Punk - Pino Rauch - E-Book

Punk E-Book

Pino Rauch

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Auf der Baustelle eines alternativen Kindergartens wird die Leiche des Punkers Arne Lobe gefunden. Er ist aus nächster Nähe erstochen worden. Die Kommissare Steffen Anbach und Linda Sachse werden gleich mit mehreren Rätseln konfrontiert. Unter mysteriösen Umständen wird ihre zuständige Staatsanwältin inhaftiert. Bald sehen sich die Kommissare dem Bundesnachrichtendienst ausgeliefert und geraten zwischen alle Fronten. Dass sie eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes und mit menschenverachtender Gesinnung aufdecken, erfährt der Leser in parallel geschnittenen Handlungssträngen, aus mehreren Perspektiven. Das eiskalte Vorgehen höchster Beamter des Bundes lässt dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Erst nach und nach schälen sich die Zusammenhänge heraus. Für Tempo und Spannung sorgen zahlreiche Wende- und Actionhöhepunkte, ebenso wie die Sicht einer unterschätzten Minderheit. Ein raffiniert gestrickter Krimi, der die Tabulosigkeit der mit Macht und Einfluss ausgestatteten Entscheider aufzeigt. Ein ebenso fesselnder, wie geschickt aufgebauter und thematisch aktueller Roman.

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Seitenzahl: 420

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Das Buch:

Auf der Baustelle eines alternativen Kindergartens wird die Leiche des Punkers Arne Lobe gefunden. Er ist aus nächster Nähe erstochen worden. Die Kommissare Steffen Anbach und Linda Sachse werden gleich mit mehreren Rätseln konfrontiert. Unter mysteriösen Umständen wird ihre zuständige Staatsanwältin inhaftiert. Bald sehen sich die Kommissare dem Bundesnachrichtendienst ausgeliefert und geraten zwischen alle Fronten. Dass sie eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes und mit menschenverachtender Gesinnung aufdecken, erfährt der Leser in parallel geschnittenen Handlungssträngen, aus mehreren Perspektiven. Das eiskalte Vorgehen höchster Beamter des Bundes lässt dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Erst nach und nach schälen sich die Zusammenhänge heraus. Für Tempo und Spannung sorgen zahlreiche Wende- und Actionhöhepunkte, ebenso wie die Sicht einer unterschätzten Minderheit. Ein raffiniert gestrickter Krimi, der die Tabulosigkeit der mit Macht und Einfluss ausgestatteten Entscheider aufzeigt. Ein ebenso fesselnder, wie geschickt aufgebauter und thematisch aktueller Roman!

Über den Autor:

Pino Rauch ist ein Pseudonym. Der Autor, der sich dahinter verbirgt, wurde 1964 in Duisburg geboren und hat in Bayreuth und Mainz Jura studiert. Seit 1993 ist er Rechtsanwalt in Wiesbaden, wo er mit seiner Familie lebt und eine auf das Wirtschaftsrecht ausgerichtete Kanzlei führt. Nachdem er verschiedene juristische Fachbücher veröffentlicht hat, legt er mit „Punk“ nach „Banden“, „Kontrollverlust“, „Eismann“ und „Engelszungen“ seinen fünften Roman vor. Er ist Teil einer Krimi-Reihe, die im Rhein-Main-Gebiet spielt. Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Dies ist ein Roman. Die Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Geschehnissen oder Personen ist reiner Zufall.

PROLOG

EINS

Tag Eins

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

Tag Zwei

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

Tag Drei

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

EINUNDFÜNFZIG

Tag Vier

ZWEIUNDFÜNFZIG

DREIUNDFÜNFZIG

VIERUNDFÜNFZIG

FÜNFUNDFÜNFZIG

SECHSUNDFÜNFZIG

SIEBENUNDFÜNFZIG

ACHTUNDFÜNFZIG

Tag Fünf

NEUNUNDFÜNFZIG

SECHZIG

EINUNDSECHZIG

ZWEIUNDSECHZIG

DREIUNDSECHZIG

VIERUNDSECHZIG

FÜNFUNDSECHZIG

SECHSUNDSECHZIG

Pino Rauch

Punk

Der fünfte Fall für Steffen Anbach und Linda Sachse

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Pino Rauch

Umschlag:© 2023 Copyright by Mai Ky Plück

Verantwortlich

für den Inhalt:Pino Rauch

Danziger Str. 64

65191 Wiesbaden

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

PROLOG

An einem frühen Morgen Mitte August spazierte Keith bei strahlendem Sonnenschein über die Baustelle des alternativen Kindergartens im Frankfurter Stadtteil Bornheim. Er war zufrieden, denn die Bauarbeiten gingen gut voran.

Der gertenschlanke Keith hatte soeben das 70. Lebensjahr vollendet. Seit Jahrzehnten gehörte er dem Café Klatsch an, dem ältesten Kneipenkollektiv, das die deutsche Gastro-Branche zu bieten hatte.

Über der verwaschenen Jeanshose hatte Keith ein schwarzes T-Shirt mit einem großen A. Auf den Augenlidern trug er einen Hauch von Kajal. An seinen Ohren baumelten silberne Creolen. Ein dunkles Piratentuch-Bandana, das er in seinen langen, weißen Haaren verknotet hatte, schützte ihn vor dem Staub auf der Baustelle.

Seit den späten Sechzigern existierte das Café Klatsch, das längst Kultstatus genoss. Jeder aus der linken Szene, der etwas auf sich hielt, ging dort ein und aus. Die Gäste fühlten sich gebauchpinselt, wenn Keith sie beim Vornamen ansprach, als würden sie in den Alnatura-Adel erhoben.

Mann, was für ein schöner Tag, dachte der alte Keith, da ging einem ja richtig das Herz auf. Bei dem tollen Wetter würde das Café Klatsch wieder ordentlich brummen und der Rubel von ganz alleine in die Taschen des achtköpfigen Kollektivs rollen.

Keith war im festen Glauben, dass heute nichts mehr schiefging. Heute würde sein Tag werden, an dem alles wie am Schnürchen lief. Das bisschen Zerren und Gliederzucken war bloß eine Nebensache. Kaum der Rede wert. Da hatte der häuserkampferprobte Haudegen schon bedeutend Schlimmeres durchgestanden.

Er schleppte einen altmodischen Nordmende-Kassettenrecorder an einer Schlaufe mit sich herum. Unentwegt dudelte der alte Rauch-Haus-Song von Ton Steine Scherben. Der ultimative Song der Hausbesetzerszene der frühen Siebzigerjahre. Keith gehörte der Bewegung vom ersten Tag mit Herzblut an. Er war überzeugt, einer von den Guten zu sein. Einer, der auf der richtigen Seite kämpfte. Aus vollem Hals sang er mit:

„Und ich schrei es laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.“

Heute stand der Einbau der modernen Fenster in den Neubau neben dem Café Klatsch auf dem Plan. Was Fensterbau anging, war Keith zwar völlig ahnungslos, aber die rote Nora, mit der er den Kindergarten hochzog, war der Meinung, dass Keith präsent sein müsse. Vertrauen sei zwar gut, aber Kontrolle in jedem Fall besser, sagte sie. Wie so oft war Keith in letzter Sekunde eingesprungen und versuchte nun, das Beste daraus zu machen.

„Na, Männer, gude, läuft denn alles nach Plan? Habt ihr alles im Griff?“, fragte er den untersetzten Polier Pjotr, der einen Trupp von fünf Bauarbeitern anführte.

Mit großem Appetit futterte Pjotr ein halbes Pfund Fleischwurst mit scharfem Senf aus der hohlen Hand. Statt zu antworten, erwiderte der Polier genervt: „Mensch, Keith, mach doch endlich mal das schreckliche Gedudel aus, das olle Geplärre kann ja keiner mehr ertragen!“

Kopfschüttelnd deutete der Polier mit der Fleischwurst auf den staubigen Kassettenrecorder, der dem Alten am Hals baumelte.

„Mensch, immer hast du bloß was zu meckern, Pjotr. Stets dieselbe Leier von dir“, stöhnte Keith theatralisch. „Dir fehlt eben das notwendige Kollektiv-Gen. Du hast das Thema Solidarität einfach nicht auf dem Schirm.“ Keith drehte die Musik demonstrativ noch weiter auf, sodass der Lautsprecher übersteuerte.

Voller Inbrunst sang er weiter:

„Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da. Und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas. Und er fragte irgendeinen: Sach mal, ist hier heut ‘n Fest?“

Rio Reiserwar für Keith noch immer der einzig legitime König von Deutschland.

Im Vorbeigehen drehte sich der Althippie unvermittelt zu Pjotr um. Der war gerade dabei, mit seinem Feuerzeug in aller Seelenruhe die zweite Flasche Henninger Pils zu öffnen.

„Wie weit seid ihr denn eigentlich mit dem Parkplatz für die Lastenfahrräder?,“ grantelte Keith. Die Musik hatte er gestoppt und erwartete eine Antwort.

Der Polier starrte sein Gegenüber unverhohlen an. Spontan griff er sich an den Kopf. „So ein verdammter Mist, … den blöden Parkplatz habe ich total vergessen.“ Pjotr schlug sich mit der flachen Hand sachte vor die Stirn. „Ist der denn wirklich so wichtig?“, wollte er wissen. „So groß ist euer Grundstück ja schließlich nicht.“

Keith schüttelte verärgert den Kopf. Eine Strähne seines langen Haars fiel in sein Gesicht. Er nickte vielsagend und machte einen gezielten Schritt auf den Polier zu. „Pjotr, mein Lieber, hör mir bitte zu! Kümmere dich umgehend um den Parkplatz für die Lastenräder. Die sind das A und O in der Großstadt! Schau dich doch mal um, was hier in Frankfurt abgeht! Ohne die Parkplätze geht nix mehr.“

Pjotr starrte seinen Gesprächspartner verloren an.

„Du musst echt besser auf mich hören, Pjotr. Ich bin dicht am Puls der Zeit“, fuhr Keith fort. Er drückte auf die abgewetzte Play-Taste des Kassettenrecorders, und der Lärm ging von vorne los.

Keith bahnte sich den Weg über das Gerüst zum Anbau, in dem der Kindergarten Tag für Tag Form annahm. Die Überquerung des Baugerüstes kam für gewöhnlich einem Eiertanz gleich. Aber dem häuserkampferprobten Keith gelang das mit links. Er steuerte den frisch verputzten Keller an. Behände öffnete er die provisorische Metalltür und knipste das hellweiße Licht an.

„Verdammter Mist, was ist denn hier passiert?,“ rief er unvermittelt.

Vor lauter Schreck schluckte Keith so heftig, dass sein Adamsapfel auf und nieder sprang. Er fühlte sich, als hätte ihn der Schlag getroffen. Mechanisch drückte der Althippie wieder auf die Stopptaste am Kassettenrecorder, um dem Radau Einhalt zu gebieten. Mit einem Mal herrschte Totenstille. Nur noch sein kurzer, ins Stocken geratender Atem war zu vernehmen.

Wenige Zentimeter von seinen nagelneuen Converse-Sportschuhen entfernt lag ein lebloser Mann auf den nackten Fliesen. Der neongrüne Irokesenhaarschnitt sprang Keith gleich ins Auge. Piercings im Gesicht und in den Ohren verzierten seinen kantigen Schädel. Über die rechte Gesichtshälfte waren zwei tiefdunkle Streifen von der Stirn bis zum Hals mit dunkler Tinte tätowiert. Über den breiten Schultern trug der Kerl eine abgewetzte, schwarze Lederjacke, die mit spitzen, silbernen Nieten ausgestattet war.

Ein Punk. Ein toter Punk.

Plötzlich entdeckte Keith das blitzende Messer, das tief in der Brust des Punkers steckte und ihm vermutlich ein schmerzhaftes Ende bereitet hatte. Keith erschnupperte, dass es nach Shit und Alkohol und anderen undefinierbaren Substanzen roch.

Sofort machte er kehrt. Der Anblick der Leiche schlug ihm auf den Magen. Mit voller Wucht knallte er die Baustellentür hinter sich zu. Seine Nackenhaare hatten sich wie die Stacheln eines Igels aufgestellt.

EINS

Tag Eins

Im Treppenhaus, auf dem Weg zum Ausgang, zückte Keith sein altes Nokia-Handy. Atemlos wählte er die Taste seines Freundes Steffen Anbach, Kriminalhauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission und Ehemann der roten Nora.

Keith fühlte sich, als schwitzte er Blut.

Sein Kumpel nahm das Gespräch gleich entgegen. „Was gibt es, Keith?“, fragte der Ermittler. „Hast du so früh schon gute Neuigkeiten für mich und Nora? Schieß los! Bist du bereits auf der Baustelle?“

„Nein, ich habe keine guten Neuigkeiten“, sagte Keith schroff. „Aber ja, auf der Baustelle bin ich seit ´ner geschlagenen Stunde“, fügte er gedehnt hinzu. „Ich will es jetzt für alle Beteiligten kurz und schmerzlos machen, Steffen. In Noras alternativem Kindergarten liegt die Leiche eines Punks herum. Der hat ein Messer in der Brust und regt sich nicht mehr. Der ist, wenn du mich fragst, komplett erledigt. Irgendjemand hat den gekillt und bei uns auf der Baustelle wie Müll entsorgt.“ Er schnappte nach Luft. „Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Deshalb rufe ich dich an. Du hast doch immer einen Plan, was bei derart pikanten Angelegenheiten zu tun ist. Schließlich bist du ein staatlich alimentierter Berufsverbrecherjäger, der von unseren Steuergeldern lebt.“ Keith ächzte. „So ein Punk ist doch genau dein Ding. So was fegst du doch locker vom Tisch. Oder etwa nicht?“

Steffen stutzte. Hilfesuchend sah er zu seiner Kollegin Linda hinüber. Sie saßen gemeinsam an seinem Schreibtisch im Frankfurter Polizeipräsidium auf der Adickesallee. Konzentriert blätterte Linda in einer aktuellen Ermittlungsakte. Dabei machte sie sich Notizen in einem kleinen, schwarzen Notizblock.

„Steffen, mein Freund, komm bitte so schnell wie möglich her und erlöse mich von dem Übel hier“, stöhnte Keith. „Eine Leiche auf der Baustelle, das hat uns gerade noch gefehlt. Du weißt genau wie ich, wie eng der Bauplan getaktet ist. Der tote Punk ist die reinste Katastrophe für unser Vorhaben. Frag doch mal die rote Nora ... du sitzt doch direkt an der Quelle. Die kann dir sagen, was hier Sache ist.“

„Jetzt bitte mal mit der Ruhe, Keith. Linda und ich sind ja schon auf dem Weg. Und tue mir bloß einen Gefallen. Pack am Tatort nichts an. Nichts, lass die Finger besser bei dir. Alles andere wäre fatal für die Ermittlungen. Kapierst du das? Hast du mich verstanden?“

Keith legte einfach auf. Für wie blöd hielt der ihn? Hoffentlich hört dieser Albtraum bald auf, überlegte er. Gezielt griff seine Hand nach dem ledernen Tabakbeutel, der in der Gesäßtasche seiner Jeans steckte. Geschickt rollte Keith einen mittelgroßen Joint in der Art von Snoop Dogg, den er dringend brauchte, um seine Nerven zu beruhigen.

Beseelt nahm er dann einen tiefen Zug. Die dichte Wolke Rauch, die er dabei erzeugte, blies er entspannt aus. „Alles halb so schlimm“, murmelte er. „Ich komm schon klar damit. Es gibt deutlich Schlimmeres.“

Keith nahm einen weiteren Zug vom Joint. Vielleicht hatte er sich das Ganze auch nur eingebildet und weiße Mäuse gesehen.

ZWEI

Keine zehn Minuten später waren Kriminalhauptkommissar Steffen Anbach und seine Kollegin Linda Sachse, ihres Zeichens Kriminaloberkommissarin bei der Frankfurter Mordkommission, auf der Baustelle beim Café Klatsch im Einsatz. Im Handumdrehen hatten die beiden Profis die Lage vor Ort unter Kontrolle.

Steffen, der eine ausgeblichene, ehemals rote Stüssy-Kappe aus den Neunzigerjahren auf dem Kopf trug, zierte eine lange, graue Lockenpracht. Er hatte die obligatorische Lederjacke und die schweren Lederboots, die er auch beim Harley-Fahren trug, am Leib.

Der Kommissar, der in der fünften Dekade seines Lebens stand, fühlte sich für den aufreibenden Job als Mordermittler, trotz seines Alters, noch ausreichend fit. Kurzatmigkeit oder Seitenstiche machten ihm nur selten zu schaffen. Sein Gewicht hielt er mit Erfolg im Lot. Gelegentlich schmerzte ihm das rechte Knie, das er sich vor einer halben Ewigkeit, als junger Kommissaranwärter, bei einem Motorradunfall verletzt hatte. Je nach Großwetterlage bereitete ihm die einst gebrochene Kniescheibe Schmerzen.

Seine mehr als zwanzig Jahre jüngere Partnerin Linda Sachse war eine zierliche, aber durch und durch sportliche Person. Ihr Erkennungszeichen war der platinblonde Pagenkopf, der mit der Sonne nur so um die Wette strahlte. Unter ihrer grünen Bomberjacke mit dem orangefarbenen Innenfutter verbarg sie das Holster mit der Dienstwaffe der hessischen Polizei, eine Heckler & Koch P 30. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, gleichgültig, ob sie am Tatort ihren Ermittlungen nachging oder im Polizeipräsidium den Papierkram erledigte, ständig baumelte die Knarre vor ihrer Brust. Statt auf Kostüme und High-Heels schwor Linda auf enge Jeans, T-Shirts und modische Sneakers.

Seit rund vier Jahren waren Steffen und Linda das erfolgreichste Ermittlerduo, das die Frankfurter Mordkommission zu bieten hatte. Ihre Aufklärungsquote lag weit über dem Durchschnitt, was im Präsidium auf Neider stieß. Doch der junge Polizeivizepräsident Robert König hielt stets schützend seine Hände über die Kommissare.

„Wir müssen alle Bauarbeiter, die vor Ort sind, befragen und die Baustelle umgehend räumen, um gezielt nach Spuren des Verbrechens zu suchen“, hielt Steffen seine Partnerin Linda Sachse an.

Keith stand dem Kommissar kopfschüttelnd gegenüber. Steffen wusste, was den Wirt bewegte. „Du, Keith, wir haben keine andere Wahl. Mir sind die Hände gebunden. Es gibt klare Dienstanweisungen, die ich dringend einhalten muss. Sie ergeben, selbst wenn es dir nicht in den Kram passt, einen tieferen Sinn.“

Erschöpft hatte der Althippie es sich auf einem umgedrehten Metalleimer gemütlich gemacht. Er war damit beschäftigt, den Kassettenrekorder vom Staub und Schmutz zu befreien.

Über seine schmalen Lippen kam bloß ein unverständliches Gebrabbel, von dem niemand der Anwesenden Notiz nahm.

„Gibt es hier irgendwo auf dem Gelände Spuren eines Kampfes um Leben und Tod?“, fragte Steffen den Wirt.

Der Mann vom Kollektiv reagierte zunächst nicht.

„Keith, hallo, hast du irgendwas in der Art gesehen? Spuren einer gewaltsamen Auseinandersetzung? Du weißt doch genau, worauf ich hinauswill?“

Keith wirkte fahrig. Er zuckte verlegen mit den Schultern, sagte aber nichts. Eine leibhaftige Leiche hatte er heute das erste Mal zu Gesicht bekommen.

„Ich rufe unseren Martin Henze an, den Leiter der Spurensicherung. