Banden - Pino Rauch - E-Book + Hörbuch

Banden E-Book und Hörbuch

Pino Rauch

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
  • E-Book-Herausgeber: epubli
    Hörbuch-Herausgeber: GD Publishing
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Hauptkommissar Steffen Anbach wird ein Brief der RAF aus dem Jahr 1989 zugespielt. Warum ausgerechnet ihm, warum ausgerechnet jetzt? Teile des Briefes sind verschlüsselt. Mit seiner neuen Kollegin Linda Sachse macht Steffen sich auf die Suche nach dem Code. Bald geraten sie ins Visier einer Geheimorganisation, die äußerst gefährlich ist. Nun geht es für sie um Leben und Tod – und noch mehr. In seinem Debüt "Banden" führt Pino Rauch zwei Ermittler ein, die sich zu einem schlagkräftigen Duo zusammenfinden. Ihr erster Fall verbindet die Gegenwart mit der jüngeren Geschichte. Kurze Kapitel sorgen für Tempo, überraschende Wendepunkte, Perspektivwechsel und Nebenhandlungen auf mehreren Zeitebenen für Abwechslung. So muss sich Linda etwa ihres stalkenden Exfreunds entledigen und lernt einen neuen Mann kennen, und Steffens dementer Vater Otto verursacht einige Aufregung. Wie nebenbei erfahren die Leser*innen Interessantes über die Geschichte der RAF, und Szenen aus der Perspektive von Mitgliedern wie Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld zeichnen ein anschauliches Bild aus dem Inneren und der Motivation der Terror-Organisation. "Banden" ist der vielschichtige, rasant erzählte Auftakt einer neuen Serie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 349

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:8 Std. 2 min

Sprecher:Philipp Kühn

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



BANDEN

von

Pino Rauch

Kriminalroman

Über den Autor

Pino Rauch ist ein Pseudonym. Der Autor, der sich dahinter verbirgt, wurde 1964 in Duisburg geboren und hat in Bayreuth und Mainz Jura studiert. Seit 1993 ist er Rechtsanwalt in Wiesbaden, wo er mit seiner Familie lebt und eine auf das Wirtschaftsrecht ausgerichtete Kanzlei führt. Nachdem er verschiedene juristische Fachbücher veröffentlicht hat, legt Rauch mit „Banden“ seinen ersten Roman vor. Er bildet den Auftakt einer Krimi-Reihe, die im Rhein-Main-Gebiet spielt.

Dies ist ein Roman. Die Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Geschehnissen oder Personen ist reiner Zufall.

Prolog

30. November 1989, Bad Homburg

08:30 Uhr

Alfred öffnete die schwere Tür seiner Villa in Bad Homburgs teuerster Wohnlage und trat ins Freie. Den Wintermantel hatte er peinlich genau über dem Arm gefaltet. In der rechten Hand hielt er die lederne Aktenmappe, die er schon viele Jahre besaß und täglich mit in die Bank nahm.

Er schaute die Auffahrt hinab und sah den Dienstwagen, einen schwarzen Mercedes-Benz 500 SEL, bereits über die weißen Kieselsteine heranrauschen.

Jakob, sein Fahrer, der schon 19 Jahre in seinen Diensten stand und in dieser Zeit zu einem guten Freund geworden war, stieg aus und lief um die gepanzerte Limousine herum, um ihm die hintere Tür auf der Beifahrerseite zu öffnen.

Der Bankier schaute auf die Armbanduhr und nickte seinem Chauffeur zu. „Es ist ganz genau halb neun, wie verabredet. Du funktionierst ja besser als ein Schweizer Uhrwerk.“ Mit schnellen Schritten lief Alfred zum Wagen hinüber.

„Na klar, das bin ich meinem Chef doch schuldig“, sagte Jakob. „Ich will nicht, dass du hier draußen in der Kälte stehst und auf mich warten musst.“

Jakob schloss die Fahrzeugtür hinter ihm mit einem sanften Schubser und setzte sich an das Steuer.

Im Rückspiegel sah Alfred das Begleitfahrzeug, einen weißen BMW, den Kiesweg hinaufkommen. Martin, einer der beiden perfekt ausgebildeten Personenschützer, hielt neben ihnen und tippte mit zwei Fingern an die Stirn, um zu signalisieren, dass sie startklar waren, sein Kollege Michael nickte ihnen zu.

Jakob ließ den Motor des Mercedes an. Das Begleitfahrzeug folgte ihnen in gebührendem Abstand.

„Warum haben wir heute nur ein Begleitfahrzeug zur Verfügung, Jakob?“, fragte Alfred. „Wo ist denn der zweite Wagen, der sonst vorausfährt?“

Es störte ihn enorm, wenn sich die tägliche Routine änderte und sich Dinge ereigneten, auf die er keinen Einfluss nehmen konnte. Es war sein Anspruch, immer alle Fäden in der Hand zu halten. Er war es, der die Entscheidungen traf. Nur sein Wort galt. Und bislang hatte sich sein Prinzip in jeder Hinsicht bewährt.

„Das kann ich leider auch nicht genau sagen. Ich verstehe es selber nicht“, sagte Jakob. „Die vom Sicherheitsdienst haben mich vor einer halben Stunde angerufen und mir gesagt, dass es eine Planänderung gibt und wir uns heute nur mit einem Begleitfahrzeug zufriedengeben müssen. Einen Grund dafür haben sie mir nicht genannt, und ich hatte auch keine Gelegenheit, danach zu fragen.“

„Wissen die denn nicht, mit wem sie es hier zu tun haben? Es ist amtlich, Jakob! Ich bin die am meisten gefährdete Person Deutschlands!“ Empört runzelte Alfred die Augenbrauen.

Von Traudl, der zweiten Ehefrau des Chefs, wusste Jakob, dass er in der obersten Schublade seines Nachttisches ein mit der Hand gefertigtes Schreiben aufbewahrte. Darin verlangte er mit Nachdruck von der Bundesregierung, dass sie sich im Falle seiner Entführung unter keinen Umständen erpressen lassen durfte. Mit welchen Konsequenzen das im Extremfall verbunden war, hatte er für sich bis in das kleinste Detail realisiert. Mit seinen 59 Jahren nahm er sie bedingungslos in Kauf.

Alfred schüttelte den Kopf, dann öffnete er seine Aktentasche. Er griff nach der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, wollte er sich auf den aktuellen Stand der Nachrichtenlage bringen.

Jakob lenkte den Dienstwagen in Richtung Taunustherme. Das Begleitfahrzeug folgte ihnen mit dem gewohnten, immer gleichen, in den letzten Jahren bis zur Perfektion trainierten Abstand.

Sie waren erst knapp drei Minuten unterwegs. Das Bankhaus im Zentrum von Frankfurt am Main würden sie, nach Lage der Dinge, spätestens um kurz vor neun Uhr erreichen.

Um halb zehn stand die erste Besprechung des Tages mit seinen Vorstandskollegen an. Alfred würde ihnen einschneidende Umstrukturierungsmaßnahmen für den Bankkonzern verkünden. Kurz darauf war ein Treffen mit dem Aufsichtsrat der Lufthansa geplant.

Er hatte seine Bank richtig groß gemacht und sie in die erste Liga der internationalen Institute geführt. Sie stand auf Augenhöhe mit den mächtigen amerikanischen Geldhäusern. Sein ungeheuerlicher Erfolg fand aber auch Neider. Sie saßen teils im Vorstand der eigenen Bank, die er als deren Sprecher leitete.

Sie passierten die Bad Homburger Taunustherme und fuhren in Richtung Seedammbad. Alfred, der es sich im Fond der S-Klasse gemütlich gemacht hatte, blätterte in der Zeitung. Er widmete sich vor allem dem Wirtschaftsteil. In der Regel erwähnten die Redakteure dieses Ressorts seinen Namen und sein Wirken in wenigstens drei Artikeln in jeder Ausgabe. Er war der prominenteste Wirtschaftsführer der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Sein fachmännischer Rat war selbst in der hohen Politik gefragt.

Nur wenige Sekunden später, um 8:34 Uhr, gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Eine schwere Bombe war, nicht weit von ihnen, mit enormer Kraft explodiert.

Die Druckwelle war immens. Sie riss den Mercedes herum und warf ihn in die Höhe, bis er quer zur Fahrbahn stand. Es krachte, Glas splitterte.

Jakob schrie auf. Er wurde in seinem Sitz herumgeschleudert, prallte mit dem Kopf irgendwo gegen und riss instinktiv die Arme hoch. Als der Mercedes zum Stillstand kam, öffnete er langsam die Augen und sah an sich herunter. Soweit er auf seinen ersten Eindruck vertrauen durfte, war er nur leicht verletzt, am Kopf und an den Armen.

Was ihn dort getroffen hatte, wusste er nicht, aber er spürte Schmerzen im linken Oberarm und presste mechanisch die Hand auf die Wunde.

Auf seinem weißen Herrenhemd und der gepunkteten Krawatte fanden sich Blutspritzer. Kleine Glassplitter hatten zahlreiche Risse in seiner Oberbekleidung hinterlassen.

Jakob drehte den Kopf. Die schwere Tür des Fonds war von der Explosion vollständig herausgerissen worden, dort klaffte ein Riesenloch. Die Bombe war exakt auf die hintere rechte Seite der gepanzerten Limousine gerichtet gewesen, wo Alfred wie immer Platz genommen hatte. Die Beifahrertür war weit geöffnet und völlig verbeult.

Sein Chef, Freund und Vertrauter war von oben bis unten mit Splittern übersät. Der Kopf ruhte schlaff auf seiner Brust, und sein Kinn berührte die dunkelblaue Seidenkrawatte, die er so gerne trug. Er schien das Bewusstsein verloren zu haben.

„Alfred, bist du in Ordnung?“, schrie Jakob.

Die Zeitung auf Alfreds Schoß war durch und durch mit Blut getränkt.

Unter Schmerzen öffnete Jakob die Fahrertür und ließ sich vorsichtig aus dem Wagen fallen für den Fall, dass Heckenschützen am Straßenrand lauerten. Aber nichts geschah, es war niemand zu sehen. Vom Fahrzeug stiegen Rauchschwaden auf. Jakob befürchtete, dass der Benz in Kürze in Brand stehen würde.

Auf allen vieren kroch er über die Fahrbahn bis zum Heck, dann rappelte er sich auf und rannte um das Fahrzeug herum.

Mit aller Kraft versuchte er, Alfred aus dem demolierten Wagen herauszuzerren, aber sein verletzter Arm war zu schwach, es gelang ihm nicht. Wo waren die Personenschützer?

Entsetzt sah Jakob zu dem Begleitfahrzeug. Der BMW stand rund fünfzig Meter von dem zerfetzten Mercedes entfernt, die Türen weit geöffnet. Die beiden Personenschützer rannten auf ihn zu, und er hörte Martins laute, kehlige Schreie.

„Was?“ Jakob verstand nicht, was er von ihm wollte. Er hob hilflos seine Arme in die Höhe.

Die Sicherheitskräfte erreichten die zerstörte Limousine. Martin stieß Jakob zur Seite, dann versuchten er und Michael mit vereinten Kräften, den Bankier der Republik aus dem Autowrack zu hieven.

„Pack ihn an den Beinen“, schrie Martin. „Aber sei verdammt vorsichtig! Wir wissen nicht, wie schwer er verletzt ist.“

Stück für Stück zog Michael die Beine des bewusstlosen Mannes aus dem Fahrzeug. Dann griff Martin Alfred gezielt unter die Arme, und zusammen hoben sie ihn aus dem Wagen. Behutsam legten sie den blutverschmierten Top-Banker an den Straßenrand, einige Meter von dem Fahrzeug entfernt.

„Verdammt, wo kommt denn das viele Blut her?“, rief Martin entsetzt. Sein Blick glitt hektisch über den Verletzten.

Michael, der jüngere der beiden, war offenbar sprachlos. Die Detonation der Bombe steckte ihm sichtlich noch in den Knochen. So etwas hatte er in seiner kurzen Berufslaufbahn wohl noch nicht erlebt.

Trotzdem öffnete er flink das einstmals blütenweiße Hemd, und gemeinsam tasteten sie Alfred nach möglichen Verletzungen ab.

Zunächst fanden sie außer den zahlreichen kleinen Wunden, die die Splitter angerichtet hatten, nichts, das die starke Blutung verursachte. Dann entdeckten sie eine Wunde am Bein, aus der das Blut regelrecht herausschoss. Trotz aller Bemühungen waren die gut ausgebildeten Sicherheitskräfte nicht in der Lage, die Blutung zu stillen. Offenbar hatte ein Splitter seine Oberschenkelschlagader durchbohrt.

Martin starrte auf den leblosen Körper.

„Wir haben ihn verloren! Verdammte Scheiße, er ist tot“, schrie er. Zur Sicherheit nahm er Alfreds Handgelenk, stellte aber keinen Puls mehr fest.

Ein Hauch des kühlen Herbstwindes hatte einen Teil der „FAZ“ erfasst und verteilte die bedruckten Seiten auf der mit Laub bedeckten Straße. Der blutige Rest der Zeitung klebte auf der ledernen Sitzbank des Mercedes fest.

Jakob starrte auf seinen toten Chef. Seit vielen Jahren hatte er ihn quer durch die gesamte Republik kutschiert, schließlich war er zum Freund geworden.

Jakobs Gesicht war kalkweiß. Ihm war furchtbar elend zu Mute. Dicke Tränen flossen über seine Wangen.

Er musste sich an einem Baum am Straßenrand festhalten, sein ganzer Körper zitterte, und er befürchtete, jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren.

Er atmete ein paarmal tief durch, dann schrie er Martin wütend an: „Warum hat ausgerechnet heute das zweite Begleitfahrzeug gefehlt? Es ist doch sonst immer da gewesen, ich kann das einfach nicht kapieren! Wir hätten gar nicht erst losfahren sollen. Ich hätte mich weigern sollen!“

Jakob schlug mit der Faust gegen den Stamm. „Ich hatte gleich so ein Scheißgefühl im Bauch, als ich euren Anruf bekam. Hättet ihr es gemacht, wie wir es immer gemacht haben, dann wäre das hier nicht passiert!“ Mit seiner zittrigen Hand zeigte er auf den Toten, der neben ihnen auf der Straße im trockenen Herbstlaub lag.

