls hatte. Und während er erzählt, wie er dieses Verhalten «verloren» hat, sehe ich, wie sich seine rechte Hand zur Faust verkrampft. Ich fühle auf Anhieb eine tiefe Sympathie für diesen scheuen und zurückhaltenden Vater. Indem ich ihn auf seine geballte Faust aufmerksam mache, gebe ich ihm den Hinweis, dass er möglicherweise eine alte, nicht ausgelebte Wut in sich trage. Und wenn er möchte, könne er gerne ausprobieren, diesen alten Groll und Zorn zum Ausdruck zu bringen, indem er beispielsweise auf einen Sitzsack in meiner Praxis einschlage.

Der Vater erinnert sich zuerst an alte Erfahrungen und die damit verbundenen Körpergefühle, die er nun als Förster durch extrem heftige Schläge zum Ausdruck bringt. Dabei erwacht Sebastian in seinem Babywagen und blinzelt, um sich zu orientieren, wo er sich befindet. Kaum hat er sich ein bisschen zurechtgefunden, steht er auf und setzt sich dem Vater auf den Schoss – die Szene erinnert an einen König auf seinem Thron. Aus dieser Position nimmt er mit verschiedenen Kursteilnehmern/-innen Kontakt auf – und der Vater versteht die Welt nicht mehr!

Einige Zeit danach ruft mich die Mutter an und teilt mir freudig und dankbar mit, dass sich ihre Familiensituation völlig verändert habe. Sie habe vor Kurzem mit ihrer dreijährigen Tochter wegen eines Notfalls zwei Tage in einer Klinik verbringen müssen. Das sei früher unmöglich gewesen, doch nun sei Sebastian mit dem Papa allein zu Hause geblieben, und der habe ihn abends ohne Weiteres zum Schlafen bringen können. Nachts sei Sebastian erwacht und habe die Mama gesucht. Der Vater habe ihm erklärt, dass sie mit seiner Schwester in der Klinik sei, und habe dem Kleinen die leere Wohnung gezeigt, worauf der wieder friedlich eingeschlafen sei. Auch seine Wutanfälle seien sichtlich schwächer geworden.

Was ist hier geschehen? Erst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass Kinder auch ihm Schlaf alles erfahren und aufnehmen, was in ihrem Umfeld passiert. Ich vermute, dass in dieser Familie die mächtige und unterdrückte Wut des Vaters seine Bindung mit dem Sohn verhindert hat. Kaum hat diese endlich eine Möglichkeit gefunden, sich zu entladen, ist der Weg frei für eine neue Beziehung zwischen Vater und Sohn. Ich vermute ferner, dass sich diese Wut ursprünglich gegen den eigenen Vater richtete, Sebastians Grossvater. Ich habe es in diesem Fall aber nicht als notwendig erachtet, den Ursprung der heftigen Gefühle zu ergründen. Und selbstverständlich hat das Ausdrücken dieser Wut auch etwas Grundlegendes in der Dynamik der Beziehung der Eltern verändert.14

Matthias

Matthias’ Familie kommt mit einer ungewöhnlichen Fragestellung zu mir, auch sie im Rahmen eines Seminars mit mehreren Menschen. Die Eltern berichten, Matthias sei schon in der Schwangerschaft seit dem sechsten Monat nicht mehr gewachsen. Sie möchten erfahren, ob sich das irgendwie nachteilig für die Entwicklung ihres Kindes auswirken könne. Auch hier arbeite ich in erster Linie mit dem Vater, weil ich feststelle, wie liebevoll der Kleine immer wieder seine Hand auf das Bein des Vaters legt, wenn er sich vom Rücken auf den Bauch oder umgekehrt drehen will. Als ich diese Liebe zwischen den beiden anspreche, meint der Vater, sie zeige sich noch viel stärker, wenn er Matthias auf den Arm nehme. Als ich ihn dazu ermuntere, wird das innige Band sofort spürbar, das Vater und Sohn verbindet.

Der Vater sagt, das sei aber nicht immer so gewesen; er selber habe eigentlich keine Kinder gewollt, habe jedoch gespürt, dass das Leben seiner Frau ohne ein Baby unerfüllt gewesen wäre und sie sich von ihm getrennt hätte. Und so habe er «in diesen sauren Apfel gebissen». Auf meine Frage, ob er etwas über seine eigene Kleinkinderzeit wisse, erzählt der Vater, er habe selber unter einem schweren Trennungstrauma gelitten. Nach der Geburt habe er zwei Monate in einer Isolette verbringen müssen, ohne Kontakt zu seinen Eltern. Ich bin fassungslos: Wie kann ein Vater mit so einer frühen und schweren Verletzung eine so liebevolle Beziehung zu seinem Sohn aufbauen? Und ich sage spontan, dann habe er ja dank Matthias eine Heilung seiner frühen Traumatisierung erleben dürfen. Deswegen sei auch seine Liebe zu seinem Sohn so innig, antwortet der Vater. Beim anschliessenden Feedback der Gruppe erzählen viele Teilnehmer/-innen mit Tränen der Rührung in den Augen, welche Erinnerungen diese Situation bei ihnen geweckt hat.15

Was ich am Beispiel von Matthias aufzeigen möchte, ist meine Erfahrung, dass alle Babys mit einer tiefen Liebe und Verbundenheit zu ihren Eltern auf die Welt kommen. Und dem Wunsch, ihnen zu helfen, dem Papa wie der Mama. Und sie sind in tiefer Sorge, wenn die Liebe der Eltern aus irgendeinem Grund blockiert ist und ihre Gefühle nicht frei fliessen können. Sie möchten den Eltern helfen, ihre eigenen frühen Verletzungen auszuheilen.

