Anhaltende Trauer - Urs Münch - E-Book

Anhaltende Trauer E-Book

Urs Münch

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Beschreibung

Anhaltende Trauer ist für einen Teil der Betroffenen dauerhaft sehr belastend und im Alltag nachhaltig beeinträchtigend. Sie erleben nicht die oft genannte heilsame Kraft der Trauer, werden unter Umständen falsch behandelt und mit einer psychiatrischen Diagnose belegt. Die international kontrovers diskutierte, in die ICD-11 aufgenommene Diagnose der »Anhaltenden Trauerstörung« will für diese Trauernden eine verbesserte Versorgung sicherstellen. Eine solche Diagnose bringt aber auch Ängste vor einer Pathologisierung von Trauer mit sich. Umso mehr braucht es Wissen, das hilft, die Betroffenen in ihrer Beeinträchtigung erkennen zu können, ihnen Würde wahrend zu begegnen sowie ihnen angemessene Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten. Das Buch ist kein Therapiemanual, sondern ein praxisnaher Beitrag für Professionelle und Ehrenamtliche in der Trauerbegleitung und im Gesundheitswesen. Es vermittelt, wie eine hospizlich-palliative Haltung und Erkenntnisse aus der internationalen Trauerforschung die Arbeit für Trauernde unterstützen können.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Urs Münch

Anhaltende Trauer

Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden

Mit 3 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Jacob

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Alexey Seafarer/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2864

ISBN 978-3-647-99984-5

Inhalt

Vorwort

Einführung

1Begriffsklärungen zum Thema Trauer

1.1»Grief«, »bereavement« und »mourning«

1.2»Normale« Trauer

1.3»Nicht normale« Trauer

1.4Komplizierte Trauer, Störung durch eine anhaltende komplexe Trauerreaktion und Anhaltende Trauerstörung

2Anhaltende Trauerstörung (nach ICD-11)

2.1Diagnose

2.2Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen

2.3Diagnostik: Aktueller Stand der Dinge bei Fragebögen zur Anhaltenden Trauerstörung

3Modelle anhaltender Trauer

3.1Das Duale Prozessmodell und das Konzept der Double Awareness

3.2Bindungstheoretische Erkenntnisse im Hinblick auf das Duale Prozessmodell

3.3Zusammenführung wesentlicher Ansätze und Ableitung von Interventionszielen

4Therapieansätze

4.1Kognitive Verhaltenstherapie für Trauernde

4.2Exposition

4.3Familiy Bereavement Program

4.4Sinnbasierte Trauertherapie

4.5Chronic Grief Management Intervention

4.6Metakognitive Gruppentherapie

4.7Medikamente

4.8Zusammenfassender Ausblick

5Umgang mit der Diagnose Anhaltende Trauerstörung

5.1Wirksamkeitsnachweise von Trauerbegleitung im deutschsprachigen Raum

5.2Trauerbegleitende und Trauerberatende: Haltung und Beziehungsgestaltung

5.3ABCD der Würde

5.4Optimale Versorgungsstrukturen für die Unterstützung Trauernder

5.5Erkennen von Risikofaktoren im Hospiz- und Palliativbereich

6Tipps für Trauerberatende

6.1Eine Anhaltende Trauerstörung erkennen

6.2Trauerberatung und Psychotherapie: Ist beides gleichzeitig möglich?

6.3Wie finde ich geeignete Psychotherapeuten?

6.4Woran erkenne ich, ob Trauernde eine Depression oder eine Posttraumatische Belastungsstörung haben?

6.5Umgang mit Suizidalität

6.6Haltung und Selbstfürsorge

7Ausblick und Dank

Literatur

Vorwort

Im Jahr 1967 hielt Theodor W. Adorno einen Vortrag an der Wiener Universität. Die Mitschrift dieses Vortrages trägt den Titel »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« – Was Adorno 1967 schon über die neue Rechte wusste.« Der Philosoph und Soziologe erklärt darin, wie es zu radikalen Bewegungen kommt, und führt zahlreiche Gründe dafür an. Unter anderem benennt er den Aspekt der Teilhabe. Fühlen sich Teile der Gesellschaft ausgeschlossen, erzeugt dies Wut und daneben auch Angst, selbst bald zu den Abgehängten zu gehören.

Das vorliegende Buch handelt nicht von der Radikalisierung der Gesellschaft, sondern von Menschen, die trauern, und denen, die Trauernde unterstützen. Was aber haben die Überlegungen Adornos damit gemeinsam?

Die Aufnahme der Diagnose »Prolonged Grief Disorder« in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11; verabschiedet im Jahr 2019) löst immer noch heftige Abwehrreaktionen aus. So scheint bei Fachkräften wie Trauerbegleitern und Trauerberatern die Sorge zu bestehen, als verlöre mit der trauerspezifischen Störung ihre Arbeit an Bedeutung oder als würde sie gar bedeutungslos. Auch ginge damit die Deutungshoheit auf die Psychologen und Mediziner über. Die Sorge ist auf den ersten Blick verständlich, denn eine Medikalisierung eines grundsätzlich zum Leben dazugehörenden Erfahrungsbereichs, der gemeinhin als natürlich bezeichnet wird, muss Kritik hervorrufen. Natürliches als krankhaft zu bezeichnen, ist schwerlich hinzunehmen.

Doch die Argumentation der Gegner greift möglicherweise zu kurz, denn sie macht sich gemein mit dem, was sie kritisiert. Sie fokussiert in fast paralleler Gemeinsamkeit mit der ICD-11 lediglich nur auf das innerpsychische Erleben und verliert sich in Grenzstreitigkeiten zwischen »normal« und »störungswertig«. Die sozialen Belange außerhalb der innerpsychischen Parameter bleiben hingegen weitestgehend unberücksichtigt. Dabei haben die gesellschaftlichen Bedingungen eine solche Diagnose erst hervorgebracht.

So zeichnen sich postmoderne Gesellschaften dadurch aus, dass sie eine weitreichende Dynamisierung und Veränderung der Zeitstrukturen erleben. In allen Bereichen finden stetig Veränderungen statt. Die Menschen sind angehalten, Zeit zu sparen, ihr Lebenstempo zu erhöhen und ihre Leistung zu steigern, um den Anschluss zu behalten. Rosa (2012) spricht in dem Zusammenhang von einer beschleunigten Gesellschaft, in der Menschen unter Zeitknappheit leiden.

Granek (2017) beschreibt darüber hinaus, wie das wissenschaftliche Paradigma auf alle Lebensbereiche übertragen wurde. Rationalität, Funktionalität und Effektivität sind Werte, die den Alltag der Menschen leiten. Es herrscht der Glaube, dass es für jedes Problem sowohl eine Erklärung als auch eine Lösung geben muss.

Übertragen auf die Trauerthematik heißt das: Trauerprozesse müssen schnell verlaufen, damit sie die allgemeine Geschäftigkeit nicht stören. Falls dies nicht geschieht, ist psychotherapeutische Unterstützung die Lösung.

Wenn aber Trauerbegleiter und Trauerberater ebenfalls nur das innerpsychische Erleben im Blick haben, machen sie sich dann vor diesem Hintergrund nicht nur zu bloßen Agenten dieser Auffassung? Damit wäre ihre Sorge berechtigt, mit der sie die Bedeutung ihrer Arbeit schwinden sehen. Denn die Diagnose legitimiert fast ausschließlich ärztliche und psychologische Psychotherapeuten als diejenigen, die Menschen mit Komplizierter Trauer zu betreuen haben.

Trauer ist jedoch kein rein innerpsychisches Phänomen. Fokussierten die Trauerfachkräfte auf die sozialen Bedingungen und gingen sie dazu über, ihre wertvolle Arbeit verstärkt im sozialen Kontext zu verorten, bliebe ein Tätigkeitsfeld, von dem aus weitreichende Effekte erzielt werden können. Denn eine Gesellschaft, deren Glück auf der Anhäufung von Macht, Ansehen und Geld aufbaut, kann erheblich von Menschen profitieren, denen es um Mitmenschlichkeit, Respekt und Miteinander geht.

