Animus - Pino Rauch - E-Book

Animus E-Book

Pino Rauch

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Beschreibung

An einem warmen Sommertag verschwindet der schwerreiche Unternehmer Benedikt von Doerringer spurlos von seinem Boot Fortune auf dem Berliner Wannsee. Eine Hundertschaft der Polizei und ein privates Spezialteam suchen fieberhaft nach ihm. War es ein Unfall oder ist der Mann entführt worden? Steckt er eventuell selbst hinter seinem Verschwinden? Welche Rolle spielt Animus, ein Medikament, das schwer Drogensüchtige heilen kann? In ihrem siebten Fall recherchiert das Frankfurter Ermittlerduo Steffen Anbach und Linda Sachse in alle Richtungen. Als sie der Wahrheit zu nah kommen, wendet sich das Blatt und gezielte Gewalt schlägt ihnen entgegen. Rasant erzählt, mit vielen Perspektivwechseln, tauchen die Kommissare in eine Welt ein, die ihnen rätselhaft ist. Ein aktueller Roman, der einen nicht mehr loslässt.

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Pino Rauch

Animus

Der siebte Fall für Steffen Anbach und Linda Sachse

Kriminalroman

Impressum

Texte:                    © 2024 Copyright by Pino Rauch

Umschlag:             © 2024 Copyright by Mai Ky Plück

Verantwortlich

für den Inhalt:        Pino Rauch

                              Danziger Str. 64

65191 Wiesbaden

[email protected]

Druck:                  epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

PROLOG.. 18

Berlin, Wannsee. 18

EINS. 22

Berlin, Wannsee. 22

ZWEI26

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 26

DREI32

Berlin, Wannsee. 32

VIER. 35

Berlin, Wannsee. 23:30 Uhr in der Nacht35

FÜNF. 36

Potsdam-Babelsberg, Truman-Villa. 36

SECHS. 40

SIEBEN.. 41

Berlin, Wannsee. 41

ACHT. 45

Berlin, Wannsee. 23:35 Uhr45

NEUN.. 48

Berlin, Wannsee. 48

ZEHN.. 56

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 56

ELF. 61

Berlin-Charlottenburg. 61

ZWÖLF. 67

Berlin-Charlottenburg. 67

DREIZEHN.. 76

VIERZEHN.. 79

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 79

FÜNFZEHN.. 83

Frankfurt am Main, Opernplatz. 83

SECHZEHN.. 96

Frankfurt am Main, Opernplatz. 96

SIEBZEHN.. 100

Berlin, Wannsee. 100

ACHTZEHN.. 106

Berlin, Wannsee. 106

NEUNZEHN.. 109

Berlin, Wannsee. 109

ZWANZIG.. 115

Berlin, Wannsee. 115

EINUNDZWANZIG.. 116

Berlin, Wannsee. 116

ZWEIUNDZWANZIG.. 122

Berlin, Wannsee. 122

DREIUNDZWANZIG.. 128

Berlin, beim Wannsee. 128

VIERUNDZWANZIG.. 135

Berlin, beim Wannsee. 135

FÜNFUNDZWANZIG.. 137

Berlin, beim Wannsee. 137

SECHSUNDZWANZIG.. 141

Berlin, Wannsee. 141

SIEBENUNDZWANZIG.. 149

Berlin, Botschaftsviertel149

ACHTUNDZWANZIG.. 154

Berlin, Wannsee. 154

NEUNUNDZWANZIG.. 158

Berlin, Wannsee. 158

DREISSIG.. 164

Berlin, Wannsee. 164

EINUNDDREISSIG.. 167

Berlin, Wannsee. 167

ZWEIUNDDREISSIG.. 170

Berlin, Wannsee. 170

DREIUNDDREISSIG.. 175

Berlin, Wannsee. 175

VIERUNDDREISSIG.. 180

Kurz zuvor180

FÜNFUNDDREISSIG.. 181

Berlin, Wannsee. 181

SECHSUNDDREISSIG.. 185

Berlin, Wannsee. 185

SIEBENUNDDREISSIG.. 193

Berlin, Wannsee. 193

ACHTUNDDREISSIG.. 196

Berlin, Wannsee. 196

NEUNUNDDREISSIG.. 198

Berlin, Wannsee. 198

VIERZIG.. 201

Berlin, Wannsee. 201

EINUNDVIERZIG.. 203

ZWEIUNDVIERZIG.. 206

DREIUNDVIERZIG.. 213

Berlin-Mitte. 213

VIERUNDVIERZIG.. 215

Berlin-Mitte. 215

FÜNFUNDVIERZIG.. 221

Berlin-Mitte. 221

SECHSUNDVIERZIG.. 226

Frankfurt am Main. 226

SIEBENUNDVIERZIG.. 229

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 229

ACHTUNDVIERZIG.. 235

Berlin, Wannsee. 235

NEUNUNDVIERZIG.. 237

Berlin, am Stadtrand. 237

FÜNFZIG.. 239

Berlin, am Stadtrand. 239

EINUNDFÜNFZIG.. 241

Berlin-Mitte, Charité. 241

ZWEIUNDFÜNFZIG.. 254

Berlin, vor der Stadt254

DREIUNDFÜNFZIG.. 259

Berlin-Mitte. 259

VIERUNDFÜNFZIG.. 266

Wiesbaden- Kohlheck, Polizeiakademie. 266

FÜNFUNDFÜNFZIG.. 270

Frankfurt am Main, Hauptbahnhof270

SECHSUNDFÜNFZIG.. 273

Zugfahrt Frankfurt nach Berlin. 273

SIEBENUNDFÜNFZIG.. 276

Moskau, Ben und Elena. 276

ACHTUNDFÜNFZIG.. 278

Moskau, Ben und Elena. 278

NEUNUNDFÜNFZIG.. 282

Moskau, Ben und Elena. 282

SECHZIG.. 285

Berlin, Ben und Elena. 285

EINUNDSECHZIG.. 288

Berlin, Ben und Elena. 288

ZWEIUNDSECHZIG.. 292

Berlin-Mitte. 292

DREIUNDSECHZIG.. 294

Steffen und Linda zurück in Berlin. 294

VIERUNDSECHZIG.. 299

Berlin, Savignyplatz. 299

FÜNFUNDSECHZIG.. 302

Berlin Kreuzberg. 302

SECHSUNDSECHZIG.. 305

Berlin-Kreuzberg. 305

SIEBENUNDSECHZIG.. 306

Berlin-Wannsee. 306

ACHTUNDSECHZIG.. 310

Berlin, am Wannsee. 310

NEUNUNDSECHZIG.. 313

Berlin-Mitte, Hotel Adlon – Ben und Elena. 313

SIEBZIG.. 315

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium Adickesallee. 315

EINUNDSIEBZIG.. 318

Tudorvilla auf dem Taunuskamm.. 318

ZWEIUNDSIEBZIG.. 322

Taunuskamm.. 322

DREIUNDSIEBZIG.. 325

Taunuskamm.. 325

VIERUNDSIEBZIG.. 327

Taunuskamm.. 327

FÜNFUNDSIEBZIG.. 334

Taunuskamm.. 334

SECHSUNDSIEBZIG.. 338

Taunuskamm.. 338

SIEBENUNDZIEBZIG.. 342

Frankfurter am Main, Polizeipräsidium.. 342

ACHTUNDSIEBZIG.. 345

NEUNUNDSIEBZIG.. 348

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 348

ACHTZIG.. 353

EINUNDACHTZIG.. 355

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 355

ZWEIUNDACHTZIG.. 361

DREIUNDACHTZIG.. 363

VIERUNDACHTZIG.. 365

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 365

FÜNFUNDACHTZIG.. 369

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium.. 369

SECHSUNDACHTZIG.. 371

SIEBENUNDACHTZIG.. 372

Frankfurt am Main, Europaviertel372

ACHTUNDACHTZIG.. 374

Königstein im Taunus. Tage zuvor374

NEUNUNDACHTZIG.. 378

Frankfurt am Main, Europaviertel378

NEUNZIG.. 381

Frankfurt am Main, Zeil381

EINUNDNEUNZIG.. 387

Frankfurt am Main, Zeil387

ZWEIUNDNEUNZIG.. 391

Fechenheimer Wald. 391

DREIUNDNEUNZIG.. 397

Fechenheimer Wald. 397

VIERUNDNEUNZIG.. 402

Fechenheimer Wald. 402

FÜNFUNDNEUNZIG.. 405

Fechenheimer Wald. 405

SECHSUNDNEUNZIG.. 410

Frankfurt am Main, Innenstadt410

SIEBENUNDNEUNZIG.. 414

Berlin, Pariser Platz. 414

ACHTUNDNEUNZIG.. 417

Frankfurt am Main, Innenstadt417

NEUNUNDNEUNZIG.. 420

Frankfurt am Main, Innenstadt420

HUNDERT. 422

Frankfurt am Main, Innenstadt422

HUNDERTEINS. 424

Frankfurt am Main, Messegelände. 424

HUNDERTZWEI427

Frankfurt am Main, Innenstadt427

HUNDERTDREI431

Frankfurt am Main, Innenstadt431

HUNDERTVIER. 436

Frankfurt am Main, Innenstadt436

HUNDERTFÜNF. 438

Frankfurt am Main, Innenstadt438

HUNDERTSECHS. 441

Frankfurt am Main, Bockenheim.. 441

PROLOG

Berlin, Wannsee

Benjamin von Doerringer, von seinen Freunden stets Ben genannt, versuchte sich nicht zu sorgen. Manchmal war er sich über seine eigenen Gefühle nicht im Klaren. Er brauchte Ruhe, um nachzudenken. So weit das Auge reichte, strahlte der Himmel blau und wolkenlos. Es würde ein herrlicher Tag im August werden.

Das Wasser des Wannsees war still. Es kräuselte sich sanft, als eine kleine Brise aufkam. Beste Voraussetzungen, um eine entspannte Zeit mit der 30 Jahre alten Fortune auf dem Wasser zu verbringen.

Am Vorabend, kurz vor neun Uhr, war Ben mit der familieneigenen Challenger 604 von Frankfurt am Main in die Hauptstadt gejettet. Nur engen Freunden hatte er anvertraut, dass er sich eine Auszeit gönnte, um sich von den Strapazen der letzten Wochen zu erholen.

Kurz nach sechs, die Sonne war gerade aufgegangen, löste Ben die Leinen des Boots und brachte die wuchtigen Fender ein. Routiniert warf er die Dieselmotoren der Fortune an. Entspannt schipperte er auf die Mitte des Sees. Mit allen Sinnen genoss er die Ruhe auf dem Gewässer.

Bekleidet war Ben mit einer beigefarbenen Leinenhose und einem ärmellosen Bretonen-Hemd. An den Füßen trug er blaue Segelschuhe.

Der Unternehmer, Anfang 40, mit fein geschnittenen Gesichtszügen und dunklen Haaren, war der Spross einer alten, vermögenden Familiendynastie aus Frankfurt am Main.

Wenige Jahre zuvor hatte er allein den Atlantik überquert. In einer Rekordzeit war es ihm, der nie sein Ziel aus den Augen verlor, gelungen, mit einem Segelboot die amerikanische Ostküste zu erreichen. Von den Bewohnern der Stadt New York war er frenetisch gefeiert worden. Er hatte geschafft, was sich viele Menschen ein Leben lang erträumten.

Als die Fortune die Mitte des Wannsees erreichte, stellte Ben die gleichförmig tuckernden Dieselmotoren ab und ließ die Ankerkette ins Wasser rasseln. Er nahm sich eine Tasse Instant-Coffee und pflanzte sich auf das polierte Schiffsdeck. In aller Seelenruhe ließ er seine Augen über das Wasser schweifen.

Rund hundert Meter entfernt war ein Ruderachter plus Steuermann auszumachen. Das schmale Boot, angetrieben von acht schlanken Riemen, die präzise aufeinander abgestimmt ins dunkle Nass eintauchten, schoss pfeilschnell über den See. Die Choreographie der Ruderer nahm Ben sofort in Beschlag. Die scheppernden Worte, die aus dem Megaphon des schmächtigen Steuermanns über das Wasser drangen, waren nicht zu verstehen. Eine Weile sah Ben ihnen beim Training zu. Bald war das Ruderer-Team aus dem Blickfeld verschwunden. Unbeirrt sah er weiter auf den See hinaus.

Plötzlich bemerkte er eine deutliche Veränderung, für die er keine Erklärung fand. Wenige Meter von der Fortune entfernt, geriet das Wasser massiv in Wallung. Was war da los?

Ben hatte keinen blassen Schimmer, was sich hinter dem Phänomen verbarg. Auf der Oberfläche des Sees formten sich Ringe. Sie breiteten sich schneller werdend aus und näherten sich mit großer Geschwindigkeit dem Boot.

BUMMS. Aus dem Nichts ertönte ein Donner. Die vielen Vögel, die den See bevölkerten, waren schlagartig aufgestiegen. Die Erschütterung hatte Ben um Haaresbreite umgehauen. Völlig unerwartet schoss eine riesige Fontäne in die Höhe. Dann schlug sie krachend auf dem Wasser auf. Wenig später richtete sich ein gewaltiger Hieb gegen den Bug der Fortune. Das Boot geriet bedrohlich ins Wanken, es schaukelte wie wild hin und her.

Von allen Ecken und Enden prallte das Knirschen und Knarren von Holz und Metall auf Ben ein. Die tragenden Bauteile des Boots waren bis zum Äußersten angespannt. Ben befürchtete, dass sich das Schiff in alle Einzelteile zerlegte. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf den Beinen zu halten. Mit den Armen hakte er sich in der Reling ein.

Wasser spritzte ihm ins Gesicht, dass er kaum Luft zum Atmen hatte. Von einem Moment auf den anderen war Ben von der Bildfläche verschwunden. Bloß seine blauen Segelschuhe waren an Deck zurückgeblieben.

So unvermittelt wie der Sturm aufgekommen war, zog er sich zurück. Aus der Mitte des Sees drang ein monotones Gurgeln an die Oberfläche. Dann schlug es um in ein heftiges Blubbern und beförderte Luftblasen nach oben. Kurz darauf war das Geräusch sang- und klanglos untergegangen. Um die Fortune herum war es totenstill. Das führerlose Motorboot dümpelte am Ankerplatz, bis die Wasserschutzpolizei es an die Kette legte.

Unter Deck stieß die WaPo auf Bens Laptop. Aus dem Wandtresor förderte sie erhebliche Mengen Bargeld zu Tage. 200.000 Euro in kleinen Scheinen. Hinzu kamen 60.000 nagelneue US-amerikanische Dollar und ein Bündel gebrauchter russischer Rubel im Gegenwert von knapp 15.000 Euro. Bens deutsche Ausweispapiere und die amerikanische Passport Card waren ebenfalls im Bootssafe deponiert.

Wo der erfolgreiche Geschäftsmann, dem alle eine glänzende Zukunft vorausgesagt hatten, abgeblieben war, war der Familie von Ben von Doerringer ein großes Rätsel.

EINS

Berlin, Wannsee

Die letzten 24 Stunden vor Bens Verschwinden wurden von der Polizei minutiös rekonstruiert und ein wasserdichtes Bewegungsmuster erstellt. Bei der Arbeit wurden die Beamten von einem Team privater Ermittler unterstützt, das die Familie von Doerringer aus der Taufe gehoben hatte. Die Kosten, die die Privatarmee verschlang, fielen nicht ins Gewicht. Nur das Ergebnis zählte. Bei Benjamin, dem einzigen Sohn, überließen die von Doerringers nichts dem Zufall. Für den Clan stand die Zukunft ihres weltweit agierenden Konzerns auf dem Spiel.

Die Überwachungskameras, die die Uferböschung im Blick hatten, wurden von den Ermittlern als Erstes ausgewertet. Mit Fingerspitzengefühl folgten sie Hinweisen. Mit jedem, der mit Ben Kontakt hatte, führten die Fahnder Interviews. Es fand sich nicht die leiseste Spur nach dem Vermissten. Aus beruflicher Erfahrung wussten sie, dass die Erkenntnisse der ersten Stunden eines Entführungsfalls maßgeblich waren. Meldete sich der Kidnapper nicht zeitnah, war es um das Leben des Opfers schlecht bestellt.

Als Chef-Koordinator der Privatermittler war Nico Brandner angeheuert worden. Der Mann galt als der Beste für ausweglose Fälle. In der Szene genoss Brandner einen untadeligen Ruf. In einer Hauruck-Aktion brachte er ferngesteuerte Mini-U-Boote zum Einsatz. Ausgestattet mit hochauflösenden Kameras checkten sie den Grund des Gewässers. Weitere technische Unterstützung war geordert.

Die Tür zu Nico Brandners provisorischem Büro, mit kurzen Wegen zum Wannsee, wurde einen Spalt geöffnet. Eine junge Frau mit asiatisch anmutendem Aussehen steckte fragend den Kopf hindurch.

„Nico, die nächste Materiallieferung ist eingetroffen“, sagte sie akzentfrei.

Der private Chefermittler nickte der Frau zu. „Gibt es greifbare Erfolge?“, wollte Nico Brandner von ihr wissen. „Hast du Neuigkeiten für mich?“

Die Frau, etwa Mitte zwanzig, die auf den Namen Mai Ky hörte, schüttelte mutlos den Kopf. „Nicht mal einen Fetzen seiner Kleidung haben wir aufgespürt. Wir stehen mit leeren Händen da“, sagte sie niedergeschlagen. „Wie es aussieht, hat sich der Mann in Luft aufgelöst.“

Die Tür schloss sich, und die junge Frau war verschwunden.

Nico Brandner war mit Abstand der beste Privatermittler, der für Geld aufzutreiben war. In den letzten Jahren war es ihm gelungen, sich mit Fleiß und Tatkraft einen schillernden Namen als Kopfgeldjäger und Privatagent zu machen. Er galt nicht nur als ein exzellenter Schütze. Auch im Umgang mit Sprengstoff war Nico versiert. Selbst vor dem gezielten Einsatz von Gewalt schreckte der Mann nicht zurück.

