Klassenfahrt - Pino Rauch - E-Book

Klassenfahrt E-Book

Pino Rauch

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Vor drei Jahrzehnten ereignete sich ein furchtbares Verbrechen in einer Jugendherberge auf dem Feldberg im Taunus. Viele Jahre später wird es zu einer schweren Belastung der nachfolgenden Generationen. In der Gegenwart und am gleichen Ort wird die Leiche einer jungen Frau, die aus Osteuropa stammt, gefunden. Eine Zeit lang war sie in einer geheimen Höhle auf dem Taunuskamm versteckt worden. Um ihr tragisches Schicksal aufzuklären, setzt sich eine Agentin auf ihre Fährte und muss zahlreiche Gefahren überstehen. In ihrem sechsten Fall wird dem Ermittlerduo Linda Sachse und Steffen Anbach von der Frankfurter Mordkommission anschaulich vor Augen geführt, wozu die organisierte osteuropäische Kriminalität in der Lage ist. Ein ebenso fesselnder, wie geschickt aufgebauter und thematisch aktueller Roman, der unter die Haut geht.

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Seitenzahl: 447

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Pino Rauch

Klassenfahrt

Der sechste Fall für Steffen Anbach und Linda Sachse

Kriminalroman

Impressum

Texte:                            © 2024 Copyright by Pino Rauch

Umschlag: © 2024 Copyright by Mai Ky Plück

Verantwortlich für den Inhalt:     Pino Rauch

Danziger Str. 64

65191 Wiesbaden

[email protected]

Druck:                         epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Prolog. 12

Vor 30 Jahren im Hochtaunus am Großen Feldberg. 12

EINS. 20

Gegenwart20

ZWEI25

DREI29

VIER. 35

FÜNF. 40

SECHS. 43

SIEBEN.. 48

Wenige Tage zuvor am Berliner Hauptbahnhof48

ACHT. 53

NEUN.. 56

ZEHN.. 65

ELF. 73

ZWÖLF. 76

DREIZEHN.. 79

VIERZEHN.. 80

FÜNFZEHN.. 84

SECHZEHN.. 85

SIEBZEHN.. 89

ACHTZEHN.. 99

NEUNZEHN.. 105

ZWANZIG.. 110

EINUNDZWANZIG.. 115

ZWEIUNDZWANZIG.. 117

DREIUNDZWANZIG.. 119

VIERUNDZWANZIG.. 122

FÜNFUNDZWANZIG.. 126

SECHSUNDZWANZIG.. 132

SIEBENUNDZWANZIG.. 139

ACHTUNDZWANZIG.. 147

NEUNUNDZWANZIG.. 153

DREISSIG.. 160

EINUNDDREISSIG.. 164

ZWEIUNDDREISSIG.. 169

DREIUNDDREISSIG.. 172

VIERUNDDREISSIG.. 184

FÜNFUNDDREISSIG.. 189

SECHSUNDDREISSIG.. 196

SIEBENUNDDREISSIG.. 199

ACHTUNDDREISSIG.. 207

NEUNUNDDREISSIG.. 211

VIERZIG.. 213

EINUNDVIERZIG.. 216

ZWEIUNDVIERZIG.. 226

DREIUNDVIERZIG.. 240

VIERUNDVIERZIG.. 243

FÜNFUNDVIERZIG.. 246

SECHSUNDVIERZIG.. 250

SIEBENUNDVIERZIG.. 253

ACHTUNDVIERZIG.. 256

NEUNUNDVIERZIG.. 259

FÜNFZIG.. 262

EINUNDFÜNFZIG.. 265

ZWEIUNDFÜNFZIG.. 275

DREIUNDFÜNFZIG.. 276

VIERUNDFÜNFZIG.. 286

FÜNFUNDFÜNFZIG.. 293

SECHSUNDFÜNFZIG.. 302

SIEBENUNDFÜNFZIG.. 304

ACHTUNDFÜNFZIG.. 307

NEUNUNDFÜNFZIG.. 313

SECHZIG.. 322

EINUNDSECHZIG.. 326

ZWEIUNDSECHZIG.. 329

DREIUNDSECHZIG.. 332

VIERUNDSECHZIG.. 339

FÜNFUNDSECHZIG.. 340

SECHSUNDSECHZIG.. 342

SIEBENUNDSECHZIG.. 348

ACHTUNDSECHZIG.. 353

NEUNUNDSECHZIG.. 356

SIEBZIG.. 360

EINUNDSIEBZIG.. 363

ZWEIUNDSIEBZIG.. 365

DREIUNDSIEBZIG.. 372

VIERUNDSIEBZIG.. 378

FÜNFUNDSIEBZIG.. 385

SECHSUNDSIEBZIG.. 392

Sieben Tage später.392

SIEBENUNDSIEBZIG.. 400

ACHTUNDSIEBZIG.. 409

NEUNUNDSIEBZIG.. 412

ACHTZIG.. 420

EINUNDACHTZIG.. 423

ZWEIUNDACHTZIG.. 429

DREIUNDACHTZIG.. 432

VIERUNDACHTZIG.. 436

Knapp zwei Wochen später436

FÜNFUNDACHTZIG.. 440

SECHSUNDACHTZIG.. 443

Prolog

Vor 30 Jahren im Hochtaunus am Großen Feldberg

„Ich freue mich riesig, wenn wir das Ziel der Reise erreicht haben. Ich kann es kaum noch abwarten“, sagte die 16-jährige Sandra zu ihrer besten Freundin Betty. Vor Aufregung hatten sich rötliche Flecken auf ihrem schmalen Gesicht breitgemacht.

Der altersschwache, taubenblaue Reisebus, der die 10. Klasse des Leibniz-Gymnasiums aus Frankfurt Hoechst an Bord hatte, legte gerade die letzten Meter zur Fritz-Immel-Jugendherberge am Großen Feldberg im Taunus zurück. Während Anfang April die Sonne von Zeit zu Zeit am Himmel zu sehen war und die Luft sich erwärmte, waren weite Flächen des Feldbergs mit grauem Schnee bedeckt.

„Mir geht es genau wie dir, Sandra. Endlich mal weg von zu Hause ... einfach mal was anderes sehen“, schnaufte sie. „Daheim ist mir fast die Decke auf den Kopf gefallen. Das ständige Gequengel meiner Eltern habe ich nicht mehr ausgehalten“, sagte Betty. „Tu dies, tu das! Das ganze Blablabla ging mir auf die Nerven.“

Sandra nickte ihr verständnisvoll zu. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass jetzt bessere Zeiten anbrachen. Zeiten, die ihrem Leben endlich den gewünschten Schwung geben würden. In ihrem Gesicht fiel der kräftige, rote Schmollmund auf. Noch nicht ganz Frau, aber auch kein Mädchen mehr, spielte Sandra versonnen mit ihren schulterlangen, glatten Haaren.

Kaum hatte der Reisebus gebremst, sprang Sandra von ihrem Sitzplatz auf und griff in das Gepäcknetz, das über ihrem Kopf baumelte. Sie fischte die Sechser-Packung Capri-Sonne und ein Raider heraus.

„Aua, verdammt, kannst du denn nicht besser aufpassen?“, schimpfte Betty schrill. In ihrer Wut stieß sie Sandra mit der Hand heftig in die Seite. „Du bist mir volle Kanne auf den Fuß gestampft. Merkst du das denn nicht, du blöder Trampel? Das tut höllisch weh. Vermutlich blutet es wie Sau.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich das Mädchen den Fuß. Sie hoffte, der Nagel des großen Zehs würde nicht blau anlaufen.

Betty hatte feuerrote Locken, die ihr bis über die Schulter reichten. Selbst mit Kamm und Bürste war ihre Mähne kaum zu bändigen. Ihr alabasterfarbenes Gesicht schmückten zahllose, dunkle Sommersprossen.

„Tut mir total leid, Betty. Das war echt keine Absicht von mir.“ Um sich für ihr Malheur zu entschuldigen, reichte Sandra ihr eine Capri Sonne und das Raider. Ihre Freundin griff beherzt zu.

Sandra stand aufrecht im Gang und schaute aus dem Fenster. Sie hatte ein Faible für Karottenjeans und gebatikte T-Shirts. Der olivgrüne Bundeswehrparka, den sie auf dem Sitz ausgebreitet hatte, war ihr ganzer Stolz.

Organisiert wurde die Fahrt zum Feldberg vom Klassenlehrer Wolfgang Unrath. Der Pädagoge war ein kräftiger Mann, der gut und gerne 120 Kilo wog. Der Mittvierziger, der eine akkurate Kurzhaarfrisur vorzuweisen hatte, war mit einem ausgesessenen Anzug aus braunem Breitcord gekleidet. Seine schmale, schwarze, aus der Mode geratene Krawatte pappte auf seinem kugelrunden Bauch. Dass Wolfgang Unrath unter Bluthochdruck litt, war ihm am hochroten Kopf, der auf einem stämmigen Hals ruhte, anzusehen.

Für die Dauer der einwöchigen Reise hatte der Philologe seiner Frau Susanne versichert, sich täglich bei ihr zu melden. Falls es in der Jugendherberge kein Münztelefon gab, wollte er die Telefonzelle im Ort mit seinen knapp 12.000 Einwohnern ansteuern und sie auf dem Laufenden halten.

„Karl, Friedrich, Peter und Klaus, ihr vier schlaft zusammen auf Zimmer acht im Hinterhaus. Habt ihr mich verstanden?“, verkündete Unrath, der die Belegungsliste für die Zimmer herunterbetete.

„Boäh, ausgerechnet mit dem Klaus. Muss das denn wirklich sein, Herr Unrath?“, beschwerte sich der untersetzte Karl mit dem engen Rollkragenpullover prompt.

„Ruhe jetzt! Es wird gemacht, wie ich es angeordnet habe. Basta und aus. Kapiert?“ Unrath schob seinen kräftigen Unterkiefer ein Stück nach vorn.

Zum Schluss kamen die besten Freundinnen an die Reihe. Sandra hielt beide Daumen gedrückt. Es war ihr Herzenswunsch, gemeinsam mit ihrer Busenfreundin auf ein Zimmer zu kommen.

„Sandra und Betty, ihr habt großes Glück. Ihr bekommt, ... vorläufig ... zu zweit das Zimmer mit der Nummer vier im Erdgeschoss zugewiesen“, bellte Unrath. Mit der Hand deutete er flüchtig auf das Eckgebäude, das dicht beim Nadelwald lag.

„Das ist ja spitze,“, kreischte Sandra vor Freude. Blitzschnell drehte sie sich zu Betty um. Spontan fielen sich die Mädchen in die Arme.

„Ach ja, das ist ja fein“, kommentierte Betty zufrieden. Mit den Fingern fuhr sie sich durch die wilde, rote Mähne.

Sandra strahlte. Sie freute sich auf die bevorstehenden Tage.

„Nach dem Essen, um Punkt zwei Uhr treffen wir uns alle vor dem Eingang der Herberge“, meldete sich Unrath zu Wort. „Gemeinsam werden wir den Großen Feldberg besteigen. Das wird ein Erlebnis für euch sein. Also dann bis später.“

Aus der Menge war ein Brummen zu hören, das nicht nach Begeisterung klang. Unter lebhaftem Gemurmel verschwanden die Schüler, mit Sack und Pack im Gebäude, um sich häuslich einzurichten.

„Hier ist ja echt der Hund begraben. So habe ich mir die Klassenfahrt in meinen Träumen nicht ausgemalt“, stöhnte Sandra am Abend. Von der Besteigung des Berges schmerzten ihr die Waden. Sie hockte zusammen mit Betty im Freien auf einer Holzbank vor der Jugendherberge.

Sandra warf Betty einen enttäuschten Blick zu und gähnte. Gelangweilt tasteten ihre Augen über das nur fahl erleuchtete Gelände. Die Umgebung bestand aus einem schier undurchdringlichen Wald von Nadelbäumen. „Hier herrscht absolut tote Hose“, sagte sie verbittert. „Wir sind am Arsch der Welt gelandet.“

„Ja, das stimmt. Hier willst du nicht mal tot überm Zaun hängen“, bestätigte Betty matt.

Angeödet starrte Sandra zum Meldeturm, der von Weitem erkennbar auf dem unbewaldeten Plateau des Feldbergs thronte. „Und, was machen wir jetzt?“, fragte sie schulterzuckend. „Hast du ‘ne griffige Idee parat?“

„Tja, das ist wohl jetzt die große Preisfrage“, sagte Betty. Sie schien keinen Plan B zu haben.

Sandra ließ ihr rotes Plastikfeuerzeug, das sie für alle Fälle eingesteckt hatte, in kurzer Folge aufflackern. Wegen der Kälte stopfte sie dann ihre zarten Fäuste in die tiefen Taschen des Bundeswehrparkas. Der Kragen verströmte einen Hauch von Patschuli. Das war ihr Lieblingsparfüm, und der Geruch ließ sie von fernen Ländern träumen. „Komm, Betty, lass uns wieder reingehen! Mir ist saukalt“, sagte Sandra fröstelnd. „Es ist kurz vor zehn. Gleich ist sowieso Schlafenszeit. Wie ich den alten Unrath einschätze, wird er sich auf Patrouille begeben und mit Adleraugen kontrollieren, ob wir im Bett liegen.“

Betty schüttelte sachte den Kopf. „Ja, wenn du müde bist, dann geh du schon mal vor. Ich suche noch den Rest der Clique. Vielleicht haben die ja `ne Idee, was noch abgeht.“

Sandra gähnte gelangweilt. „In Ordnung, dann bis später. Aber pass auf dich auf! Nicht, dass im Wald hungrige Tiere herumlungern, die nur darauf warten, dich zu verspeisen.“

„Bis gleich! Ich werde dir haarklein berichten, was wir noch angestellt haben“, meinte Betty mit einem launigen Grinsen im Gesicht.

Im Handumdrehen hatte sich Sandra für die Nacht zurechtgemacht. Mit ihrem orangefarbenen Froteezweiteiler warf sie sich auf das freie Bett unter dem Fenster. Sie hatte das Fenster einen Spalt weit geöffnet. Statt der abgestandenen Luft, die sie an ausgetretene Turnschuhe erinnerte, war ihr nach einer frischen Brise. Nur wenige Minuten später war Sandra erschöpft in einen traumlosen Schlaf gesunken.

Dass die beiden Freundinnen aus dem dunklen Nadelwald heraus beobachtet wurden, ahnten sie nicht. Versteckt hinter gerodeten Bäumen hockte ein Mann, der die Mädchen begaffte. In seinen Händen hielt er einen Feldstecher, der auf die Schülerinnen gerichtet war. Während sein Blick zwischen Sandra und Betty pendelte, saugte er gierig an einer Zigarette. Als die Glut den Filter erreicht hatte, nahm er einen letzten, kräftigen Zug. Entschlossen schleuderte er die Kippe auf den feuchten Waldboden und trat sie mit den verdreckten Arbeitsstiefeln aus.

Auf dem Erdreich lag seine Tasche. Sie war mit grobem Garn aus dem Fell von Hasen genäht. Die Tiere, die ihr Fell geopfert hatten, waren von seiner Hand gestorben.

Neben dem Kürschnerwerkzeug verbarg sich in der Tasche die selbstgemachte Wolfsmaske.

Sandra hatte nicht bemerkt, dass das Fenster über ihrem Bett aufgestoßen wurde. Klammheimlich war ein großgewachsener, breitschultriger Mann, der aus jeder Faser seines Körpers nach Nikotin stank, in ihr Zimmer eingedrungen.

Tief ein- und wieder ausatmend verweilte der Unbekannte eine Zeitlang bewegungslos vor Sandras Pritsche. Lüstern betrachtete er das ahnungslose Mädchen. Angespannt ballte er die Hände zu Fäusten, bis er sie wieder löste.

Das Gesicht hatte er hinter einer felligen Wolfsmaske verborgen. Nur gelegentlich wurde das Blinzeln strahlend blauer Augen in den tiefschwarzen Augenhöhlen sichtbar.

Leise öffnete der Mann den Reißverschluss der abgewetzten Arbeitshose. Bedächtig zog er die dünne Decke, die sich Sandra zum Schutz gegen die Kälte übergeworfen hatte, zur Seite.

Der Eindringling verhielt sich leise, um das schlafende Mädchen nicht aufzuwecken. Während Sandra schutzlos vor ihm lag, befreite er sie mit geschickten Griffen aus der Schlafanzughose, die er lautlos zu Boden sinken ließ. Sandra schlief bereits tief und fest, die leichten Bewegungen störten ihren Schlaf nicht. Rücksichtslos und mit brutaler Gewalt drang der Mann in Sandras Unterleib ein. Er stieß schnell und kraftvoll zu, begleitet von einem heftigen Keuchen und Stöhnen.

Sandra, die schlagartig brennende Schmerzen in ihrem Körper spürte und die das Gewicht des Mannes zu erdrücken drohte, fürchtete zu platzen. Verzweifelt setzte sie sich mit Händen und Füßen zur Wehr. Doch der Fremde war ihr haushoch überlegen.

Entsetzt wurde sie der furchterregenden Wolfsmaske gewahr. Sandra war wie gelähmt von bleierner Hoffnungslosigkeit. Sie glaubte, durch die Hölle zu gehen. Sie wollte nach Hilfe schreien. Bevor ein Laut ihre Lippen verließ, hatte der Fremde Mund und Nase gepackt. Sie fürchtete qualvoll zu ersticken. Bald war sie atemlos.

Sandra erlitt unermessliche Schmerzen. Unter Ekel verlor sie das Bewusstsein. In ihren letzten Zügen meinte sie in ein dunkles Loch zu stürzen, um bei lebendigem Leib von stinkendem Müll begraben zu werden. Dann war in Sandras Kopf alles schwarz.

Wie die Polizei noch in derselben Nacht herausfand, führte die Spur des Vergewaltigers tief in den dichten Nadelwald. Auf unerklärliche Weise verlor sich aber seine Fährte, und die ermittelnden Beamten wurden seiner nicht habhaft.

Rund neun Monate nach der Tat wurde Sandra in den städtischen Kliniken der Stadt Frankfurt am Main von einem gesunden Kind, das ein Geburtsgewicht von knapp 3.200 Gramm auf die Waage brachte, entbunden.

Das Mädchen, das von dem Verbrechen niemals etwas erfahren sollte, wurde auf den Namen Jessica getauft. Der Name stammte aus dem Hebräischen. Übersetzt bedeutete er: „Gott wacht über dich.“

EINS

Gegenwart

Auf die letzte Sekunde erreichte Steffen Anbach, Kriminalhauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission, die Ankunftsebene des Flughafens Frankfurt. Bei der Suche nach einem Parkplatz rollte sein dunkelblauer Jaguar XJ6, Serie III, Baujahr 1988, den er liebevoll „die Katze“ nannte, ein weiteres Mal den vollbesetzten Taxistand entlang. Die wenigen Abholerplätze waren restlos besetzt.