Somit steht mit der Einführung der Diagnose gar nicht infrage, ob es noch einen Platz für die Trauerfachkräfte geben könnte. Im Gegenteil, die Diagnose könnte helfen, das eigene Tätigkeitsfeld besser zu definieren sowie Ziele und Schwerpunkte der eigenen Arbeit zu reflektieren. Kurz: Die Angst um Verlust von Teilhabe ist unbegründet.

Heidi MüllerTrauerzentrum Frankfurt

Einführung

Frau B.

Und wieder war es keine gute Nacht, kein erholsamer Schlaf. Sie fühlt sich wie gerädert und noch bevor sie die Augen geöffnet hat, ist es wieder da: Thomas1. Und all die Fragen: Warum? Warum ist er nicht da? Warum diese Ungerechtigkeit, warum musste es ihn treffen? Warum hat er sie nicht gleich mitgenommen? Wechselnd schießen ihr die Fragen durch den Kopf, während sich ein Gefühl unendlicher Traurigkeit an seinem inzwischen angestammten Platz ausbreitet, so dass es kein Ausweichen oder Ablenken gibt. Wie ein stummer Schrei, fordernd, Raum greifend, permanent vorhanden. Es ist da und lässt nicht locker. Mühevoll erhebt sie sich und bewegt sich in Richtung Badezimmer. Alles ist nicht mehr so ordentlich und aufgeräumt wie früher. Früher. Sofort gehen wieder die Bilder vor ihrem inneren Auge los. Sie befinden sich beide im seichten Meer am Strand und bespritzen sich gegenseitig mit Wasser. Die Möwen kreischen, Wellen rauschen sanft heran, die wunderbar salzhaltige Luft, das Wasser angenehm weich und kühlend bis zu den Waden. Ihr Blick ist immer nur auf ihn gerichtet, auf sein Lachen und seine wunderbar strahlenden und funkelnden Augen. Die Lachfältchen! Wie sehr sie diese liebt. Jedes einzelne. Nachdem sie vergeblich versucht, vor ihm wegzulaufen und nicht durchnässt zu werden, holt er sie ein und umschließt sie mit seinen Armen.

Sie hat alles so genau vor Augen, als ob es gerade geschehen würde. Aber bevor sie es richtig genießen kann, ist dieser Schmerz wieder da, dieser permanente, dunkle und umhüllende Schatten. In ihren Augen sammeln sich Tränen. Ihr Blick geht durch die Tür zu den auf dem Wohnzimmertisch liegenden Fotoalben. Alles nur schöne Erinnerungen, aber extrem schmerzvolle schöne Erinnerungen. Jedes schöne Erlebnis, jede einzelne Situation, die sie in Gedanken durchgehen kann, ist immer überfrachtet vom Gefühl nie abebbender tiefer Traurigkeit. Sie waren einfach ein tolles Team. Beruflich und privat. Unzertrennbar. Zwischen ihr und Thomas passe kein Blatt, meinte ihre Schwester früher immer. Früher, zu besseren Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war. Jetzt lässt sich ihre Schwester auch nicht mehr blicken. Trauerkloß. So hatte sie sie bei ihrer letzten Begegnung genannt. Auch schon wieder ein paar Monate her. Und warum sie anrufen? Was sie selbst beschäftigt, will ihre Schwester eh nicht hören, und es ist zu mühsam, irgendetwas zu erfinden oder schönzumalen, was seit über einem Jahr einfach nicht mehr schön ist. Schön ist höchstens die Erinnerung. Teilweise. Besser: Das sind noch die Momente, in denen sie trotz der Traurigkeit Schönes erlebt und empfindet.