In einem der letzten Coups hatte Brandner einen von Interpol zur Fahndung ausgeschriebenen Erpresser im brasilianischen Dschungel aufgespürt. An einem geheimen Ort übergab der findige Privatermittler seinen Schützling an den deutschen Auslandsgeheimdienst. Dass der Mann gefesselt und sediert war und ihm ein paar Rippen gebrochen waren, erschreckte keinen. Nico Brandner eilte der Ruf eines Machers voraus, eines Mannes, der vor nichts zurückschreckte.

Erst wenige Wochen zuvor hatte Brandner das Unaussprechliche zu Wege gebracht. Keinem hatte man zugetraut, den deutschen Botschafter und zwei seiner engsten Mitarbeiter aus der von den Taliban besetzten Botschaft in Afghanistans Hauptstadt Kabul zu befreien. Zum Erstaunen vieler hatte er es geschafft. Brandner galt nicht als Teamplayer, aber er hatte die Gabe, Menschen aller Couleur zusammenzuschweißen und zu einem Ziel zu führen. Die Mannschaft, die ihn in Berlin unterstützte, setzte sich aus bestens ausgebildeten Frauen und Männern zusammen.

Nico hatte eine Nachricht auf dem Smartphone erhalten. Die achtköpfige Mannschaft von Spezialtauchern, die ansonsten Ölbohrtürme in Krisengebieten schützten, startete ihren Einsatz. „Jetzt geht‘s los“, sagte Nico ins Mikro. Auf seine Weisung nahmen die Taucher die Aufgabe in Angriff, den 2,8 Quadratkilometer großen See zu durchforsten. Unterstützt wurden sie von Flugdrohnen mit hochsensiblen Wärmebildkameras, die den See aus der Luft scannten.

Inzwischen hatte sich eine Hundertschaft Polizisten für die Suche nach Ben von Doerringer in Stellung gebracht. Begleitet wurde der Suchtrupp von einem Rudel belgischer Schäferhunde, die zu den besten Spürhunden weltweit zählten. Mit Mann und Maus fielen sie über die Strände und Böschungen des Wannsees und der Havel her.

Um die Teams zu motivieren, hatte die Familie eine Prämie für den Finder ausgelobt. Von der ersten Stunde an stand ein Alu-Koffer mit einem siebenstelligen Geldbetrag in Nicos Büro. Dazu gab es die Anweisung, das Geld im Erfolgsfall unbürokratisch unter die Helfer zu bringen. Eine Quittung war nicht erforderlich.

Auf dem Schreibtisch in Nicos Büro vibrierte das Handy. „Brandner, Nico Brandner hier, was gibt es?“

„Hier ist Thomas. Hörst du mich? Wie es aussieht, ist das Team auf Teile von Bens Bekleidung gestoßen. Unsere Leute haben ein Stück von seinem gestreiften Picasso-T-Shirt gefunden, wie Ben es zuletzt getragen hatte“, sagte der Anrufer.

„Wo habt ihr es gefunden?“

„Nur wenige Meter von der Fortune entfernt.“

„Und sind wir auf ... mehr gestoßen? Haben wir seine sterblichen Überreste gefunden?“, fragte Nico aufgekratzt.

„Nein, nichts Dergleichen. Aber ich vermute, dass Sprengstoff im Spiel war“, erwiderte Thomas bestimmt. Dann legte er ohne ein weiteres Wort auf.

Gebannt eilte Nico zu den Einsatzkräften. Im Umkreis von hundert Metern um die Fortune suchte eine Gruppe von Spezialtauchern jeden Zentimeter des Seebodens ab. Es war der Bereich, wo Nico eine Detonation vermutete. Einen Beweis war der Privatermittler bislang schuldig geblieben.

Das Team hatte die Zeit genutzt und die Strömungsverhältnisse der Gewässer ausgewertet. Ziel war, die Fließgeschwindigkeit exakt zu bestimmen. In den Fluten versenkten sie Dummys, die Bens Gewicht aufwiesen.

Mit dem Handy am Ohr marschierte Nico zurück ins Büro. Er war im Begriff, Stufe zwei der Rettungsaktion zu starten.

ZWEI

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium

„Hast du die Tageszeitung schon gelesen, Linda?“, wollte Kriminalhauptkommissar Steffen Anbach gutgelaunt von seiner Partnerin Linda Sachse wissen. Er hatte die aktuelle Ausgabe der Frankfurter Allgemeine Zeitung unter den Arm geklemmt. Mit der Hand deutete er auf das bedruckte Papier. Den Ermittler, der in der fünften Dekade seines Lebens stand, zierte eine lange, graue Lockenpracht. Er hatte seine obligatorische Lederjacke und seine schweren Lederboots, die er auch beim Harley-Fahren in der Freizeit trug, am Leib.

„Wieso, was steht denn Spannendes drin?“, erwiderte Linda mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie sah ihren Kollegen fragend an. „Zeig doch mal her, dann werden wir es schon sehen!“, sagte sie verschmitzt.

Das eingespielte Mordermittlerduo begegnete sich auf dem Flur im dritten Stock des Frankfurter Polizeipräsidiums auf der Adickesallee.

Steffens mehr als zwanzig Jahre jüngere Partnerin Linda Sachse war eine zierliche, aber durch und durch sportliche Person. Ihr unverwechselbares Erkennungszeichen war der platinblonde Pagenkopf, der mit der Sonne um die Wette strahlte. Unter ihrer grünen Bomberjacke, mit orangefarbenem Innenfutter, verbarg sie das Holster mit der Dienstwaffe, einer Heckler & Koch P 30.

„Ehrlich gesagt, lese ich schon ewig keine Zeitungen mehr. Ich informiere mich lieber im Internet“, sagte Linda forsch. „Das geht schneller und kostet nicht so viel Geld. Außerdem ist es für die geschundene Natur besser. Da werden keine Bäume abgeholzt. Du weißt schon.“ Lässig schnippte sie mit dem Zeigefinger gegen die Druckausgabe der Zeitung.

„Dafür werden im Internet aber viele Fake-News verbreitet. Nie weißt du, wo du dran bist“, sagte der Kommissar ernst.

„Das mag sein, aber ich bin, was das angeht, mehr als kritisch. Darauf kannst du dich verlassen,“ erwiderte Linda spitzbübisch. Mit der Hand fuhr sie durch den Pagenkopf, um das Haar zu richten.

„Was hast du denn da überhaupt in deinen Händen?“, fragte Steffen. Der Ermittler deutete auf die Papiere, die Linda in den Po-Taschen ihrer engen, weißen Jeans vor seinen Blicken zu verstecken versuchte.

„Das willst du gar nicht wissen, Steffen. Glaub mir … übrigens geht es dich auch gar nichts an.“

Der Kommissar machte einen Schritt auf seine Kollegin zu, um nach den Papieren zu fischen. Doch die Ermittlerin drehte sich zur Seite und entging dem gezielten Griff. Linda grinste Steffen unverhohlen ins Gesicht.

„In Ordnung, wenn du es unbedingt wissen willst, dann sage ich es dir eben. Das sind die Unterlagen, die ich für meinen Mutterschutz benötige. Hast du es schon wieder vergessen, mein Lieber? Ich bekomme ein Kind und habe eine kleine Verschnaufpause verdient, basta“, gab Linda zum Besten. Mit beiden Händen tätschelte sie ihren unübersehbaren Baby-Bauch.

„Ach so … ja schon klar. Jetzt fällt es mir wieder ein“, meinte Steffen launisch. Er wollte nicht mit der Nase darauf gestoßen werden, dass ihm seine Kollegin bald den Rücken kehrte, um ihr erstes Kind auf die Welt zu bringen. Dass sie ihn allein zurücklassen würde, passte Steffen gar nicht. Aber leider ließ sich nichts daran ändern. In Gedanken vermisste er seine Kollegin schon jetzt. Insgeheim befürchtete der altgediente Kommissar, dass er ohne sie den Polizeidienst nicht länger ertragen würde. Trotz des Altersunterschieds galten Steffen und Linda als das erfolgreichste Ermittlerteam, das das Frankfurter Polizeipräsidium zu bieten hatte.

Die beiden rundweg verschiedenen Ermittler verstanden sich von der ersten Stunde an blind und funkten auf derselben Wellenlänge.

Ihre Aufklärungsquote lag deutlich über dem Durchschnitt, was im Präsidium auf Neider stieß. Doch der junge Polizeivizepräsident Robert König, der ungefähr in Lindas Alter war, hielt konsequent seine schützenden Hände über die beiden Kommissare.

„Aber erzähl doch, Steffen“, forderte Linda ihren Partner auf. „Die Geschichte, die du auf den Lippen hast, interessiert mich brennend. Um was geht es?“

Steffen räusperte sich. „Ein stinkreicher Unternehmer und künftiger Milliardenerbe von Anfang 40 ist am helllichten Tag unter mysteriösen Umständen auf dem Berliner Wannsee verschwunden“, berichtete Steffen mit seiner sonoren Stimme. „Von ihm gibt es keine heiße Spur. Wie ich gelesen habe, hat es auf dem See vermutlich eine Explosion gegeben … und dann war der arme Teufel weg vom Fenster.“

„Ach du liebe Güte“, erwiderte Linda erschrocken. Mit erhobenen Händen trat sie einen Schritt zurück.