Martin sah beschämt zur Seite, er konnte Jakobs wütendem Blick nicht länger standhalten. Er hatte keinen Schimmer, warum seine Dienststelle kurz vor der Abholung des gefährdetsten Mannes der Nation den zweiten Begleitwagen kurzerhand abgesagt hatte. Es stand im krassen Widerspruch zu dem Sicherheitskonzept, das das Bundeskriminalamt für Alfred Herrhausen, den Sprecher der Deutschen Bank, gestrickt hatte. Er war genauso fassungslos wie Jakob.

Während sie schweigend auf die Leiche starrten, hörten sie die Sirenen der herannahenden Polizei- und Rettungswagen.

Auch die Beamten des Bundeskriminalamtes aus Wiesbaden waren bald zur Stelle. Wie sie so schnell erscheinen konnten, war Martin ein Rätsel.

EINS

Gegenwart

Steffen Anbach, Kriminalhauptkommissar von der Frankfurter Mordkommission, hatte seinen alten Jaguar im Innenhof des Polizeipräsidiums geparkt. Er war auf dem Weg in sein Büro, das sich im dritten Stock des sechsgeschossigen Gebäudes befand. Kurz hinter dem Eingang stieß er auf eine Frau mit platinblondem Pagenkopf, die wütend in ihr Smartphone zischte.

„Du, ruf mich niemals wieder an! Und wenn du mir zufällig über den Weg läufst, ich verspreche dir, ich werde dir deine Augen auskratzen.“

Sie schaltete das Handy aus und wollte es in ihre Handtasche stecken, da entglitt ihr diese vor lauter Aufregung. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden, direkt vor Steffens Füße.

Steffen ging in die Knie, sammelte einen Stift, einen schwarzen Notizblock und einen Labello ein. Er steckte die Sachen zurück in die Handtasche.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte die Frau. „Es tut mir so furchtbar leid, ich mache das schon selber. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Steffen erhob sich, dabei trafen sich ihre Blicke und er sah in ihre strahlend blauen Augen.

„Alles gut, ich wollte bloß behilflich sein“, sagte Steffen, fuhr sich durch seine grauen Locken und setzte seinen Weg fort. Was für eine charmante und attraktive Person, dachte er. So kratzwütig sah sie gar nicht aus.

Im Büro blätterte er in seinem Kalender, um sich über die Termine des Tages zu informieren, da klingelte das Telefon. Der junge Polizeivizepräsident Robert König war am Apparat.

„Ich hoffe, du hast unseren Termin nicht vergessen. Wir warten in meinem Zimmer auf dich. Dein neuer Partner ist schon da. Er war immerhin pünktlich.“

„Oh Mann, das habe ich ja total verschwitzt“, sagte Steffen. „Bis gleich, ich bin schon unterwegs.“

Er eilte über den Gang und fuhr mit dem Aufzug in die sechste Etage, wo der Vize sein geräumiges Büro hatte. Er klopfte an die Tür und öffnete sie im selben Moment, um hineinzustürmen.

„Steffen, darf ich vorstellen?“, begrüßte ihn Robert. „Das ist Kriminaloberkommissarin Linda Sachse. Sie ist deine neue Partnerin. Ihr seid das neue Duo bei der Frankfurter Mordkommission.“

Vor ihm saß die junge Frau mit dem platinblonden Pagenkopf.

Steffen ging auf sie zu, sie stand von ihrem Sessel auf und reichte ihm die Hand. Sie war etwa im gleichen Alter wie der junge Vize, so Mitte dreißig. „Steffen, Steffen Anbach. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

„Nun, kurz kennengerlernt haben wir uns ja schon, nicht wahr?“ Sie lächelte. „Ich bin Linda, Linda Sachse.“

„Ja, dann wäre das ja schon mal geschafft“, sagte Robert, während Steffen und Linda sich setzten. „Erzählen Sie doch ein bisschen über sich, Frau Sachse.“

„Ich war bei der Mordkommission in Kassel“, begann Linda. „Weil ich mich verändern wollte, habe ich mich hier in Frankfurt am Main beworben. Ich wollte einfach mal das Leben in einer richtigen, pulsierenden Großstadt kennenlernen, wo ordentlich was los ist. Und zu meinem großen Glück bin ich genommen worden.“

„Das stimmt, hier ist immer was los“, erwiderte Robert. „Die Stadt kommt einfach niemals zur Ruhe. Haben Sie denn schon eine Wohnung gefunden? Das ist ja nicht so leicht. Falls nicht, dann können wir Ihnen dabei gerne behilflich sein. Auch Steffen wird Sie sicher dabei unterstützen.“

Steffen nickte bestätigend.

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich habe eine kleine Wohnung in Sachsenhausen gefunden, in der Schweizer Straße. Eingezogen bin ich schon letzte Woche. Vor meinem Dienstantritt wollte ich mich in meiner neuen Umgebung etwas umsehen.“

„Und, wie gefällt Ihnen Ihre neue Wirkungsstätte?“, fragte Steffen.

„Auf den ersten Blick ganz gut, obwohl es hier ein paar ganz schön finstere Ecken gibt.“

„Und in die haben Sie sich auch schon vorgewagt?“

„Natürlich, es liegt in meinem Naturell, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das war immer schon so, vermutlich wollte ich deshalb auch zur Polizei“, sagte sie und schaute Steffen dabei fest in die Augen.

„Das ist genau die richtige Einstellung, solche Polizisten mit Hirn und Verstand, die brauchen wir in unserer Stadt.“ Robert klopfte auf die Schreibtischplatte, als würde er Beifall spenden. „So, ich freue mich wirklich auf unsere gemeinsame Zusammenarbeit. Meine Tür steht Ihnen immer offen. Machen Sie davon Gebrauch, ganz egal, wo der Schuh drückt.“ Robert stand von seinem Sessel auf. „Die erste Zeit wird Steffen Sie ein wenig unter seine Fittiche nehmen.“

„Ich brauche eigentlich keinen Beschützer“, entgegnete Linda. „Wenn es sein muss, dann kann ich mich selber durchbeißen. Ich brauche nur jemanden, auf den ich mich voll und ganz verlassen kann.“

„Da sind Sie bei Steffen an der richtigen Stelle“, sagte der Vize.

„Das stimmt absolut.“ Steffen reichte ihr die Hand. „Nenn mich Steffen, einverstanden?“

„Ja, gerne, ich bin Linda.“

„Auf gute Zusammenarbeit“, sagte Steffen und lächelte.

„Ja, auf gute Zusammenarbeit.“ Linda spiegelte sein Lächeln. Sie wirkte völlig natürlich, da war nichts Gespieltes, nichts Künstliches.

Steffen hielt seiner neuen Partnerin die Tür auf, und gemeinsam verließen sie Roberts Dienstzimmer.

„Wessen Augen wolltest du denn da vorhin auskratzen, Linda?“, fragte er, als sie zum Aufzug gingen.

„Wie bitte? Ach so, du meinst mein Telefonat?“ Sie schlug sich seicht vor die Stirn und lachte. „Das ist eine alte Geschichte. Sie ist Schnee von gestern und ohne jede Bedeutung. Mein neues Leben fängt jetzt und hier an.“ Mit Elan warf sie sich den Gurt ihrer Handtasche über die Schulter.

Steffen schmunzelte. „Komm, Linda“, sagte er, „ich lade dich auf einen schnellen Espresso ein. So erfährst du auch schon mal, wo sich unsere Kantine befindet. Ich denke, das kann nicht schaden.“

„Gern, aber ich nehme lieber einen grünen Tee.“

ZWEI

Es war Samstagnachmittag, und Linda räumte ihre kleine Wohnung auf, als es klingelte. Das muss Nadine sein, dachte sie. Sie lief in den Flur und drückte den Türöffner.

