Kontrollverlust - Pino Rauch - E-Book

Kontrollverlust E-Book

Pino Rauch

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eine Leiche ohne Genitalien, eine junge Tote im Hochzeitskleid: Die Frankfurter Kommissare Steffen Anbach und Linda Sachse stehen vor einem Rätsel, alle Spuren führen ins Nichts. Als sie endlich die Identität des Mannes klären können, öffnet sich der Blick auf abscheuliche Obsessionen – und es stellt sich heraus, dass seine Freundin Nikki von Nastätten verschwunden ist, vermutlich wurde sie entführt. Steffen und Linda setzen alles daran, Nikki zu befreien: die Jagd auf einen Psychopathen beginnt. Rasant erzählter und raffiniert gebauter Krimi an der Grenze zum Thriller. Viele schnelle Schnitte erzeugen ein rasantes Tempo – wobei Rauch sich auch die Zeit nimmt, die Motivation der Täter anschaulich und psychologisch plausibel darzustellen.

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Seitenzahl: 406

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Pino Rauch

Kontrollverlust

Der zweite Fall für Steffen Anbach und Linda Sachse

Kriminalroman

Impressum

Texte:               © 2021 Copyright by Pino Rauch

Umschlag:        © 2021 Copyright by Mai Ky Tran

Verantwortlich

für den Inhalt:   Pino Rauch

[email protected]

Druck:  epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Über den Autor:

Pino Rauch ist ein Pseudonym. Der Autor, der sich dahinter verbirgt, wurde 1964 in Duisburg geboren und hat in Bayreuth und Mainz Jura studiert. Seit 1993 ist er Rechtsanwalt in Wiesbaden, wo er mit seiner Familie lebt und eine auf das Wirtschaftsrecht ausgerichtete Kanzlei führt. Nachdem er verschiedene juristische Fachbücher veröffentlicht hat, legt Rauch mit „Kontrollverlust“ seinen zweiten Roman vor. Er ist Teil einer Krimi-Reihe, die im Rhein-Main-Gebiet spielt.

Dies ist ein Roman. Die Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Geschehnissen oder Personen ist reiner Zufall.

Cocaine

Eric Clapton

If you want to go out

You´ve got to take her out, cocaine

And if you want to get down

Down on the ground, cocaine

She don´t lie

Inhalt

Über den Autor:2

Cocaine. 3

Prolog. 4

25. Juli4

EINS. 9

26. Juli9

ZWEI13

Einige Tage zuvor, Maria. 13

DREI16

26. Juli, Irina. 16

VIER. 19

FÜNF. 28

Einige Zeit früher, Ivo. 28

SECHS. 31

SIEBEN.. 33

Vor vier Tagen, Nikki33

ACHT. 35

NEUN.. 40

Einige Zeit früher, Ivo. 40

ZEHN.. 44

Nikki44

ELF. 49

ZWÖLF. 54

Nikki54

DREIZEHN.. 57

VIERZEHN.. 60

Nikki60

FÜNFZEHN.. 67

SECHZEHN.. 71

Nikki71

SIEBZEHN.. 79

Einige Tage zuvor, Ivo. 79

ACHTZEHN.. 83

Nikki83

NEUNZEHN.. 87

ZWANZIG.. 92

Nikki92

EINUNDZWANZIG.. 95

ZWEIUNDZWANZIG.. 100

Nikki100

DREIUNDZWANZIG.. 106

27. Juli106

VIERUNDZWANZIG.. 108

Steffi108

FÜNFUNDZWANZIG.. 112

Einige Tage zuvor, Paul112

SECHSUNDZWANZIG.. 120

SIEBENUNDZWANZIG.. 124

Steffi124

ACHTUNDZWANZIG.. 128

NEUNUNDZWANZIG.. 131

Steffi131

DREISSIG.. 135

EINUNDDREISSIG.. 139

Steffi139

ZWEIUNDDREISSIG.. 143

DREIUNDDREISSIG.. 150

Vor sechs Monaten. 150

VIERUNDDREISSIG.. 154

FÜNFUNDDREISSIG.. 160

28. Juli160

SECHSUNDDREISSIG.. 164

Paul164

SIEBENUNDDREISSIG.. 168

ACHTUNDDREISSIG.. 177

NEUNUNDDREISSIG.. 182

Vor sechs Monaten. 182

VIERZIG.. 193

Nikki193

EINUNDVIERZIG.. 195

Paul195

ZWEIUNDVIERZIG.. 198

DREIUNDVIERZIG.. 200

Paul200

VIERUNDVIERZIG.. 208

Nikki208

FÜNFUNDVIERZIG.. 211

SECHSUNDVIERZIG.. 215

Paul215

SIEBENUNDVIERZIG.. 218

ACHTUNDVIERZIG.. 232

NEUNUNDVIERZIG.. 236

FÜNFZIG.. 241

EINUNDFÜNFZIG.. 249

ZWEIUNDFÜNFZIG.. 253

Nikki253

DREIUNDFÜNFZIG.. 258

29. Juli258

VIERUNDFÜNFZIG.. 261

Ivo. 261

FÜNFUNDFÜNFZIG.. 263

SECHSUNDFÜNFZIG.. 265

Nikki265

SIEBENUNDFÜNFZIG.. 269

ACHTUNDFÜNFZIG.. 273

Nikki273

NEUNUNDFÜNFZIG.. 275

Ivo. 275

SECHZIG.. 277

Vor sechs Monaten. 277

EINUNDSECHZIG.. 281

Nikki281

ZWEIUNDSECHZIG.. 284

DREIUNDSECHZIG.. 286

Nikki286

VIERUNDSECHZIG.. 288

FÜNFUNDSECHZIG.. 291

Nikki291

SECHSUNDSECHZIG.. 298

SIEBENUNDSECHZIG.. 302

Nikki302

ACHTUNDSECHZIG.. 304

Nikki304

NEUNUNDSECHZIG.. 308

Maria. 308

SIEBZIG.. 311

Nikki311

EINUNDSIEBZIG.. 314

Einige Tage zuvor, Maria. 314

ZWEIUNDSIEBZIG.. 317

Nikki317

DREIUNDSIEBZIG.. 320

VIERUNDSIEBZIG.. 325

Ivo. 325

FÜNFUNDSIEBZIG.. 327

Nikki327

SECHSUNDSIEBZIG.. 331

SIEBENUNDSIEBZIG.. 337

Nikki337

ACHTUNDSIEBZIG.. 340

30. Juli340

NEUNUNDSIEBZIG.. 342

Nikki342

ACHTZIG.. 344

EINUNDACHTZIG.. 347

Nikki347

ZWEIUNDACHTZIG.. 348

Steffi348

DREIUNDACHTZIG.. 351

Ivo. 351

VIERUNDACHTZIG.. 353

Vor fünf Monaten. 353

FÜNFUNDACHTZIG.. 357

Steffi357

SECHSUNDACHTZIG.. 360

Sascha. 360

SIEBENUNDACHTZIG.. 367

Vor mehr als vier Monaten. 367

ACHTUNDACHTZIG.. 370

Steffi370

NEUNUNDACHTZIG.. 372

Einige Tage zuvor, Maria. 372

NEUNZIG.. 374

Steffi374

EINNEUNZIG.. 376

ZWEIUNDNEUNZIG.. 379

Maria. 379

DREIUNDNEUNZIG.. 384

Tom.. 384

VIERUNDNEUNZIG.. 388

FÜNFUNDNEUNZIG.. 392

Paul392

SECHSUNDNEUNZIG.. 396

Ivo. 396

SIEBENUNDNEUNZIG.. 397

ACHTUNDNEUNZIG.. 403

Paul403

NEUNUNDNEUNZIG.. 405

EINHUNDERT. 407

31. Juli407

EINHUNDERTEINS. 409

EINHUNDERTZWEI412

EINHUNDERTDREI416

EINHUNDERTVIER. 419

1. August419

EINHUNDERTFÜNF. 422

EINHUNDERTSECHS. 427

EINHUNDERTSIEBEN.. 431

Juan. 431

EINHUNDERTACHT. 434

EINHUNDERTNEUN.. 441

2. August441

EINHUNDERTZEHN.. 443

Einige Tage später443

EINHUNDERTELF. 449

Nikki449

EINHUNDERTZWÖLF. 452

EINHUNDERTDREIZEHN.. 457

Einige Zeit später457

Prolog

25. Juli

Trotz der Ferienzeit war die Autobahn, die in Richtung Nordwesten führte, in den frühen Morgenstunden fast leer. Die junge Familie aus Regensburg, die ihren Urlaub an der Nordsee gebucht hatte, kam zügig voran. Nach Lage der Dinge würde sie ihr Urlaubsziel am frühen Nachmittag erreichen.

In einem Ort namens Callantsoog, nahe der nordholländischen Stadt Den Helder, hatten sie für zwei Wochen einen Wohnwagen auf einem Campingplatz gemietet. Dass es kein Luxusurlaub werden würde, war Markus und Stephanie, den Eltern von Sophie, Ben und Laura, klar. Aber sie wussten, dass es ein Urlaub nach ihrem Geschmack sein würde, und die Kinder warteten seit Wochen voller Vorfreude auf die Ferien. Tagsüber würden sie am Strand liegen oder in den Wellen der Nordsee plantschen, am Abend würden sie sich zusammensetzen, um Karten zu spielen.

„Papa, wie lange noch?“, fragte der fünfjährige Ben von der Rückbank. Markus setzte zu einer Antwort an, als sich die zwölfjährige Sophie einschaltete: „Papa, wir müssen unbedingt anhalten. Ich muss ganz dringend aufs Klo.“

„Okay, bei der nächstbesten Gelegenheit fahre ich raus, Sophie“, sagte Markus. „Eine kurze Pause wird uns sicher allen guttun, und etwas zu essen brauchen wir auch.“

„Da vorn ist ein Schild“, warf Stephanie ein. „Der nächste Rastplatz ist bloß vier Kilometer von hier entfernt.“

Sobald das Fahrzeug stand, stürmten der kleine Ben und seine zwei Jahre ältere Schwester Laura auf den Rasen des Rastplatzes.

„Komm, Mama, gib mir den Ball“, rief Ben. „Wir spielen Schweinchen in der Mitte, und Mama ist das Schwein!“

„Dann bist du ein Ferkel“, rief Stephanie lachend und holte den kleinen Plastikfußball aus dem Kofferraum. Sie warf ihn Laura zu, die ihn geschickt auffing.

„Hier, Laura, hier! Ich bin Manuel Neuer“, schrie Ben, und als Laura den Ball in großem Bogen über Stephanie warf, sprang er in die Luft, krallte ihn sich und ließ sich theatralisch auf den Boden fallen, als habe er soeben einen Elfmeter gehalten.

Kopfschüttelnd machte Sophie sich auf den Weg zu dem Toilettenhäuschen. So ein alberner Kerl, ihr kleiner Bruder ...

Sophie ging, so schnell sie konnte. Es war eilig, das spürte sie. Nach wenigen Metern schon wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Alter, war das heiß heute!

Als sie das Toilettenhäuschen aus rotem Klinkerstein erreichte, suchte sie das Schild für die weiblichen Besucher. Schon vor dem Eingang roch es streng nach Urin.

Mit Mühe zog Sophie die schwere metallene Eingangstür auf. Über die gesamte Breite waren die Großbuchstaben „ACAB“ gesprayt, aber sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Langsam drohte ihre Blase zu platzen. Der Gestank im Toilettenhäuschen war unerträglich. Mit Daumen und Zeigefinger hielt sich Sophie die Nase zu. In einer Pfütze am Boden, die sich über weite Teile der Toilette erstreckte, lagen Fetzen von Klopapier. Darüber kreisten Schmeißfliegen.

Sophie suchte eilig nach einer freien Kabine. Bei der rechten war der Türgriff herausgerissen worden, und Sophie sah, dass sie nicht mehr abschließbar war. Schnell entschied sie sich für die linke. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür ging nicht auf. Sophie presste ihre Schulter dagegen. Als die Tür ein wenig nachgab, erkannte Sophie, dass da etwas lag.

Zunächst erinnerte es sie an eine Bahn von weißem Stoff. Als sie die Tür mit Mühe und Not etwas weiter aufgeschoben hatte, riss Sophie ihren Mund auf.

Und schrie aus vollem Herzen.

Auf dem schmutzigen Boden der Toilette lag ein Mädchen in einem weißen Kleid. Im ersten Moment glaubte Sophie, es schliefe. Es hatte seine Augen fest geschlossen und sah friedlich aus. Sophie schaute genauer hin. Bei dem weißen Kleid, das das Mädchen trug, handelte es sich um ein prächtiges Hochzeitskleid, wie es Sophie in der Zeitschrift, die ihre Mutter abonnierte, schon gesehen hatte.

Sophie staunte. Solche Kleider trugen doch nur Prinzessinnen oder Filmstars. Das Mädchen mit dem Brautkleid gehörte hier nicht hin. Überall auf dem Kleid lauerten grün-bläulich schimmernde Schmeißfliegen, huschten kreuz und quer über den Leib und summten dabei grässlich.

Die langen blonden Haare waren auf dem Boden der Kabine wie ein Fächer ausgebreitet. Obwohl Sophie noch niemals mit dem Tod konfrontiert worden war, war sie sich absolut sicher, dass das Mädchen nicht mehr am Leben war.

„Nein!“, wimmerte Sophie, „Nein!“, und während sie sich Schritt für Schritt von der Kabine wegbewegte, spürte sie, wie ihr warmes Pippi an den Beinen herunterlief. Es fühlte sich feucht und ein wenig klebrig an. Sophie war außerstande, es zu stoppen. Auf ihrer hellblauen Jeanshose zeichnete sich ein dunkler Fleck ab.

Der von Sophies Eltern herbeigerufene Notarzt stellte den Tod des etwa 16-jährigen Mädchens fest. Ihm war bei der Untersuchung der Leiche sofort aufgefallen, dass sie am Hals beidhändige Würgemale hatte. Im Moment deutete alles darauf hin, dass es brutal ermordet worden war. Ob die stinkende Autobahntoilette der Tatort war oder ob man die Leiche hier bloß wie Müll entsorgt hatte, konnte der Notarzt nicht sagen. Das herauszubekommen, war Aufgabe der Polizei.

Erst am späten Abend erreichte die Familie ihr Urlaubsziel an der niederländischen Nordseeküste. Die Beamten der Kriminalpolizei Frankfurt am Main hatten angekündigt, sie demnächst weiter zu dem Fund des toten Mädchens zu befragen. Die Urlaubsfreude war erst einmal verflogen.

EINS

26. Juli

Mit wehenden Fahnen eilte Linda Sachse, Kriminaloberkommissarin von der Frankfurter Mordkommission, in ihr Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums an der Adickesallee.

Schwungvoll warf sie die Handtasche auf den Schreibtisch und hängte die Jeansjacke an den Garderobenhaken.

An diesem Morgen war es später geworden, als sie es beabsichtigt hatte.

Linda sah beiläufig auf das Display ihres Festnetztelefons. Drei Anrufe in Abwesenheit. Zwei stammten von Steffen, mit dem sie seit rund einem Jahr ein erfolgreiches Ermittlerteam bildete. Der dritte war von Errol Maxloh, den alle nur Errol nannten, seines Zeichens Computerspezialist bei der Frankfurter Polizei.

Ihren Kollegen Steffen würde sie gleich zurückrufen. Der Anruf bei Errol konnte noch warten. Im Moment führte er keine technischen Untersuchungen für sie durch. Und nach einem privaten Smalltalk, gleichgültig, wie kurzweilig der mit Errol sein konnte, war ihr gerade nicht zumute.

Die Anfang dreißigjährige Beamtin mit dem platinblonden Pagenkopf und der zierlichen Figur hatte anderes im Kopf. Als sie gerade Steffens Nummer wählte, klopfte es kurz, aber heftig.

„Herein“, rief sie laut. Die Tür öffnete sich und Robert König erschien, der junge Vizepräsident der Frankfurter Polizei. Wie immer trug er einen eleganten dunklen Anzug mit der farblich passenden Krawatte. Er hatte blonde, mittellange Haare, eine schlanke Figur und war wohl ein wenig älter als sie. Es hieß, dass er ein exzellenter Jurist war, der mit zwei Prädikatsexamen ausgestattet war.

„Morgen, Linda.“ Er blieb im Türrahmen stehen. „Steffen dürfte auch auf dem Weg zu dir sein. Ich habe ihn extra angerufen, weil ich mit euch was zu besprechen habe. Es gibt neue Arbeit für euch.“

Auf dem Flur waren schon Steffens schwere Schritte zu hören, die von den Biker-Stiefeln herrührten. Steffen, Anfang fünfzig und mit langer grauer Lockenpracht, drängte sich dicht an Robert vorbei. Trotz der Wärme des Tages, die sich bereits ankündigte, hatte er die geliebte Lederjacke mit dem Echtpelzkragen unter den Arm gequetscht.