„Zu meinem Erstaunen scheinen unsere Kollegen in Berlin stark davon auszugehen, dass er entführt worden ist“, sagte Steffen schulterzuckend. „Die Sache scheint mir ziemlich verzwickt und mehr als rätselhaft zu sein.“ Nachdenklich strich er mit der Hand über die Wange.

„Um wen geht es dabei?“, wollte Linda in Erfahrung bringen, „Was interessiert dich so an dem Fall? Vermisstenfälle sind doch gar nicht unsere Sache?“, meinte sie frei heraus. „Außerdem ist das ein anderes Bundesland, hast du das schon bemerkt?“

„Alles richtig, was du sagst“, erwiderte der Kommissar belustigt. „Aber darum geht es im Moment nicht. Ich bin darauf gestoßen, weil die Familie des Vermissten einen Mann mit der Suche beauftragt hat, mit dem ich, in einer Zeit, die lange vor unserer gelegen hat, beruflich intensiv zu tun hatte.“

„Das ist ja interessant. Erzähl doch mehr davon, Steffen!“ Linda schaute zu ihrem deutlich größeren Kollegen auf.

„Gerne. Komm, wir gehen runter in die Kantine. Ich lade dich auf einen grünen Tee und einen herzhaften Bagel mit Frischkäse, Rucola und Rührei ein. So was ist doch ganz nach deinem Geschmack, oder liege ich da falsch?“

Steffens Kollegin nickte angetan. „Das ist genau mein Ding.“ Mit der Hand rieb sie über ihren runden Bauch.

„Dann erzähle ich dir die Geschichte von damals haarklein. Das war eine wirklich spannende Zeit, das kannst du mir glauben“, sagte der Ermittler in Erinnerungen schwelgend. „Obwohl ich mir bis heute im Unklaren darüber bin, welche Rolle der Nico Brandner damals eigentlich gespielt hatte. Bis heute gibt mir der Mann Rätsel auf.“

„Da bin ich aber gespannt. Komm lass uns gehen!“, sagte Linda mit ihrer sanften Stimme. Auffordernd blickte sie Steffen mit ihren strahlend blauen Augen an. Die Kommissarin griff ihren Kollegen sachte am Unterarm und übernahm die Führung. Zusammen marschierten die Kriminalbeamten zum Aufzug. Bei jedem Schritt, den sie zurücklegten, wippte Lindas platinblonde Frisur hin und her, als führte sie ein Eigenleben.

Die Aufzugstür öffnete sich quietschend, und die Ermittler betraten die Kabine. Der Lift beförderte sie ins Parterre. Aus einiger Entfernung war das Stimmengewirr aus der vollbesetzten Polizeikantine zu hören. Zu allem Überfluss roch es, bei 38 Grad im Schatten, nach gekochten Rippchen und Sauerkraut.

„Du musst wissen, dass die Uhren bei der Polizei früher deutlich anders getickt haben als heute“, sagte Steffen. „Niemand hätte seinerzeit geglaubt, dass es irgendwann so viele Formulare geben würde, in die man jeden noch so überflüssigen Mist eintragen muss.“ Steffen fasste sich an die Stirn und nahm sich eine kurze Pause. „Hinzu kommt, dass heutzutage fast jeder Polizeieinsatz aus rechtlichen Gründen per Bodycams aufgezeichnet wird.“

„Ach, was du nicht sagst. Aber manche dieser Neuerungen haben durchaus einen tieferen Sinn“, erwiderte Linda, die den Kopf wiegte.

„Nico war, ... was seine Arbeit als Polizist anging, im Grunde ... etwas speziell. Einer wie der würde heute im Polizeidienst auf massiven Widerstand stoßen. Jeder Vorgesetzte würde ihm seine Grenzen aufzeigen.“ Beim Schlendern über den Flur umrundeten die Kommissare zwei Kolleginnen, die im Weg standen. „Nur zu gern möchte ich wissen, was aus ihm geworden ist.“

„Nichts leichter als das. Ruf diesen Nico doch einfach an“, schlug Linda vor.

Steffen stutzte und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ach, besser nicht, Linda. Es reicht, wenn ich die Geschichte aus der Ferne verfolge.“

„Wieso das? Ich kann das nicht verstehen. Ihr habt mal als ein Team zusammengearbeitet.“

„Was das angeht, machst du dir ein falsches Bild. Der Nico hat das Potenzial einer Handgranate. Ruckzuck geht die Bombe hoch. Glaub mir, Linda, so wie es ist, ist es für uns alle deutlich besser.“

In der Kantine griff Steffen nach einem Mettbrötchen mit Zwiebeln. Seine Kollegin bugsierte er durch die Reihen, bis sie beim grünen Tee und den Bagels angelangt waren.

DREI

Berlin, Wannsee

Am Tag von Bens mysteriösem Verschwinden war die Suche gegen 23 Uhr vorläufig eingestellt worden. Die Sonne war längst untergegangen, doch die Schwüle des Tages lag immer noch zum Greifen in der Luft. Mit Adleraugen beobachtete Nico die Techniker, die letzte Hand an die Montage der modernen Flutlichtanlage legten, um die Nacht zum Tag werden zu lassen.

„Für heute ist definitiv Schluss. Wegen der Dunkelheit hat es keinen Sinn, weiter zu suchen. Aber morgen in der Frühe geht es mit frischen Kräften wieder los“, sagte Nico an sein Kernteam gerichtet, das aus zwölf Männern und Frauen bestand.

„Die Pausen bleiben aber bis auf Weiteres gestrichen. Anders geht es nicht. Dafür bekommt jeder, der bei der Stange bleibt, einen Zuschlag von zehn Prozent auf sein Honorar. Habt ihr mich verstanden, Leute?“

Die Frauen und Männer, die im Kreis um ihn versammelt waren, hörten ohne Murren zu.

Nico Brandner hatte den Reißverschluss der blauen Windjacke geöffnet und das Smartphone gezückt. Konzentriert blätterte er die Liste der verpassten Anrufe durch.

Es war genau so gekommen, wie er vermutet hatte. Die besagte Anruferin hatte sich vier Mal bei ihm gemeldet. Sie beharrte auf seinen Rückruf. Trickreich hatte sie sich seine Geheimnummer unter den Nagel gerissen. Gelassen steckte Nico das Handy zurück in die Jacke. Die Dame hatte gefälligst zu warten, bis sie an der Reihe war, entschied er. Nico hatte eine dunkle Ahnung, wer sich hinter den hartnäckigen Anrufen verbarg.

Vor weniger als zwölf Stunden hatte der Privatjet der Familie von Doerringer Nico Brandner an seinem aktuellen Einsatzort in Wien abgeholt und nach Berlin verfrachtet. Seitdem lief die Suche nach Ben auf Hochtouren. Am späten Abend fühlte Nico sich ausgepowert. Er öffnete die Tür zum Büro, schaltete das Licht an. Dann verschloss er die Tür hinter sich.

Der Privatermittler war ein athletisch gebauter Mann. Sein trainierter Körper wies die Spannung eines Zehnkämpfers auf. Bekleidet war er mit einer schwarzen Cargohose, mit aufgesetzten Taschen. Unter der blauen Windjacke trug er ein weißes T-Shirt. An den Füßen hatte er dunkle Sneaker, mit denen er sich geräuschlos zu bewegen vermochte.

Während des Tages steckten zwei winzige Plastikknöpfe, keines größer als der Kopf einer Stecknadel in Nicos Ohren. Mit dem einen Knopf hielt er Kontakt zur Berliner Kriminalpolizei und Vertretern des Landeskriminalamts Berlin. Die Behörden maßen dem Fall erhebliche Bedeutung bei. Weil der Familienkonzern in den Bundesländern Berlin und Brandenburg rund zweitausend gut dotierte Arbeitsplätze zur Verfügung stellte. Über den zweiten Knopf war der Privatermittler mit seinem schlagkräftigen Team verbunden. Ständig schaltete er sich bei der Suche nach Ben ein und erteilte den Kollegen gezielte Weisungen.

In Nicos Augen war die Truppe nahezu komplett. Die Leute, die er binnen kurzer Zeit rekrutiert hatte, waren alle erste Sahne. Aber sein Team war nur fast komplett. Ihm fehlte ein versierter Mordermittler. Nico war fest davon überzeugt, dass niemand anderes, als einer vom Schlag eines Steffen Anbach ins Boot gehörte. Er war genau der richtige Mann für diesen Job. Fünf Jahre zuvor hatte Nico den Kommissar bei einem gemeinsamen Fall kennen- und schätzengelernt. Soweit er sich erinnerte, war Steffen damals auf der Suche nach einem neuen Partner gewesen, um ein schlagkräftiges Mordermittler-Duo aus dem Boden zu stampfen. Ob Steffen bei der Suche fündig geworden war, wusste er nicht. Der Kontakt zum Frankfurter Kommissar war im Sande verlaufen. Private Kontaktpflege gehörte nicht zu Nicos Stärken. Dafür war er zu sehr ein Getriebener. Nico plante, mit Steffen Verbindung aufzunehmen.