„Hey, Nadine, was für eine Überraschung, dass du mich in Frankfurt besuchen kommst!“ Schwungvoll öffnete Linda ihrer Freundin aus Kindertagen die Wohnungstür. Sie freute sich über ihren Besuch. Es war schön, vertraute Gesichter um sich zu haben.

„Na klar, ich muss doch unbedingt wissen, wie es meiner besten Freundin nach all den Wochen in der fremden Großstadt geht und wie sie sich dort eingelebt hat.“ Sie fielen sich in die Arme.

Als Nadine eingetreten war, spähte sie durch den Raum.

„Schau dich gerne um“, sagte Linda, „das hier ist meine neue Bleibe. Klein, aber fein.“

Nadine streifte ihren Schal ab und spazierte durch die Zweizimmerwohnung. In der Küche blieb sie stehen. „Uh, wie schön, den alten Küchenschrank, den wir damals zusammen im Garten deiner Eltern abgebeizt haben, den hast du ja mitgenommen.“

„Ja, ich finde, der passt hervorragend hierher.“

„Klar, auf alle Fälle. Sag mal, wie geht es eigentlich deinen Eltern?“

„Ganz passabel. Bloß … Seit mein Vater aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden ist, geht er meiner Mutter gelegentlich ziemlich auf den Zeiger. Er weiß eben nicht immer, was er mit sich anfangen soll. Den lieben langen Tag im Garten rumfuhrwerken unterfordert meinen Vater eben“, sagte Linda mit einem Lächeln im Gesicht.

„Das ist ja auch kein Wunder, nachdem er über viele Jahre für die Pressearbeit der Kasseler Polizei verantwortlich war und eine Pressekonferenz nach der anderen organisiert hat.“

Linda nickte. „Magst du auch einen grünen Tee, Nadine?“

„Gerne.“

Linda nahm die zierliche chinesische Porzellankanne aus dem Küchenschrank und setzte das Wasser auf.

„Und jetzt erzähl mal, wie hast du dich eingelebt in Frankfurt?“

„Vom Stadtleben habe ich leider noch gar nicht so viel mitbekommen. Die Tage im Kommissariat sind lang, da komme ich abends nicht mehr zu viel. Aber ich glaube, dass ich mich bald eingearbeitet haben werde, und dann mache ich hier die Gegend unsicher.“

Nadine musste kichern, weil Linda sich entschlossen wie Tarzan mit der Faust auf den Brustkorb hämmerte. Dann setzte sie sich auf den einzigen Stuhl in Lindas Küche.

„Wie sind denn deine neuen Kolleginnen und Kollegen im Präsidium so? Kommst du gut mit denen klar?“

Etwas leiser als zuvor sagte Linda: „Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich die einzige Frau, die in dieser Riesenbehörde arbeitet. Als wäre ich ausschließlich von Männern umgeben.“

„Das muss ja nicht immer schlecht sein“, warf Nadine lachend ein.

„Kommt immer darauf an.“ Der Wasserkessel pfiff, und Linda nahm ihn vom Herd, um abzuwarten, bis sich das Wasser auf die richtige Temperatur abgekühlt hatte. „Steffen, mein Teampartner, ist irgendwie ein wenig seltsam und introvertiert. Ich glaube, tief in seinem Herzen ist er ein Altlinker geblieben. Du weißt schon, so ein Ehemaliger-Hausbesetzer-Typ.“

„Aha!“, sagte Nadine interessiert. „Erzähl mir mehr von ihm!“

„Im Grunde ist er sicher ein ganz feiner Kerl. Aber manchmal geht es mir auf die Nerven, dass er immer das Sagen haben will. In puncto Gleichberechtigung hat er noch deutlichen Nachholbedarf.“

„Okay, ich verstehe. Aber ich bin mir sicher, dass du das noch hinbekommen wirst. Da kenn ich dich nur zu gut. Ist er denn verheiratet?“

„Er ist wohl geschieden. Genaues weiß ich aber nicht. Ich weiß nur, dass er eine Tochter hat, die in Wien Medizin studiert. Was sein Privatleben angeht, da verhält er sich eher zugeknöpft.“

Linda nahm den Kessel und goss bedächtig das heiße Wasser über den grünen Tee in die Kanne.

„Hast du eigentlich noch mit Karim Kontakt?“, wollte Nadine wissen.

Vor Schreck verschüttete Linda etwas von dem kochenden Wasser. „Hör mir bitte mit dem Typen auf! Ich kann seinen Namen echt nicht mehr hören. Eine Zeit lang hat er mich fast jede Stunde angerufen oder mir eine Nachricht geschickt. Am schlimmsten war es am Abend und in der Nacht. Da hat er mich regelrecht bombardiert, bis ich die Nummer blockiert habe. Jetzt schreibt er mir Mails von immer neuen Adressen aus. Die meisten lösche ich gleich wieder, aber in der letzten Zeit sind es nicht nur Liebesschwüre, sondern immer mehr Drohungen ...“ Linda grauste sich schon vor dem Moment, in dem Karim plötzlich vor ihrer Tür stehen würde.

„Stalkt er dich etwa?“, sagte Nadine mit Entsetzen in der Stimme.

„Ich denke, so kann man das schon nennen, was dieser Vollpfosten mit mir macht.“ Linda wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Nadine sprang vom Stuhl auf, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. „Das ist ja furchtbar, da musst du dringend was unternehmen. Über kurz oder lang wirst du noch krank durch den Mist, den der da veranstaltet.“

Lindas Tränen nahmen ungehindert ihren Lauf. Laut schluchzend lag sie in den Armen ihrer Freundin.

„Lass dich fallen und lass den Schmerz raus, das tut dir gut!“, sagte Nadine und strich ihr durchs Haar.

Linda wusste, Nadine hatte recht. Sie würde sich von nun an massiv gegen Karim zur Wehr setzen. So konnte das einfach nicht weitergehen. Gut, dachte Linda, wenn man eine beste Freundin hat.

DREI

Am Abend kam Steffen spät nach Hause. Wie gewöhnlich öffnete er seinen Briefkasten im Erdgeschoss des alten Jugendstilhauses in Frankfurt-Bockenheim, und nahm die Post heraus. Auf den ersten Blick erkannte er auf einem der Umschläge die Adresse vom Betreuungsgericht. Angespannt stieg er die alte Holztreppe hinauf zu seiner Wohnung. In der Küche schenkte er sich ein Glas von dem guten Rotwein ein und setzte sich damit auf das Sofa im Wohnzimmer.

Es war minimalistisch eingerichtet. Dominiert wurde der Raum durch ein mannshohes Bücherregal. Die Möbel bestanden durchweg aus zeitlosen Klassikern.

Als er das Schreiben vom Gericht gelesen hatte, legte er es vor sich auf den Tisch. So kann es einem ergehen, überlegte er. Plötzlich ist man nicht mehr Herr seiner Sinne, und andere müssen über dich bestimmen.

Aus einem Impuls heraus griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner Tochter Lilli, die gerade ein Praktikum in Neuseeland machte. Ihr Freund Lewis stammte aus Auckland und sie hatte die Gelegenheit genutzt, um seine Heimat kennenzulernen. Er sah kurz auf seine Armbanduhr und dachte, dass es schon passen würde. Neuseeland war der Zeit um rund zwölf Stunden voraus.

