Eismann - Pino Rauch - E-Book

Eismann E-Book

Pino Rauch

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Als die Tochter des Anwalts Peter Bender entführt wird, setzen ihm die Kidnapper ein Ultimatum: Wenn er seine Tochter wiedersehen will, muss er binnen 48 Stunden seinen Mandanten, einen Kronzeugen in einem spektakulären Prozess, ermorden. Für die Kommissare Steffen Anbach und Linda Sachse beginnt eine verzweifelte Suche nach dem Mädchen. Gleichzeitig machen sie Jagd auf den vermeintlichen Drahtzieher – und entwickeln einen ausgeklügelten Plan. Steffen Anbachs und Linda Sachses dritter Fall beginnt mit gleich mehreren Rätseln – und auch für die Leser*innen bleibt zunächst einiges im Unklaren. In parallel geschnittenen Handlungssträngen, aus mehreren Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen erzählt, entsteht ein vielschichtiges Bild, und erst nach und nach schälen sich die Zusammenhänge heraus. Die Frage, ob Peter Bender seinen Mandanten wirklich erschießen wird, bleibt jedoch lange offen – meisterhaft lässt Pino Rauch das in der Schwebe. Für Tempo und Spannung sorgen zahlreiche Wende- und Actionhöhepunkte ebenso wie die Sicht der entführten Sarah. Ein raffiniert gestrickter Krimi, der auch emotional mitreißt.

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Seitenzahl: 321

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Inhalt

Über den Autor8

Prolog. 8

25. Januar8

EINS. 8

ZWEI8

DREI8

VIER. 8

FÜNF. 8

Drei Tage vor dem Mord. 8

SECHS. 8

SIEBEN.. 8

Zwei Tage vor dem Mord. 8

ACHT. 8

NEUN.. 8

Einen Tag vor dem Mord. 8

ZEHN.. 8

26. Januar8

ELF. 8

Am Tag des Mordes. 8

ZWÖLF. 8

DREIZEHN.. 8

VIERZEHN.. 8

FÜNFZEHN.. 8

SECHZEHN.. 8

SIEBZEHN.. 8

ACHTZEHN.. 8

NEUNZEHN.. 8

ZWANZIG. 8

EINUNDZWANZIG. 8

ZWEIUNDZWANZIG. 8

DREIUNDZWANZIG. 8

VIERUNDZWANZIG. 8

FÜNFUNDZWANZIG. 8

SECHSUNDZWANZIG. 8

SIEBENUNDZWANZIG. 8

ACHTUNDZWANZIG. 8

27. Januar8

NEUNUNDZWANZIG. 8

DREISSIG. 8

EINUNDDREISSIG. 8

ZWEIUNDDREISSIG. 8

DREIUNDDREISSIG. 8

VIERUNDDREISSIG. 8

FÜNFUNDDREISSIG. 8

28. Januar8

SECHSUNDDREISSIG. 8

SIEBENUNDDREISSIG. 8

ACHTUNDDREISSIG. 8

NEUNUNDDREISSIG. 8

VIERZIG. 8

EINUNDVIERZIG. 8

ZWEIUNDVIERZIG. 8

DREIUNDVIERZIG. 8

VIERUNDVIERZIG. 8

FÜNFUNDVIERZIG. 8

SECHSUNDVIERZIG. 8

SIEBENUNDVIERZIG. 8

ACHTUNDVIERZIG. 8

NEUNUNDVIERZIG. 8

29. Januar8

FÜNFZIG. 8

EINUNDFÜNFZIG. 8

ZWEIUNDFÜNFZIG. 8

DREIUNDFÜNFZIG. 8

VIERUNDFÜNFZIG. 8

FÜNFUNDFÜNFZIG. 8

SECHSUNDFÜNFZIG. 8

SIEBENUNDFÜNFZIG. 8

ACHTUNDFÜNFZIG. 8

NEUNUNDFÜNFZIG. 8

SECHZIG. 8

EINUNDSECHZIG. 8

ZWEIUNDSECHZIG. 8

DREIUNDSECHZIG. 8

VIERUNDSECHZIG. 8

Einige Tage später8

FÜNFUNDSECHZIG. 8

Drei Wochen später8

Pino Rauch

Eismann

Der dritte Fall für Steffen Anbach und Linda Sachse

Kriminalroman

Impressum

Texte:                  © 2021 Copyright by Pino Rauch

Umschlag:          © 2021 Copyright by Mai Ky Tran

Verantwortlich

für den Inhalt:   Pino Rauch

[email protected]

Verlag: Pino Rauch

Druck:   epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Über den Autor

Pino Rauch ist ein Pseudonym. Der Autor, der sich dahinter verbirgt, wurde 1964 in Duisburg geboren und hat in Bayreuth und Mainz Jura studiert. Seit 1993 ist er Rechtsanwalt in Wiesbaden, wo er mit seiner Familie lebt und eine auf das Wirtschaftsrecht ausgerichtete Kanzlei führt. Nachdem Rauch seine ersten beiden Krimis mit den Titeln „Banden“ und „Kontrollverlust“ veröffentlicht hat, legt er mit „Eismann“ den dritten Teil einer Reihe vor, die im Rhein-Main-Gebiet spielt. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Dies ist ein Roman. Die Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Geschehnissen oder Personen ist reiner Zufall.

Prolog

25. Januar

Es war eisig kalt in dieser Nacht. Minus zwölf Grad zeigte das Thermometer an. Pausenlos fiel der Schnee vom Himmel, die Scheibenwischer kamen kaum hinterher.

Da war sie! Hastig setzte sich Joe auf die Spur der schwarzen Ducati Monster.

Er trat so energisch auf das Gaspedal des Porsche Cayenne Turbo, dass die Reifen durchdrehten. „Komm schon, du Mistkarre, mach schon! So, Murat, mein Freund, jetzt beginnt die Hexenjagd.“ Er grinste, sodass sein rechter, in der Mitte durchgebrochener Schneidezahn sichtbar wurde.

Murat, sein alter Kumpel, der auf dem Beifahrersitz saß, nickte. Er war ein durchtrainierter Kampfsportfan und liebte die Action.

Trotz der schneebedeckten und teils vereisten Straße im Frankfurter Gewerbegebiet östlich der Großen Bockenheimer Straße nahm der Bolide zügig an Fahrt auf. Doch unvermittelt war das leuchtende Rücklicht des Motorrads nicht mehr zu sehen.

Klatsch. Verärgert schlug Joe mit der flachen Hand auf das lederne Lenkrad.

„Verdammte Scheiße“, fluchte er, „wo ist er bloß hin? Ich kapier das nicht, der kann sich doch nicht einfach so in Luft aufgelöst haben!“

Die Ducati Monster war mit einem Mal in der Dunkelheit verschwunden. Verflixt! Vermutlich hatte der Biker das Licht ausgeschaltet, um die Verfolger abzuschütteln.