Es herrschte Trubel. Zahlreiche Passagiere, mit Koffern und Taschen bepackt, eilten umher. In allen Sprachen der Welt redeten die Reisenden durcheinander. Für Steffen gab es kein Durchkommen. Einen Parkplatz für die Katze zu finden, war ausgeschlossen. Wenn kein Wunder passierte, würde Steffen sich maßlos verspäten.

Der Kommissar stand in der fünften Dekade seines Lebens. Sein Auto, die schulterlangen, grauen Locken und die schwere Lederjacke, die er sommers wie winters trug, waren im Polizeipräsidium zu seinen Erkennungszeichen geworden. Steffen, der ein Genussmensch war, kämpfte regelmäßig um sein Idealgewicht.

Seiner knapp zwanzig Jahre jüngeren Kollegin Linda Sachse, mit der er in den letzten Jahren ein schlagkräftiges Team bei der Frankfurter Mordkommission geschmiedet hatte, stand er im Wort. Hoch und heilig hatte er versprochen, sie am Flughafen abzuholen. Linda und ihr frischgebackener Ehemann Simon Francis kehrten von ihrer Hochzeitsreise zurück.

Die Chance, pünktlich am Gate anzukommen, wurde jeden Moment geringer. Steffen warf einen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr. „Mann, Mann, Mann das wird knapp“, schnaufte er.

Während er sich im Kriechgang vorwärtsbewegte, kam ihm unvermittelt ein hupendes Taxi in die Quere. „Verschwinde von hier! Hier ist nur für Taxis“, hörte er den unrasierten Taxifahrer durch die geöffnete Scheibe brüllen.

„Du mich auch ...“, flüsterte der Kommissar. Kurz entschlossen nutzte Steffen die einzige Gelegenheit, die sich ihm bot. Er parkte die Katze in der freigewordenen Lücke am Taxistand. Die wartenden Droschkenfahrer beäugten ihn missmutig. Um einen amtlichen Polizeieinsatz vorzutäuschen, fummelte der Kommissar das mobile Blaulicht aus dem holzverkleideten Handschuhfach. Die stumm geschaltete, Schlaglicht werfende Sirene platzierte er mitten auf dem Dach des Jaguars. Auf den ersten Blick schien das Blaulicht seine Wirkung nicht zu verfehlen. Ohne sich umzudrehen, stürmte Steffen mit den klobigen Biker-Boots an den Füßen in die Ankunftshalle des Airports.

Die Masse an Menschen, die quirlig durch die Halle drängte, verschlug ihm die Sprache. Drastisch verlangsamte Steffen das Lauftempo. Er hielt Ausschau nach seinen Freunden Linda und Simon, die irgendwo in dem riesigen Gebäudekomplex auf ihn warteten.

Im Gewimmel versuchte Steffen, sich einen Überblick zu verschaffen. Sein Kriminalistenblick blieb auf einer metergroßen Tafel mit beweglichen Lettern haften. Mit klappernden Geräuschen wurden die endlosen Starts und Landungen angezeigt.

Wie er befürchtet hatte, war Lindas und Simons Flieger aus Neapel nach einer Flugzeit von gut eineinhalb Stunden pünktlich gelandet. Auf Nachfrage beim Serviceteam erfuhr Steffen, dass die Passagiere aus Neapel längst von Bord gegangen waren.

Wegen der Eile war Steffen ins Schwitzen geraten. Um die Stirn abzutupfen, friemelte er ein Tempotuch aus der verbeulten Jeans. Diese ständige Rennerei und das ewige Gehetze waren nicht das Richtige für ihn. Steffen spürte einen leichten Klaps auf der linken Schulter. Schlagartig wendete er sich um. Aus heiterem Himmel blickte er in die strahlendblauen Augen seiner Kollegin Linda Sachse. Ihr platinblonder Pagenkopf, der akkurat in Form war, blendete ihn geradezu. Wie üblich steckte ihr schlanker, sportlicher Körper in einer hautengen Jeans. Dazu trug Linda ihre grüne Lieblingsbomberjacke mit dem orangefarbenen Innenfutter.

Linda grinste ihn freundlich an. „Da bist du ja!“, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. Linda reckte dem Kommissar eine Flasche Barolo aus dem Piemont entgegen. „Der ist für dich, mein lieber Steffen. Super, dass du uns abholst. Dass du uns nach zwei Wochen nicht vergessen hast, das grenzt schon an ein Wunder“, sagte sie augenzwinkernd.

Die bunte Tasche, deren Riemen sie um die Hand gewickelt hatte, ließ sie arglos auf den Boden plumpsen. Linda machte Anstalten, den Kollegen in den Arm zu nehmen. „Komm, Steffen, lass dich drücken! Schön, dich wieder zu sehen.“ Linda, die knapp einen Kopf kleiner war als Steffen, rückte dicht an ihn heran und zog ihn zu sich runter.

Der Kommissar ließ sich ihre Begrüßung gerne gefallen.

„Weißt du eigentlich, dass du mir alle Nasenlang gefehlt hast, Steffen?“ Linda stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Kollegen einen Begrüßungskuss auf die Wange zu drücken.

Simon Francis, der wenige Meter hinter Linda durch die Ankunftshalle marschierte, erschien auf der Bildfläche. Der junge Professor für amerikanische Literatur der Neuzeit, trug sein blondes Haar schulterlang. Unter dem taillierten, schwarzen Jackett war ein blütenweißes Hemd zu sehen, das über seiner Jeans baumelte. Offenbar hatte Simon die Hochzeitsreise genutzt, um sich einen Dreitagebart stehen zu lassen.

Steffen fand, dass der Bart ihm ausgezeichnet stand. Er gab Simon einen Hauch von Verwegenheit. Spontan löste sich der Kommissar aus Lindas Umarmung. Tatkräftig klopfte er dem schlanken, großgewachsenen Simon auf die Schulter. „Schön dich zu sehen, Simon.“

„Dito“, sagte der Juniorprof kurz und bündig. Dabei hantierte er mit einem Gepäckstück, das das Ausmaß einer Waschmaschine in Anspruch nahm.

„Ich glaube, der Rotwein wird dir schmecken, Steffen“, sagte Linda. Kraftvoll drückte sie dem Ermittler die Flasche in die Hand.

„Danke. Das war aber nicht nötig.“

„Den Wein haben Simon und ich auf Capri getrunken, wenn wir den herrlichen Sonnenuntergang auf der Insel genossen haben. Das war wunderbar. Es war die schönste Zeit meines Lebens“, säuselte Linda.

Steffen betrachtete das Etikett der Weinflasche und nickte anerkennend. „Den hebe ich mir für einen besonderen Anlass auf. Zusammen mit Nora werde ich den guten Tropfen genießen.“ Er steckte die Flasche in die Seitentasche seiner Lederjacke und trat ein paar Schritte zur Seite, um die Honeymooner zu mustern. „Ihr zwei seht gut aus. Da könnte man fast neidisch werden. Ihr seid wie das blühende Leben.“ Der Ermittler legte sich ein breites Grinsen zurecht.

Linda und Simon sahen sich verliebt in die Augen.

„Komm, Linda, gib mir deine Tasche, die ist bestimmt furchtbar schwer. Du weißt, ich kümmere mich gerne darum.“

Seine Kollegin schoss in die Hocke und reichte ihm den prallgefüllten Beutel.

„Huch, die ist tatsächlich schwer“, keuchte Steffen gespielt. „Habt ihr seltene Steine von Capris Felsen durch den Zoll geschmuggelt?“ Steffen schleuderte die Tasche locker über seine breite Schulter. Dann stakste er zielstrebig durch das Gewusel in Richtung Ausgang.  „Habt ihr denn eine gute Zeit in Bella Italia verbracht?“, wollte er wissen.

Während sich das Trio durch die Menge zwängte, hörte Steffen seine Kollegin sagen: „I`italia è la terra dell`amore.“ Dann lachte Linda. Ihr Lachen wirkte keine Spur aufgesetzt. In Steffens Augen war Linda eine klasse Frau und erst recht eine super Partnerin im Job, auf die er sich zu hundert Prozent verlassen konnte.

„Es war wirklich großartig, obwohl ich an und für sich nicht so ein verträumter Schwärmer bin. Aber die italienische Lebensart hat schon was für sich. Davon kann man sich eine Scheibe für den deutschen Alltag abschneiden.“

Steffen wollte etwas sagen, doch Linda kam ihm zuvor. Mit einem Mal stellte sie sich ihm in den Weg. „Was gibt es Neues im Präsidium? Haben wir einen aktuellen Mordfall an der Backe? Komm, sag schon, Steffen!“

Linda schien nicht mehr zu bremsen. Auf Steffen wirkte sie, als hätte sie in ihren Flitterwochen pure Energie getankt.

Um sie ein wenig zu beschwichtigen, hob er die Hand. „Linda, heute ist dein letzter Urlaubstag. Genieße ihn! Die Arbeit kann getrost bis morgen warten.“

Simon nickte zustimmend, während er sein Monstergepäckstück durch die Halle bugsierte.

ZWEI

„Auf geht‘s, Mia!“, sagte Errol, er klatschte aufmunternd in die Hände. „Hast du deine sieben Sachen gepackt? Der Bus wartet nicht auf dich. Komm, mach schon! Ich fahre dich gleich auf dem kürzesten Weg zur Schule.“

Errol marschierte durch die schmucke Dreizimmerwohnung in Frankfurt-Hoechst, die sich auf der Bolongarostraße im Zentrum der historischen Altstadt befand.

Die Aufregung, dass seine kleine Mia ohne ihre Eltern auf Reisen ging, war ihm anzumerken.