Mit dem Finger glitt er über das Display seines Smartphones. Auf die Telefonnummer des erfahrenen Ermittlers stieß er schneller, als er erwartet hatte. „Steffen, mach dich auf ein großes Ding gefasst. Ich melde mich bei dir ...“, flüsterte er, „du wirst schon sehen. Du wirst von mir hören, ... und zwar schneller, als dir lieb ist.“

Nico hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Dann löschte er das Licht und verließ das Büro. Ein letztes Mal für diesen Tag ließ er den Blick über den Wannsee schweifen.

VIER

Berlin, Wannsee. 23:30 Uhr in der Nacht

„Wie ich es vermutet habe. Ich lag mal wieder goldrichtig“, meinte Nico Brandner leise zu sich selbst. Er stopfte das Mobiltelefon zurück in die dunkle Hose, die ihm den Tag über gute Dienste geleistet hatte.

Laut der letzten Sprachnachricht war Alicia von Doerringer, die Frau, die ihn ständig telefonisch kontaktierte, Bens jüngere Schwester, überraschend in Berlin eingetroffen. Mit Nachdruck verlangte sie, dass Nico sich bei ihr meldete. Falls er ihren Wunsch ignorierte, würde sie einen Heidenärger vom Zaun brechen, hatte sie auf der Sprachbox hinterlassen. Mit Alicia von Doerringer war nicht zu spaßen. Kraft ihrer Familie saß sie am längeren Hebel. Unbeirrt schüttelte Nico den Kopf. Eine wie Alicia hatte ihm gerade noch gefehlt. Die schwerreiche, junge Frau hatte keine Ahnung, worauf es in seinem Job ankam. Wahrscheinlich würde sie ständig im Weg stehen und seinen letzten Nerv rauben.

Nach allem, was Nico über Alicia gehört hatte, galt sie als egoistisch und nervenaufreibend. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man, dass sie eine rechthaberische Person sei. In Nicos Augen war sie eine verwöhnte Göre, die mit dem goldenen Löffel im Mund das Licht der Welt erblickt hatte.

Der Privatermittler stellte das Smartphone auf laut. Er hörte sich eine weitere Sprachnachricht von Alicia an. „Nico, hör mir zu, ich bin auf dem Weg nach Berlin. Ich habe einen Business-Seat im letzten Flieger gebucht und in der Potsdamer Truman-Villa eingecheckt. Ich will dich heute noch sehen. Hast du mich verstanden?“

FÜNF

Potsdam-Babelsberg, Truman-Villa

Alicia, die wie der ehemalige US-Politiker Harry S. Truman in der Präsidentensuite logierte, war im Begriff, den Room-Service zu ordern. In Windeseile hatte sie die drei Louis-Vuitton-Koffer geleert und die Klamotten in den Mahagoni-Einbauschränken der 250 Quadratmeter großen Suite verstaut. Die Reisekoffer standen im Weg und hatten zu verschwinden.

Nachdem der livrierte, jünglinghafte Page ihren Wunsch erfüllt hatte, ließ Alicia sich auf den ledernen Ohrensessel vor dem mannshohen Kamin plumpsen. Sie trug das elegante Chanel-Kostüm, das sie sich bei ihrem letzten Paristrip gegönnt hatte. An den schlanken, langen Beinen hatte sie Strümpfe aus schwarzer Seide.

Gedankenverloren löste Alicia die silberne Spange aus der Frisur. Wie Wasser fielen die glatten, blonden Haare auf die Schultern. Dann entledigte sie sich ihrer Louboutin-Schuhe und ließ diese geräuschvoll auf das geölte Parkett purzeln. Mit den Zehen schob sie die Treter schwungvoll zur Seite.

Sie griff das mit zahllosen Swarovski-Steinchen gespickte Smartphone aus der Handtasche. In der Hoffnung, auf einen Anruf ihres heißgeliebten Bruders zu stoßen, durchforstete sie das Gerät. Zu ihrer Enttäuschung gab es keine Nachricht von ihm.

Mit ihren rot lackierten Fingernägeln wählte sie die App, auf der sie Fotos und Filme speicherte. Beherzt gab Alicia Bens Kosename Bennie ein. Mehr als 40.000 Bilder und über 1.500 Filmaufnahmen kamen zum Vorschein. Die junge Frau scrollte die Dateien. Abrupt stoppte sie und ließ ein Video abspielen.

Beim Betrachten des Films flossen ihr dicke, heiße Tränen über die Wangen. Die Nässe drohte das perfekt gestylte Make-up zu beeinträchtigen. Mit einem Taschentuch tupfte Alicia die Tropfen beiseite. Sie saß völlig still da und hielt den Atem an, um die Zeit zu stoppen. Als sie Bens letzte Worte hörte, geriet sie ins Schluchzen.

„Alicia, du weißt es, ich habe es dir mehr als tausend Mal gesagt. Für mich bist du die perfekte Frau. Eine bessere gibt es nicht. Ich weiß, wovon ich rede.“ In der letzten Sequenz des Videos war zu sehen, wie Ben seiner Schwester einen zarten Kussmund zuwarf.

„Ich werde dich mein Leben lang von ganzem Herzen lieben“, sagte Ben in der Aufzeichnung. „Das ist hoch und heilig versprochen. Du oder keine. Für mich gibt es keine Alternative.“ Dann war das Video verstummt.

Alicias Schluchzen wurde lauter. Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie vom Sessel. Sie sah in den zierlichen Spiegel am Kamin.

Die junge Frau fühlte sich verraten und verkauft. Mit Tränen in den Augen bückte sie sich nach dem Smartphone, das im Eifer des Gefechts auf den Boden gefallen war. Ein Blick verriet ihr, dass Nico Brandner nicht angerufen hatte. Frech hatte er Alicias Weisung ignoriert. Was dachte sich der verfluchte Kerl? Alicia zitterte vor Wut.

„Nico, du verdammter Schuft. Ruf mich endlich an! Melde dich bei mir! Das ist ein Befehl!“, brüllte sie. „Du verdammter Versager.“ Wie wild fuchtelte sie mit den Armen durch die Luft. Dabei stieß sie gegen eine Vase. Das Gefäß verlor den Halt und schlug mit Wucht aufs Parkett. Die bunten Scherben verteilten sich vor dem Kamin. Wütend stampfte Alicia mit den Füßen auf.

„Mist, verdammter Mist“, schimpfte sie. „Ich bin das alles so furchtbar satt. Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Nico soll mir über den Weg laufen. Dem werde ich es zeigen. Ich werde ihm die Augen auskratzen. So springt keiner mit einer von Doerringer um.“

Verzweifelt wischte Alicia die Tränen aus den Augen. Damit das Housekeeping das Chaos beseitigte, kontaktierte sie den Zimmerservice. Da nach dem dritten Läuten niemand den Hörer abgenommen hatte, schleuderte Alicia das Telefon wütend vor die Wand. Der Apparat fiel krachend zu Boden und löste sich in seine Einzelteile auf. Mit leerem Blick starrte sie auf das Durcheinander.

Schwungvoll drehte sich Alicia um die eigene Achse. Dann fischte sie sich den seidenen Poncho, der an der Garderobe baumelte. Völlig außer sich vor Zorn verließ Alicia die Villa.

Gezielt marschierte sie zum G-Klasse-Mercedes, den die Mietwagenfirma im Hof für sie abgestellt hatte. Mit der Hand tastete sie das rechte Vorderrad ab. Dort waren die Schlüssel des silberfarbenen Fahrzeugs deponiert. Die Wagenpapiere steckten griffbereit in der Blende über dem Beifahrersitz. Entschlossen nahm die junge Frau hinterm Steuer Platz. Kurz heulte der Motor auf. Dann gab sie Gas, dass die Schottersteine des Hofs wie Geschosse durch die Gegend flitzten.

Mit unbekanntem Ziel war Bens Schwester in der Großstadt Berlin untergetaucht. Welche Absicht sie verfolgte, war allein ihr Geheimnis.

SECHS

Die Familie von Doerringer hatte Alicia die Botschaft mit auf den Weg gegeben, alles Menschenmögliche zu tun, um Ben zu finden. Geld spielte, wie die Eltern betonten, keine Rolle. Hauptsache der Spuk um ihren geliebten Benjamin löste sich in Wohlgefallen auf. Der einzige Sohn der Familie war von langer Hand auf die Übernahme des Familienkonzerns vorbereitet worden. Er war kurz davor, zum Chef der Familiendynastie aufzusteigen. Eine Alternative zu ihm gab es nicht.

Seit über dreihundert Jahren war die Familie von Doerringer im Pharmageschäft tätig. Im Jahr 1710 hatte es mit einer winzigen Apotheke nahe der Schweizer Straße im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen begonnen. Zu den Vorfahren zählten berühmte Persönlichkeiten, die es mit der Entwicklung und dem Handel von Medikamenten zu enormem Reichtum gebracht hatten.