Jetzt brauchten sie Geschick und vor allem einen Haufen Glück, um ihn wieder aufzuspüren.

Mit der linken Hand steuerte Joe den Geländewagen durch die Nacht. Seine Rechte mühte sich, den Sicherheitsgurt zu schließen. Klick. Joe packte das Lenkrad mit beiden Händen, gab noch mehr Gas und hoffte, dass sie sich auf der richtigen Fährte befanden.

Joe war Anfang dreißig und gertenschlank. Sein dunkles Haar hatte er mit reichlich Gel nach hinten frisiert. Trotz der eisigen Temperaturen trug er bloß eine abgewetzte schwarze Lederjacke über dem Hemd.

Murat, der eine Handvoll Jahre älter war als Joe und dessen kantiges Gesicht ein gepflegter Schnurrbart unter einer spitzen Nase zierte, saß brettsteif neben ihm. Stumm starrte er durch die Windschutzscheibe und krallte sich am Ledergriff der Mittelkonsole fest.

Der Schnee hatte das Gewerbegebiet in eine malerische Winterlandschaft verwandelt. Für die weiße Pracht hatte Joe jedoch kein Auge. Für ihn drehte sich alles um das Motorrad, von dem weit und breit nichts mehr zu sehen oder zu hören war.

Planlos irrten sie durch die Finsternis. Die wenigen Laternen, die am Straßenrand standen, spendeten kaum Licht. Joe schaltete das Fernlicht aus, um die Straße besser erkennen zu können.

Er kniff die Augenlider zusammen und warf einen Blick auf das Navigationssystem. Das Display zeigte eine wie mit dem Lineal gezogene Gerade. Über kurz oder lang führte die Straße zum Hauptbahnhof. Aber so weit durften sie es nicht kommen lassen. Sie hatten den Auftrag erhalten, den Biker in dieser Nacht zur Strecke zu bringen.

Kein anderes Fahrzeug war auf den Straßen des Gewerbegebiets unterwegs.

„Mensch, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt“, schimpfte Joe. „Das ist ja nicht zu fassen, wo ist der Typ?“

Murat zuckte nur mit den Achseln und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Plötzlich machte der SUV einen Satz. Joe hatte das Warnschild übersehen und war ungebremst auf den Bahnübergang gebrettert. Der Wagen verlor die Bodenhaftung, bis er krachend auf der Fahrbahn aufschlug.

„Fuck, was war das denn? Verdammt!“, brüllte Joe. Zu ihrem Glück hielt er geistesgegenwärtig das Lenkrad fest.

„Stinkende Schafscheiße!“ Murat packte Joe an die Schulter und schüttelte ihn kräftig durch. „Mensch, Alter, pass gefälligst besser auf! Du killst uns ja noch beide mit deiner Raserei. Fick deine Mutter!“

„Ja, ist ja schon gut, beruhige dich, Mann. Ist ja überhaupt nichts passiert. Ich habe alles voll unter Kontrolle“, sagte Joe, während er wieder Gas gab. Der Cayenne ging ab wie ein Geschoss.

„Hoffentlich haben wir die Ratte bald am Wickel. Dann reißen wir dem jedes Sackhaar einzeln aus“, sagte Murat. Geräuschvoll zog er den Rotz aus der Nase in den Rachen und schluckte ihn herunter.

Joe schenkte dem keine gesteigerte Aufmerksamkeit. Murat war ein Kern-Assi, wie er im Buche stand. Nach außen laut, aber wenn es drauf ankam, klemmte er.

Joe war sich nicht im Klaren, ob sein Kumpel überhaupt richtig lesen und schreiben konnte. Vermutlich schlug er sich mit ein paar Analphabeten-Tricks durchs Leben.

„Ich könnte jetzt echt gut was zu trinken gebrauchen.“

„Ja, ja, gedulde dich, Murat. Wird schon! Hauptsache, wir verbringen nicht die ganze Nacht auf der Suche nach dem Arsch“, knurrte Joe. „Der Wichser geht mir ganz schön auf die Eier. Was glaubt denn der, mit wem er es hier zu tun hat?“

Der unbekannte Auftraggeber, der Joe und Murat über das Darknet gebucht hatte, versprach ihnen eine Stange Geld für ihren Job. Was er mit dem Gig bezweckte und welches Ziel er verfolgte, wussten sie nicht. Sie stellten auch keine unnötigen Fragen. Zumal der Mann einen ordentlichen Vorschuss gezahlt hatte, von dem sie sich gleich mal die schicke Karre gemietet hatten.

Joe hatte die Absicht, den Job schnell hinter sich zu bringen. Aber auf eine eigene, besondere Art. Er wollte dem Ganzen eine persönliche Note verleihen. Ein Unikat sollte es werden. Ein Banksy der Unterwelt, überlegte er. Und was das Wichtigste war: von anonymer Hand gefertigt.

Joe hatte die Klimaanlage inzwischen voll aufgedreht, und die Wärme flutete das Auto. Murat rieb sich die Finger und hielt die Hände vor die Lüftungsschlitze.

Plötzlich realisierte Joe, dass in der Ferne ein winziges rotes Licht aufflackerte. Das Rücklicht der Ducati!

„Da ist ja das verdammte Arschloch“, grölte er.

Murat beugte sich vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe. „Ja, ich sehe ihn auch. Gib Gas, wir packen uns den und machen das Schwein fertig!“

Das Zweirad schoss über die dichte Schneedecke der Allee. Die Spikes fraßen sich verlässlich durch Eis und Schnee. Aber mit jeder Sekunde verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen. Der SUV schloss immer weiter zu dem Motorradfahrer auf. Es waren nur noch wenige hundert Meter, die sie voneinander trennten.

Mit einem Mal lenkte Joe den Geländewagen auf die Gegenspur. Er fuhr fast Vollgas und bretterte ohne Rücksicht auf Verluste durch die Nacht.

Die Augen hielt er konsequent auf das Rücklicht der Ducati gerichtet. Wie eine Schlange, die eine Maus vor dem tödlichen Zugriff fixierte. Jetzt erkannten sie auch den Biker, der in einer schwarzen Lederkluft steckte.

Kurz darauf schoss der Cayenne an dem laut röhrenden Motorrad vorbei. Unmengen von frischem Schnee wurden in die Luft gewirbelt und trafen das Visier des Fahrers. Mit dem Handschuh wischte er darüber. Doch dadurch verlor er kostbare Zeit.

Als Joe ein Stück vor ihm war, trat er in die Eisen. Kontrolliert schleuderte der Wagen über die Fahrbahn.

Blitzschnell riss Joe das Lenkrad herum. Der Porsche kam zum Stehen, der Motor erstarb. Wie ein unüberwindbarer Monolith blockierte der Wagen beide Fahrspuren.

Der Motorradfahrer verlangsamte das Tempo.