Was will der denn bei diesem Wetter mit seiner dicken Lederjacke?, dachte Linda, als sie ihren Team-Partner erblickte. Manchmal war es schon merkwürdig mit ihm.

„Morgen“, sagte er knapp. „Was gibt es denn so Eiliges? Warum hast du uns so kurzfristig zusammengetrommelt, Robert?“

„Ich will es kurz machen“, sagte der, „vielleicht habt ihr schon davon gehört: Wir haben einen Leichenfund. Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, wurde gestern Mittag tot auf einer Autobahnraststätte aufgefunden.“ Er räusperte sich. „So, wie es im Augenblick aussieht, dürfte sie erwürgt worden sein. Ein brutales Sexualdelikt ist dabei nicht auszuschließen.“

Linda verzog ihre Miene, sie hasste solche Taten. Sie nahm einen Block und einen Kugelschreiber zur Hand und machte sich erste Notizen.

Steffen setzte sich auf den Stuhl vor Lindas Schreibtisch und drehte sich zu Robert um. „Soweit ich weiß, ermitteln da doch Inge und Klaus.“

„Ganz richtig“, sagte Robert lapidar. „Aber die beiden haben noch einen anderen aufwendigen Fall, daher wäre es gut, wenn ihr sie unterstützen würdet. Viel Erfolg wünsche ich euch.“ Der Vize drehte sich um, schloss die Tür hinter sich und war wieder verschwunden.

Linda stand auf und griff mit einer zügigen Handbewegung nach ihrer Handtasche. Da kullerte ein weißer Gegenstand, der etwas größer als ein Füller war, aus der Tasche heraus und rollte in Steffens Richtung. Er sah gebannt auf das Ding, das ihm immer näher kam.

„Verdammt, so ein Mist“, entfuhr es Linda. Hastig griff sie nach dem Schwangerschaftstest und steckte ihn wieder ein.

Steffen sah sie mit offenem Mund an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, sagte er verblüfft. „Bist du etwa schwanger, Linda?“

„Jetzt mal bitte nicht den Teufel an die Wand.“

„Und was meint Simon dazu?“

„Nun lass doch bitte mal die Kirche im Dorf, Steffen!“

BUMMS. Mit ihrem rechten Fuß, der in einem weißen Turnschuh steckte, stampfte sie auf den Fußboden auf. Gleichzeitig zog sie den Reißverschluss der Tasche zu. RATSCH.

„Ich habe den Test noch gar nicht gemacht, ich hatte noch keine Zeit dafür. Aber eines verspreche ich dir: Du bist natürlich der Allererste, der davon erfährt.“

„Sorry, Linda, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ist mir einfach so rausgerutscht. Tut mir echt leid.“

„Dann ist ja alles gesagt, was gesagt werden musste. Bist du so weit, Kollege? Können wir jetzt endlich los?“

„Klar, allzeit bereit“, erwiderte Steffen kleinlaut. Dann brachen sie auf.

ZWEI

Einige Tage zuvor, Maria

Ihr Handy läutete. Bei jedem Klingeln leuchtete das Display hell auf. Es war mitten in der Nacht, und Maria Gonzalez hatte überhaupt keine Lust, jetzt zu telefonieren. Aber es ging ja um das verdammte Geschäft. Sie griff nach dem Smartphone. Die Nummer war ihr bestens bekannt. Sie nahm das Gespräch an.

Ohne dass sie sich gemeldet hatte, sagte der Anrufer: „Hallo Maria, mein Schatz, gut, dass ich dich noch erreiche. Ich möchte eine Bestellung aufgeben.“

Er klang fordernd. Maria spürte, dass er unter Stress stand, und sie hörte schon an seiner Stimme, dass er mal wieder auf Droge war. Früher oder später würde er an seiner Sucht krepieren.

„Wir brauchen ein paar hübsche Mädchen“, nuschelte der Anrufer. „Du weißt schon, so ein paar geile Weiber, die selber richtig Spaß dran haben. So ganz junge Dinger wären dieses Mal nicht verkehrt. Meine beiden Freunde und ich wollen eine kleine, feine Party feiern, mit allem Drum und Dran. Du verstehst schon, was ich meine.“

Er lallte, und Maria malte sich aus, in welch desolatem Zustand er vor sich hin vegetierte. Als hätte man ihm ins Gehirn gepisst. Die Drogen nahmen seinen Verstand immer mehr in ihren Besitz. Aber ihr konnte das egal sein. Der Typ am Telefon war in ihren Augen nichts anderes als ein widerliches Arschloch, das auf Dope war.

Solche wie er gehörten zu ihrem Geschäftsmodell. Maria hatte sich damit abgefunden. Mit denen verdiente sie ihr Geld, und sie hatte sich mit den Kerlen zu arrangieren. Es waren ihre Kunden, und die zahlten gut für ihre Dienstleistungen.

In gewisser Weise war sie abgestumpft, dachte Maria. Sie hatte schon zu viel gesehen und am eigenen Leib erfahren.

„Maria, du weißt doch, worauf wir stehen“, raunte er ins Telefon. „Jung sollen die Mädchen sein. Und sie sollen unsere Sprache ein bisschen beherrschen. Du hast doch da sicher was in petto, oder? Du weißt ja, bei solchen Sachen verlasse ich mich zu hundert Prozent auf dich, Maria.“

Er schwieg einen Moment. „Du hast doch auch sonst immer prompt geliefert.“

„Na klar! Ich werde schon die passenden Mädchen für eure kleine Männerparty finden“, sagte sie und sorgte dafür, dass ihre Stimme leicht euphorisch klang. Doch das war nur gespielt. Maria war todmüde und hätte den Anrufer am liebsten auf den Mond geschossen.

„Aber sag mal“, fragte sie, „warum musst du mich für diese Geschichte morgens um zwei anrufen? Ich hatte schon tief und fest geschlafen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Morgen früh schicke ich dir Pics von den Mädchen auf dein Handy. Du kannst dann die, die du haben willst, anklicken. Schreib mir noch, wann und wohin sie kommen sollen. Um den Rest kümmere ich mich.“

„Geil! Maria, ich danke dir. Auf dich ist wirklich Verlass. Du weißt, es soll dein Schaden nicht sein.“

Damit legte er auf. Maria Gonzalez stellte das Telefon auf lautlos, um endlich ihre Ruhe zu haben. Was für ein kaputter Kerl, dachte sie. Morgen würde sie ihren Fundus an jungen Dingern sichten und eine Auswahl für ihn treffen.

DREI

26. Juli, Irina

Energisch klopfte Irina Wand an die massive Tür der Juniorsuite Nr. 104 des Frankfurter Grandhotels. Sie war gereizt. Es war ein heißer Sommertag, gegen 10 Uhr, und sie hatte gerade einen Anschiss von ihrem Chef bekommen, weil er sie bei einer unerlaubten Zigarettenpause erwischt hatte.

„Hier ist der Zimmerservice! Kann ich bitte hereinkommen? Ich möchte putzen und die Betten machen.“

Keine Reaktion. Sie klopfte erneut und hielt ihr Ohr an das Türblatt.

Nichts.

In dem knapp 140 Jahre alten Hotel in der Frankfurter Innenstadt verkehrten Gäste aus der ganzen Welt. Das Haus hatte etwas Zeitloses an sich. Gern versetzte sich Irina in ihren Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie liebte es, sich vorzustellen, wie gekrönte Häupter das Hotel besucht hatten und mit ihrer Entourage hier verweilten, in dem intimen Innenhof wandelten und an festlich gedeckten Tafeln speisten.

Heute hatte sie dafür allerdings keine Zeit, ihre Kollegin hatte sich krank gemeldet und Irina hatte viel zu erledigen. Ihr Chef war schon ein richtiger Tyrann. Man konnte kaum einmal eine Minute verschnaufen, ständig stand man unter seiner Kontrolle.

„Zimmerservice! Ich komme jetzt rein.“

Genervt nahm Irina die scheckkartengroße Generalkarte aus der rechten Tasche ihrer Schürze. Sie verschaffte ihr Zutritt zu allen 303 Gästezimmern des Hotels.