Heute gehörte das Unternehmen zu den drei größten Pharmaherstellern der westlichen Welt. Die Firma beschäftigte rund 16.000 Mitarbeiter, die überall auf dem Globus für die Familie im Einsatz waren. Pro Jahr erwirtschaftete der Familienkonzern einen Umsatz von 34 Milliarden Euro.

Der größte Verkaufsschlager der Von-Doerringer-Werke, trug den lateinischen Namen Animus. Der Name stand für Seele oder Gemüt. Es handelte sich um ein Psychopharmakum der neuesten Generation. Weltweit war es gegen schwere Depressionen gelistet. Verzweifelte Kunden rissen den Apothekern das Medikament nur so aus den Händen. Es gab nichts, was als Antidepressivum mit Animus vergleichbar war. Sehr zur Freude der Familie wurde der weltweite Vertrieb des Produkts durch einen unerwarteten Nebeneffekt begünstigt: Animus war das ideale Arzneimittel, um Menschen mit schweren Drogenproblemen auf die Spur zu bringen.

Mit dem Medikament wurde der Entzug auch bei Schwerstabhängigen zu einem Kinderspiel. Fünfzig Dosen genügten.

Für die von Doerringer war Animus die Lizenz zum Geld drucken. Die vergangenen Jahre hatte es zu Bens Aufgaben gehört, den Absatz des Medikaments in Osteuropa und der Russischen Föderation voranzutreiben. Der gewiefte Geschäftsmann verfolgte pausenlos das Ziel, Animus als die Nummer eins im heißumkämpften Pharmamarkt zu etablieren.

SIEBEN

Berlin, Wannsee

Wie clevere und ehrgeizige Alicia hatte an der renommierten englischen University of Oxford Betriebswirtschaftslehre und Marketing studiert. Die vielversprechende Fächerkombination schloss sie als Jahrgangsbeste ab. Innerhalb kurzer Zeit war sie zur rechten Hand des Marketingchefs der Familiengruppe aufgestiegen. Der Manager hielt große Stücke auf die engagierte, junge Frau. Es war klar, dass sie über kurz oder lang seinen Posten übernehmen würde.

Erst vor wenigen Wochen war Alicia, deutlich früher als erwartet, zum Beiratsmitglied des Unternehmens bestellt worden. Beruflich lagen rosige Zeiten vor ihr.

Doch es gab ein Problem: Die schlanke, zierliche Frau, mit den offenen, blonden Haaren und dem Faible für figurbetonte Kostüme der Edelmarke GUCCI, war ihrem Bruder enger verbunden, als es unter Geschwistern üblich war. Zwar wollte sie die Gefühle nicht wahrhaben. Doch seit jeher schwärmte sie für ihn, als wäre er ein Heiliger.

Alicia parkte die silberne G-Klasse am Rand des Berliner Wannsees. Wegen der Hitze öffnete sie die Fahrertür. Mit dem Ersatzhandy, das sie ständig bei sich trug, wählte sie die Festnetznummer ihrer Mutter Dorothea.

Von ihrem Standort konnte Alicia die schneeweiße Fortune nur erahnen. Das Boot lag friedlich dümpelnd im seichten Wasser.

Nach dem zweiten Klingeln war die Mutter in der Leitung. Ihr Atem klang schwer, und ihre Stimme wirkte angegriffen. „Von Doerringer“, meldete sie sich.

Alicia hörte, wie Dorothea nach Luft zum Atmen rang. „Hallo Mama, ich bin vor Ort am Berliner Wannsee. Ich bin fast an der Stelle, wo man Ben zuletzt gesehen hat.“

Die junge Frau machte eine kurze Pause und sah auf den See. „Auf den ersten Blick ist hier alles friedlich. Man mag sich kaum vorstellen, was hier passiert sein soll. Ich kann es kaum fassen.“

„Ja, mein Kind, dass du dort bist, ist prima“, hauchte die Mutter ins Telefon. Dorotheas Stimme war matt. Die alte Dame war erschöpft und mit den Nerven am Ende.

„Die Anreise war strapaziöser als ich es mir vorgestellt habe“, sagte Alicia. „Aber das ist jetzt egal. Hauptsache ist, dass ich hier bin, Mama. Es wird schon werden. Bitte mach dir keine Sorgen mehr. Ich werde mich um alles kümmern.“

„Schön, dass du mich angerufen hast, Töchterchen“, seufzte Dorothea. Alicia bereitete es Probleme, die gehauchten Worte ihrer Mutter zu verstehen.

Bevor Dorothea in den Familienclan von Doerringer einheiratete, hatte sie mit Anfang zwanzig als aufstrebendes Fotomodell für Bademoden vor der Kamera gestanden. Mit etwas Glück und den richtigen Kontakten wäre ihr sicher eine erfolgreiche Filmkarriere geglückt. Aber über Nacht war der schwerreiche Albert von Doerringer in ihr Leben getreten. Vom Fleck weg hatte er die junge, hübsche Badenixe geheiratet. Seither nahm Dorothea die Rolle der Grand Dame wahr. Ihre Aufgabe bestand darin, die Familie auf Empfängen und Feierlichkeiten zu repräsentieren. In der Position einer Grace Kelly des Rhein-Main-Gebiets war sie mit sich schnell im Reinen. Ihrem geliebten Mann Albert, der sie förmlich auf Händen trug, schenkte Dorothea zwei Kinder, die auf die Namen Benjamin und Alicia hörten und ihr ganzer Stolz waren.

Mit den Fingern strich sich Alicia durch das Haar. In ihrer Linken hielt sie einen Schminkspiegel. Im Laufe der Unterhaltung beäugte sie ihr Äußeres kritisch, wie sie es häufig tat. Ihr glitzerndes Swarovski-Smartphone war auf laut gestellt und lag auf ihren Schenkeln. „Mach dir keine Sorgen, Mama. Wir werden Ben schon finden. Du weißt doch, er ist hart im Nehmen. Der geht nicht unter. Glaub mir, Mama, der schafft das.“

„Meine liebe Alicia, deine Worte in Gottes Ohren. Du weißt, ich vertraue dir blind“, sagte Dorothea. „Ich wüsste nicht, auf wen ich mich in dieser Situation besser verlassen könnte als auf dich, mein liebes Kind.“

„Ja, Mama, ich weiß. Ich verspreche dir, dass ich mich morgen exakt um dieselbe Zeit wieder bei dir melde. Dann werde ich dir berichten, was es Neues gibt.“

„Mach das, Alicia.“

An dieser Stelle beendete die junge Frau das Gespräch. Alicia machte sich Sorgen um ihre kränkelnde Mutter. Nie hatte sie Dorothea derart angeschlagen erlebt. Bens tragisches Schicksal belastete die Mutter schwer. Die alte Dame schien jeden Lebensmut verloren zu haben.

Alicia atmete tief durch. Sie hoffte, dass sich die Situation zum Besseren wendete. Sie nahm Luft, um frische Kraft zu schöpfen. Mechanisch drückte sie auf das Gaspedal. Der schwere Mercedes G 63 AMG mit 585 PS rollte die leichte Anhöhe hinauf.

Mit Alicias Gesundheit stand es nicht zum Besten. Der Besuch bei einem Spezialisten war unausweichlich. Die junge Frau hatte das Bedürfnis, sich Klarheit über ihre Psyche zu verschaffen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

Alicia hatte ein ungutes Gefühl. Sie befürchtete, dass die Krankheit sie um den Verstand brachte. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie keinen Mut aufgebracht, einen Experten zu konsultieren. Jetzt brannte ihr das Thema unter den Nägeln.

Sorgenvoll schaute Alicia auf den See hinaus. Die vielen Kinder, die den Tag über im Wasser geplanscht hatten, waren verschwunden. Bestimmt schlummerten sie in ihren Betten und träumten von einem gelungenen Tag am Berliner Wannsee. Alicia spürte die Ruhe vor dem Sturm. Wenn er sich gelegt hatte, würde nichts mehr sein wie früher. Ihr kribbelte es in den Fingerspitzen. Für ihren Bruder würde sie ihr eigenes Leben geben.

ACHT

Berlin, Wannsee. 23:35 Uhr

Alicia verlangte Nico Brandner dringend ans Telefon. Warum meldete sich dieser Arsch nicht bei ihr. Sie verfluchte ihn. Das Smartphone fummelte sie aus der orangefarbenen Birkin-Bag. Die Tasche lag geöffnet auf dem Beifahrersitz der G-Klasse, eingerahmt von leeren Energydrink-Dosen, die sie wie eine Süchtige in sich hineinkippte. Jetzt war ihr flau, und das ganze Fahrzeug roch nach Gummibärchen.

Zum x-ten Mal tippte Alicia Nicos Nummer. Endlich nahm der Privatermittler ihren Anruf entgegen. Sie sprach engagiert auf ihn ein: „Wenn das mal gutgeht, Nico. Ich habe meine größten Bedenken, was das Thema angeht. Ich will handfeste Ergebnisse sehen.“

„Mensch, Alicia, komm mal runter von deinem hohen Ross. Wir arbeiten alle auf Hochtouren. Wir geben alle unser Bestes“, warf Nico zu seiner Verteidigung ein.