Noch hätte er die Möglichkeit gehabt, die Ducati zu wenden und den Verfolgern zu entfliehen. Aber er nutzte die Chance nicht. Mit Schrittgeschwindigkeit näherte er sich dem Cayenne.

„Los, raus!“ Joe gab Murat einen Klaps auf die Schulter und öffnete die Fahrertür. In der Hand hielt er eine Beretta 92 FS.

Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den nagelneuen Wildlederschuhen. Die Feuchtigkeit färbte das empfindliche Leder dunkel.

Ohne sich abzustimmen, positionierten sich Joe und Murat seitlich neben dem Fahrzeug. Die Waffe in Joes Hand war für den Biker nicht zu erkennen. Er hatte sie geschickt hinter dem Rücken verborgen. In den Fingern spürte er ein Kribbeln, und Joe verstärkte den Griff um die Pistole.

Etwa zwanzig Meter vor dem Porsche blieb die Ducati stehen. Mit dem rechten Bein stützte der Fahrer das schwere Zweirad ab. Den Motor ließ er laufen. Das gleichmäßige, tiefe Brummen der Maschine wurde zu einem Dröhnen. Es war weit und breit das einzige Geräusch, das die Stille der Nacht durchbrach.

Obwohl das Gesicht unter dem dunklen Visier nicht zu erkennen war und er vom Lichtkegel der Maschine geblendet wurde, meinte Joe die Angst, die den Mann gepackt hatte, mit den Händen greifen zu können.

Da schob dieser das verspiegelte Visier des Helms ein Stück nach oben.

Als der Biker zum Sprechen ansetzen wollte, hob Joe den rechten Arm. Grell blitzte das Metall der Pistole im Scheinwerferlicht auf.

Mit ganzer Kraft versuchte der Mann den Lenker der fast zweihundert Kilo schweren Maschine hochzureißen, um sie zu wenden. Aber es gelang ihm nicht.

Er stemmte sich gegen die Ducati, doch auf dem schneebedeckten Boden fanden die Füße keinen Halt.

Mit der Hand gab er vorsichtig Gas, um die Zugkraft des Motors für seine Zwecke zu nutzen.

Er kämpfte um sein Leben. Es fehlten ihm bloß ein paar Zentimeter.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah er durch das geöffnete Visier in die Richtung der Verfolger. Genau in diesem Moment traf ihn die Kugel der Beretta zwischen die Augen.

In kurzem Abstand folgte ein zweiter Schuss, der ihn mitten ins Herz traf. Die Beine sackten kraftlos zusammen. Ungebremst schlug er auf die verschneite Straße. Das Motorrad begrub den leblosen Körper unter sich.

Der Mann gab kein Geräusch von sich. Kein Schrei, kein Röcheln war zu hören. Er starb völlig lautlos. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Sie starrten auf den schneebedeckten Boden, und nur wenige Tropfen Blut fielen in den frischen Schnee.

Joe zog die Augenbrauen hoch und sah zufrieden auf das Werk, das er geschaffen hatte. Er fühlte sich wie ein Jäger, der einen kapitalen Hirsch erlegt hatte.

Den rechten Arm ließ er wie in Zeitlupe sinken. Dann marschierte er mit großen Schritten zu dem schwarzen Haufen aus Mensch und Maschine.

In der einen Hand hielt er die Pistole, in der anderen eine Literflasche stillen Wassers, die er aus dem SUV genommen hatte.

Falls der Biker wider Erwarten noch am Leben war, würde er ihm mit einem finalen Schuss aus kurzer Distanz den Rest geben.

Joe ging in die Hocke und griff nach der Hand des Mannes. Unter dem schwarzen Lederhandschuh fühlte er nach dem Puls. Er brauchte Gewissheit, dass er das Leben des Kerls ausgelöscht hatte.

Der Typ war hinüber. Joe ließ die Hand fallen wie ein Stück Müll.

Grinsend sah er in Murats Richtung, und ihm entfuhr ein zufriedenes Grunzen, das sich zu einem finsteren, kehligen Lachen steigerte. „Hahhah“, machte er und streckte Murat seinen Mittelfinger entgegen. „Fuck!“, schrie er.

Der Kumpel, der wie ein Unbeteiligter am Porsche lehnte, schaute fragend.

Joe rief ihm zu: „Der Typ ist erledigt, der ist völlig im Arsch.“ Er spuckte im weiten Bogen auf einen Haufen Schnee am Rand der Fahrbahn. „Der Wichser wird niemandem mehr die verfickte Story erzählen können. Wir sind komplett raus aus der Sache!“

Mit einem Handgriff stellte er den brummenden Motor der Ducati ab. Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken. Dann öffnete er den Verschluss der Wasserflasche und trank einen Schluck. Den Rest verteilte er gleichmäßig über dem leblosen Körper.

Wie ein Cowboy aus einem alten Westernfilm zu seinem Gaul, so stolzierte Joe zum Porsche. Er lehnte sich neben Murat an die Karre und steckte die Waffe zurück in das Holster.

„Komm, gib mir Five!“ Er hob die rechte Hand in die Lüfte. Murat erwiderte sein Grinsen und sie klatschten sich ab.

„Der Drops ist gelutscht“, bemerkte Murat trocken.

EINS

Der Führer des Dreißigtonners mit rumänischem Kennzeichen trat in allerletzter Sekunde auf die Bremse. Nur um wenige Zentimeter verfehlte die Stoßstange des Lastwagens das schwarze Motorrad, das mitten auf der Straße lag. Mit einem Ruck kam der Transporter quietschend zum Stehen.

Zögerlich verließ Darko die Fahrerkabine. Er hatte keinen Bock auf Stress mit den Kameraden von der deutschen Verkehrspolizei. Auf der Straße zog er den Reißverschluss der Sportjacke hoch bis zum Hals. Nicht dass er sich in der Kälte den Tod einfing.

Von oben aus der Fahrerkabine hatte es für ihn ausgesehen, als hätte es einen schweren Unfall gegeben. Auf der verschneiten Straße lag ein schwarzes Motorrad. Aus den Reifen ragten silberne Stacheln. Die Maschine war vollkommen vereist.

Darko drehte sich um die eigene Achse und schaute in alle Richtungen. Niemand war zu sehen. Der Unfallgegner hatte sich wohl aus dem Staub gemacht. Unentschlossen schlurfte er näher an das Motorrad heran.

Da entdeckte er zu seinem großen Entsetzen den leblosen Körper eines Mannes, der eingequetscht unter der schweren Maschine lag. Der Tote war wohl wegen der Eiseskälte in seiner letzten Bewegung erstarrt.

Darko kniete sich schweigend neben die Leiche und vermied es tunlich, sie zu berühren. Der Anblick des Todes war ihm zuwider. Er hatte Furcht, dass er sich beim geringsten Kontakt infizierte.