„Hallo, Lilli, ich bin es, dein Dad.“

„Hey, Papa, alles fine?“

„Ich wollte mich nur mal kurz bei dir melden, Lilli. Oder störe ich gerade?“

„Nein, das ist aber schön, dass du anrufst. Was gibt es denn für Neuigkeiten?“

Steffen nahm tief Luft, sein Brustkorb spannte sich. „Es ist nun amtlich, Lilli, das Gericht hat mich zu Opas Betreuer bestellt. Jetzt bin ich für Otto verantwortlich“, seufzte er. „Mit seinen 82 Jahren ging es einfach nicht mehr anders. Die Krankheit lässt sich nicht zurückdrehen.“

„Was hat Opa denn dieses Mal angestellt? Hat er wieder einen Baum in seinem Garten abgefackelt oder die kompletten Mülltonnen in der Nachbarschaft vertauscht?“

„Wenn es nicht so tragisch wäre, müsste man eigentlich darüber lachen. Opa hat mit Gewalt versucht, ins Haus einzudringen. Leider nicht in sein eigenes. Es muss ein ziemliches Durcheinander gegeben haben. Die liebe Nachbarschaft war völlig aus dem Häuschen.“

„Oh je, der arme Kerl, da blutet mir richtig das Herz. Und was machst du jetzt mit ihm? Du hast ja schließlich einen Fulltime-Job und damit alle Hände voll zu tun.“

„Im Moment möchte ich, dass er so lange, wie es möglich ist, zu Hause in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann. Ich muss Pfleger finden, die ihn rund um die Uhr betreuen können. Das wird bestimmt nicht einfach, bei seiner herrischen Art.“

Am anderen Ende der Leitung kicherte Lilli leise, doch er seufzte. „In seinen wenigen lichten Momenten spielt er sich immer noch so auf, als sei er der Halbgott in Weiß, der er früher in der Klink einmal gewesen ist und vor dem keine der Krankenschwestern sicher war. Spätestens seit der Me-too-Bewegung geht so etwas gar nicht mehr. Einfach unvorstellbar.“

„Ja, das stimmt. Aber du kriegst das schon hin, Papa. Ich bau auf dich!“

„Danke für die Vorschusslorbeeren.“

„Ich muss jetzt leider Schluss machen, es hat an der Tür geklingelt, das wird Lewis sein. Wenn ich dich das nächste Mal besuchen komme, dann fahren wir zusammen zum Opa Otto, versprochen. Der wird sich bestimmt mächtig freuen, wenn er uns beide sieht. Mach’s gut, Papa.“

Damit hatte Lilli schon wieder aufgelegt. Jetzt war sein übermächtiger Vater, der sein ganzes Leben lang tonangebend war, wieder zum Kind geworden, und er trug nun für seinen alten Herrn die Verantwortung, sinnierte er.

Er nahm einen Schluck Wein, spazierte in die Küche und bereitete sich mit Brot, Ei, Schinken und eingelegten Gurken einen ordentlichen Strammen Max, so wie er es vor Jahr und Tag von seinem Vater gelernt hatte.

VIER

Einige Monate später

Steffen hatte einen Tag Urlaub. Er hatte deutlich länger geschlafen als an den Tagen, an denen er pünktlich seinen Dienst im Präsidium in der Adickesallee antrat.

Gut gelaunt warf er sich seinen Bademantel über und spazierte durch das Treppenhaus, um die Post zu holen.

Überall roch es nach frischem Bohnerwachs, die Reinigungsfirma aus Rödelheim hatte die Treppen auf Vordermann gebracht. Seit über zwanzig Jahren wohnte Steffen nun schon in der Altbauwohnung im Frankfurter Stadtteil Bockenheim. Er lebte gerne in dem alten Jugendstilhaus. Die Nachbarn hielten Distanz, und jeder Mieter genoss seine Ruhe und seinen Frieden.

Er wünschte sich von Herzen, im Briefkasten eine Ansichtskarte seiner Tochter Lilli zu finden. Was Karten und Briefe anging, war Steffen, der in der fünften Dekade seines Lebens stand, ein wenig altmodisch. Statt der vielen „Pics“, die man im Sekundenbruchteil von Smartphone zu Smartphone versandte, war ihm eine von Hand geschriebene Postkarte mit ein paar persönlichen Worten seiner Tochter, die viele Tausend Kilometer mit der klassischen Post zurückgelegt hatte, wesentlich lieber. Aber klar, das war mit Zeit und viel Aufwand verbunden.

Er steckte den filigranen Schlüssel in das Schloss des handgeschmiedeten Briefkastens und drehte ihn mit einem leichten Ruck nach rechts.

Im Inneren lag ein blütenweißer DIN-A4-Briefumschlag mit seinem Namen und seiner Adresse darauf. Daten des Absenders suchte Steffen vergebens.

Er klemmte sich den Umschlag unter den Arm. Nach einer Postkarte aus dem fernen Neuseeland suchte er vergeblich.

Schon während er die dunklen, schweren Treppenstufen zu seiner Wohnung im ersten Stock hinaufstieg, riss er den Umschlag auf. Ein weiterer, kleinerer Briefumschlag steckte darin. Er nahm ihn mit spitzen Fingern heraus und betrachtete ihn neugierig.

Zu seinem Erstaunen handelte es sich um ein Poststück, das offenbar vor Jahrzehnten geschrieben worden war. So, wie es auf den ersten Blick aussah, war es niemals geöffnet worden und hatte seinen eigentlichen Empfänger wohl nie erreicht.

Auf dem grauen Umschlag war ein verwaschener blauer Poststempel mit dem Datum vom 28. November 1989. Soweit Steffen es entziffern konnte, stammte er vom zentralen Posteingang am Frankfurter Flughafen.

Steffen sah auf die Adresse des Empfängers. Der Brief war an den damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Heinrich Boge, in Wiesbaden gerichtet. Auch auf dem alten Brief fand er keinen Absender.

Er schloss die Wohnungstür hinter sich. Was hatte das zu bedeuten? Handelte es sich um eine Verwechslung?

An der Küchentheke nahm er ein scharfes Messer aus dem Messerblock und öffnete den Brief vorsichtig.

Ein Schlag durchfuhr ihn. Dieses Zeichen kannte er doch! Hielt er wirklich ein Schreiben der Roten Armee Fraktion aus dem Jahr 1989 in der Hand?

Er war auf der Stelle davon überzeugt, dass es sich um ein Original handelte. Das Logo mit dem Maschinengewehr vor dem roten Stern hatte er aus seiner Jugend noch in deutlicher Erinnerung.

Das Schreiben, das aus zwei Blättern bestand, war mit einer Schreibmaschine verfasst worden. Steffen überflog den Text. Der größte Teil bestand aus einer schier endlosen Zahlenreihe.

Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er war normalerweise nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, doch das ... Wer hatte ihm diesen Brief untergeschoben? Und vor allem warum? Was bezweckte man damit?

Kopfschüttelnd steckte er die Blätter zurück in den Umschlag. Mit einem Mal fühlte er sich zurückversetzt in die Achtziger- und Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts. In längst vergangen geglaubte Zeiten. Der eine oder andere Sympathisant der Roten Armee Fraktion war ihm durchaus bekannt gewesen. Auch mit einigen wenigen der maßgeblichen Akteure hatte er flüchtigen Kontakt gehabt. Mehr aber auch nicht.