Nico, der selten eine Zigarette zur Hand nahm, zog kräftig am Filter einer Marlboro, die er aus einer zerknautschten Schachtel gefriemelt hatte. Die niedergebrannte Kippe schnipste er auf den Boden. Mit seinen Sneakern trat er die Glut restlos aus.

„Jetzt mal Hand aufs Herz, Nico, wie ist der Stand der Dinge?“, meinte Alicia markig. „Sag mir, was Sache ist! Mir gegenüber brauchst du nichts zu beschönigen.“

Nico zog es vor, einen Moment lang zu schweigen. Vermutlich setzte er darauf, die junge Frau auf diese Weise einzufangen.

„Verdammt, sag endlich was ... Nico!“ Wütend schlug sie mit der Faust auf das Lenkrad des SUV. „Habt ihr alles getan, was in eurer Macht steht, um Ben zu finden?“, plärrte sie ins Telefon.

„Alicia, bitte beruhige dich. Es reicht. Das bringt uns keinen Schritt weiter“, erwiderte Nico scharf. „Wir tun alles Machbare und setzen die modernste Technik ein, derer wir habhaft werden. Aber bisher war keine Spur von ihm zu finden. Ich kann es mir auch nicht erklären. Ich bin selber fassungslos,“ sagte Nico gehetzt. „So was habe ich bei keiner meiner Rettungsaktionen jemals erlebt. Ich hege langsam den Eindruck, dass es hier mit dem Teufel zugeht. Verflixt und zugenäht.“

„Ach komm, hör doch auf mit dem Mist“, schrie Alicia ins Handy. „Ich will, dass wir uns auf der Stelle treffen. Du kommst auf der Stelle zu mir! Hörst du, was ich sage?“, schnaufte sie. „Das ist ein Befehl.“ Dann schwieg Alicia. Ihre Kiefermuskeln arbeiteten wie eine Maschine.

„Gut, gut ... ich will sehen, was ich tun kann“, meinte Nico resigniert. In Gedanken versunken lief er die Uferpromenade ab. „Pass auf, Alicia, besser ist, wenn du zum See kommst. Hier kann ich dir zeigen, wie meine Leute arbeiten. Wir treffen uns draußen am Bootshaus, gleich gegenüber vom Büro. Wenn du in der Nähe bist, kannst du in wenigen Minuten hier sein. Einverstanden?“

„Gut, einverstanden“, erwiderte Alicia erleichtert. Um zu entspannen, massierte sie die Stirn.

„Auf die Schnelle schicke ich dir meinen Standort auf dein Handy.“ Nico tippte auf seinem Smartphone herum. Im Handumdrehen hatte er die Nachricht verschickt.

„Gut, dann bis gleich. Ich mach mich direkt auf den Weg zu dir.“

Das Gespräch war beendet. Mit einem entschlossenen Druck auf die Taste hatte Alicia aufgelegt. Für einen Moment befürchtete sie, den Verstand zu verlieren. Die Angst um ihren verschollenen Bruder war übermächtig. Alicia hatte keine Kraft mehr, sich gegen die dunklen Mächte, die Besitz von ihr ergriffen hatten, zur Wehr zu setzen.

Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, starrte sie benebelt durch die Scheibe des Geländewagens auf die verlassene Straße. Sie führte auf dem kürzesten Weg zum vereinbarten Treffpunkt.

Wieder griff ihre Hand das Smartphone. Alicia checkte das Display. Einen Anruf von Karen, Bens Verlobter, hatte sie vor wenigen Minuten verpasst. Jetzt war sie nicht in der Lage, mit ihr zu reden. Karen würde auf der Stelle losheulen, weil sie keine gute Nachricht in petto hatte. Alicia befahl sich, später bei ihr anzurufen und ihr dann gut zuzureden.

Die junge Frau klappte die Blende der G-Klasse herunter. Im beleuchteten Spiegel frischte sie das Make-up auf. Keiner sollte ihr ansehen, in welcher Verfassung sie war.

Die Scheibe der Beifahrertür ließ sie ein Stück herunter, um frische Luft hereinzulassen. Sie setzte das Fahrzeug behutsam in Bewegung. Nachdem sie den Kiesweg hinter sich gelassen hatte, beschleunigte sie das Tempo merklich.

Alicia hatte nicht die geringste Vorstellung, was für ein Mensch Nico war und zu was er im Stande war. Weder im Guten noch im Bösen.

NEUN

Berlin, Wannsee

Nico hatte die blaue Windjacke abgestreift und lässig über seine breiten Schultern geworfen. Die Hemdsärmel waren bis zu den Ellenbogen hochgerollt. Die dichten, dunklen Haare, die seine Unterarme bedeckten, waren deutlich zu sehen. Auf der Haut trug Nico eine Tätowierung, die einen amerikanischen Seeadler darstellte. Wie vereinbart, wartete er beim Bootshaus auf Alicias Ankunft.

Das schwere Fahrzeug rollte heran, und die junge Frau stieg behände aus. Die Riemen ihrer Handtasche hatte sie lässig über die Schulter geworfen. Auf der Stirn trug sie eine Designer-Sonnenbrille der neuesten Machart.

 Aus sicherer Entfernung musterten sich die Fremden. Bald standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Wegen der Aggression, die Alicia am Telefon an den Tag gelegt hatte, hatte Nico erwartet, eine große, stämmige Person zu sehen. Mit der zierlichen Alicia hatte er beileibe nicht gerechnet.

„Du willst also unbedingt wissen, wie der aktuelle Stand der Dinge ist, hattest du gefordert“, eröffnete Nico das Gespräch.

„Ja, richtig, das bist du mir und meiner Familie schuldig. Wir werfen dir einen Haufen Geld in den Rachen. Ich muss wissen, woran ich bin.“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich zu einem derart frühen Zeitpunkt festlege und schwadroniere, was auf dem See konkret passiert ist“, sagte Nico im Brustton der Überzeugung. Der Privatermittler hatte sich in seiner Breite vor der zierlichen Alicia aufgebaut. „Was du von mir verlangst, gilt in meinem Geschäft als absolut unprofessionell“, fuhr er verärgert fort. „Vergiss es. Erst tragen wir die Fakten zusammen. Dann ziehen wir die richtigen Schlussfolgerungen daraus. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es deutlich zu früh“, brummte er.

„In Ordnung, mit der Antwort habe ich gerechnet. Es ist schon erstaunlich, wie vorhersehbar Männer sind ...“, sagte Alicia spitzbübisch. „Ich bin übrigens Alicia. Alicia Freifrau von Doerringer.“ Sie reichte Nico ihre gepflegte, zarte Hand. An ihrem Ringfinger trug sie einen Brillantring, ein altes Erbstück der Familie von Doerringer. Einen Ehering suchte man vergeblich. Die Wut, die sie beim kurzen, aber heftigen Telefonat an den Tag gelegt hatte, schien verraucht zu sein. Alicia hatte sich wieder im Griff.

Auf Nico wirkte sie wie ausgewechselt. Offenbar war sie für einen Neustart bereit. Ihm war das recht. Der Privatermittler hatte genug Ärger um die Ohren. Er checkte die Frau von oben bis unten. Was ihr Aussehen betraf, war er angetan. Eine solche Erscheinung, noch dazu aus gutem Haus, lief ihm nicht häufig über den Weg.

Beiläufig wischte Alicia durch die Luft. Sie schaute ihn fragend an. „Nico ist vermutlich die Kurzform von Nikolaus. Oder?“

Der Privatermittler zuckte mit den Schultern und meinte bedächtig: „Ich weiß es nicht, meine Eltern kann ich nicht mehr fragen.“

Die junge Frau warf den Kopf zur Seite. „Wieso ... hast du keinen Kontakt zu ihnen? Oder ist was Schlimmes passiert? Willst du mir davon erzählen?“ Alicia legte einen gekonnten Augenaufschlag hin. Dann betrachtete sie ihr Gegenüber mit sanften Augen.

„Ja, das ist eine alte Geschichte“, meinte Nico. „Da ist längst Gras drüber gewachsen. Meine Eltern sind vor vielen Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich war damals ein Kind, gerade mal zwölf Jahre alt.“

Alicia hörte Nico schweigend zu. Dabei schluckte sie merklich.

„Nach dem Unfall bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Sie haben sich liebevoll um mich gekümmert. Was das betrifft, kann ich mich nicht beklagen. Sie waren gute Menschen. Ich bin ihnen bis heute unendlich dankbar.“

„Das ist tragisch. Tut mir aufrichtig leid“, sagte Alicia mit ihrer zuckersüßesten Stimme. Sie legte die Stirn in zarte Falten, was ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. In diesem Moment wirkte sie, als wäre sie voller Empathie.