Der Computerexperte, der im Frankfurter Polizeipräsidium auf der Adickesallee in der Abteilung Computerkriminalität arbeitete, hatte seine lockigen Haare hinter dem Kopf mit einem Gummiband zu einem Zopf gebunden. Über einem hellen T-Shirt trug er ein buntkariertes Holzfällerhemd. Den Schlüssel seines Dienstwagens, einem weißen 1-er BMW, hielt er in der Hand.

„Okay. Ich bin am Start, Papa. Lass uns abbrausen“, sagte Mia voller Vorfreude auf die erste Klassenfahrt ihres Lebens. Mit Leichtigkeit schulterte das schmale, zierliche Mädchen den bis zum Bersten vollgestopften Rucksack.

„Alles klar, mein Schatz. Ich wünsche dir eine schöne Zeit. Ich für meinen Teil habe Klassenfahrten immer sehr genossen. Ach ... Quatsch, ich habe sie von ganzem Herzen geliebt.“ Errol sah seine Tochter verträumt von der Seite an. Er schwelgte in Erinnerungen an seine eigenen Kindertage.

Mia hörte ihm aufmerksam zu. Es schien, als wollte sie seine Begeisterung aufsaugen.

„Das besonders Schöne war immer, dass man nie wusste, wie die Abenteuer am Ende ausgingen“, sagte Errol lachend.

„Wie heißt der Ort noch mal, wo es hingeht, Papa? Ich vergesse dauernd den Namen.“ Mia legte den Kopf schräg und strahlte ihren Vater an. Ihre seidigen, blonden Haare, die sie von ihrer Mutter Jessy geerbt hatte, fielen sanft über ihre zarten Schultern.

„Klar, ihr fahrt nach Oberreifenberg zum Großen Feldberg. So, wie es viele Generationen hessischer Schüler und Schülerinnen seit Ewigkeiten vor euch getan haben. Sicher hatten sie alle viel Freude dabei.“ Errol klappte die Tür vom Kühlschrank auf, sah hinein und schloss ihn geräuschvoll. „Glaub mir eins, Mia, hier in Hessen hat die Fahrt zum Feldberg jahrzehntelange Tradition. Und jetzt kommst du und bist auch dabei. Ich freue mich so sehr für dich. Das ist einfach der Hammer!“

„Und was gibt es da Spannendes zu entdecken?“, fragte Mia aufgeweckt.

„Den großen Feldberg natürlich. Und die Ruinen eines alten Römerkastells ... und vieles mehr.“

„Schade, dass die Mama ausgerechnet jetzt, wo ich für lange Zeit wegfahre, nicht da ist. Wo ist sie eigentlich hingegangen? Papa, sie fehlt mir.“

Weil Errol in Gedanken war, reagierte er nicht.

„Papa, wo ist die Mama hin?“, sagte Mia streng. Sie sah ihren Vater strafend an.

„Mama ist Hals über Kopf zur Oma gebraust ... Sie wollte dringend mit ihr reden. Um was es dabei geht, kann ich dir nicht sagen, mein Schatz.“ Errol sah auf die Armbanduhr. Zufrieden nickte er. Sie waren gut in der Zeit. Den Reisebus würden sie rechtzeitig erreichen. „Mama ist gleich aufgebrochen, sie hatte es mit einem Mal ungeheuer eilig gehabt“, fuhr er fort.

Im Nachhinein erinnerte ihn Jessys Aufbruch mehr an eine Flucht als an einen ihrer üblichen Besuche bei ihrer Mutter. Schnell schob er den Gedanken zur Seite. Er wollte keinen Stress mit Jessy haben. Sicher wusste sie, was sie tat.

Derweil stapfte Mia durch ihr Kinderzimmer. Kritisch betrachtete sie die Wände ihres kleinen Reichs, die mit bunten Disney-Postern beklebt waren. Stumm schaute sie auf ein großformatiges Bild, auf dem eine Prinzessin zu sehen war. Unerwartet hob sie den Zeigefinger in die Höhe. Mit ernster Stimme sagte sie: „Papa, wenn ich von der Klassenfahrt heil zurück bin, werde ich mein Zimmer aufräumen und die Poster werden in die Papiertonne gestampft.“

„Gut, einverstanden. Ich kann dir dann gerne dabei helfen, wenn du magst, Mia.“

„Gerne, Papa. So machen wir es.“

Fragend sah sich Errol im Kinderzimmer seiner Tochter um. Sein Blick fiel auf Mias Lieblingskuscheltier. „Sag mal, Mia, willst du dein Bärchen mit den großen Ohren und dem weichen Fell nicht mit auf große Fahrt nehmen?“ Er hatte den Stoffhund von Mias Bett gegriffen. Dicht vor ihren strahlendblauen Augen fuchtelte er mit dem Hund herum.

„Nein, bloß nicht!“, sagte Mia mit erhobener Hand. „Bärchen bleibt auf jeden Fall hier.“ Sie nahm das Kuscheltier in den Arm und legte es zurück auf ihr Kinderbett. „Ich bin jetzt groß genug, um ohne Bärchen einzuschlafen. Eigentlich bin ich schon lange viel zu alt für ein Kuscheltier. Jetzt ist die Zeit für einen richtigen Hund gekommen.“

Errol wiegte den Kopf. Bedächtig sah er auf seine Tochter hinab. Die Sache mit dem Hund wollte er zurückstellen. Jessy war aus irgendeinem Grund, den er jetzt nicht parat hatte, dagegen.

„Was sollen die anderen denn von mir denken, wenn ich mit dem Bärchen auftauche, Papa? Die lachen sich ja schlapp über mich. Ich bin doch schließlich kein Baby mehr.“ Lautstark rannte sie den Flur entlang und öffnete die Wohnungstür. Offenbar war sie in Aufbruchstimmung. „Papa, ich bin die Erste“, rief sie. Wie ein geölter Blitz lief sie zum BMW, der mit eingeschalteter Warnblinkanlage vor dem Haus auf sie wartete.

DREI

„Passt bitte auf, Kinder! Von hier aus könnt ihr den Feldberg sehen“, sagte Mias Klassenlehrer Sören Mattes, der mit der ausgestreckten Hand in die Ferne deutete.

Mia starrte aus dem Fenster des nagelneuen Reisebusses. Aber mehr als ein paar Felsbrocken und endlose Reihen von Nadelbäumen fielen ihr nicht ins Auge. Schulterzuckend lehnte sie sich zurück in den komfortablen Sitz des Busses.

Sören war Anfang dreißig. Seit einem Jahr war er Lehrer an der Mozart-Schule in Frankfurt-Hoechst. Fast auf den Tag genau war er mit der Lehramtsreferendarin Julia Heiden liiert. Auf seinen Wunsch begleitete sie ihn und die 21 Schüler der Klasse 4 b auf der traditionellen Klassenfahrt zum Feldberg im Taunus.

Sören trug hellblonde, mittellange Haare. Täglich wurde sein Schopf mit reichlich Gel in Facon gebracht. Auf seiner breiten Nase klemmte eine zierliche Nickelbrille. Mias Klasse war die erste, mit der Sören eine mehrtägige Exkursion unternahm.

Julia Heiden war eine schlanke, großgewachsene Frau Mitte zwanzig. Ihre kastanienbraunen Haare hatte sie am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengesteckt. Die Frisur im Duett mit der schwarzen Hornbrille ließen sie strenger und älter aussehen, als sie war.

Der hochmoderne Reisebus mit dem stilisierten goldenen Einhorn auf dem Heck befuhr den Eingang der Limesstraße. Der Bus hatte die Pizzeria Toni hinter sich gelassen, da gab es einen lauten Knall.

BUMMS.

Eugen Dreyer, der routinierte Busfahrer, bremste das Fahrzeug abrupt ab. Die Schüler Consti und David, die unternehmungslustig durch den Bus gepest waren, schleuderte es mit Getöse durch den Gang. Erst die gläserne Trennwand, hinter der Eugen seinen Platz hatte, bremste die Kinder aus.

„Was war das denn? Was ist passiert?“ Eugen wirkte irritiert. Seufzend atmete er kräftig aus.

Der bullige Busfahrer, der knapp 170 Zentimeter maß, war mit einem blauen ADIDAS Jogginganzug bekleidet, der über dem Bauch bedrohlich spannte. Seinen massigen Schädel säumte ein spärlicher Haarkranz. Die hervorstechende Halbglatze wirkte wie frisch poliert.

„Verdammte Kacke, habe ich etwa einen Menschen überfahren? So ein Mist.“

Sören war schlagartig leichenblass. Unbewegt starrte er durch das Fenster auf die verlassene Landstraße. Draußen rührte sich nichts. Alles war still. Der Nieselregen hatte nachgelassen.

„Gesehen habe ich jedenfalls niemanden. Da ist keiner über die Straße gelaufen. Das könnte ich hoch und heilig schwören“, lamentierte Eugen.

Wie unter Strom schoss er aus seinem Fahrersitz. Verdutzt stierte er hinaus auf die Landschaft. Von seiner Position aus war nichts Verdächtiges zu erkennen.

Aus purer Verzweiflung griff er die ausgeblichene Basecap, die ihn beim Lenken vor der Sonne schützte, aus der Mittelkonsole. Mit voller Wucht schleuderte er sie gegen die Windschutzscheibe.

Kurzatmig meldete sich Sören zu Wort. „Vielleicht ist uns ein großes Tier, vielleicht eine Kuh oder ein ausgewachsenes Schwein in die Karre gerannt? Anders kann ich es mir nicht erklären. Es hat ja einen heftigen Schlag gegen den Bus gegeben.“

Sören drehte sich zu den Schulkindern um. Sein Augenmerk galt Consti und David, die sich quälend langsam vom Boden aufgerappelt hatten, um zu ihren Plätzen zu finden. Julia war mit wehenden Fahnen zu ihnen geeilt. Sie wollte helfen. Treffsicher stellten die beiden Strategen immer das an, was entweder ausdrücklich verboten oder aus anderen Gründen unerwünscht war.