Sein alter Herr war damals fast ausgerastet, als er sich die Haare wachsen ließ und mit seinem grünen Parka durch die Szene-Kneipen schlich. Über politische Themen konnte man mit dem Alten überhaupt nicht reden. Der war stramm konservativ, etwas anderes kam für ihn überhaupt nicht infrage.

Steffen griff nach seinem Smartphone, um Linda anzurufen. Um diese Uhrzeit war sie sicher schon im Präsidium.

„Hey, Steffen“, meldete sie sich.

„Grüß dich, Linda“, sagte Steffen. „Kannst du mir einen dringenden Gefallen tun? Bitte geh schnell ins Archiv und suche alles heraus, was du dort über den Anschlag auf Alfred Herrhausen, den Sprecher der Deutschen Bank, am 30. November 1989 finden kannst.“

„Puh, das ist aber lange her. Sind so olle Kamellen überhaupt noch da eingelagert? Du weißt doch, da gibt es Aufbewahrungsfristen und so weiter.“

„Schau bitte einfach mal nach, Linda. Ich komme gleich zu dir ins Präsidium. Es ist wirklich wichtig!“

„Aber heute hast du doch deinen freien Tag“, erwiderte Linda. „Nimm dir doch auch mal Zeit für dich und denke nicht immer nur an die verfluchte Arbeit. Und worum geht’s denn überhaupt?“

„Ich bin gleich bei dir, dann erzähle ich dir alles ganz genau“, sagte Steffen. „Du wirst es kaum glauben. Hau rein, Linda! Da könnte eine spannende Geschichte auf uns zukommen.“

„Okay, ich werde mein Bestes geben. Aber weißt du eigentlich, dass du einen richtiggehend triezen kannst?“

Lächelnd legte Steffen auf und zog sich an. Als er die Wohnung verließ, nahm er die schwere Lederjacke mit dem Pelzkragen vom Haken. Er hatte das sichere Gefühl, dass ihnen anstrengende Tage bevorstanden.

FÜNF

Anfang der Siebzigerjahre

Sie trug eine knallrote Kunstlederjacke und eine weite gestrickte, weiße Wollhose. Hastig zog sie an einer Zigarette.

Den hellen Rauch stieß sie durch die Nase wieder aus, dabei verzog sie ihre Lippen.

Für gewöhnlich hatte sie blonde Haare, die weit über ihre Schultern fielen. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihr Haar radikal gekappt und dunkel gefärbt.

Gudrun Ensslin war nicht mehr wiederzuerkennen. Sie mimte gekonnt einen völlig anderen Typ von Frau. Wegen ihrer tiefen dunklen Augenränder sah die Pfarrerstochter aber immer ein wenig erschöpft und kränklich aus.

Sie war, wie so häufig, absolut in Rage. Mit ihren weißen Stiefeln stampfte sie lauthals durch die Frankfurter Altbauwohnung.

Dieser Kerl von der Bewegung 2. Juni, der aus heiterem Himmel vor ihrer Tür stand, hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie hätte diesen Typen besser gar nicht erst in die Wohnung gelassen.

Jetzt war es zu spät. Sie saß in der Falle und verfluchte, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Es war ihr zuwider.

Michael „Bommi“ Baumann fläzte sich mit seiner schwarzen Lederjacke und seiner dunklen Lederhose auf einer der vielen Matratzen, die auf dem Boden des vormaligen herrschaftlichen Speisesaals lagen und jetzt als das Schlaflager der Kommunarden dienten.

Gudrun lebte mit Andreas Baader nur sporadisch in dem ehemals gutbürgerlichen Gebäude aus der Jahrhundertwende zusammen. Von den Bürgern der Stadt wurde es „das besetzte Haus“ genannt und von der Polizei argwöhnisch beobachtet.

Bommi hatte lange braune Zottelhaare, er war gelernter Betonbauer. Die meiste Zeit machte er Ärger und Krawall auf den Straßen. Einfach so, weil er es konnte und Spaß daran hatte. Gelegentlich organisierten er und seine Kumpanen Auseinandersetzungen mit der Polizei, zum Zeitvertreib und um zu provozieren.

Seinen Spitznamen Bommi trug er schon als Schüler. Er stellte in Gudruns vager Erinnerung eine Anspielung auf eine Aquavitmarke dar. Als sonderlich ausgefallen oder als Ausdruck von Intelligenz empfand sie den Namen nicht.

„Eines sage ich dir gleich, Baumann! Bei uns, in unserer Gruppe, wird nicht mal eben aus Spaß gekifft oder sonst was eingeworfen.“ Gudrun zog heftig an ihrer fast heruntergebrannten Zigarette. „Das ist hier komplett anders als bei deinem ehemaligen Verein, diesem Sauhaufen, der sich Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen genannt hat.“ Ihre Stimme klang schneidend.

Bommi sah sie schweigend an.

„Und eins kannst du dir auch gleich aus deinem Schädel schlagen, Baumann. Ich meine das echt ernst!“ Jetzt schrie sie beinahe. „Gruppensex oder irgendeinen anderen Scheiß mit den jungen Weibern, die hier gelegentlich rumhängen und so tun, als würden sie zu uns gehören, das gibt es nicht. Das kannst du vergessen! So was läuft bei uns nicht, da werde ich echt zur Furie!“

Gudrun war furchtbar wütend. Ein letztes Mal inhalierte sie den Rauch ihrer Filterzigarette tief ein. Dann drückte sie den Stummel energisch in einem Terracottatopf aus, in dem eine Zimmerpflanze langsam, aber sicher verrottete. Den Zigarettenfilter mit einer Spur ihres roten Lippenstifts wühlte sie mit ihren schlanken Fingern in die staubtrockene Erde.

Bommi richtete seinen massigen Oberkörper auf. Er starrte sie an. „Mann, bist du heute wieder zickig“, sagte er. „Ständig spielst du dich auf. Lass mir doch auch mal ein bisschen Spaß!“

„Die Revolution ist eine Pflicht!“, rief Gudrun. „Sie ist eine verdammte Verpflichtung, wir machen das Ganze nicht aus Spaß an der Freude. Wir meinen es todernst. Alles, was Spaß macht, ist überflüssig und steht der Revolution bloß im Weg.“ Gudrun verschränkte ihre Arme vor der Brust. „So etwas brauchen wir eben nicht. Es hält uns nur von den wichtigen Dingen in der Welt ab.“

Sie starrte demonstrativ aus dem großen Fenster. Auf dem kleinen Wochenmarkt, der direkt gegenüber auf dem Platz neben der Kirche abgehalten wurde, herrschte emsiges Treiben.

An der Straßenecke entdeckte sie zu ihrem Ärger den grünen Streifenwagen der Polizei, den sie schon seit Tagen immer mal wieder vor dem Haus gesichtet hatte. So, wie sie die Sache einschätzte, wurde das Objekt, in dem sie zurzeit lebte, observiert. Waren die Bullen ihr und Baader auf die Schliche gekommen?