Manchmal überkommt sie eine Wut. Wie konnte er sich einfach nur davonstehlen und sie im Stich lassen?! Der Sonnenschein ist weg, alles ist nur noch grau und farblos. Nicht, dass sie das einfach nur hingenommen hätte. Aber nirgendwo fühlt sie sich richtig. Anfangs hatte sie ein paar Mal ein Trauercafé besucht in der Hoffnung, es könnte sich etwas bessern. Geduldig hörte sie anderen zu und erhoffte sich, von ihnen lernen zu können. Aber es passierte nichts, veränderte sich nichts. Sie bekam auch einige Ratschläge: Du musst den Tod akzeptieren, du musst Trauerarbeit leisten, wenn du alle Phasen durchlaufen hast, wird es dir wieder besser gehen, aber da musst du erst einmal durch. Aber Thomas kam dadurch nicht zurück und so richtig besser fühlte sie sich nicht. Sehnsucht und Schmerz sind bis heute ihre Begleiter bis in den Schlaf hinein geblieben. Die einzige richtige Stütze war seit dem Tod ihre Hausärztin. Sie zog sie aus dem Verkehr und sorgte dafür, dass sie krankgeschrieben blieb. Und das, ohne dass sie sich erklären musste. Manchmal reichte ein Blick und die Ärztin verlängerte seufzend die Krankschreibung. Die Tabletten, die sie ihr vor Monaten verschrieben hatte, nahm sie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich damit eher wie betäubt und auf Watte gefühlt, als ob sie nicht mehr sie selbst sei. Das Gefühl der Betäubung war das einzig Positive, aber sie wollte kein Zombie sein. Zumindest nicht wegen der Tabletten.

Da ihr gesagt wurde, dass ihr Ablenkung guttäte, war sie anfangs nach der Beerdigung arbeiten gegangen, aber ihre Chefin hatte sie bald mit den Worten »So nutzt du uns nichts, wenn du so neben dir stehst« nach Hause geschickt. Zu Hause war Platz für all die Erinnerungen. Anfangs konnte sie diese noch mit zwei Freundinnen und einer Nachbarin teilen, aber irgendwann wurden diese ungeduldig und zeigten sich genervt davon, dass sie nur ein Thema hatte: Thomas. »Du musst langsam wieder am normalen Leben teilnehmen und dich auch mal wieder mit anderen Dingen beschäftigen.« »Meinst du, Thomas hätte gewollt, dass du wie ein Häufchen Elend herumsitzt?« Irgendwann wurden die Kontakte weniger. Soziale Kontakte hat sie jetzt hauptsächlich beim Einkaufen und natürlich durch ihre Hausärztin. Diese hatte ihr kürzlich die Überweisung zu einer Psychotherapie gegeben mit dem dringenden Rat, etwas für sich zu tun. Die Krankenkasse wollte sie unbedingt in die Reha stecken, denn bald würde das Krankengeld auslaufen.

Frau B.s Oma hat es damals »geschafft«. Nachdem Opa gestorben war, wollte sie einfach nicht mehr. Sechs Monate später wurde sie schwer krank und verstarb dann ganz schnell. Bei ihrem letzten Kontakt hat sie ihr mitgeteilt, dass er auf sie warte und sie sich so sehr freue, endlich wieder mit ihm vereint zu sein. Aber anscheinend ist Frau B. nicht so stark oder konsequent wie ihre Oma. Seuf­zend macht sie sich fertig, um zum Friedhof zu gehen, zu Thomas’ Grab. Der Ort, an dem sie sich manchmal Stunden aufhalten kann. Der Ort, den sie mit Hingabe pflegt, damit er es schön hat. Der Ort, an dem sie sich ihm nahefühlt und mit ihm reden kann. Aber auch ein Ort, den sie irgendwann wieder fluchtartig verlassen muss, weil sie es nicht mehr aushält, wenn sie der Schmerz überwältigt.