„So, jetzt reicht es mir aber endgültig. Mir platzt gleich der Kragen“, schimpfte Sören durch das Mikro über die Lautsprecheranlage des Busses. „Ihr setzt euch jetzt alle wieder auf eure vier Buchstaben! Mit dem blödsinnigen Herumgerenne im Bus ist es ein für alle Mal vorbei“, befahl der Lehrer.

Blitzschnell verkrümelten sich der verdatterte Consti und sein nicht minder verwunderter Kumpel David in die letzte Sitzreihe des Busses.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Sören, wie sich der blonde, langhaarige Consti mit den Händen das rechte Knie rieb. Aber der schlanke Schuljunge mit dem fliegenden Supermann auf der Brust ließ sich nichts anmerken.

Mit einem Zischgeräusch öffnete sich die Tür des Reisebusses. Gemächlich trottete Eugen die wenigen Stufen des Ausstiegs auf die Straße.

„Ich muss draußen mal die Lage checken“, murmelte er an Sören gewandt. „Wir können nicht einfach weiterfahren. Am Ende bin ich noch meinen Job los. Und zu guter Letzt wandere ich ins Kittchen. Es trifft ja doch immer die Schwächsten“, jammerte Eugen.

Er richtete das Oberteil des verbeulten Jogginganzugs, um seinen mächtigen Bauch zu kaschieren. Umständlich kramte der Busfahrer ein knallrotes, uraltes Handy aus der Hosentasche. Ein benutztes Taschentuch landete versehentlich auf dem Asphalt. Im Nu wurde es, anscheinend schwerelos, weggeweht. „Wenn es sein muss, werde ich Hilfe holen“, murmelte er. Wütend stampfte Eugen mit einem Fuß auf den feuchten Boden.

„Warte auf mich, Eugen, ich komme mit dir“, rief Sören ihm hinterher. „Es ist immer besser, wenn man einen Zeugen zur Seite hat, der den Unfallhergang bestätigen kann. Verstehst du mich?“

Eugen schaute mehr oder weniger hilflos aus der Wäsche. Mit der Situation schien er überfordert zu sein. „Klar, isso“, erwiderte der Busfahrer scheinbar abgeklärt. Er drehte sich zu Sören um. Verärgert meinte er: „Ja, dann mach aber auch! Beweg dich! Wir haben keine Zeit zu verschenken. Komm und leiste mir deinen Beistand!“

Sören rappelte sich vom Sitzplatz auf. Mit einem Satz nahm er die fünf Stufen der Außentreppe und sprang auf die Landstraße. Wie von Geisterhand schloss sich die Bustür hinter ihm.

„Verdammt, was ist das denn?“, rief Sören. Voller Entsetzen schielte er unter den vorderen rechten Reifen des Reisebusses. Er war in die Knie gegangen, seinen Kopf hatte er weit unter das Fahrzeug gereckt. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, faltete er die Hände zu einem Dach über dem Kopf und nahm tief Luft. Dann presste er die Finger gegen die Stirn. Entschieden schüttelte Sören den Kopf. „So ein Mist“, sagte er gedehnt. Er traute seinen eigenen Augen nicht.

Unter dem Bus lag, blutverschmiert und regungslos, eine junge Frau. Ihr Körper war merkwürdig verdreht, als hätte man versucht, die Gliedmaßen zu verknoten. Ihre Augen waren aufgerissen. Der Schädel zum Teil auf furchtbare Weise zertrümmert.

„Wir müssen auf der Stelle die Polizei informieren. Wir haben keine andere Wahl“, stöhnte Sören. Er verspürte einen gewaltigen Schreck in den Knochen.

„Ja, ich bin ja schon dabei“, warf Eugen ein, der aufgeregt auf seinem Handy herumtippte.

„Hallo, ist da die Polizei?“, stammelte er. „Wir brauchen Hilfe, und zwar sofort. Hier hat es einen schrecklichen Unfall gegeben. Bitte beeilen Sie sich!“

Eugen teilte dem Beamten der Polizeizentrale den genauen Unfallort mit, erwähnte die junge Frau und steckte das Handy wieder ein.

Nachdem Sören den Rettungsdienst benachrichtigt hatte, kletterte er zurück in den Bus. Er hatte die Absicht, die verschreckten Schüler zu beruhigen, damit keine Panik ausbrach. Das wäre sicher der Anfang vom Ende, überlegte er. Wenn er ehrlich zu sich war, fühlte er sich mit der Situation überfordert. Verunsichert schweifte sein Blick zu Julia. Hoffentlich war sie in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sören hätte aus dem Stand kotzen können. Was er gesehen hatte, war zu viel für ihn.

Julia hatte sich hinter dem Fahrersitz postiert. „Was ist da draußen passiert? Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte sie leise, damit die verdutzten Eleven sie nicht hörten.

„So wie es aussieht, haben wir eine junge Frau überfahren“, flüsterte Sören niedergeschlagen. „Sie liegt blutüberströmt hinter einem Reifen, der sie zerquetscht hat.“ Seine Stimme klang fahrig. Müde fuhr er sich mit der flachen Hand durchs Gesicht. Dann massierte er seine Augenlider.

„Huch, wie kann das denn sein? Wir sind quasi im Schritttempo gerollt“, meinte Julia. „Ich kann beim besten Willen nicht glauben, was du sagst.“

Reflexhaft hatte sie ihren Unterarm in die Höhe gereckt und vor die Stirn gepresst. „Und jetzt? Was tun wir jetzt?“

„Wie ich die Situation einschätze, ist da nicht mehr viel zu machen. Auch wenn es sich jetzt hart anhört, aber ich denke, dass die Frau, die unter dem Bus liegt, ... sowieso tot ist.“

Sören fasste seine Freundin mit beiden Händen an die Schultern und sah ihr in die Augen. Er wollte etwas Beruhigendes sagen, aber er fand nicht die richtigen Worte.

„Das ist ja furchtbar“, sagte Julia entsetzt. Vor Schreck schlug sie sich sachte die Hand vor den Mund.

Was war bloß passiert?

VIER

Die zehnjährige Mia hatte umgehend begriffen, dass mit dem Bus, der ruckartig zum Stehen gekommen war, etwas nicht in Ordnung war. Angespannt spähte sie zur Front des Reisebusses.

Mia beobachtete, wie ihr Klassenlehrer und der Busfahrer miteinander lamentierten. Worüber die Männer diskutierten, konnte sie von ihrem Platz aus nicht verstehen. Verloren griff sie nach dem Smartphone, das sie heimlich in ihrem Rucksack versteckt hatte. Mia war bewusst, dass sie damit gegen die geltenden Schulregeln verstieß, die der Schuldirektor höchstpersönlich für Klassenfahrten aufgestellt hatte.

Auf der „Wichtig-Liste“ hatte es klipp und klar geheißen, dass Handys beim Start des Busses unaufgefordert bei den Lehrkräften abzugeben waren. Mia hatte sich selbstbewusst über das Verbot hinweggesetzt. Da war sie ein Ebenbild ihres Vaters Errol, der sich um Regeln, die er für sich nicht akzeptierte, nicht scherte. Lieber rannte er mit dem Kopf vor die Wand. Errol hatte Mia das Smartphone anfangs gegen den Widerstand ihrer Mutter Jessy überlassen. Ihm war wichtig, dass Mia im Fall der Fälle gewappnet war, und sich bei ihm meldete, wenn Gefahr in Verzug war.

Mia war dicht an die Scheibe des Reisebusses gerückt, dass es ihre Nase plättete. Neugierig starrte sie auf die gähnend leere Landstraße.

Sie war bis in die Haarspitzen gespannt, was draußen geschehen war. Von ihrem Sitzplatz aus beobachtete sie, wie die Rettungskräfte mit einem Roten Kreuz auf der Brust, ihrer Arbeit nachgingen. Da fiel ihr Blick ungebremst auf eine junge Frau in einem blauen Kleid mit bunten Blumen.

Sie lag regungslos auf dem nassen Asphalt. Mia bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Sie gab sich Mühe, nicht an ihren Fingernägeln zu kauen, wie sie es sich zum Ärger ihrer Mutter angewöhnt hatte.

Niemals in ihrem jungen Leben war Mia intensiver mit dem Tod konfrontiert worden, als in diesem Moment. Sie spürte ihr Herz bis hinauf zum Hals schlagen und atmete nur noch ganz flach.

Sie schaute sich unter ihren Schulkameraden um. Im Reisebus herrschte das reine Chaos. Julia hatte alle Hände voll damit zu tun, die verängstigten Kinder zu besänftigen und eines nach dem anderen mit der Situation vertraut zu machen. Aber mit ihrer ruhigen und überlegenen Art, mit der sie auf die Schüler einging, hatte sie die Lage bald unter Kontrolle.

Sören saß deprimiert und sichtlich überfordert auf dem behaglichen Driverseat. Er starrte verloren ins Leere.

Eugen, der ihm Gesellschaft leistete, brabbelte ohne Unterlass auf ihn ein. Der Busfahrer schien den Ernst der Lage nicht begriffen zu haben.

Mit zittrigen Fingern drückte Mia die gespeicherte Nummer ihres Vaters Errol auf dem Smartphone. Versteckt hinter der Lehne ihres Vordermanns presste sie das Telefon dicht an ihr Ohr. Nachdem das Freizeichen erklungen war, war Errol am anderen Ende der Leitung zu hören. Unverhofft prasselte ein Wortgewitter auf Mia nieder.