Bommi meinte mit heiserer Stimme: „Du und deine Gurkentruppe, ihr seid doch alle komplett bescheuert! Richtig plemplem.“

Klatsch. Er schlug sich mit der flachen Hand auf seine Stirn. Dann reckte er seinen schweren Schädel in die Höhe, kratzte sich am Kinn und sagte verächtlich: „Ihr habt doch echt alle einen an der Waffel, den kompletten Sockenschuss habt ihr abbekommen.“

Bommi legte umständlich die Beine über seine Knie, bis er im Schneidersitz saß. „Ich wollte euch bloß unsere Unterstützung anbieten. Hilfe von der einen Gruppe für die andere. Wir ziehen doch beide am selben Strick. Ganz einfach so. Quasi als Nachbarschaftshilfe. Der eine Genosse für den anderen. Wir müssen doch zusammenhalten, oder sehe ich das falsch? Außerdem müssen wir die Leute auf der Straße besser über unsere Aktionen informieren. Die müssen einfach Bescheid wissen, was wir genau tun und wofür wir mit unseren Aktionen einstehen. Wir müssen unsere Taten besser verkaufen. Vielleicht brauchen wir auch so einen skrupellosen Manager, wie die Stones oder die Beatles einen haben, der so was für uns macht.“

Gudrun schwieg eisern, dann sagte sie ernst: „Es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen.“ Sie blickte Bommi scharf an. „Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungsaktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Alles-besser-Wissern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes.“

Bommi war einen Moment lang sprachlos. Verlegen spielte er mit dem verschwitzten Lederriemen, den er um seinen massiven Hals trug und an dem ein Adleranhänger befestigt war.

„Meine liebe Gudrun, du scheinst völlig vergessen zu haben, dass seit der letzten Polizeiaktion die Hälfte eurer Leute im Knast vor sich hinschmort. Irgendwann werden die hinschmeißen. Du hast keine Vorstellung von dem Lagerkoller, der dich da erfasst. Wenn der Knastdirex alles richtig macht, wissen die nachher nicht mehr, wie ihre Mutter mit Geburtsnamen hieß.“

Bommi kratzte sich ungeniert an seinem fetten weißen Bauch, der sich unter der Lederjacke freigelegt hatte. „Meine Männer und ich haben die Befreiung der inhaftierten Genossen auf Hochtouren und bis in jedes kleine Detail geplant. Alles ist gut vorbereitet. Wir haben das Gefängnis mehrere Tage lang ausgekundschaftet und meterlange bewegliche Leitern hergestellt, um die Genossen über die Mauern zu bringen.“

Gudrun warf ihrem Besucher bloß einen Blick voller Verachtung zu, sagte aber nichts weiter. Sie machte sich ihre eigenen Gedanken über den Krawallmacher, der auf den Matratzen lag und ihr mit seinem Geschwätz die Zeit stahl.

Bommi brachte ihr Schweigen offenbar immer mehr in Rage. „Wir lassen uns von euch Idioten nicht im letzten Moment stoppen. Das kannste vergessen. Wir werden das Ding dann eben allein und ohne euch Irren durchziehen!“ Bommi presste seine Lippen zusammen. „Ihr seid doch selber die größten Faschos, die hier rumlaufen und sich wichtigtun. Ihr mit eurem elitären und völlig verklemmten Gedankengut!“

Wieder machte es klatsch. Bommi schlug sich mit der rechten Faust demonstrativ in die linke Hand. „Ihr pseudointellektuellen Arschlöcher, ihr wollt doch immer alles alleine bestimmen und dabei das letzte Wort haben. Du kannst dir gar nicht ausmalen, wie sehr mir das auf die Eier geht.“

Gelassen griff Bommi sich in den Schritt. Dann rappelte er sich von der Matratze auf, richtete seine dunkle Lederhose und reckte seine Arme hinter dem Kopf in die Höhe. Er gähnte genüsslich.

Gudrun sah angewidert zu ihm hinüber. Sie bastelte sich eine weitere Filterzigarette aus der verknitterten Schachtel heraus und zündete sie nervös mit einem Streichholz an.

Bommi stolzierte mit seinen schweren Springerstiefeln auf Gudrun zu. Er baute seinen mächtigen Körper direkt vor ihr auf. So dicht stand er vor ihr, dass sie keine andere Wahl hatte, als seinen alten Schweiß einzuatmen. Eine funktionsfähige Dusche hatte Bommi wohl vor mindestens drei Tagen das letzte Mal gesehen.

„Dafür seid ihr Idioten von der Bewegung 2. Juni die allerletzten Schwachköpfe“, echauffierte sie sich. „Nutzlose Kreaturen, wie ihr es seid, habt ihr das Gelingen der Revolution echt nicht verdient. Ihr habt ja nicht mal eine richtige Theorie oder auch nur einen vagen Plan, wie ihr die Aktionen begründen wollt. Das ist genau so, als würde man Perlen vor die Säue werfen.“ Sie schnaufte giftig. „Ihr habt doch bloß kiffen und immer nur ficken, ficken und ficken in eurer hohlen Birne. Sonst seid ihr für nichts zu gebrauchen!“

„Sei bloß froh, dass du nur eine verdammte Schlampe bist“, erwiderte Bommi. „Wenn es anders wäre, hätte ich dir wegen deinem blöden Gequatschte schon längst eins in deine dumme Fresse gehauen. Aber echt ordentlich, mit Karacho.“

„Kapierst du es denn immer noch nicht, Baumann? Bist du wirklich so blöd oder tust du nur so bescheuert? Wir kommen ideologisch einfach nicht zusammen. Zwischen unseren beiden Gruppierungen liegen Welten“, sagte sie. „Wir sind die Elite. Wir kennen den richtigen Weg, und ihr seid nichts als Abschaum.“

„Scheiß doch auf deine Ideologie. Lass dich besser mal wieder richtig durchficken!“ Bommi knöpfte seine Lederjacke zu und verließ die Wohnung mit schweren Schritten.

Gudrun hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss krachte. Kurz darauf drang das mächtige Brummen von Bommis Motorrad an ihr Ohr. Er machte also endlich die Fliege, dachte sie erleichtert. Mit solchen Typen, wie Baumann einer war, und seinen dumpfbackigen Kollegen konnte man keine vernünftige Revolution auf die Beine stellen. Diese planlosen Chaoten waren zu sehr integraler Bestandteil des imperialistischen, kapitalistischen und militärischen Schweinesystems, das sie als überzeugte Marxistin mit allen Mitteln bekämpfte.

Sie war voller Bitterkeit. Für den ganzen Mist, den sie sich vorgenommen hatte, hatte sie ihren eigenen Sohn verlassen, um den sich ihr ehemaliger Lebensgefährte Bernward jetzt allein kümmerte.

Sie war Schulter an Schulter mit Andreas Baader, den sie zärtlich „Baby“ nannte, aufgebrochen, um die Welt nach ihrer eigenen Vorstellung grundlegend zu verändern.

 Das ganze alte Nazi-Pack, das immer noch das Sagen hatte, musste weg. Die Ausbeutung der arbeitenden Klasse wollte sie beenden.

Gudrun hatte hehre Ziele vor Augen, um die Welt nach ihren Vorstellungen besser zu gestalten. Sie wusste, dass sie all ihre Kraft dafür aufwenden musste.

Bommi hatte die Nase gestrichen voll von dieser Revoluzzerin und fuhr mit seiner schweren BMW zu seiner Stammkneipe. Da würde er auf seine Kumpels treffen und mit denen locker ein paar Bierchen vernichten.