Anhaltende Trauer meint Trauer, die in ihrer Ausprägung und Intensität lang andauert, nicht innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten in einen erträglicheren Bereich kommt und bei der Alltag und Normalität nicht zunehmend wieder mehr Raum bekommen. Ein Trauerverlauf kann bei einigen Menschen Jahre, mitunter Jahrzehnte dauern (Wagner, 2013), andere Menschen erleben hingegen selbst nach einem bedeutsamen Verlust nur eine gering ausgeprägte Trauer und bei nicht wenigen stellt sich gar keine Trauerreaktion ein (Bonnano, Boerner u. Wortmann, 2008). Dauer und Intensität von Trauer sind neben soziokulturellen und individuellen Faktoren wie zum Beispiel Gesundheit und sozioökonomische Situation auch von der Art des Verlustes abhängig (Dyregov, Nordanger u. Dyregov, 2003; Pynoos u. Nader, 1990; Rando, 1985; Wagner, 2016).

Das Eingangsbeispiel stellt eine anhaltende Trauer dar, wie ihr Trauerbegleiter und Trauerbegleiterinnen2 im Rahmen ihrer Tätigkeit begegnen können. Was führt dazu, dass zum Thema anhaltende Trauer jetzt ein weiteres Buch erscheint, obwohl es in den letzten Jahren für den deutschsprachigen Raum mit den Büchern von Birgit Wagner (2013) sowie von Heidi Müller und Hildegard Willmann (2016) hervorragende Zusammenfassungen zum Thema Trauer und Stand der Dinge in der Trauerforschung gegeben hat?

In den Jahren 2018/19 kam es zu einer einschneidenden Veränderung: Das Vorhaben, in die neue Auflage der von der WHO herausgegebenen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) eine Diagnose namens »Anhaltende Trauerstörung« aufzunehmen, war schon länger bekannt. In den letzten drei, vier Jahren hat dieses Vorhaben auch in Deutschland zum Teil heftige Kontroversen und vor allem Ablehnung ausgelöst (siehe Stellungnahmen DHPV, 2016, 2018)3. Im Mai 2019 wurde die ICD-11 von der Weltgesundheitsversammlung WHA verabschiedet und damit wurden auch die Kriterien für die neue Trauerstörung festgelegt. Das schuf Tatsachen, die einen Umgang jenseits pauschaler Ablehnung oder Dämonisierung dieser Diagnose erfordern (Münch u. Gramm, 2017; Paul, 2017). Noch ist nicht klar (Stand: Oktober 2019), wann genau die ICD-11 in Deutschland eingeführt bzw. umgesetzt wird. Anstatt darauf zu warten und dann zu reagieren, soll dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, die Diskussion über die Diagnose auf eine sachlichere Ebene zu heben und praktische Aspekte im Umgang mit der Anhaltenden Trauerstörung zu beleuchten. Es wird dabei das Zel verfolgt, zumindest ein Stück weit bei der Einschätzung zu helfen, wer wann welche Unterstützung braucht, wenn Trauer nicht aufhört.

Mein beruflicher Schwerpunkt in der Psychoonkologie und der Palliativversorgung veranlasst mich, den Blick darauf zu werfen, was insbesondere die Palliativversorgung und die damit verbundene Forschung in der Begleitung, Betreuung und Behandlung von Menschen mit anhaltender Trauer beizutragen haben und womit sie bereichern können. Das betrifft sowohl Themen wie Haltung, Würde und das Konzept der »Double Awareness« als auch ethische Fragestellungen und die ethischen Richtlinien bzw. Leitlinien der Fachkräfte (Münch u. Müller, 2019). Palliative und hospizliche Versorgung beinhalten zudem, Trauerprozesse von Menschen mit lebenslimitierender schwerer Erkrankung und deren Nahestehenden zu begleiten. Es ist in diesem Feld auch Aufgabe der Begleitenden und Behandelnden, Zugehörige und Nahestehende im Blick zu haben, bei denen ein Risiko für eine Anhaltende Trauerstörung besteht. Dafür wird in diesem Buch der aktuelle Wissensstand internationaler Forschung zusammengefasst und Wissenslücken sowie Probleme für die Praxis werden aufgezeigt. Zuerst geht es aber um Begriffsklärungen, denn nur wenn klar ist, was welcher Begriff meint und welche wissenschaftlichen Positionen damit verbunden werden, kann in der Diskussion um Trauer und Trauerstörung eine gemeinsame Sprache gefunden werden.