Plötzlich öffnete sich die gegenüberliegende Tür. Aus dem Zimmer kam ein Mann. Er schob einen silbernen Rollkoffer vor sich her, in seiner Linken trug er einen dünnen Sommermantel.

Der Gast musterte Irina unangenehm lange und sagte dann gedehnt: „Einen wunderschönen guten Tag, junge Frau. Möchten Sie sich vielleicht etwas Taschengeld verdienen? Ich hätte vor meinem Termin noch ein wenig Zeit ...“

Empört schüttelte Irina den Kopf, schob hastig ihren Wagen in die Suite und schlug die Tür hinter sich zu. Draußen hörte sie das Lachen des Mannes. Was für ein widerwärtiger Kerl! Zum Glück war er ihr nicht gefolgt.

In der Juniorsuite war es dunkel, die Fenster waren hinter den samtenen Vorhängen komplett verborgen. Das Einzige, was Irina sah, war das regelmäßige Aufblinken der Standby-Leuchte des Fernsehgeräts. Das Licht irritierte sie. Immerhin war es angenehm kühl, die Klimaanlage wohl voll aufgedreht.

Es war absolut still, kein Geräusch drang von draußen herein. Für einen Moment erschien ihr der Raum wie eine Kapsel, die von der Außenwelt abgeschottet war.

Instinktiv spürte Irina, dass etwas nicht stimmte. Es war ein unbestimmtes Gefühl, eine Ahnung, doch sie fühlte eine körperliche Anspannung. Plötzlich fiel ihr das Atmen schwer.

Irina tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür, und augenblicklich erhellte das sanfte Licht des alten Kronleuchters den Raum.

Irina drohten die Füße wegzusacken, sie klammerte sich am Servierwagen fest.

Auf dem Kingsize-Bett lag ein nackter Mann, an den Händen und Füßen gefesselt, daneben war ein riesiger brauner Fleck auf dem Laken.

„Großer Gott!“ Irina war entsetzt und konnte doch ihren Blick nicht abwenden. Sie war wie erstarrt. Dann erkannte sie, dass an der Stelle der Geschlechtsteile eine große Wunde klaffte. Penis und Hoden lagen in den gefesselten Händen des Toten. Nun nahm sie auch den Geruch nach Blut wahr, den die Klimaanlage wohl weitgehend herausgefiltert hatte.

Irina würgte, riss die Hände vor den Mund und stürzte hinaus. Hinter ihr fiel die Zimmertür ins Schloss. Während sie, so schnell es ihr in den unbequemen Arbeitsschuhen möglich war, in Richtung Rezeption lief, dachte sie – völlig irrational, wie ihr sofort klar wurde –, dass sie das viele Blut wahrscheinlich nie wieder wegbekommen würde.

VIER

Steffen parkte seinen alten Jaguar direkt vor dem Eingangsportal des Grandhotels. Es war ein dunkelblauer XJ6, Serie III, Baujahr 1988, ein elegantes Gefährt mit einer geschwungenen Form, die sich zum Heck hin verjüngte. Wenn man vor dem Fahrzeug stand, war man über seine schiere Länge erstaunt. Es hatte schwarze Sitze aus feinem Leder. Die beiden Tankdeckel aus Chrom saßen oben auf den Kotflügeln und fielen wegen ihrer Größe gleich ins Auge. Das Fahrzeug war optisch und technisch in einwandfreiem Zustand. Es wurde von Steffen gehegt und gepflegt. Mit seiner „Katze“ war er bei der Verbrecherjagd immer stilgerecht unterwegs. Und hier vor dem Grandhotel machte sie eine ausgesprochen gute Figur.

Weniger passend war wohl seine Kleidung, dachte er. Hemd, Jeans und Boots waren in dem Ambiente wohl eher nicht üblich, aber das war ihm herzlich egal. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich für die feinen Leute, die hier für teures Geld residierten, extra herauszuputzen.

Überhaupt war seine Bereitschaft, sich mit allen möglichen Leuten zu arrangieren, auf ein Minimum reduziert. Immer wieder hatte er die grauenhaften Bilder vom Strand vor seinen Augen. Was hätte er bloß dafür gegeben, wenn es einen Schalter gäbe, um sie einfach wegzuknipsen. Bei dem Gedanken daran wurde ihm flau. Aber er musste sich zusammenreißen. Jetzt bloß nicht sentimental werden, dachte er.

Von der Zentrale war Steffen darüber informiert worden, dass die Spurensicherung bereits auf dem Weg zum Grandhotel war. Sie würde in Kürze vor Ort sein. Er würde erst einmal die Lage eruieren, damit Robert entscheiden konnte, ob sie sich ganz auf diesen Fall konzentrieren sollten.

„Vermutlich hat es einen Geschäftsmann aus der Provinz dahingerafft“, hatte Robert gesagt. „Beziehungstat oder Raubüberfall, schätze ich, das Übliche halt. Schau's dir bitte mal an.“

Linda war im Präsidium geblieben, um Inge und Klaus bei dem Raststättenmord zu unterstützen.

Steffen marschierte direkt zum Empfang des Hotels und wies sich mit seinem Dienstausweis aus.

„Der Generaldirektor ist benachrichtigt worden. Wir haben Sie schon erwartet“, sagte der Mitarbeiter. „Herr Büssing wird jeden Augenblick hier sein und Sie in Empfang nehmen, Herr Kommissar. Wenn Sie bitte für einen Moment dort Platz nehmen möchten.“ Er wies auf einen ausladenden Sessel.

Steffen setzte sich und beobachtete das emsige Treiben. Im Zentrum des Foyers stand ein prächtiges Blumengebinde, das bis zur Decke reichte. Gäste checkten aus, andere legten ihre Ausweise vor, um das gebuchte Zimmer zu beziehen. Es war ein ständiges Gemurmel und Geraune zu hören. Pagen bugsierten die Gepäckstücke mit Wagen durch das Hotel und verfrachteten sie in die Zimmer. Gäste, die einen Tisch im beliebten Restaurant Nero reserviert hatten, nahmen den Weg durch das Foyer als willkommene Abkürzung.

Ein Mann im dunklen, maßgeschneiderten Anzug mit grauen Nadelstreifen erschien an der Rezeption und schaute sich suchend um. Die glänzend polierten braunen Budapester-Lederschuhe hatten sicher ein kleines Vermögen gekostet. In seiner Brusttasche steckte ein weißes Seidentuch.

Als er Steffen erblickte, stelzte er zielstrebig auf ihn zu.

„Ich begrüße Sie, mein Name ist Carl Büssing. Carl mit C.“ Er räusperte sich. „Ich bin der Generaldirektor dieses Hauses, des führenden Hotels in Frankfurt am Main. Ich stehe Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.“

Steffen stand auf. „Kriminalhauptkommissar Steffen Anbach von der Mordkommission Frankfurt. Ich leite die Ermittlungen.“

Während Steffen sprach, musterte der Direktor ihn von oben bis unten und verzog leicht den Mund. Mit den etwas zu langen grauen Locken und dann noch mit der abgewetzten Jeans passte er offenbar nicht in das Bild, das Büssing von einer funktionierenden Polizei hatte.

Auf Steffen wirkte Büssing vom ersten Moment an arrogant und unsympathisch. Menschen, die andere nur nach dem Äußeren beurteilten, ertrug er nicht.

Als Steffen den Dienstausweis vorzeigen wollte, winkte Büssing ab. „Bitte lassen Sie uns wegen der Gäste jedes nur denkbare Aufsehen vermeiden“, sagte er und sah Steffen streng an. „Das ist ein sehr renommiertes Haus, wie Sie vielleicht wissen, Herr Anbach. Es mag durchaus sein, dass es das mit Abstand angesehenste Haus in ganz Frankfurt ist. Aus diesem Grund brauchen wir, wie Sie sicherlich nachvollziehen können, keine negativen Schlagzeilen. Das kommt bei unseren vornehmen Gästen, die zum Teil auch inkognito bei uns verweilen, aus naheliegenden Gründen überhaupt nicht gut an. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“

So eindringlich er auch sprach, auf Steffen wirkte er dünnhäutig und nur mäßig belastbar.

Er hob nur leicht die Schultern. Er war hier, um einen guten Job zu machen. Dabei war keine übertriebene Rücksicht auf diesen Wichtigtuer von Direktor zu nehmen, der die Tragweite dessen, was in seinem Haus vorgefallen war, offenbar noch gar nicht verstanden hatte.

„Ich will sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich aber leider nichts“, entgegnete Steffen. „Es gibt Vorschriften und klare Anweisungen, die ich zu beachten habe.“

In dem Moment traf das vierköpfige Team der Spurensicherung ein. Der Trupp war bereits mit weißen Overalls ausgestattet und zog schwere Alukoffer hinter sich her. Mit einem Mal beherrschten sie die Szenerie, als wären die leibhaftigen Ghostbusters erschienen. Gott sei Dank war keiner von ihnen so laut wie der lustige Bill Murray, der im Film den Dr. Peter Venkman mimte, dachte Steffen. Ein Peter Venkman hätte den Generaldirektor komplett aus der Fassung gebracht.

Mit Martin Henze, dem Leiter der Spurensicherung, hatte Steffen schon oft zusammengearbeitet. Er war ein schwerer, zuverlässiger Mann, der stets tadellose Befunde ablieferte.

Martin gab Steffen die Hand und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Als Carl Büssing sich ihm vorstellte, vergaß er nicht, ausdrücklich anzumerken, dass sein Vorname mit „C“ geschrieben wurde. Martin nahm das stumm und desinteressiert zur Kenntnis.

„Der Tote liegt auf Zimmer 104“, erklärte Büssing dann. „Es handelt sich dabei um eine unserer schönen Juniorsuiten, die bei den Gästen unseres Hauses ganz besonders beliebt sind. Wenn Sie mir bitte möglichst unauffällig folgen möchten.“

Angesichts der weißen Overalls war das allerdings schlecht möglich. Zahlreiche Blicke begleiteten sie.

Mit dem Fahrstuhl erreichten sie den ersten Stock. Sie marschierten über den Gang bis zur Juniorsuite Nr. 104. Auf dem weichen Teppich war das Surren der Alukoffer-Rollen nicht mehr zu hören.

Vor der Suite zückte Büssing die Generalkarte. Mit einem Summen öffnete sich die schwere Tür.

Steffen nahm sofort den spezifischen metallischen Geruch wahr, an dem der erfahrene Ermittler unweigerlich den Austritt einer großen Menge von Blut erkannte.

Der Geruch schlug ihm auf den Magen und brachte schlagartig Erinnerungen zurück, die er dringend beiseiteschieben musste, um weiterhin zu funktionieren. So konnte es mit ihm, Gott bewahre, einfach nicht weitergehen. Über kurz oder lang würde er professionelle Hilfe benötigen. Er steckte seine zitternden Hände in die Hosentaschen.

Im Moment nahm er noch Vorlieb mit einer speziellen Atemtechnik, die er sich aus einem Video antrainiert hatte. Seine Tochter Lilli, eine Studentin der Medizin, die er, was sein persönliches Schicksal anging, aber nicht eingeweiht hatte, hatte es ihm geschickt.

Er hatte kalten Schweiß auf der Stirn und Panik davor, dass ihm die Beine einfach so wegklappen würden. Er atmete tief ein und aus und riss sich ein weiteres Mal zusammen. Wie lange das noch gut gehen würde, war ihm ein Rätsel. Er war fast am Ende seiner Energiereserven angelangt.

Vor Linda hatte er seinen Zustand nicht verbergen können, und so hatte er sie eingeweiht. Die hatte bloß gemeint: „Oh Mann! Aber wir haben immer noch uns, auch wenn wir ganz schön in der Scheiße stecken.“ Und dafür war er ihr unendlich dankbar.

Nun betrat er als Erster das Zimmer und machte Licht. Die Fenster waren mit schweren Vorhängen verdunkelt.

„Wurde in diesem Raum irgendetwas angefasst oder verändert?“, fragte er den Hoteldirektor.

„Meines Wissens nach nicht. Für die Gott sei Dank seltenen Fälle dieser Art gibt es klare Anweisungen, die von unseren Mitarbeitern auf das Genaueste einzuhalten sind.“ Er räusperte sich.

Einer der Kriminaltechniker kramte im Gang ein Spotlight aus seinem Koffer. Die Lampe warf gleißend helles Licht auf das Bett.

Steffen betrachtete den Toten. Der überwiegende Teil des Blutes war angetrocknet. Die Leiche wirkte blass, sah beinahe bläulich aus. Offenbar war sie ausgeblutet.

Bei einem ausgewachsenen Mann geschah das, abhängig von seiner Körpergröße und der Größe der Wunde, innerhalb weniger Stunden. Bereits der Verlust von rund eineinhalb Litern Blut war lebensbedrohlich. Steffen vermutete, dass der Tote mindestens vier bis fünf Liter verloren hatte.

Unvermittelt fiel sein Blick auf die Stelle, an der sich normalerweise die Geschlechtsteile befanden. Im Bruchteil einer Sekunde realisierte er, dass Glied und Hoden kunstvoll in den gefesselten Händen drapiert waren. Das war ein skurriler Anblick. So was hatte selbst Steffen als alter Hase noch nie gesehen.

Die Schnittwunde war offenkundig sauber. Anscheinend wurde ein extrem scharfer Gegenstand für die Amputation verwendet.

„Vorbehaltlich der noch durchzuführenden Obduktion durch die Gerichtsmedizin“, begann Martin, der sich über die Leiche gebeugt hatte, „gehe ich vorläufig davon aus, dass der Tote an seiner Schnittverletzung verblutet ist. Andere äußere Verletzungen kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen.“

Spurensicherung ist etwas, bei dem einem niemals ein Fehler unterlaufen darf, pflegte Martin immer wieder zu betonen. Und er war bei seiner Arbeit genau und gewissenhaft. Er war kaum aus der Ruhe zu bringen, dabei hatte er schon viele grausige Funde gesehen und untersucht. Steffen schätzte seine nüchterne und profunde Art.

Er nickte Martin wortlos zu. Was war hier vorgefallen? Wer war der Tote, und warum wurde er auf diese grausige Art und Weise getötet? Steffen war sich sicher, dass sich ein komplexer Hintergrund hinter dem Szenario verbarg.

Er ließ den Blick durch das Hotelzimmer schweifen, suchte nach Auffälligkeiten und Besonderheiten. Er hatte das Gefühl, dass der Tatort inszeniert worden war. Alles wirkte irgendwie künstlich. Die gesamte Suite vermittelte nicht den Eindruck, als hätte sich der Gast dort eingerichtet.

„Wo sind seine persönlichen Sachen?“, fragte er. „Hier ist alles komplett steril.“

Martin bestätigte das. Er rief seinen Leuten zu: „Habt ihr was gefunden?“

„Zero“, erwiderte einer der Spurensicherer. „Im gesamten Hotelzimmer ist kein einziger Gegenstand, der dem Toten zugeordnet werden kann. Anhaltspunkte für seine Identität gibt es auch keine. Die Suite ist völlig clean.“

„Okay“, sagte Steffen. „Macht bitte die üblichen Untersuchungen zur Auswertung. Und sorgt ihr dafür, dass der Rechtsmediziner informiert wird? Die Leiche muss obduziert werden.“

Das war nicht im Affekt geschehen, keine Beziehungstat und auch kein Raub, überlegte er. Hier hatte ein eiskalt und von langer Hand geplanter Mord stattgefunden. Was hieß, dass Linda und er wieder zahlreiche Überstunden schieben würden.

Steffen drehte sich zu Büssing um, der blass und regungslos neben der Tür der Juniorsuite stand und vor sich hin starrte. Offensichtlich hatte ihm der Anblick der gefesselten und kastrierten Männerleiche, die da in seinem renommierten Grandhotel lag, die Sprache verschlagen.

Als Steffen ihn ansprach, zuckte er leicht zusammen.

„Herr Büssing, ich benötige von Ihnen dringend eine Liste sämtlicher Angestellter, die mit dem Toten zu tun hatten“, sagte er. „Und ich muss wissen, wer er war und was er hier wollte. Bitte klären Sie für mich, unter welchem Namen der Tote eingecheckt hat und welche Kreditkarte er gegebenenfalls hinterlegt hatte. Außerdem möchte ich mit dem zuständigen Mitarbeiter vom Empfang sprechen.“

„Selbst...“, Büssing räusperte sich, „selbstverständlich. Seinen Namen habe ich schon rausgesucht. Er heißt Elmar Herder und kommt aus Offenbach. Zumindest hat er sich mit diesem Namen eingetragen.“

„Danke. Schicken Sie mir bitte alle weiteren Informationen an diese E-Mail-Adresse.“ Steffen überreichte ihm die letzte Visitenkarte, die in seiner Brieftasche steckte.

„Natürlich. Sie können sich ganz auf mich verlassen, Herr Kommissar. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen und mit allen infrage kommenden Mitarbeitern persönlich sprechen und Ihnen die gewünschten Informationen so schnell wie nur möglich zur Verfügung stellen.“

Mit knappen Worten bedankte und verabschiedete sich Steffen.

FÜNF

Einige Zeit früher, Ivo

Seit zwei Wochen, immer pünktlich ab sieben Uhr am Abend, saß Ivo Brehm im ersten Stock seiner aus dem 19. Jahrhundert stammenden Villa und schaute stumm aus dem Fenster. Dabei verbarg er sich geschickt hinter einem Vorhang. In seiner Hand hielt er ein kleines Fernglas, wie Jäger es häufig benutzten, wenn sie bei der Ansitzjagd nach Wild Ausschau hielten.

Ivo war Ende dreißig und rappeldürr. Bekleidet war er wie immer mit einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Jeans. Er hatte schulterlanges braunes Haar und Zeit. Richtige Freunde hatte Ivo keine.

Wie jeden Abend richtete er das Fernglas auf die moderne Penthouse-Wohnung gegenüber. Dank der großen Glasfront konnte er die junge Frau, die das Ziel seiner Beobachtung war, nicht nur dann ins Visier nehmen, wenn sie sich draußen auf der Dachterrasse aufhielt, sondern auch, wenn sie sich im Inneren bewegte.

Jetzt sah Ivo, wie sie, bekleidet mit einem weißen Bademantel, mit einem Cocktail in der Hand das Wohnzimmer verließ und die große Terrasse betrat. Sie machte es sich in der Abendsonne auf dem Outdoor-Sofa gemütlich. Er sah genau zu, wie sie einen Schluck trank, das Glas auf einem Tisch abstellte und ihr langes brünettes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband.

Völlig bewegungslos betrachtete Ivo sie. Er beobachtete, wie sie aufstand, bei einer der Grünpflanzen trockene Blätter abzupfte und sie in den Pflanzentopf warf. Auch als sie ihr Smartphone nahm und telefonierte, starrte er sie durch sein Fernglas an. Nur allzu gerne hätte er gewusst, mit wem sie sprach.

Ohne das Fernglas aus der Hand zu legen, griff Ivo nach der Schachtel Zigaretten vor ihm auf dem Tisch. Er klopfte eine Camel heraus, zündete sie an und zog den Rauch genüsslich ein.

Ivo lebte schon immer hier, solange er denken konnte, und er wollte niemals weg. Hier gefiel es ihm, und alles war komfortabel. Die Villa war seit Generationen in Familienbesitz. Sein Großvater hatte sie bauen lassen. Ein helles Jugendstil-Gebäude mit drei Etagen und prächtigen Balkonen. Die Villa war größer als die Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft, auch wenn sie alle etwa in derselben Zeit hier in Wiesbaden-Sonnenberg entstanden waren.

Vor fünf Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, die er lange in dem Haus gepflegt hatte, hatte Ivo die Villa geerbt. Seitdem hatte er sich nicht mehr um den einstmals kunstvoll angelegten Garten gekümmert, der sich auf über zweitausend Quadratmetern erstreckte. Er war der ganze Stolz seines verstorbenen Vaters und des Großvaters gewesen. Sie hatten jede freie Minute darauf verwendet, ihn zu hegen und zu pflegen. Selbst die Züchtung einer eigenen Rosensorte war ihnen gelungen. Doch die großen, jahrzehntealten Rosenbüsche, die den parkähnlichen Garten wie eine Hecke abschirmten, waren in den letzten fünf Jahren nicht mehr zurückgeschnitten worden. Heute wirkten sie traurig und vernachlässigt.

Seit er das Haus besaß, war auch der historische Gartenteich nicht mehr gereinigt worden, und das Wasser, in dem eine tote Taube schwamm, war modrig und stank. Ivo interessierte das alles nicht.

Er wusste nur wenig über die junge Frau aus dem Penthouse, aber das würde sich bald ändern, dachte er und nahm sich eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Er würde wahrscheinlich die halbe Nacht hier sitzen bleiben und sie auf Schritt und Tritt beobachten. Zumindest nahm er sich das vor, und wenn sich Ivo etwas vornahm, dann zog er es durch. Mit der Zeit würde sich das vermutlich ändern, aber jetzt fand er es okay so, wie es war.

SECHS

Auf der Rückfahrt zum Präsidium rief Steffen Linda an, setzte sie ins Bild und bat sie, alles zu checken, was sie über einen Elmar Herder aus Offenbach finden konnte.

Keine fünf Minuten später klingelte Steffens Smartphone.

„Der Tote aus dem Grandhotel“, sagte Linda aufgeregt, „das kann unmöglich Elmar Herder aus Offenbach sein!“

„Wieso das?“

„Weil eine Person mit diesem Namen vor Kurzem tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Es laufen noch Untersuchungen, ob der Mann an einem natürlichen Tod gestorben ist oder ob er das Opfer einer Gewalttat wurde.“

„Na prima, das fängt ja gut an“, sagte Steffen und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.

Schon eine knappe Stunde später erhielt er die versprochene E-Mail des Hoteldirektors Carl Büssing. Der Inhalt der Nachricht war ernüchternd: Kein einziger Mitarbeiter des Grandhotels erinnerte sich an den Gast aus der Juniorsuite Nr. 104. Niemand war in der Lage, Auskunft zu geben, ob die Person das Haus allein oder in Begleitung betreten hatte. Eingecheckt hatte der Gast offenbar unter falschem Namen, es wurde eine gefälschte Kreditkarte hinterlegt. Eine Kopie der Karte und die Angaben aus dem Gästebuch des Hotels waren Büssings Nachricht angehängt.

Auch die Befragung des Rezeptionisten, dem Steffen ein Foto von dem Toten gezeigt hatte, hatte zu keinem Ergebnis geführt. Es war zum Verrücktwerden: Niemand konnte sich an den Mann erinnern, den sie in der Suite gefunden hatten.

Steffen stützte sein Kinn auf die Hände. Wer war der Tote aus dem Grandhotel? Er hasste es, derart im Dunkeln zu tappen.

Er leitete die Mail an Linda weiter und verabredete sich mit ihr in einer halben Stunde, um mit ihr in aller Ruhe den neuen Fall zu besprechen und die weiteren Schritte zu planen.

SIEBEN

Vor vier Tagen, Nikki

Nach ihrer Arbeit im Museum der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden joggte Nikki von Nastätten durch den Kurpark. Nikki hatte in München und Florenz Kunstgeschichte und Soziologie studiert. Ihren Master of Arts hatte sie an der Akademie der Bildenden Künste in München als Jahrgangsbeste abgelegt. Seit knapp vier Monaten organisierte sie eine Ausstellung über die Malerei der Neuzeit, ihr absolutes Lieblingsthema.

Die damit verbundenen Herausforderungen waren gewaltig und verlangten Nikki einiges an Kraft ab. Der Aufwand würde es aber wert sein, dachte sie. Sie war fest davon überzeugt, sich über kurz oder lang in der Kunstwelt einen klangvollen Namen als Kuratorin zu verschaffen.

Der Kurpark erstreckte sich vom Kurhaus auf Höhe der Wilhelmstraße bis an den Ortskern von Wiesbaden-Sonnenberg und war vor mehr als 150 Jahren im Stil eines englischen Landschaftsgartens angelegt worden. An den Hängen darum herum dehnten sich Villengebiete aus der Gründerzeit aus.

Als Nikki am frühen Abend vom Laufen nach Hause kam, war ihr Lebensgefährte Paul Martin schon in ihrer gemeinsamen Wohnung. Vor dem Haus hatte sie seinen Wagen am Rand des Bürgersteigs stehen sehen. Dass Paul um diese Uhrzeit zu Hause war, war ungewöhnlich. Üblicherweise war er nicht vor acht Uhr zurück aus seiner Computerfirma in Frankfurt am Main.

Umso besser. Dann könnten sie gemeinsam den Abend miteinander verbringen und zum Italiener gehen. Eilig schloss Nikki die Haustür auf. Paul wartete sicher schon auf sie.

Was Nikki nicht wusste, war, dass Paul den Abend bereits komplett durchgeplant hatte.

ACHT

„Was wissen wir denn Neues über den Toten aus dem Hotel?“, fragte Linda, noch während sie die Tür von Steffens Büro öffnete. Sie strahlte ihn erwartungsvoll an. „Bei der Toten von der Raststätte geht leider nichts voran.“

Wie war es möglich, dass Linda stets bester Laune und immer hoch motiviert war?, fragte er sich. Er sah ihr zu, wie sie leichtfüßig durch den Raum tänzelte. „Erzähl ich dir gleich. Setz dich doch erst mal, Linda!“

Sie arbeiteten nun seit knapp einem Jahr miteinander und waren zu einem routinierten Ermittlerteam zusammengewachsen. Steffen wusste allerdings, dass nicht wenige seiner geschätzten Kollegen der Überzeugung waren, dass Linda die bessere Hälfte des Duos verkörperte. Zweifelsohne war sie der diplomatisch begabtere Teil.

Steffen wusste, dass er bei der Mordkommission dafür bekannt war, mit den Kollegen keine engen freundschaftlichen Kontakte zu pflegen. Er war nicht der Typ Polizist, der nach Dienstschluss mit den anderen in der kleinen Kneipe gegenüber dem Polizeipräsidium einen Absacker trank. Sein Privatleben behielt er lieber für sich. Er ließ nur wissen, dass er geschieden war und seine Tochter Lilli in Wien Medizin studierte.

An den Stammtischen, die Robert König turnusmäßig für die Kommissare organisierte, nahm Steffen seit rund einem halben Jahr auch nicht mehr teil. Seine Gründe dafür hatte er dem Vize noch nicht im Detail mitgeteilt. Dabei wusste er, dass dieser darüber verwundert war, weil sie doch Freunde waren. Es hatte einfach noch nicht den richtigen Moment gegeben, um ihn komplett ins Bild zu setzen. Außerdem war Steffen sich sicher, dass Linda den Vize zu gegebener Zeit vorwarnen würde. Das war so ein Frauending, das sie einfach drauf hatte. Steffen war noch nicht bereit, darüber zu reden, dafür brauchte er noch mehr Zeit.

Linda war in solchen Dingen viel offener als er. Und sie sah auch besser aus, dachte Steffen schmunzelnd. Er arbeitete gern mit ihr zusammen. Er mochte sie auf seine zurückhaltende Art, die er häufig gegenüber Frauen an den Tag legte.

„Sag mal, Steffen“, sagte Linda zögerlich, als sie sich gesetzt hatte, „wie geht es eigentlich deinem alten Herrn, dem Opa Otto?“

„Wie kommst du denn jetzt auf den?“, fragte Steffen überrascht.

„Ach, bei dem Raststättenmord gab es einen Zeugen, der leicht dement war, da musste ich an ihn denken.“

„Verstehe. Nun, es ist nicht leicht, er bereitet mir eine Menge Sorgen“, antwortete Steffen mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Er wird wohl nicht mehr lange zu Hause leben können. Ich muss für ihn dringend einen Platz in einem Pflegeheim finden.“

„Ist es denn wirklich so schlimm?“

„Noch bedeutend schlimmer. Das Übelste dabei ist sein ungeheurer Tatendrang. Es vergeht nicht eine Woche, in der er nicht ausreißt oder die komplette Nachbarschaft unsicher macht. Die Leute stehen beinahe Kopf. Ich kann das auch gut nachvollziehen. So wie im Moment kann es einfach nicht mehr weitergehen.“

„Was ist denn jetzt wieder passiert?“

„Aktuell? Er zündelt. Der alte Herr, zuletzt Honorarprofessor für Frauenheilkunde, zündelt. Kein Busch und kein Baum ist vor ihm sicher. Er ist fest davon überzeugt, dass sich das Böse in den Gewächsen versteckt. Und er will es ausmerzen.“

„Oh je, das hört sich aber gar nicht gut an.“

„Du bringst es auf den Punkt.“ Er wischte sich mit seinem Handrücken über die Lippen. „Wenn ich mir überlege, was dieser Kerl mal für ein Typ war. Oh Mann. Ob in der Klinik oder zu Hause, alles musste immer nach seiner Pfeife tanzen. Wenn es sein musste, ist Otto auch mit dem Kopf durch die Wand gerannt. Hauptsache er bekam seinen eigenen Willen durchgesetzt. Er war ein Egoist.“

„Ich stelle mir das nicht immer einfach vor, wenn man so einen dominanten Vater hat“, merkte Linda vorsichtig an.

„Das ist auch nicht einfach, das kannst du mir glauben. Das kann dich an deine Grenzen bringen“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Vermutlich ist das auch der Grund dafür, warum ich so früh von zu Hause weggegangen bin und schließlich bei der Polizei gelandet bin.“

„Erzähl doch mal!“

„Direkt nach dem Abi hab ich von heute auf morgen in den Sack gehauen. Da bin ich mit meinem ersten Motorrad, einer gebrauchten BMW R 80, zum Leidwesen meiner Mutter Elfie nach Italien gebrettert.“

„Mhhm“, machte Linda.

„Ich bin bloß so durch die Gegend gefahren. Ohne konkretes Ziel und ohne jeden Plan. Das war damals mein Gefühl von Freiheit. Da war mal keiner, der sagte: Steffen tue dies oder tue das.“

„Hört sich gut an.“

„Das waren richtige kleine Fluchten. Wer so was niemals erlebt hat, der weiß gar nicht, was das echte Leben eigentlich bedeutet.“

Linda wackelte mit dem Kopf. „Und was hat dich dann später zur Polizei verschlagen?“

„Ob du es glaubst oder nicht, heute hört sich das vielleicht ein wenig albern oder sogar peinlich an, aber ich wollte, dass die Welt ein wenig gerechter wird. Und meinen eigenen kleinen Beitrag dazu leisten.“

Linda sah ihn fragend an. „Ist dir das denn gelungen?“

Steffen richtete sich im Sessel auf. „Ich glaube schon. Als ich damals bei unserem Verein anfing, da waren es schon noch andere Zeiten. Wenn ich so an die ersten Demos denke oder an die ganzen Hausbesetzungen in der Stadt ... Das artete damals immer schnell in einer staatlichen Prügelorgie mit viel Blutvergießen aus. Da wurde nicht groß Rücksicht auf Verluste genommen. Zack, zack ging das damals.“ Er machte eine entsprechende Handbewegung.

„Und dein Vater Otto, wo stand der?“

„Der ...“ Steffen lachte angestrengt. „Der war stramm konservativ. Dem ging es immer nur darum, Chefarzt in der Frauenklinik zu werden, wo auch alle Schwestern stets nach seinen Anweisungen springen mussten. Und jetzt ist er von heute auf morgen wieder zu einem Kind geworden, das auf ständige Hilfe angewiesen ist.“

„Ja, so ist der Lauf des Lebens. So kann es einem ergehen“, sagte Linda voller Mitgefühl.

NEUN

Einige Zeit früher, Ivo

Ivo hatte die eigene Jugend mehr überstanden als genossen oder gefeiert. Seine verstorbenen Eltern hatten dafür gesorgt, dass er ein behütetes Leben führte. Kontakt zu fremden Menschen hatte Ivo zeit seines Lebens nur selten. Eine geregelte Arbeit verrichtete er dank seines Erbes nicht. Er war nicht reich, hatte aber Vermögen, wie er selbst gerne ins Feld führte.

Ivo war nicht sonderlich groß. Seine Klamotten kaufte er bevorzugt bei Mode-Discountern. Die Marke mit dem Pferd mit den drei Punkten in Blau, Grün und Rot war früher seine Lieblingsmarke gewesen. Selbst heute wurde Ivo häufig nur in den Kinderabteilungen der großen Kaufhäuser fündig, wenn er mal was Neues brauchte, was aber nicht so oft vorkam.

Auch in puncto Essen war Ivo nicht anspruchsvoll. Meistens genügte es ihm, wenn er irgendetwas mit Ketchup zur Hand hatte, was sich schnell herunterschlingen ließ. Niemals in seinem ganzen Leben hatte er ein Mädchen zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Es hatte sich nicht ergeben. Das Schicksal wollte es so.

Von seinem Fenster aus hatte Ivo gesehen, dass die Frau das Penthouse vor wenigen Minuten verlassen hatte. Er würde warten, bis sie zurück war, und dann wieder seinen Posten einnehmen, um sie weiter zu beobachten. Bis dahin stromerte er ohne konkretes Ziel durch die Nachbarschaft und durchwanderte Straße um Straße.

Auf dem Rückweg sah er, dass in der Eingangstür des Hauses, in dem die junge Frau lebte, ein dicker Schlüsselbund steckte. Er vermutete, dass es sich um die Schlüssel des Hausmeisters handelte, der sie offenbar vergessen hatte.

Ohne lange zu überlegen, drehte Ivo den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Er zog den Bund ab und betrat den Flur. In absoluter Ruhe betrachtete er die vielen Schlüssel in seiner Hand. An jedem war ein kleines farbiges Plastiketikett angebracht, auf dem mit deutlicher Handschrift geschrieben stand, zu welcher Wohnung er gehörte.

Ivo suchte gelassen nach dem Schlüssel, der für das Penthouse vorgesehen war. Er fand ihn schnell. Er hatte ein grünes Etikett, war kompakt und sah modern aus. Ivo schaute sich im Hausflur um und suchte nach dem Fahrstuhl. Im Aufzug steckte er den Schlüssel in ein Schloss, dann fuhr er direkt in die Etage der Penthouse-Wohnung. Dort öffnete er die Wohnungstür.

Mit kurzen Schritten stieg Ivo aus und sah sich vorsichtig um. Zunächst stand er im Flur. Er lief ihn entlang, bis er das große Wohnzimmer erreichte. Das Penthouse schien geschmackvoll und teuer eingerichtet zu sein, aber von modernen Möbeln hatte Ivo keine Ahnung. Er mäanderte durch die Wohnung, mit seinen Fingerspitzen berührte er immer wieder Gegenstände, während er gemächlich an ihnen vorbeiging.

Die letzten Meter des Flurs ließ Ivo seine Finger ununterbrochen an der Wand entlangstreifen. Er war auf der Suche nach dem Schlafzimmer der jungen Frau. Die nächste Tür war zugezogen. Vorsichtig drückte Ivo die Klinke herunter, öffnete einen Spalt weit und schaute in das Zimmer hinein. Er sah das Bett, das mitten im Raum stand, und freute sich, dass er gefunden hatte, was er suchte.

Ivo trat ein. Er sah sich konzentriert um und entdeckte an der Wand eine große Farbfotografie, die aus unendlich vielen kleinen Fotografien bestand. Das Motiv war die Frau, die er seit rund zwei Wochen bei jeder Gelegenheit beobachtete und ausspionierte.

Das Foto-Mosaik zeigte sie in einem kurzen weißen Sommerkleid aus Leinen. Die Fotos waren an einem sonnigen Tag vor einer Meeresbrandung aufgenommen worden. Sie winkte lachend in die Kamera.

Es war das Bild einer schönen Frau mit einem makellosen Körper und einem ansteckenden Lachen. Ivo war fasziniert. Er rückte einen Sessel zurecht, um es zu betrachten. Er faltete die Hände im Schoß und schaute es lange an.

Schließlich erhob sich Ivo wieder und inspizierte die beiden Nachttische rechts und links neben dem großen Bett. Er überlegte, auf welcher Seite die Frau wohl schlief. Als er sich sicher war, dass sie die linke Hälfte benutzte, zog er sich Schuhe, T-Shirt, Jeans, Socken und Unterwäsche aus und legte sich nackt auf ihre Betthälfte.

Dort blieb er liegen. Rund fünfzehn Minuten lang. Ivo war dabei absolut still. Nur gelegentlich schnupperte er wie ein kleiner Hund an der Bettwäsche der Frau, um ihren Geruch in sich aufzunehmen. So nah war er ihr noch nie, dachte er, und fühlte sich dabei glücklich wie schon lange nicht mehr.

Nachdem er meinte, genug von ihrem Geruch in sich aufgenommen zu haben, stand Ivo auf und zog sich in aller Ruhe wieder an. Sorgfältig stellte er den Sessel an seinen Platz zurück. Die Beine platzierte er genau in die Druckstellen, die er in dem weichen Teppichboden hinterlassen hatte. Die neuen Abdrücke wischte er mit der Hand weg. Niemand würde merken, dass er zu Besuch gewesen war.

Als Ivo sich aufmachte, das Penthouse zu verlassen, sah er im Vorbeigehen einen kleinen silbernen Ring mit einem Stein auf dem Sideboard im Schlafzimmer liegen. Er zögerte nicht einen Augenblick, sich den Schmuck in die Hosentasche zu stecken.

Sorgfältig schloss er die Wohnungstür ab und fuhr mit dem Fahrstuhl zurück ins Parterre.

Den Bund mit den zahlreichen Schlüsseln nahm er mit.

Zu Hause packte er ihn in den altmodischen Sekretär, der an der Wand stand. Den silbernen Ring legte er auf den kleinen Tisch vor dem Fenster neben seine Zigarettenschachtel.

ZEHN

Nikki

Erst vor rund einem halben Jahr waren Nikki und Paul in die Wohnung im Stadtteil Sonnenberg gezogen. Seitdem wohnten sie in dem hellen und großen Penthouse mit einem Blick weit über die hessische Landeshauptstadt hinaus. Davor hatten sie rund vier Jahre zusammen in einer stilvollen Altbauwohnung im Gallusviertel am Rande des Frankfurter Bahnhofsviertels gelebt. Aber dann wurde ihnen die Wohnung zu klein und sie wollten sich räumlich verändern. Der Umzug nach Wiesbaden war für das Paar ein Sprung ins kalte Wasser gewesen. In der neuen Stadt hatten sie keine Freunde oder engen Bekannten. Die Zukunft würde zeigen, ob sie hier Anschluss fanden und ob der Kontakt zu den Freunden in Frankfurt erhalten blieb.

„Hallo Schatz“, rief Nikki, als sie eintrat und ihren Schlüssel verstaute. „Ich bin zu Hause. Hast du schon einen Plan für heute Abend? Das Wetter ist wunderschön. Wir könnten uns irgendwo draußen in ein Lokal setzen und eine Kleinigkeit essen. Ich möchte gerne noch etwas mit dir unternehmen, und hungrig bin ich auch.“

Während sie redete, befreite sie sich von ihren Laufschuhen und schleuderte sie schwungvoll unter die Anrichte im Flur. Sie war bestens gelaunt und unternehmungslustig. Mit den Fingern löste sie das Haarband vom Zopf und zog es über das Handgelenk. Mit einem Ruck warf sie ihr langes brünettes Haar in den Nacken.

Offenbar hatte Paul sie nicht gehört, denn sie erhielt keine Antwort. Das war nichts Besonderes. Wenn Paul in seine Arbeit vertieft war, bekam er von der Welt nichts mehr mit.

Mit einem Lächeln betrachtete sie ihn, wie er mit dem Laptop im Sessel in seinem Arbeitszimmer saß, die Kopfhörer im Ohr. Sie liebte ihn. So, wie sie nie einen anderen Mann zuvor geliebt hatte.

„Hallo Paul.“ Nikki warf ihm einen Kussmund zu, doch er reagierte nicht, hatte nicht einmal aufgeblickt. „Schatz, hörst du mich?“

Keine Reaktion.

„Ich geh noch schnell unter die Dusche“, rief Nikki ihm zu.

Im Bad öffnete sie die Tür zur Duschkabine und stellte mit einem Handgriff das Wasser an. Gleich darauf zog sie sich aus und legte ihre Wäsche in den Korb aus Weidenholz.

Vor dem großen Spiegel betrachtete Nikki ihren schlanken und durchtrainierten Körper. Das förderte ihre Laune immens. Dann betrat sie die Dusche. In einem Schwall prasselte das Wasser auf sie nieder. Nach der Hitze des Tages war die erfrischende Dusche eine willkommene Gelegenheit zum Entspannen. Ausgiebig wusch sie sich ihre langen Haare und seifte ihren Körper mit einem nach Lavendel duftenden Schaum ein. Sie stellte das Wasser etwas kühler und rieb sich mit einem Naturschwamm ab.

Nachdem sie geduscht hatte, wickelte Nikki sich ein großes weißes Handtuch um die Taille. Mit einem zweiten, etwas kleineren Tuch rubbelte sie die Haare trocken.

Nikki griff nach einer Tube und cremte sich das Gesicht ein. Für Arme und Dekolletee nahm sie einen größeren Tiegel, auf dem japanische Schriftzeichen abgebildet waren. Ein kleiner Flacon enthielt ihr Lieblingsparfüm, und der Geruch nach indischem Patschuli breitete sich im Badezimmer aus.