1. Die Hintergründe meiner Arbeitsweise

Meine Forschungen zur frühen Mutter-Kind-Beziehung

Ursprünglich bin ich Zoologe gewesen, bevor ich Psychoanalytiker wurde und den Beruf des Psychotherapeuten wählte. Sowohl in der Tiefenpsychologie als auch in den Verhaltenswissenschaften wurde im letzten Jahrhundert erforscht, dass das gesamte Erleben und Verhalten eines Individuums in seiner frühesten Kindheit, in der ersten Zeit nach der Geburt, entscheidend festgelegt und geprägt wird.

Unsere nächsten Verwandten sind die Affen, und alle Primaten zeichnen sich durch eine spezielle Mutter-Kind-Beziehung aus. Jede Mutter bildet selbst das Nest für ihr Jungtier; das Baby hält sich sofort nach der Geburt an ihrem Fell fest, und zwar mit Händen und Füssen. In diesem innigen Körperkontakt verharren die beiden tagsüber wie nachts, bis das Baby erste «Schritte» in Richtung Selbstständigkeit unternimmt, sich von der Mutter löst, um seine Umwelt zu erkunden. Die Mutter wird dabei zum Sicherheitsfeld (secure base), von dem aus die Welt erforscht und «erobert» wird. Wichtig ist hier, dass das Kleinkind jederzeit weiss, wo sich seine Mutter befindet, und dass es zu ihr zurückkehren kann, um wieder ein Gefühl von Sicherheit zu erleben, mit dem es dann den nächsten Erkundungsausflug durchführen kann. Dazu eine wichtige Anmerkung: Affen befinden sich sehr häufig auf Bäumen. Wenn ein Baby mit einer Hand oder einem Fuss den Griff verliert, beginnt es heftig zu weinen oder zu schreien, und die Mutter reagiert sofort, denn ihr Kleines ist unmittelbar vom Tod bedroht.

In der Evolution des Menschen gibt es bei allen Urvölkern eine identische Verhaltensweise: Auch hier werden die Babys ununterbrochen auf dem Körper herumgetragen – und dies, obwohl der Mensch vor vier bis sechs Millionen Jahren sein Fell verloren hat. Parallel zu dieser evolutiven Entwicklung hat der Mensch sich aufgerichtet; er ist der einzige Primat, der auf zwei Füssen geht, und die sind speziell auf das Laufen angepasst. Sie könnten einem Baby nicht mehr dazu dienen, sich am Fell der Mutter festzuhalten.

Ursprünglich waren die Menschen Jäger und Sammlerinnen, was bedeutet, dass sie herumzogen, um den Quellen ihrer Nahrungsmittel zu folgen. Die sesshafte Lebensweise, verbunden mit dem Ackerbau und dem Halten von Tieren, entwickelte sich erst sehr spät, vor rund 12’000 Jahren. Hätten die Mütter bei den Jägern und Sammlerinnen ihr Baby den ganzen Tag mit sich herumtragen müssen, wären sie völlig überfordert gewesen. Deswegen hat sich in der Evolution eine besondere Entwicklung ergeben: Ein Baby ist mit einer hohen Attraktivität ausgestattet – alle Mitglieder einer Gruppe möchten es gerne herumtragen –, doch die Mutter wählt sorgfältig aus, wem sie ihr Kleinkind anvertraut. Gleichzeitig haben die Menschen viele verschiedene Arten von künstlichen Tragehilfen geschaffen, damit eine Mutter ihr Kleinkind nicht konstant auf den Armen herumtragen muss, sondern in irgendeiner Weise an ihrem Körper festbinden kann. Mit der Erfindung des Webens wurde ein Baby in lange Tücher eingeschlagen und direkt auf dem Körper der Mutter getragen, sodass sie die Hände frei hatte für eine andere Arbeit.

In meinem ersten Buch «Angst und Geborgenheit» (1974) habe ich mich eingehend mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung in verschiedenen archaischen Kulturen beschäftigt. Trotz aller Verschiedenheit, mit der Babys erlebt und behandelt worden sind, gibt es eine grundlegende Ähnlichkeit im Verhalten aller ursprünglichen Kulturen. Wenn ein Baby weinte, reagierten die Menschen sofort und versuchten, es zu trösten. Das Wissen und Empfinden, dass das Weinen eines Babys Todesangst ausdrückt, ist hier tief verwurzelt.

Im Gegensatz dazu zeichneten sich alle Hochkulturen, die in Städten angesiedelt waren und Tempel und Paläste bauten, durch die Trennung von Mutter und Baby aus. Und ich habe herausgearbeitet: Je höher die Kultur entwickelt war, desto schärfer und radikaler war diese Trennung. Vorformen davon entstanden natürlich schon beim Beginn der sesshaften Lebensweise vor rund 12’000 Jahren.16 Mit einer festen Wohnbehausung wurde es möglich, ein Baby hinzulegen, ohne dass es vom Tod bedroht war.