1Name wurde geändert.

2Es werden in diesem Buch nicht durchgängig Geschlechtsformen genannt, es sind aber immer alle gemeint.

3https://www.dhpv.de.

1Begriffsklärungen zum Thema Trauer

1.1»Grief«, »bereavement« und »mourning«

Die wissenschaftliche Diskussion und die überwältigende Mehrheit der zu Trauer veröffentlichten wissenschaftlichen Publikationen sind in der Regel englischsprachig. Im Deutschen ist »Trauer« das umfassende Wort, das sämtliche Facetten und Aspekte der Trauer beinhaltet. Da dies im Englischen anders ist, bedarf es einer Klärung der Bedeutung der im wissenschaftlichen Diskurs verwendeten Begriffe. Im Englischen sind die Begriffe »grief«, »bereavement« und »mourning« im Zusammenhang mit Trauer zentral. Die Unterscheidung zwischen diesen Begriffen fächert mögliche Bedeutungen des Wortes »Trauer« auf. In der Diskussion um »normale« oder »nicht normale« Trauer werden im Englischen vor allem die Begriffe »grief« und »bereavement« verwendet. »Grief« ist definiert als der hauptsächlich emotionale/affektive Prozess, auf den Verlust eines geliebten Menschen durch Tod zu reagieren. Der Fokus liegt dabei auf dem inneren, intrapsychischen Prozess des Individuums (Boerner, Stroebe, Schut u. Wortmann, 2017; Stroebe, Hansson, Schut u. Stroebe, 2008).

Grief bezieht sich also auf das innere Erleben von Trauer und ist demnach, anders als »Bereavement«, vor allem eine psychisch-mentale Entität (Maciejewski, Maercker, Boelen u. Prigerson, 2016). »Bereavement« beschreibt hingegen die objektive Situation, in der man sich befindet, nachdem man eine wichtige Person durch Tod verloren hat (Boerner et al., 2017; Stroebe et al., 2008). Bereavement wird als der breiteste der drei Begriffe und als eine Aussage über die objektive Realität einer Situation des Verlustes durch den Tod verstanden (Maciejewski et al., 2016). Dieser Unterschied findet sich auch in der Praxis wieder. So wird im Internet zum Beispiel der Begriff der »bereavement support group« (Trauerselbsthilfegruppe) verwendet, aber es ist von einem »grief therapist« (Trauertherapeut) die Rede.4

Während »grief« sich also auf die innere oder intrapsychische Erfahrung des Verlustes konzentriert, bezieht sich »mourning« auf die äußeren oder öffentlichen Ausdrucksformen der Trauer (Stroebe et al., 2008). »Es gibt eine offensichtliche Überschneidung zwischen ›grief‹ und ›mourning‹, wobei sich beide gegenseitig beeinflussen. Das macht es oft nicht leicht, zwischen den beiden zu unterscheiden. Der öffentliche Ausdruck (d. h. ›mourning‹) der emotionalen psychischen Belastung durch den Verlust eines geliebten Menschen (d. h. ›grief‹) wird von kulturell bestimmten Überzeugungen, Sitten und Werten beeinflusst« (National Cancer Institute, 2017).5

Es mag hilfreich sein, den Begriff »Trauer« in der Vielfalt seiner Bedeutungen und Aspekte zu erläutern, damit die im deutschsprachigen Raum heftige (Glaubens-)Diskussion, ob Trauer an sich pathologisch sein kann, eventuell sachlicher geführt werden kann. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Fragen aufgeworfen, zum Beispiel: Ist von Trauer als psychischer Entität die Rede? Handelt es sich bei Trauer um Emotionsverarbeitung mit Auswirkungen auf das Fühlen, Denken und Handeln? Meint Trauer die Auswirkungen auf das eigene Selbst, das Selbstverständnis, die Selbst- und Weltsicht oder die eigene Bedürftigkeit? Geht es um Trauer als Prozess, der