„Hallo, Mia, mein Schatz. Mia, mein Engelchen, schön dass du dich bei mir meldest. Seid ihr denn schon sicher an eurem Ziel angekommen?“, fragte Errol aufgekratzt.

Mia schüttelte sachte den Kopf, ohne etwas zu sagen.

„Ist auch alles fein bei euch? Erzähl doch mal! Gefällt es dir, da wo du gelandet bist?“

„Ja, ja, Papa“, flüsterte Mia nach einer Weile genervt. Angespannt sah sie sich in alle Richtungen um. Dabei huschte ihr Blick versehentlich auf die blutüberströmte Frau, die die Rettungskräfte neben dem Reisebus auf einer Bahre platziert hatten. Mia sah dabei zu, wie sie ein weißes Tuch über ihr ausbreiteten.

Unverzüglich wendete Mia die Augen von der Frau ab. Sie hatte tief Luft geholt und wollte ihrem Vater der Reihe nach erzählen, was ihr auf dem Herzen lag.

Aber Errol kam ihr zuvor. „Mein kleiner Schatz, hast du schon die zwanzig Euro Extrataschengeld entdeckt, die ich dir unter deine Brotbox geklebt habe? Die zwanzig Kröten sind für den Notfall gedacht. Man weiß ja nie, was einem alles so unterkommt. Ha, verstehst du mich?“ Errol lachte.

Mia hob die freie Hand in die Höhe. Nachdenklich schloss sie die Augen. Sie nahm ihren Mut zusammen und fiel ihrem Vater abrupt ins Wort. „Stopp, stopp Papa! Darum geht es im Moment nicht. Das mit dem Taschengeld ist jetzt nicht so wichtig. Hier ist etwas Unglaubliches passiert!“

„Wie, was ist denn los? Spann mich nicht so auf die Folter“, platzte es aus Errol heraus.

„Schatz, erzähl schon. Ich bin immer für dich da, das weißt du doch.“

„Neben dem Bus ist alles voller Blut. Mir ist schon ganz übel. Da liegt eine Frau in ihrem eigenen Blut. Ich glaube, sie ist tot.“

„Wie, was? Erzähl schon!“

„Ich ... ich weiß nicht genau, was hier los ist. Aber ich glaube, dass wir einen Unfall gehabt haben. Unser Bus hat eine Frau totgefahren. Es hat einen Riesenknall gegeben und dann ist hier das Chaos ausgebrochen.“

„Bitte erzähle mir genau, was du siehst. Ich will über jedes Detail informiert sein! Bist du etwa in Gefahr? Sag schon!“

„Nein, ich glaube nicht. Mit mir ist soweit alles in Ordnung.“ Mia räusperte sich. „Die Frau wird jetzt von einem schwarzen Auto mit weißen Gardinen weggefahren. Die Sanitäter, die mit Blaulicht gekommen sind, haben sie einfach liegen lassen. Die hat das nicht weiter interessiert. Ich kann das gar nicht verstehen.“

„Was erzählst du denn da?“, rief ihr Vater aufgeregt ins Telefon.

„Das sieht alles so schrecklich aus, Papa. Hier ist alles voller Blut ... Ich habe Angst, Papa. Was soll ich denn jetzt tun?“

Schweigen machte sich unter ihnen breit. Mia schossen die Tränen in die Augen. Verzweifelt schaute sie hinauf zum Großen Feldberg.

Mittlerweile saßen die Kinder wieder auf den Sitzen. Einige hatten von dem Geschehen draußen nun doch Notiz genommen. Keiner sprach ein Wort. Irritiert bis fassungslos blickten ein paar Kinder aus den Fenstern. Andere versuchten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Stimmung im Bus war zum Zerreißen gespannt.

Julia hatte sich auf der letzten Sitzbank zwischen Consti und David niedergelassen. Sie war damit beschäftigt, Constis aufgeschlagenes Knie mit einem Pflaster zu verarzten.

„Papa, bitte ... bitte hilf mir doch!“, wimmerte Mia nach einer Weile. Sie hatte sich ein wenig gesammelt und neue Kraft geschöpft.

„Ich weiß partout nicht, wie ich dir von hier aus nützlich sein soll. Kannst du mir das mal verraten?“

Mia schwieg. Irgendwo in ihrem Hinterkopf meldete sich eine Stimme zu Wort. Da war etwas, das ihr keine Ruhe ließ.

„Sind denn deine Lehrer in deiner Nähe? Oder bist du mutterseelenallein auf dich gestellt? Komm, sag schon, Mia!“

„Nein, nein ... ich sitze in einem vollbesetzten Bus und niemand hat einen Plan, wie es weitergehen soll. Auch die Lehrer nicht. Ich glaube, der olle Mattes am wenigsten von allen.“

„Bleib bitte völlig ruhig und halte dich an die anderen. Sorge mit allen Mitteln dafür, dass du die Gruppe unter keinen Umständen verlierst. Ihr müsst unbedingt zusammenbleiben. Das ist das Wichtigste.“

Mia nickte stumm.

„Achte bitte auf meine Worte. Nur gemeinsam seid ihr stark. Ich verlasse mich auf dich, Mia.“

Dann machte es leise Klick. Die Leitung war von einer Sekunde zur anderen unterbrochen. Mia hatte das Gespräch beendet. Entweder konnte oder wollte ihr Vater nicht helfen, dachte sie traurig.

FÜNF

Fassungslos starrte Errol auf sein Handy. Die Verbindung war einfach unterbrochen worden. Wodurch? Hatte er versehentlich eine falsche Taste berührt? War von irgendwoher ein Sendeloch auf ihn herabgestürzt? Ausgeschlossen, dass Mia von sich aus die Verbindung abgebrochen haben könnte.

Nach außen gab Errol für gewöhnlich den typischen Computernerd, mit den obligatorischen langen Haaren und dem gemusterten Baumfällerhemd. Aber soziale Zurückgezogenheit und Eigenbrötlertum waren ihm fremd.

Im Frankfurter Polizeipräsidium war Errol die allererste Adresse, was Fragen zum Thema Computerkriminalität betraf. Dabei handelte es sich um Straftaten, die unter Ausnutzung von Informations- und Kommunikationstechnik oder gegen sie vorbereitet und umgesetzt wurden. Angefangen beim Kreditbetrug, dem Betrug mittels unrechtmäßig erlangter Daten von Zahlungskarten, dem Ausspähen und dem Abfangen von Daten, über den rasant zunehmenden Diebstahl und die Hehlerei digitaler Identitäten, bis hin zur missbräuchlichen Nutzung von Telekommunikationsdiensten und vielem mehr. Errol war dankbar, dass er für Fälle mit sexuellen Inhalten nicht zuständig war. Dafür gab es, was er begrüßte, eine spezielle Abteilung innerhalb des Hessischen Polizeiapparats, die hervorragende Arbeit leistete.

Die Kriminalkommissare Steffen Anbach und Linda Sachse, mit denen er seit rund vier Jahren enger als mit allen anderen Kollegen des Präsidiums zusammenarbeitete, begegneten ihm auf Augenhöhe. Die drei schwammen auf derselben Wellenlänge und verstanden sich ohne große Worte.

Bei kniffligen technischen Fragen stand Errol Steffen und Linda stets zuverlässig zur Seite. Mit Vernunft und Kreativität löste er für das Ermittlerduo fast jedes noch so große Problem.

Wie bei ihrem ersten aufreibenden Mordfall als Ermittlerteam, den sie „Banden“ getauft hatten. Damals war es Errol selbst gewesen, der die Kommissare auf die entscheidende Spur gehievt hatte. Die Fährte, die sie zu den Attentätern von Deutschlands einflussreichsten Bankier geführt hatte.

Auch bei der fieberhaften Suche nach der entführten 17-jährigen Sarah Bender, einer Anwaltstochter aus der Landeshauptstadt Wiesbaden, war es die von Errol präzise ausgekundschaftete Liste potentieller Verstecke der Geiselnehmer, die einen der Schlüssel erbracht hatte, das hilflose Mädchen in letzter Sekunde aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Trotz der ihm eigenen Bescheidenheit war sich Errol darüber im Klaren, dass die Ermittler große Stücke auf ihn hielten.

Tauschen wollte er mit den Kriminalkommissaren, trotz ihrer Erfolge, für kein Geld der Welt. Niemals verspürte er den Drang, sich einer Gefahr für Leib oder Leben auszusetzen. Er war kein Feigling, aber er bevorzugte es, seine Zeit im Hintergrund zu verbringen.

Am liebsten hielt er sich in seinem Büro, das er selbst sein „Labor“ nannte, auf. Versteckt hinter Computern, Bildschirmen und anderen Geräten, die er fast wie ein Messi hortete. Errol tat nichts lieber, als stundenlang herumzutüfteln und kleine und große Probleme mit technischem Sachverstand einer brauchbaren Lösung zuzuführen.

Außerhalb der Arbeit war ihm seine kleine Familie heilig. Niemals würde er sich zu einer negativen Bemerkung über Jessy oder Mia hinreißen lassen. Errol sah seine Aufgabe darin, die beiden zu beschützen und den Laden zusammenzuhalten. Was das betraf, hatte er sich im Laufe der Jahre den Charakter eines treuen Hütehundes zugelegt.

Vor Schusswaffen hatte Errol, seit er denken konnte, einen Höllenrespekt. Stets machte er einen riesigen Bogen um die Dinger. Gäbe es ein weltweites Schusswaffenverbot, wäre die Erde ein deutlich sichereres Plätzchen unter der Sonne, war sein ständiges Mantra.