Trotzdem beugte er sich ein Stück nach vorn. Durch das geöffnete Visier des Motorradhelms sah er ein Einschussloch auf der Stirn. Dass er dem Mann nicht mehr helfen konnte, war sonnenklar.

Mit verzerrtem Gesicht betrachtete er das Gesicht des jungen Mannes. Der Anblick bereitete ihm, der schon Leid erlebt und gesehen hatte, physische Schmerzen.

Dann bekreuzigte er sich und schickte ein ernst gemeintes, aber undeutlich gemurmeltes Stoßgebet gen Himmel.

Er bemerkte, dass die Augen des Toten weit aufgerissen waren und sein Mund offen stand. Die weißen Zähne schienen wie aus Porzellan. Blut sah er zum Glück keins. Der Schnee hatte es zugedeckt.

Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Darko quälte sich mit der Frage herum, was zu unternehmen war. Umständlich richtete er sich auf und studierte das Motorrad. Dass der Schlüssel im Zündschloss steckte, war ihm nicht entgangen.

Es wäre ein Kinderspiel, die teure Maschine auf den Lastwagen zu hieven, um sie in der Heimat ohne Papiere zu verkaufen.

Darko schaute zum Laster hinüber. Die Hebevorrichtung war am Heck des Trucks fixiert. Doch einen Toten zu bestehlen, war nicht Darkos Art. Er war eine durch und durch ehrliche Haut. Alle, die ihn kannten, hätten das hoch und heilig beschworen.

Obwohl er die Lenkzeit deutlich überschritten hatte und ihm ein fettes Bußgeld drohte, nahm er das Handy aus der Jacke, um die Polizei zu informieren. Das gebot ihm seine Fernfahrerehre.

Darkos Deutschkenntnisse waren mehr schlecht als recht. Kraftfahrer zu sein, war ein einsamer Beruf. Geredet wurde bei der Arbeit wenig. Er würde sein Bestes geben.

Als die Verbindung zur Verkehrspolizei stand, sprach er laut: „Hallo, ist die Polizei? Hören Sie? Hier ist Darko Antonescu. Da ist toter Mann auf Straße.“

„Ja, ich höre Sie genau,“ erwiderte der Polizist am anderen Ende der Leitung. „Sprechen Sie bitte weiter!“

Er hörte ein Piepen und eine elektronische Zeitansage. „Wir nehmen dieses Gespräch aus Sicherheitsgründen auf. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind“, sagte der Polizist.

Darko nickte stumm und warf einen Blick auf die Leiche. „Kann nix machen! Ich gefunden ihn, hier auf der Straße. Liegt totgeschossen im Schnee, gefroren wie ein Eismann.“

„Wo genau befinden Sie sich? Wir schicken sofort einen Streifenwagen zu Ihnen!“

Wieder nickte Darko, dann beschrieb er die Stelle, so gut er konnte. Mittlerweile war er bis auf die Knochen durchgefroren.

„Bleiben Sie unbedingt am Fundort, wir müssen mit Ihnen sprechen. Sie sind ein wichtiger Zeuge für uns“, sagte der Beamte, der langsam und deutlich sprach. „Haben Sie mich verstanden? Bitte antworten Sie mir!“

„Klar. Ich warten hier.“ Er legte auf. Abwägend sah Darko zum Lastwagen. Tat er das Richtige? Einem wie ihm machte die Polizei das Leben zur Hölle, wenn sie ihn erst einmal am Wickel hatte.

Mit einem Ruck wandte er sich seinem Laster zu. Flink kletterte er in die Fahrerkabine, und bevor er sich angeschnallt hatte, brummte der Diesel schon.

Fluchtartig verließ Darko den unwirklichen Ort. Ausschlaggebend war, dass der Lkw keine gültige Zulassung mehr besaß und die Bremsanlage defekt war. Die Bullen hätten seine Kiste nach einem Schnellcheck kurzerhand aus dem Verkehr gezogen.

Während er den Laster in Richtung Autobahn lenkte, jagten ihm zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei entgegen. Vorsichtshalber zog er die Strickmütze tief ins Gesicht.

Der Lkw hatte tiefgekühlte Hühnerteile geladen und rund 1.800 Kilometer Fahrt vor sich.

Ohne genauer hinzuschauen, langte Darko in das Ablagefach und fingerte eine von den Musikkassetten heraus. Alle waren mit der zierlichen Handschrift seiner Frau versehen. Sie hatte Musik aus der Heimat für seine Touren aufgenommen, damit ihr Mann unterwegs nicht so einsam war.

ZWEI

Kriminalhauptkommissar Steffen Anbach schaffte es mit Mühe und Not aus dem Bett. Wankend schlurfte er durch den Flur seiner Altbauwohnung in Frankfurt-Bockenheim. Das Klingeln des Smartphones hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, es steckte noch in seiner Lederjacke. Er war todmüde und völlig erschlagen. Seine grauen Locken standen wirr von dem Kopf ab.

Er war fest entschlossen, den Scheiß-Klingelton zu ändern. „The Final Countdown“ von Europe ertrug er einfach nicht mehr. Dieser Song lief seit gefühlten vierzig Jahren auf jeder Silvesterparty, und Steffen hatte keine Ahnung, wer ihn auf seinem Handy installiert hatte. Insgeheim hatte er seine Tochter Lilli in Verdacht, die in Wien Medizin studierte. Vermutlich wollte sie sich damit einen Scherz erlauben.

Mit verschlafenen Augen starrte Steffen auf die Nummer auf dem Display. Am Telefon war seine Kollegin Linda, seine rechte Hand im Morddezernat bei der Frankfurter Kriminalpolizei.

„Hallo, Linda. Was gibt es denn so Dringendes, dass du mich in aller Herrgottsfrühe weckst?“, grummelte Steffen mit rauer Stimme. Er räusperte sich, seine Kehle war trocken.

„Tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett geschmissen habe“, sagte Linda. Sie klang hellwach. „Aber es gibt einen Leichenfund im Frankfurter Gewerbegebiet. Wir sind von der Verkehrspolizei informiert worden.“

„Was ist denn eigentlich passiert?“

„Ein Motorradfahrer wurde erschossen und ist offenbar auf der Straße regelrecht festgefroren. Deshalb nennen sie den Toten den Eismann. Makaber, oder?“

Steffen räusperte sich ein weiteres Mal. „Um wen handelt es sich, weiß man da schon Näheres?“

„Die Identität des Opfers wurde anhand des Kennzeichens ermittelt. Aber völlig unklar ist, warum es ausgerechnet ihn erwischt hat. Es handelt sich bei dem Toten um einen Referendar, der Gymnasiallehrer werden wollte“, sagte Linda, die, soweit Steffen wusste, nur ungern an ihre Schulzeit zurückdachte. „Er hat Latein und Mathematik unterrichtet. Warum so jemand mitten in der Nacht auf offener Straße erschossen wird, ist mir ein absolutes Rätsel.“

Steffen war unterdessen ins Bad gegangen und versuchte nun, auf einem Bein hüpfend in seine Jeans zu schlüpfen. Um die Hose zu schließen, zog er den Bauch ein und hielt die Luft an. Dabei presste er das Smartphone mit der Schulter dicht an sein Ohr.

Während Linda weiter berichtete, spritzte er sich mit einer Hand etwas kaltes Wasser ins Gesicht. In der Eile nahm er zu viel von dem Rasierwasser. Man würde ihn, wenn er am Fundort der Leiche erschien, fünf Meter gegen den Wind riechen.

Für ein Frühstück war keine Zeit. Müde sah er in den mannshohen Spiegel im Flur seiner geliebten Altbauwohnung.

Steffen wohnte seit über zwanzig Jahren hier in Bockenheim. Damals war er mit seiner Ex-Frau Birte und ihrer Tochter Lilly eingezogen. Aber schon nach ein paar Jahren hatte Birte ihn und Lilli sitzen lassen. Sie war einfach zu unstet für das Leben an der Seite eines Polizisten.

An der Decke der hohen Räume befand sich feiner Stuck, und den Boden bildeten noch die Originaldielen aus der Gründerzeit. Die gesamte Wohnung war nur minimalistisch eingerichtet. Dafür hatte Steffen bei der Auswahl der Möbelstücke auf Qualität und Design Wert gelegt. Das Prunkstück bildete ein fünf Meter langes und rund drei Meter hohes Regal, das mit Büchern vollgestopft war.

Den Job bei der Mordkommission erledigte Steffen seit einer gefühlten Ewigkeit, und seine Aufklärungsquote war überdurchschnittlich hoch. Er war dankbar, dass er seit einiger Zeit Linda Sachse an der Seite hatte. Sie war eine taffe Frau, und vor Linda hatte Steffen so gut wie keine Geheimnisse. Mittlerweile verstanden sie sich blind und ohne große Worte, selbst wenn er rund zwanzig Jahre älter war als sie, die gerade ihren 35. Geburtstag gefeiert hatte.

Im Zweifel hätte er seine Hand für sie ins Feuer gelegt. Er war sich sicher, dass sie es umgekehrt genauso handhaben würde.

Inzwischen war Steffen wach und die Müdigkeit verflogen.

„Wo soll ich denn überhaupt hinkommen?“, fragte er. „Soll ich dich abholen? Bist du zu Hause?“

„Nein, nein. Ich hab mir ein Taxi genommen und bin schon im Gewerbegebiet, in der Nähe von dem großen Parkplatz, wo nachts die ausländischen Fernfahrer parken. Nicht weit entfernt von dem Gebäude der Stadtwerke.“

„In Ordnung. Ich bin gleich da.“

Leise schloss er die Wohnungstür hinter sich, um seine Frau Nora nicht aufzuwecken. Dann trat er hinaus ins Treppenhaus.

Während sie telefonierte, fuhr ein Sattelzug dicht an Linda vorbei. Sie verstand kein Wort mehr von dem, was Steffen zu ihr sagte. Notgedrungen legte sie auf. Der schwere Lastwagen hatte ihren platinblonden Pagenschnitt durcheinandergewirbelt.

Inzwischen war sie durchgefroren. Sie faltete die Hände dicht vor dem Mund zusammen und hauchte sie mit ihrem warmen Atem an. Aber das half auch nichts. Ihre Fingerspitzen fühlten sich wie abgestorben an. Zu blöd, dass sie die warmen Handschuhe in der Eile zu Hause vergessen hatte. Aber bald würde Steffen hier sein, und dann könnte sie sich in seinem Auto ein wenig aufwärmen.

Der Lärm, den der große Sattelzug hinter ihrem Rücken verursachte, war ohrenbetäubend. Alles um sie herum schien zu vibrieren. Hinzu kam der widerliche Dieselgestank, der Linda auf den Magen schlug. Neben der Kälte war ihr nun auch noch flau.

Mit dem Smartphone in der Hand wanderte sie über den Platz zum überdachten Entree der Stadtwerke GmbH. Im Moment vermochte sie nichts zu tun, und falls jemand anrief, konnte sie dort wenigstens in Ruhe telefonieren. Zudem schützte das Dach vor dem eisigen Wind.

Linda steckte ihr Telefon in die Manteltasche und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Ungeduldig schaute sie auf die Straße. Hoffentlich war die Katze bald bei ihr.

DREI

Schon von Weitem erkannte Linda Steffens dunkelblauen Jaguar XJ6. Mit seiner geschwungenen Form, die sich zum Heck hin verjüngte, war der Wagen auffallend elegant. Die beiden Tankdeckel aus Chrom saßen oben auf den Kotflügeln und fielen wegen ihrer puren Größe gleich ins Auge. Mit über dreißig Jahren war das Auto ein amtlich anerkannter Oldtimer. Dabei war es technisch und optisch in absoluter Topform, wie ihr Kollege gerne betonte.

Die Katze, wie der Jaguar von Steffen liebevoll genannt wurde, glitt geschmeidig über den großen Platz. Vor dem Portal des Energieversorgers hielt Steffen an, offenbar hatte er sie schon erspäht.

Eilig lief Linda die paar Schritte zum Jaguar hinüber und setzte sich auf das weiche schwarze Leder des Beifahrersitzes.

Statt des übelriechenden Dieselgeruchs hatte sie nun den Duft von Steffens Rasierwasser in der Nase. Aber diesen Tausch nahm sie gerne in Kauf.

Steffen begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, das von grauen Bartstoppeln umrahmt war. Die Zeit für eine Rasur hatte er sich offenbar nicht genommen.

Linda war bis auf die Knochen durchgefroren. Ihre Zähne klapperten, und sie brachte kein Wort heraus. Sie zitterte am ganzen Körper. Energisch rieb sie sich die Hände.

In weiser Voraussicht hatte Steffen die Sitzheizung für sie eingeschaltet, und endlich spürte Linda, wie etwas Wärme ihren Körper durchdrang.

„Na, ausgeschlafen und bereit für unseren großen Einsatz, Steffen?“, fragte Linda. Trotz der Kälte und der frühen Uhrzeit war sie gut aufgelegt, wie eigentlich immer.

Steffen schüttelte den Kopf und sagte kein Wort. Er war gelegentlich übellaunig und etwas introvertiert, und für ihn war es nicht zu fassen, wie Linda das hinbekam. Misstrauisch schaute er zu ihr rüber. Sofort entdeckte er das verschmitzte Lächeln in ihrem Gesicht. Er mochte es, wenn sie es auf den Lippen hatte. Schon allein das hob seine Laune gewaltig. Linda war ein Phänomen sondergleichen, dachte er.

„Meiner Meinung nach fühlt sich ausgeschlafen anders an“, antwortete Steffen. Er setze eine Leidensmiene auf und strich sich über das kratzige Kinn. „Ich fühle mich, als hätte mich ein Riese mit gewaltigen Pranken aus dem Bett geschleudert.“ Mit der Rechten deutete er einen kräftigen Schlag an. „Erstaunlich ist nur, dass ich keine Kopfschmerzen davongetragen habe.“

„Ach, du Armer“, sagte Linda und nickte, als würde sie an Fabelwesen glauben.

„Ich hatte nicht mal mehr Zeit für eine Dusche, um richtig wach zu werden“, beklagte er sich theatralisch.

„Und dann hast du dir gedacht, ein halber Liter Rasierwasser tut’s auch?“ Schmunzelnd hielt Linda ihre Hände dicht vor die Lüftungsschlitze. Steffen stellte die Automatikgangschaltung auf „D“, und die Katze setzte sich langsam in Bewegung.

„Wo genau haben sie die tiefgefrorene Leiche denn gefunden?“, wollte Steffen wissen.

Linda wies nach rechts. „Fahr die Allee da hinauf und dann nach links. Dann wirst du das Team von der Spurensicherung bestimmt schon sehen.“

Steffen nickte stumm und folgte ihrer Anweisung.

„Die von der SpuSi sind seit halb vier im Einsatz“, fuhr Linda fort. „Ich denke, Martin Henze dürfte schon erste Ergebnisse haben.“

„Ach, der Martin ist mit dem Fall betraut? Das ist gut“, merkte Steffen zufrieden an. „Mit ihm an der Seite sind wir klar im Vorteil. Martin Henze ist mit Abstand der beste Mann, den die Frankfurter Spurensicherung zu bieten hat.“

So langsam vertrieb die Wärme die Kälte aus Lindas Knochen. Sie löste den grob gestrickten Schal, den sie sich mehrfach um den Hals gewickelt hatte.

Unvermittelt griff Steffen in das Ablagefach der Fahrertür. Er zog eine Papiertüte hervor, die er Linda direkt vor die Nase hielt.

„Das ist für dich“, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. „Ich habe dir ein Schoko-Croissant mitgebracht. Damit du wenigstens etwas im Magen hast, bevor wir mit unseren Ermittlungen starten.“

Linda schaute ihn mit großen Augen an. Beherzt griff sie nach der Tüte. „Danke vielmals!“ Wie ausgehungert biss sie ein Stück ab. „Jetzt fehlt eigentlich bloß noch ein leckerer grüner Tee, und der Tag ist gerettet.“

„Nichts leichter als das. Voilà!“ Mit der freien Hand deutete Steffen auf die Mittelkonsole.

Lindas Augen folgten ihm. Sie konnte ihr kleines Glück kaum fassen: Im Getränkehalter warteten zwei Pappbecher mit duftendem Tee und Kaffee auf sie.

„Dein Becher ist der mit dem T drauf“, sagte Steffen und nickte ihr aufmunternd zu. „Bedien dich.“

Er trank den Kaffee wie immer schwarz. Schwarz wie die Seele, hatte seine verstorbene Mutter immer gesagt.

„Na, du verwöhnst mich ja heute nach allen Regeln der Kunst“, bemerkte Linda und griff nach dem Becher.

Nachdem das Croissant aufgegessen war, deutete sie an den Straßenrand. „Wir sind schon da. Hier kannst du parken.“

VIER

Martin Henze, der Leiter der Spurensicherung, war ein großer Mann mit beginnender Stirnglatze, der feines Essen und eine gute Flasche Wein zu schätzen wusste. Tag für Tag kniete er sich mit Leib und Seele in die Arbeit.

Ihm war bewusst, welchen Stellenwert die Untersuchungen seiner Leute für die Mordermittler hatten. Oftmals stellten die Spuren, die sie an den Tatorten sicherten, die entscheidenden Weichen für deren Vorgehen.

Sein Team bestand aus vier Männern und einer Frau, die auf den Namen Bea hörte. Mit rot-weiß-gestreiften Flatterbändern hatten sie den Fundort der Leiche großräumig abgesperrt. Damit sie in der Dunkelheit überhaupt etwas sahen, waren helle Scheinwerfer aufgestellt worden. Die Schneeflocken verdampften, sobald sie mit den glühheißen Lampen in Kontakt gerieten.

Über der Leiche war ein Zeltdach aufgespannt, das verhinderte, dass durch den Schneefall Spuren vernichtet wurden. Zudem bot es den Technikern ein wenig Schutz vor dem eisigen Wind.

Steffen schloss die Fahrertür und steckte die Hände in die Lederjacke mit Echtpelzkragen, die er seit fast zwanzig Jahren besaß und zu jeder Jahreszeit trug, ebenso wie die schweren Stiefel.

Gemeinsam mit Linda stapfte er durch die dichte Schneedecke zum Fundort. Sie hielt den dampfenden Teebecher zwischen den klammen Fingern.

Martin und seine Kollegin Bea, die auch hier mit strahlend weißen Overalls ausgerüstet waren, versperrten ihnen die Sicht auf den Toten.

Als Martin sie bemerkte, winkte er sie zu sich heran.

Bea, die auf Ballistik spezialisiert war, und Martin machten einen Schritt zur Seite. Steffen und Linda bot sich ein bizarrer Anblick.

Eine martialische Maschine, deren Reifen mit Stacheln versehen war, begrub einen in schwarzes Leder gewandeten Körper unter sich. Die Leiche wirkte, als wären sie und der Asphalt eins geworden.

Am Helm, dem Leib und dem Motorrad fanden sich skurrile Formationen aus Eis, unterschiedlich große Eiszapfen, die bis zum Straßenbelag reichten. Sie glichen Nägeln, die man kraftvoll in den Boden gerammt hatte, um den Toten für alle Ewigkeit zu fixieren.

Für einen Moment hatte Steffen das Motiv eines mit seinem Schlachtross gestürzten Kreuzritters vor dem inneren Auge. Das ist er also, dachte er, ihr neuer Fall. Die „Causa Eismann“ lag vor ihm im Schnee.

„Hallo, Linda. Gude, Steffen“, begrüßte Martin sie. Er hielt eine silberne Stablampe in der Hand. „Na, da hat man euch also auch in aller Frühe aus dem Bett geworfen? Tja, warum soll es euch auch besser gehen als mir?“

Steffen trat näher, um die Leiche zu betrachten. Er war fasziniert von dem gefrorenen Biker. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Der Eismann schien aus einer anderen Welt zu stammen. Als wären Aliens auf Mutter Erde gelandet, um ein fremdes, totes Wesen abzulegen. Welcher kranke Verstand hatte dieses Bild kreiert?

„Was auf den ersten Blick so merkwürdig aussieht, ist eigentlich schnell erklärt“, sagte Martin. Er schnäuzte sich, offenbar war er erkältet. „Der Motorradfahrer ist anscheinend von einem schweren Wagen durch Schnee und Eis verfolgt worden. Ich vermute, dass es sich dabei um einen SUV gehandelt hat. Vielleicht ein Audi, ein Porsche oder ein Volvo. Dann ist er von dem Schützen gestellt worden, aus einer Entfernung von etwa zehn bis zwanzig Metern.“

Er zeigte in die Dunkelheit auf die kaum mehr erkennbare Bremsspur im Schnee und den vermutlichen Standort des SUV. „Vermutlich von da aus hat er auf den Motorradfahrer geschossen. Der Täter hat ihm kurz vorher sehr gekonnt den Weg abgeschnitten. Er hatte es eindeutig auf ihn abgesehen, da bin ich mir sicher.“

Mit einem Griff zog er die Kapuze vom Kopf und wuselte sich durch das plattgedrückte Resthaar. Dann fuhr er fort: „Der Eismann hat wohl noch versucht, die schwere Karre zu wenden, was aber auf der glatten Fahrbahn fast unmöglich war. Dafür müsste man Bärenkräfte haben. So, wie ich die Situation sehe, hatte er nicht die geringste Chance, hier lebend rauszukommen.“

Er putzte sich ein weiteres Mal die Nase. „Ach ja, was den Schützen angeht, habe ich mir auch schon so meine Gedanken gemacht und erste Schlussfolgerungen gezogen. Er war entweder ein absoluter Vollprofi oder aber ein echter Glückspilz.“

„Was meinst du damit, Martin?“, fragte Linda.

„Wenn der Täter den Schuss gezielt abgegeben hat, dann hat er aus einer Entfernung von bis zu zwanzig Metern mit einer Handfeuerwaffe durch ein Helmvisier getroffen, das nur wenige Zentimeter offen stand. Da sag ich nur: Hut ab! Das ist eine Meisterleistung.“

In dem Moment entdeckte Steffen den Namenszug auf dem Tank des Motorrades. „Das ist ja eine Ducati Monster. Ein wirklich cooles Gerät“, sagte er begeistert.

Martin lächelte. Er kannte Steffens Liebe für Zweiräder und wusste, dass Steffen in seiner Freizeit gerne mit einer alten Harley durch den Rheingau und den Taunus bretterte.

„Das ist die Ducati M900, das sogenannte Urmonster aus dem Jahr 1992“, erklärte Martin, der sich mit Motorrädern bestens auskannte. Diese Maschine ist nicht so einfach zu fahren, und erst recht nicht bei Schnee und Eis. Die ist eigentlich viel zu stark motorisiert, um im Winter damit durch die Gegend zu preschen.“

„Außerdem sind diese Art Spikes in Deutschland verboten“, sagte Steffen trocken.

„Aber wie erklären sich die bizarren Eiszapfen an der Leiche?“, wollte Linda wissen.

„Das ist eine echt gute Frage, Linda“, erwiderte Martin und legte die Stirn in Falten. „So, wie es auf dem ersten Blick aussieht, hat man ihn nach den tödlichen Schüssen absichtlich mit einer Flüssigkeit übergossen.“

„Aber warum sollte der Täter so etwas tun? Was bringt das denn?“, hakte Linda nach.

„Vielleicht sollte es eine zusätzliche Demütigung des Opfers darstellen. Oder der Mörder wollte etwas Bizarres schaffen. Eine Leiche ganz besonderer Art“, mutmaßte Martin. Er räusperte sich und fummelte nach seinem Taschentuch.

Steffen bückte sich und strich mit der Hand sachte über die vereiste Oberfläche der Ledermontur.

„Ob es sich dabei möglicherweise um menschlichen Urin handelt, untersuchen wir gegenwärtig im Labor“, sagte Martin.

Reflexartig zog Steffen die Hand von der Lederkombi zurück und wischte die Finger, die in Gummihandschuhen steckten, sorgfältig am Hosenbein ab.

„Was will der Täter uns damit sagen?“, murmelte Linda nachdenklich.

„Das herauszubekommen, ist vorrangig eure Aufgabe, meine Lieben, nicht meine“, sagte Martin. „Ich sammle bloß die Spuren und versuche sie korrekt auszuwerten und für eure Zwecke zu dokumentieren.“

Für ihn schien das Gespräch beendet zu sein, denn er wandte sich wieder seinen Kollegen zu, die ihm neue Funde und Erkenntnisse präsentieren wollten.

Steffen hatte sich schon weggedreht, da hörte er Martins Kollegin Bea sagen: „Da hinten am Straßenrand habe ich Spuren von Speichel im Schnee gefunden. Ich vermute, dass es sich um eine Hinterlassenschaft des Täters handelt.“

„Sehr gute Arbeit, Bea“, sagte Martin, „lass schnell eine DNA-Untersuchung machen und sorge bitte dafür, dass das Ergebnis unverzüglich mit den Datenbanken abgeglichen wird.“

Linda hantierte derweil mit dem Smartphone, um Notizen einzutippen. Angesichts ihrer steifen Finger stellte dies eine Herausforderung dar. Nach zwei gescheiterten Versuchen gab sie genervt auf.

FÜNF

Drei Tage vor dem Mord

Wegen der mageren zwei Punkte, die Sarah in der letzten Matheklausur erzielt hatte, war sonnenklar, dass sie dringend Nachhilfe benötigte, um überhaupt zum Abitur zugelassen zu werden.

Ihr Vater hatte ihr deutlich gemacht, dass sie sich selbst um das Thema kümmern musste. Er hatte keine Zeit für solche Lappalien, weil er bis über beide Ohren mit dringenden Angelegenheiten in der Kanzlei beschäftigt war.

Mit ihren 17 Jahren war sie außerdem kein kleines Kind mehr, hatte ihr Vater gesagt. Sie sollte endlich lernen, ihre Sachen selbstständig zu erledigen.

Dass sie jede freie Minute auf dem Reiterhof mit ihrem Wallach Don verbrachte, war ihm ein Dorn im Auge. Sie solle mehr für die Schule tun, das sei schließlich ihr Job, hatte er gemeint.

Aus diesem Grund stand Sarah schlecht gelaunt vor dem Infokasten ihrer Schule und studierte die Aushänge auf der Suche nach einem geeigneten Nachhilfelehrer für Mathe. Die Zettel waren mit bunten Reißzwecken auf einer Korkwand befestigt. Nicht der neueste Stand der Technik, dachte sie.

Endlich hatte sie die Rubrik „NACHHILFE“ für die Schüler der Oberstufe gefunden. Während sie mit einer Strähne ihrer langen blonden Haare spielte, sichtete sie die Anzeigen.

Neben anderen Zetteln fand Sarah die Nachricht eines Referendars der Schule. Er stellte eine fachmännische Unterstützung für die Fächer Mathematik und Latein gegen einen exorbitanten Obolus zur Verfügung. Im Gegenzug versprach er Spitzenergebnisse für seine Zöglinge. In Notfällen war er in 24/7 bereit, Intensivkurse anzubieten.

In Mathe bin ich ein konkreter Notfall, dachte Sarah, die sich dem Ernst der Lage bewusst war. Ihr Vater hatte versprochen, für die Kosten der Nachhilfe aufzukommen. Er hatte ihr aufgetragen, sich den besten Lehrer zu suchen, egal, was es koste.

Der Name des potentiellen Nachhilfelehrers war Kevin, Kevin Bruch. Was für ein idiotischer Vorname. Sarah riss einen der Streifen des Aushangs ab und steckte ihn in die Gesäßtasche ihrer hautengen Jeans. Sie würde diesen Kevin später anrufen. Jetzt wollte sie mit ihren Freundinnen auf die Eisbahn. Der Schulkram konnte warten.

„Komm endlich, Sarah!“, rief Lola da schon genervt. Ihre beste Freundin mit den feuerroten Haaren hatte auf sie gewartet. Sarah kannte sie seit der fünften Klasse. Lola war ebenfalls keine Leuchte in Mathe, aber ihre Eltern machten deshalb nicht einen solchen Stress wie Sarahs Vater.

Er bestand darauf, dass seine einzige Tochter auf Anhieb das Abitur schaffte. Dann würden ihr alle Wege offen stehen. Nach einem Gap-Jahr im Ausland sollte Sarah an einer renommierten Universität studieren. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie sich für das Jurastudium entschied, um in seine Fußstapfen zu treten. Später könnte sie dann seine Kanzlei übernehmen und Karriere machen.

„Die anderen warten schon ewig auf uns, Sarah, was bist du denn für eine Spaßbremse geworden“, nölte Lola von der Seite, während sie mit den Fingern blitzschnell auf dem Smartphone herumtippte. „Können wir jetzt endlich los?“

Demonstrativ rollte Lola mit ihren großen, dunkel geschminkten Smokey-Eyes. Mit den schwarzen Hotpants, die sie auch im Winter über hauchdünnen dunklen Nylonstrümpfen trug, sah Lola ein bisschen nuttig aus, fand Sarah. Vermutlich hatte sie wieder einen neuen Verehrer, für den sie sich in Schale warf.

„Ich bin jetzt durch. Komm, lass uns abhauen“, sagte Sarah.

Sie holte das neue, teure Smartphone aus dem Rucksack. Schnell schoss sie ein Foto von Kevins Aushang, um es am Abend ihrem Vater zu zeigen. Sie wollte dokumentieren, dass sie sich mit Hochdruck um ihre Angelegenheiten kümmerte.

Dann marschierten sie gemeinsam zur „Eiszeit“ hinter dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden, das Kaiser Wilhelm II. initiiert und gefördert hatte. Dort warteten schon ein paar Jungs und Freundinnen aus ihrer Jahrgangsstufe auf sie.

Weil Lola wieder mal ihr Portmonee zu Hause vergessen hatte, spendierte Sarah ihr die Miete der Schlittschuhe für den Nachmittag auf der Eisbahn.

Zum Glück hatte der DJ die passende Musik am Start, und so hatten sie viel Spaß auf der Eisfläche. Aber als das Thema aufkam, nach dem Schlittschuhlaufen in einer der umliegenden Bars einzukehren und ein paar Cocktails zu schlürfen, verabschiedete Sarah sich und dackelte pflichtbewusst nach Hause.

Die nächsten Tage würden für sie kein Zuckerschlecken werden, wenn sie es in Mathe packen wollte. Deshalb war jetzt Schluss mit Party-Machen. Außerdem musste sie auf die Schnelle jemanden organisieren, der sich eine Zeit lang um ihren Wallach Don kümmern würde.

„Puh, was für eine verdammte Kacke“, stöhnte sie leise. Aber unter dem Strich war die Sache alternativlos.

SECHS

Steffen hatte sich auf den Feierabend gefreut. Nora war mit einer Freundin zum Essen verabredet, und so würde er den Abend alleine verbringen und sich endlich mal wieder ein spannendes Buch vornehmen.

Im Eismann-Fall waren sie leider keinen Schritt weitergekommen. Die Auswertung der Spuren lief noch, die Rechtsmedizin untersuchte den Toten – beides hatte im ersten Moment keine verwertbaren Hinweise ergeben. Nach Zeugen wurde per Aufruf gesucht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass mitten in der Nacht jemand etwas gesehen hatte, war gering. So, wie die Dinge standen, konnten sie nicht viel tun außer zu warten. Steffen würde noch ein wenig lesen und dann früh zu Bett gehen, hoffentlich gab es morgen mehr.

Gerade hatte er eine gute Flasche Rotwein entkorkt, da vibrierte sein Smartphone. Auf dem Display erschien das Konterfei seiner Tochter Lilli in Wien.

Dass sie ihn anrief, kam nicht häufig vor. Bevor er das Gespräch annahm, schenkte er sich etwas Wein ein.

„Hey, Lilli, mein Mädchen. Was gibt es denn? Ist alles klar bei dir?“

„Nicht, dass du jetzt meinst, dass ich mich bei dir melde, nur weil ich mich ausheulen will“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Aber ich habe mit Lewis Schluss gemacht.“

„Warum das denn, was ist denn passiert? Ihr wart doch so ein schönes Paar.“

„Ach, Papa, du hast ja keine Ahnung. Es ging einfach nicht mehr. Seine verdammte Eifersucht hat mich zur Raserei gebracht. Ich bin doch nicht sein Eigentum. Ich bin mein eigener Mensch und bestimme mein Leben selbst“, sprudelte es aus Lilli hervor. „Aber der Vollpfosten kann das einfach nicht akzeptieren. Wie kann man denn heutzutage so dumm sein?“

„Schon klar, du hast ja völlig recht. Aber erzähl doch mal von vorn, damit ich das verstehen kann.“

„Eigentlich gibt es da nicht viel zu erzählen. Irgendwann war bei uns einfach die Luft raus. Puff hat es gemacht, bloß Lewis hat nicht das Geringste gehört.“ Nach einer Pause sagte sie: „Im Grunde ist es so, wie es damals bei dir und bei Mama gewesen ist. Es ging einfach nicht mehr, verstehst du?“

„Aber Lilli, wie willst du das denn wissen? Du warst doch noch klein, keine zwei Jahre alt, als Mama weggegangen ist.“

„Aber sie ist gegangen, aus welchen Gründen auch immer. Ich glaube, ich bin genau wie sie. Ich will mich nicht fest binden und für niemanden Verantwortung übernehmen. Das ist eben nicht mein Ding.“

Steffen hörte, wie sie leise schluchzte. „Sag mal, Lilli, hast du eigentlich noch Kontakt zu Birte?“, fragte er.