„An den Klang der Stimme meiner Mutter kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Es ist zu lange her ... schade eigentlich“, meinte Nico betrübt. „Sie war so eine lebenslustige und herzliche Frau.“

„Ja, das ist traurig,“ pflichtete Alicia ihm voller Mitleid bei. Zum Trost berührte sie seinen Arm.

„Komm, vergiss es! Es ist schon gut.“

Die blonde, junge Frau nickte bedächtig. „Wollen wir zusammen etwas essen und einen Drink zu uns nehmen?“, sagte Alicia aufmunternd. Mit der Hand deutete sie auf eine Reihe Berliner Kneipen und Restaurants, die sie gegoogelt hatte. „Ich bin hungrig. Den ganzen Tag habe ich keinen Bissen zu mir genommen. Wir könnten die Suche nach Ben besprechen.“

„Ja, warum nicht. Ist eine gute Idee“, erwiderte Nico. „Das Team weiß genau, was zu tun ist. Ich kann mich hundert Prozent auf meine Leute verlassen.“

„Hier, dieser Laden weckt mein Interesse. Ich habe große Lust auf Sashimi und Sushi. Wenn es gut gemacht und von bester Qualität ist“, meinte Alicia. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf das Smartphone. Nico warf einen Blick auf das Gerät und nickte zustimmend. Er war im Begriff, das Kommando zu übernehmen.

„Japanisch ist eine gute Wahl. Beim Essen können wir uns besser kennenlernen“, sagte er und griff nach ihrem Handy.

Alicia nickte.

„Es ist wichtig, dass die Stimmung im Team stets auf Vordermann ist. Wir müssen Hand in Hand arbeiten. Jeder muss sich blind auf den anderen verlassen können. Anders funktioniert die Chose nicht. Was wir tun, ist gefährlich.“ Nico scrollte Alicias Internetempfehlungen herunter. Entschlossen meinte er: „Komm lass uns ins Ryotei auf der Kantstraße gehen. Die machen gutes japanisches Essen. Außerdem kenne ich den Besitzer des Ladens, den Duc, persönlich.“

„Aber lass dich nicht groß bitten, Nico, die Rechnung geht auf mich. Immerhin bin ich quasi dein Chef. Was das angeht, wird kein Widerspruch geduldet.“, sagte Alicia mit einem Grinsen im Gesicht.

„Was soll ich dazu sagen?“ Er deutete einen Diener an. „Ich gebe mich geschlagen. Befehl ist ... Befehl.“

Versöhnlich gaben sich Nico und Alicia die Hand. Gemeinsam verließen sie das Areal vor dem Bootshaus.

Nico tat wenige Schritte auf ein lädiertes, weiß-grün lackiertes Motorrad zu, das an der Hauswand lehnte. Das Blaulicht der alten Polizei-Maschine war entfernt worden. Das Wort Polizei war kaum noch zu entziffern. Für kleines Geld hatte Nico die BMW aus dem Fundus der Berliner Polizei ersteigert. Wenn er Zeit dafür fand, hegte und pflegte er das Gefährt wie seinen Augapfel.

„Aha, wie ich sehe, nehmen wir dein ultramodernes Zweirad. Das kann ja heiter werden“, sagte Alicia amüsiert.

Nico reichte ihr einen Helm in den Farben der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Im Nu waren sie auf den abgewetzten Ledersattel gestiegen. „Halte dich gut an mir fest, Alicia! Pass auf, dass du bei der Fahrt nicht unter die Räder gerätst.“

Bens Schwester legte die Arme um Nicos muskulöse Brust, um sich Halt zu verschaffen. Ihren behelmten Kopf ließ sie auf seiner breiten Schulter ruhen.

Nico startete das Motorrad. Mit Radau und knatterndem Auspuff brausten sie mit der betagten Maschine los. Der Fahrtwind war erfrischend und erweckte ihre Lebensgeister.

Nico parkte das Motorrad vor der mit Graffitis beschmierten Spiegelfront des Ryotei. Über der Eingangstür war die Zahl „893“ in einem Kasten zu finden. Den Namen des Restaurants suchte man vergebens. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man den Laden, in dem feine japanische Küche auf den Tisch gezaubert wurde, für eine Abbruchbude gehalten.

Alicia stieg von der Maschine. Nico schälte sich aus der engen, schwarzen Motorradjacke. Zusammen mit seinem verbeulten Helm stopfte er sie unter die Sitzbank des BMW-Motorrads. Alicias Kopfbedeckung fixierte er am Lenkrad.

„Nico, ich habe einen Mordshunger. Wenn ich nicht bald was zwischen die Kiemen bekomme, werde ich zur Diva ... das willst du nicht erleben“, sagte Alicia schmunzelnd. Mit der Hand strich sie sich über den flachen, trainierten Bauch. Mit einem Mal stürmte sie entschlossen voraus.

Nico preschte hinterher. Mit Schwung öffnete er die mit Neonfarben verschmierte Tür. Das Stimmengewirr der Gäste schwappte ihnen wie eine Welle entgegen.

Noch im Türrahmen begrüßte Nico den Besitzer des Restaurants. „Hey, Duc, mein Bester, was geht? Alles gut?“ Die beiden Männer klopften einander ab. „Hast du zu später Stunde noch einen Tisch für uns zwei?“

Duc betrachtete seinen alten Kumpel kopfschüttelnd. „Wie du siehst, sind wir bis auf den letzten Platz ausgebucht. Aber ich guck mal, ob trotzdem noch was zu machen ist.“ Der Wirt, der ein buntkariertes Jackett trug und asiatische Gesichtszüge hatte, drehte sich um die eigene Achse. Flink checkte er den im Halbdunkel gelegenen Raum. „Ach ja, zum Glück hab ich noch was. Setzt euch dort hin! Das ist unser Notsitz“, meinte Duc. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Mit der ausgestreckten Hand deutete er auf zwei Barhocker die an der Theke vor der offenen Küche standen, hinter der die beiden Köche Pfannen und Töpfe jonglierten. Sie waren mit allen Sinnen auf ihre Arbeit konzentriert.

„Dank dir, Duc. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann“, sagte Nico grinsend. Er klopfte seinem Freund dankbar auf die Schulter.

„Für dich immer gerne“, meinte Duc. Er entfernte sich, um seinen Stammplatz an der Tür einzunehmen.

Nico nahm neben Alicia Platz. „Was magst du trinken?“ Der Chef der privaten Ermittler hielt seiner Begleitung die Getränkekarte entgegen.

Die junge Frau warf einen flüchtigen Blick darauf. „Für mich ist es höchste Zeit für einen Cocktail. Ich brauche jetzt Stoff, der mich zum Fliegen bringt“, raunte Alicia. Mit den nackten Schultern deutete sie Flugbewegungen an und kicherte wie ein Teenager. Trotz des verpatzten Einstiegs fand sie offenbar Gefallen an ihrem Nebenmann.

„Das ist eine Spitzenidee, da bin ich dabei“, bemerkte Nico locker. Er sah sich um. Zur Kellnerin im grün-goldenen Sari meinte er: „Für uns bitte zwei ordentliche Caipirinha.“

„Kommen sofort, dauert keine Minute“, sagte sie und warf ihm ein zartes Lächeln zu.

„Du, Nico, ich habe mir sagen lassen, dass du als Privatschnüffler prächtig im Geschäft bist“, nahm Alicia den Gesprächsfaden wieder auf. „Wie die Leute erzählen, bist du die absolute Nummer 1 der Branche.“

„Ja, ich kann mich nicht beklagen. Die Geschäfte laufen prima. Im Moment fast wie geschmiert“, erwiderte Nico nicht ohne Stolz.

„Hast du so einen extremen Fall jemals vor der Brust gehabt?“

Nico schüttelte verlegen den Kopf. „Nein, so was ist mir niemals untergekommen. Eigentlich ist mir nichts Menschliches fremd.“

„Dann drücke ich uns fest die Daumen, dass wir Ben finden“, sagte Alicia, „und vor allem, dass der liebe Ben am Leben ist.“ Ihre Stimme war plötzlich wieder tief besorgt.

Nico nahm seinen Mut zusammen. Beruhigend meinte er: „Vertrau mir, das wird schon werden. Mach dir bitte keine Sorgen. Ben kann sich ja nicht wie ein Zauberer von seiner Materie befreit haben. Über kurz oder lang werden wir ihn finden.“

Alicia lehnte sich zurück. Hochnäsig checkte sie die übrigen Gäste, die das kleine Restaurant bevölkerten. Nico hielt den Cocktail in die Höhe und prostete ihr zu. „Auf Benjamin von Doerringer, deinen famosen Bruder“, sagte er mit ernster Stimme. „Darauf, dass wir ihn bald am Wickel haben.“

ZEHN

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium

„Hör mal zu, Linda, du wirst es nicht glauben. Ich habe die Zusage von der Polizeiakademie der Landeshauptstadt Wiesbaden erhalten“, rief Steffen euphorisch.

Während er auf seine Kollegin einredete, wedelte er mit einem Bündel Recycling-Papier vor ihrer Nase herum. Eilig bestätigte der Ermittler den Eingang des Schriftstücks mit einem Stift, den er vom überbordenden Schreibtisch gefischt hatte.