Einen Menschen mit einer Waffe zu bedrohen oder von eigener Hand zu töten, wäre für Errol der größte Horror, den er sich ausmalen konnte. Niemals in seinem Leben wollte er in eine derart verzwickte Lage geraten.

Wieder und wieder wählte Errol jetzt die Nummer seiner Tochter. Das war jeweils nur ein Tippen auf den Eintrag in seinem Kurzwahlspeicher. Dort gab es nur Jessy und Mia. Wen sonst sollte er dort eintragen?

Was Mia ihm da gerade erzählt hatte, durfte auf keinen Fall wahr sein. Errol tippte wieder und wieder auf den Namen Mia. Er lauschte dem Freizeichen, dann vermeldete die immer gleiche Computerstimme, der gewünschte Teilnehmer antworte nicht. Er solle es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen.

Nein, Errol würde keinesfalls auf einen späteren Zeitpunkt warten. Es galt, unverzüglich zu handeln.

SECHS

Am ersten Tag nach Lindas Hochzeitsreise war Steffen durch das halbe Polizeipräsidium auf der Adickesallee gewetzt, um die Kommissarin zu suchen. Aber Linda war nirgends zu finden. Es schien, als wäre sie vom Erdboden verschluckt.

Steffen war außer Atem. Er musste sich beruhigen und holte tief Luft. Langsam atmete er wieder aus.

Vor wenigen Minuten war ihm ein anonymes Video auf seinem Smartphone zugespielt worden. In dem Film war eine junge Frau zu sehen, die in einem Bunker oder einer Art Verlies festgehalten wurde. Am Leib trug sie ein blaues Kleid mit bunten Blumen. Steffen presste nachdenklich die Lippen zusammen. Dann griff er sein Handy und wählte zum x-ten Male Lindas Nummer. Ihr Telefon war permanent besetzt. Wo war seine Kollegin bloß abgeblieben? Mit wem redete sie die liebe lange Zeit.

Der Kommissar hetzte weiter durch die unendlichen Flure des Präsidiums. Auf seinem Weg passierte er die Kantine.

Steffen riss die schwere Kantinentür auf und lief die nur mäßig besetzten Tische ab. Er hatte den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee und Spiegeleiern mit Speck in der Nase. Nach einem Happen Essen war ihm jetzt aber nicht zu Mute.

„Hey, Steffen grüß dich“, rief Mick, ein altgedienter Kriminaler, der in der Tageszeitung blätterte.

„Grüß dich, Mick“, sagte der Ermittler beiläufig. Für einen kurzen Plausch unter Kollegen stand Steffen nicht der Sinn. Von Linda gab es nirgends eine Spur.

Unverrichteter Dinge verließ er das Präsidium durch den rückwärtigen Eingang. Von seinem Standpunkt aus schaute er zum Parkplatz, wo wie gewöhnlich die Katze parkte. Im Hintergrund war der Lärm eines startenden Polizeihubschraubers zu hören. Vermutlich war ein Spezialeinsatz in die Wege geleitet worden. Steffen nahm tief Luft und sah dem Helikopter, der schnell an Höhe gewann, hinterher.

Er benötigte Ruhe, um ein wenig nachzudenken. Warum hatte man ausgerechnet ihm das Video mit der jungen Frau geschickt? Offenbar wurde sie gegen ihren Willen in einer unwirklichen, menschenfeindlichen Umgebung gefangen gehalten. Wer war die Frau? Was hatte man mit ihr vor? Steffen wälzte Fragen über Fragen. Antworten hatte er keine parat?

Da meldete sich Linda endlich. Blitzschnell nahm Steffen ihren Anruf entgegen.

„Hey, Steffen, was gibt es denn so Dringendes?“, sagte sie unaufgeregt. „Ich habe gerade deine Mailboxnachricht abgehört. Was ist passiert?“

„Wir müssen uns schnell sehen, Linda. So wie es aussieht, haben wir ein ausgewachsenes Problem.“

„In Ordnung. Ich bin in zwei Minuten bei dir, Steffen.“

„Gut, dann bis gleich.“

Auf der Stelle machte der Kommissar kehrt. Mit dem Aufzug fuhr er in den dritten Stock, wo sich seit Ewigkeiten sein Dienstzimmer befand. Schon von Weitem sah er Linda, die vor seinem verschlossenen Büro auf ihn wartete. Ihr platinblonder Pagenkopf strahlte wie üblich. Sie wirkte aufgeräumt und sah erholt aus.

Auf die letzten Meter beschleunigte der Ermittler seine Schritte. Kurz bevor er seine Kollegin erreicht hatte, holte er das Handy aus der Jeans. „Gut, dass du da bist, Linda. Ich muss dir unbedingt etwas zeigen.“

Die Ermittler steckten ihre Köpfe zusammen. Wortlos starrten sie auf das Display, auf dem Steffen den Film abspielen ließ. Linda betrachtete die wenigen Sequenzen konzentriert.

Die Hände der jungen Frau waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Sie vermittelte einen gehetzten Eindruck und sah todunglücklich aus. Nach ein paar Sekunden war das Video beendet.

„Wer ist die Frau? Kennst du sie, Steffen?“, wollte Linda wissen.

Steffen antwortete mit einem zögerlichen Schulterzucken. In seinem Kopf arbeitete es auf Hochtouren. „Nein, ich habe die junge Dame niemals zuvor gesehen.“

„Wo wird die Frau festgehalten? Weißt du das? Und warum hält man sie gefesselt?“, warf seine Kollegin ein. Linda griff sich fragend an die Stirn.

„Dieser mysteriöse Film kann einem ja richtig Angst einjagen. Bei seinem Anblick habe ich fast Gänsehaut bekommen.“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, konterte Steffen.

„Wo hast du den Film denn her?“

Steffen trat von einem Fuß auf den anderen. „Auch diese berechtigte Frage kann ich dir leider nicht beantworten. Dieser seltsame Film war urplötzlich auf meinem Handy. Kam als SMS. Ich kann dir nicht einmal sagen, wer ihn mir geschickt hat. Die Nummer des Absenders war unterdrückt.“

„Ich verstehe. Deshalb also die ganze Aufregung. Aber glaubst du allen Ernstes, dass irgendjemand ihn dir aus purem Zufall geschickt hat, Steffen? Ich bin mir sicher, dass eine konkrete Absicht dahintersteckt.“

Steffen nickte zustimmend. „Mein erster Eindruck war, dass mich mit dem Film jemand warnen wollte. Aber wovor?“

„Dass du den Film auf deinem Diensthandy erhalten hast, hat sicher einen triftigen Grund. Es könnte sich dabei um einen Hilferuf handeln. Um einen Appell, eine Art Notruf.“

„Ja, genau. Trotzdem ist es merkwürdig, dass der Clip ausgerechnet an mich gegangen ist. Außerdem sind die Informationen in dem Film mehr als dürftig. Er enthält keinen brauchbaren Hinweis darauf, wo die Frau festgehalten wird und wer ihr etwas antun will. Geschweige denn, wer die junge Frau ist. Oder ist die Szene gestellt und jemand erlaubt sich einen makabren Scherz. Wenn ja, warum? Und wer?“

„Richtig, das ist alles mehr als sonderbar. Und was machen wir jetzt mit dem Film?“

„Ich schlage vor, dass wir ihn unseren Experten für Entführung und Menschenraub überlassen. Die sind für so was bestens geschult. Die wissen genau, wie sie damit umzugehen haben.“

Die Kommissarin streckte die Hand nach Steffens Handy aus. „Komm, gib das Ding schon her. Ich bring es mal eben bei den Kollegen vorbei.“

Der Kommissar rang sich ein müdes Lächeln ab. Dankbar legte er Linda das Smartphone in die offene Hand. „Ich warte hier auf dich. Bis später, Linda. Und sag den Kollegen bitte, dass sie uns ständig auf dem Laufenden halten sollen, wenn sie erste Erkenntnisse haben.“

„Klar, mach ich.“

Steffen schloss die Bürotür auf und trat ein. Die Bilder auf dem Video bekam er nicht mehr aus dem Kopf. Wie in einer Warteschleife sah er die gefesselte Frau vor seinem inneren Auge. Vor allem ihr todtrauriger Blick ließ ihn nicht mehr los. Er war sich sicher, dass die Frau ihm etwas mitteilen wollte.

Steffen zog die Lederjacke aus und hängte sie über die Rückenlehne seines Arbeitssessels. Er nahm Platz an seinem Schreibtisch. Nachdenklich wischte er mit dem Arm ein paar Akten zur Seite, um sich etwas Raum zu verschaffen.

Ohne sein Zutun braute sich tief in seinem Kopf ein Gedanke zusammen. Zunächst schien er meilenweit entfernt zu sein. Aber dann schoss ihm wie ein Blitz, klar und deutlich die sichere Erkenntnis durch den Kopf, dass er schon bald auf die junge Frau treffen würde.

SIEBEN

Wenige Tage zuvor am Berliner Hauptbahnhof

Der Zug, der am frühen Morgen aus Kiew gekommen war, rollte die letzten Meter in Schrittgeschwindigkeit in den Berliner Hauptbahnhof ein. Die Stimmung unter den Hunderten Frauen, die sich an Bord des Zuges befanden, war am Boden.

Ihre Kinder, die teils notdürftig nur mit T-Shirts, Windeln und Tüchern bekleidet waren, schrien wie am Spieß und raubten den Müttern den letzten Nerv. Dass sie dem Horror eines unmenschlichen Krieges von der Schippe gesprungen waren, stand ihnen auf die Stirn geschrieben. Die Überlebenden waren bloß ein Schatten ihrer selbst. Einzelne von ihnen wirkten wie ausgemergelt. Anderen war die erlittene Todesangst von den Lippen abzulesen.

Die Kleinkinder, die die Mütter in den Armen trugen, um sie sicher durch die Massen zu manövrieren, konnten einem von Herzen leidtun. Offensichtlich litten sie Hunger und Durst.

Die zarte, blonde Frau, die ohne Anhang gereist war, sprach fließend Englisch, Ukrainisch und Russisch. Außerdem beherrschte sie von Hause aus die deutsche Sprache aus dem Effeff. Angestrengt hievte sie eine abgewetzte Reisetasche aus der Gepäckablage und klemmte sie unter den Arm. Den Gurt der braunen Ledertasche mit Fransen warf sie locker über die Schulter. Erschöpft sah sie durch das Zugfenster auf den Bahnsteig des Berliner Hauptbahnhofs.

Draußen auf dem Bahnsteig wartete eine große Zahl an Helfern auf die Kriegsflüchtlinge. Sie hatten sich die Versorgung der Ukrainer auf die Fahnen geschrieben. Sie waren mit Lebensmitteln, Decken und Medikamenten ausgestattet. Es war mehr als beeindruckend, was die Helfer in den letzten Wochen auf die Beine gestellt hatten.

Die Reise von Kiew, der Hauptstadt und größten Stadt der Ukraine, nach Berlin dauerte Nonstopp mehr als 24 Stunden. Der Zug hatte die Flüchtlinge durch große Teile der Ukraine und durch die Republik Polen geführt. Von der polnischen Grenze zur bundesdeutschen Hauptstadt war es am Ende bloß ein Katzensprung.

Während der Fahrt war das Gejammer der Frauen um die in der Ukraine zurückgebliebenen Männer groß. Der Staat zwang sie, im Land auszuharren, um das Vaterland zu verteidigen, selbst wenn sie niemals eine Waffe in der Hand gehalten hatten.

Auf der Fahrt hatte die blonde Frau nicht eine Minute die Augen zugedrückt. Dafür war sie viel zu aufgekratzt. Jetzt fühlte sie sich wie gerädert. Ein letztes Mal reckte und streckte sie ihre Glieder, dann sauste sie zum Ausstieg des Waggons.

Dass rechts und links an dem schweren Ledergürtel, den sie unter der roten Kunstlederjacke trug, zwei Dosen Pfefferspray verborgen waren, konnte man nicht erkennen.

In der Masse der Menschen, die am Berliner Hauptbahnhof gestrandet waren, fiel die blonde Frau kaum auf. Sie war darin trainiert, unbemerkt in einer Menge unterzutauchen und keinen Verdacht auf sich zu lenken.

Äußerlich betrachtet wirkte sie ungefährlich. Das glatte, blonde Haar trug sie offen. Die Lippen waren rot geschminkt. Die Beine verbargen sich unter einer gemusterten Camouflagehose. Ihre Füße steckten in schwarzen Doc-Marten-Schuhen, sie war um die dreißig Jahre alt.

Aus dem Pulk der Männer, die sich zum Empfang der Frauen versammelt hatten, löste sich ein Typ mit einem breiten, massigen Schädel. Er nannte sich Andrej und war mit einer schweren Motorradlederjacke bekleidet. Einem wie ihm wollte man nachts auf den leergefegten Straßen der Berliner Vororte nicht begegnen. Von der Statur wirkte er wie ein Bauarbeiter oder ein Mann, der auf dem Schlachthof schuftete. Einer, der Eisenstangen verbog oder Schweine in Hälften zerlegte. Er hatte einen Nacken, wie ein ausgewachsener Stier.

Sein Begleiter, der auf den Namen Sergej hörte und der bei ihnen das Sagen hatte, war deutlich schlanker als Andrej. Er war mit einer teuren Designerjeans bekleidet. Sein Gesicht wurde dominiert von herabhängenden Mundwinkeln, die ihn magenkrank aussehen ließen. Seine langen, beringten Finger, die permanent das Smartphone tätschelten, erinnerten an Spinnenbeine.

Mit geschultem Blick hatten die Männer, die einen osteuropäischen Eindruck hinterließen, die blonde Frau im Gewirr der vielen Passagiere und Helfer ausgemacht.

„Da, da ... da ist sie doch! Sie steht da vorne bei dem Triebwagen und dreht sich eine Zigarette.“ Mit der Hand deutete Andrej in ihre Richtung.

„Siehst du sie nicht?“, sagte er zu seinem Chef. Wiederholt zeigte er auf die blonde Frau, die etwas abseits stand.

Mechanisch zog Sergej das Foto, dass sie ihnen zur Identifizierung der Frau ausgehändigt hatten, aus seinem enganliegenden Jackett. Mit den Spinnenfingern wischte er darüber und betrachtete es eingehend. „Ganz klar, hundert Pro. Das ist sie. Da gibt es keinen Zweifel.“

Sergej steckte die Aufnahme wieder zurück. Mit der Hand fuhr er über das Kinn, das glattrasiert wie ein Babypo war. Entschlossen klopfte er Andrej auf die breiten Schultern und sagte beschwörend: „Die Frau da ... auch wenn man es ihr auf den ersten Blick nicht ansieht und man sie für eine unbescholtene Grundschullehrerin halten könnte, ist saugefährlich. Glaub es mir, Andrej. Nimm dich vor der in Acht!“

Der kräftige Mann sah böse zu der blonden Frau hinüber. Seine Augen waren zu Strichen geworden.

„Du musst wissen, dass sie mit allen Wassern gewaschen ist,“ zischte sein Boss ihm zu. „Sie ist brandgefährlich. Ich meine es ernst.“

„Ja, Chef. Ich weiß, ich habe schon von ihr gehört. Sie ist übrigens ein ziemlich hübsches, kleines Ding. Ne echte Bombe, wenn du mich fragst. Was meinst du, Chef?“

In den einschlägigen Etablissements wäre mit der Frau ordentlich Geld zu verdienen, überlegte Andrej, der die Zuhälterei von der Pike auf gelernt hatte. Zurzeit besaß er zwei florierende Bordelle im Großraum Berlin-Brandenburg. Für die Auslastung der Laufhäuser war er unentwegt auf der Suche nach neuen Frauen, die er „Frischfleisch“ nannte.

Eine Windböe, die unvermittelt über die Gleise gezogen war, fächerte das Haar der blonden Frau auseinander. Mit der freien Hand bändigte sie mühelos ihre Mähne.

Andrej verschränkte die muskulösen Arme vor der breiten Brust. „Sollen wir sie gleich hier fertigmachen? Wir könnten sie vor einen einfahrenden Zug werfen?“

Der Boss antwortete nicht. Er schien in Gedanken zu sein.

„Was denkst du, Chef? Bei dem Chaos, das hier herrscht, kriegt das keine Sau mit. Mit etwas Geschick können wir es wie einen harmlosen Unfall aussehen lassen.“

Andrej zuckte mit den Achseln. „Nein, lass uns besser warten und sehen, zu wem sie will oder wer sie hier abholt. Ich will wissen, wie sie sich mit ihrer Bande organisiert hat, um uns nichts als Stress und Ärger zu bereiten.“

„Okay, wie du meinst. Du hast das Kommando.“

Sergej nickte stumm. Die blonde Frau ließ er nicht aus den Augen.

„Aber dass sie über kurz oder lang aus dem Weg muss, das steht doch völlig außer Frage?“, schob Andrej hinterher. „Oder bin ich da schief gewickelt?“

Der Chef nickte stoisch. „Mach dir darüber keine Gedanken. Früher oder später kommst du schon zum Zuge. Ich werde dir Bescheid geben, wenn es soweit ist. Versprochen.“

ACHT

„Wenn du gleich, wie geplant, zu unserem lieben Freund Errol runter gehst, Linda, dann vergiss bitte nicht, dass wir von ihm unbedingt auch die Dateien brauchen, die er in letzter Minute wie ein echter Zocker von dem kopiergeschützten Datenstick heruntergeladen hat,“ sagte Steffen.

Eine Stunde zuvor hatte Linda Errol angerufen, der zwar fahrig gewirkt hatte, ihr aber die erbetenen Daten zum erledigten Fall, bereitwillig zur Verfügung stellen wollte.

„Ich frage mich heute noch, wie er das überhaupt hingekriegt hat? Das war echt sein Meisterstück. Er hatte bis zur letzten Sekunde kämpfen müssen. Hat er echt klasse gemacht, der Errol.“

Seit Dienstbeginn wirkte Steffen auf Linda aufgekratzt, was sicher daran lag, dass er am Abend den Kennenlerntag mit seiner Frau Nora feiern wollte. Nora und Steffen waren inzwischen glückliche Eltern zweier indischer Adoptivkinder, die auf die Namen Sunita und Sanjay hörten. Im zarten Alter von drei Jahren hatten sie die Kinder bei sich aufgenommen und ihnen ein neues Zuhause geschenkt.

„Überhaupt kein Thema. Habe ich alles auf dem Schirm. Außerdem habe ich bereits mit Errol telefoniert. Er bereitet alles für uns vor.“

Linda war im Begriff, Steffens Dienstzimmer im dritten Stock des Polizeipräsidiums auf der Adickesallee zu verlassen. Bewaffnet mit ihrem schwarzen Notizblock war sie auf den Sprung in Errols Labor, das sich im Erdgeschoss des im Jahr 2002 von der Polizei bezogenen Gebäudes unweit des Frankfurter Bankenviertels befand.

Schon viele hundert Mal hatten die beiden Kriminalisten ihre Besprechungen im Büro des Kommissars abgehalten, um gemeinsam die nächsten Ermittlungsschritte zu planen. Die meiste Zeit hatte Linda auf dem Besucherstuhl gegenüber von Steffen Platz genommen.