Das Gespräch mit Gudrun war gehörig in die Hose gegangen, das war ihm schon nach den ersten zwei Sätzen klar geworden, die er mit der zierlichen Frau gewechselt hatte. Sie war furchtbar steif und total verbissen. Vermutlich war sie sogar ein wenig schizo, überlegte er. In ihrem Kopf war alles bloß voller Ideologien und Theorien, sie dachte nur in Schwarz-Weiß. Richtige Farben hatte Gudrun sicher keine in ihrem Repertoire.

Bommi stellte das Motorrad nahe seiner Lieblingskneipe an einer Hauswand ab. Er war durstig. Das erste Bier würde er in einem Zug exen.

Wie die wohl im Bett war, fragte er sich. Dabei wusste er genau, dass er das niemals am eigenen Leib erfahren würde. Es war ausgeschlossen, dass die Alte ihn ranlassen würde. Zwischen ihnen lagen tatsächlich Welten. Das war schlicht und ergreifend die Wahrheit! Insoweit hatte Gudrun durchaus recht gehabt. Bommi hatte noch nie den Hörsaal einer Uni von innen gesehen und auch nicht die fachlichen Voraussetzungen. Dafür hatte Bommi ein ungetrübtes Auge für die Realität. Er wusste auf den Punkt genau, wie weit man sie verbiegen konnte und wann Grenzen überschritten waren.

Seine Kumpels und er liebten die Freude an der Auseinandersetzung mit dem Establishment. Den Kampf gegen die alten Rechten und die alten Knacker, die trotz des verlorenen Kriegs immer noch das Sagen hatten.

Sollte Gudrun, diese blöde Schizo-Tante, ihre versiffte und völlig verklemmte Revolution doch allein auf die Beine stellen. Er kroch ihr nicht mehr länger in den Arsch, damit war definitiv Schluss. Niemals würde er sich bei ihr und Andreas wieder anbiedern.

Von Weitem erkannte Baumann seinen alten Freund Georg von Rauch. Laut rief er ihm zu: „Gehste Theke?“

Georg nickte Bommi völlig tiefenentspannt zu.

„Dann bring doch gleich vier Pils für uns zwei mit! Ich hab einen ordentlichen Brand.“

„Mach ich, Kumpel. Kannst dich auf mich verlassen, weißt du doch.“

Bommi lümmelte sich auf einen Stuhl, der vor einem leeren Tisch mit zwei Hockern stand. Seine schwere Motorradjacke pfefferte er an die Wand. Er freute sich auf einen geselligen Abend mit Georg. Wenn sie beide zusammensaßen und einander von ihren Großtaten im Straßenkampf erzählten, dann floss das Bier hektoliterweise.

Da kam Georg ja. Bommi nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas, das ihm sein Kumpel in die Hand gedrückt hatte. Mit dem Handrücken wischte er sich genüsslich den Schaum von den Lippen. Nur gut, dass diese verbissene Gudrun nicht dabei war!

SECHS

„Ich habe das alte Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion aus dem Archiv gewühlt und kopiert“, sagte Linda. „Es wurde damals an fünf Zeitungsredaktionen verschickt und trägt das Datum vom 2. Dezember 1989.“ Sie hielt das Schreiben in die Höhe und wedelte damit.

„Das ist ja hochinteressant, zeig doch mal her“, sagte Steffen. „Was haben die denn damals so geschrieben, die Bekenner?“

Er rückte näher an den Schreibtisch heran, vor dem seine Kollegin mit Jeans und T-Shirt stand. Das Holster mit der Dienstwaffe hing wie immer quer über ihrer Brust.

Linda legte das Blatt auf den Tisch. „Also, da steht wörtlich: ‚Am 30.11.1989 haben wir mit dem Kommando Wolfgang Beer den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, hingerichtet, mit einer selbstgebauten Hohlladungsmine haben wir seinen gepanzerten Mercedes gesprengt.‘“

Linda sah Steffen mit großen Augen an und fuhr fort: „‚Durch die Geschichte der Deutschen Bank zieht sich die Blutspur zweier Weltkriege und millionenfacher Ausbeutung, und in dieser Kontinuität regierte Herrhausen an der Spitze dieses Machtzentrums der deutschen Wirtschaft; er war der mächtigste Wirtschaftsführer in Europa.‘“

Linda hielt kurz inne. „Danach kommen noch ein paar pauschale Ausführungen dazu, wie scheiße das kapitalistische System ist und warum das Schweinesystem unbedingt zu besiegen ist und so weiter, und so weiter. Ich kann damit nicht viel anfangen, das klingt alles irgendwie so pathetisch. Und auch ein bisschen verschwurbelt. So als hatten die damals schon Aluhüte auf dem Kopf.“

Steffen nickte. Er verstand Linda nur zu gut, er fand die Worte der RAF beliebig und austauschbar.

„Besonders aufschlussreich ist das in meinen Augen leider nicht“, sagte er.

Linda kramte in ihren Unterlagen und legte die Kopie eines weiteren Schreibens auf den Tisch.

„Hier habe ich noch einen alten Vermerk aus dem Archiv mitgebracht“, sagte sie. „Viel mehr habe ich aber leider nicht gefunden. Das meiste dürfte beim Bundeskriminalamt sein. Die haben seit 1975 wegen der Aktivitäten der Roten Armee Fraktion die Abteilung zur Bekämpfung des Terrorismus aufgebaut.“

„Du hast dich ja schnell in die Materie reingeschafft“, sagte Steffen.

Linda lächelte. „In dem Vermerk hier heißt es, dass sich Unbekannte noch am Tag des Attentats telefonisch bei der Familie des Opfers gemeldet haben“, erklärte sie. „Sie offenbarten der Witwe, dass hinter dem Anschlag die dritte Generation der Roten Armee Fraktion steckt, die für die Durchführung der Aktion internationale Terrorpartner mit eingesetzt hat. Außerdem wird in dem Vermerk davon berichtet, dass man unter der Sprengvorrichtung ein eingeschweißtes Dokument fand. Darauf soll sich das berühmte Logo der RAF befunden haben, eine Maschinenpistole vom Typ HK MP 5 vor einem roten Stern. Darunter sollen die Worte ‚Kommando Wolfgang Beer‘ gestanden haben, wer auch immer das ist.“

Steffen nahm das Papier in die Hand und sah es sich genauer an. Der blasse Text war mit einer Schreibmaschine getippt worden und trug die Unterschrift des damaligen BKA-Ermittlers, eines gewissen Ulf Baeker.

Unschlüssig legte Steffen das Blatt wieder zurück auf die Tischplatte. Er hatte noch keinen richtigen Zugang zu der Sache gefunden, die ihm seinen freien Tag vermasselt hatte.

Wieder dachte er darüber nach, warum und wer ihm den Brief wohl zugespielt hatte. Doch so sehr er sein Gehirn mit dieser Frage auch marterte, er fand keine plausible Antwort.

Er stand von seinem Stuhl auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte nachdenklich: „Linda, versuch doch mal herauszubekommen, ob dieser Mann vom BKA noch am Leben ist, und wenn ja, ob er mit uns über die alte Sache sprechen darf und auch will.“

„Gute Idee!“ Linda verließ auf der Stelle Steffens Dienstzimmer. Beim Hinausgehen sagte sie noch: „Sobald ich was herausgefunden habe, melde ich mich. Bis später!“

Steffen beugte sich über die Kopien, die seine Kollegin mitgebracht hatte, und betrachtete sie kritisch.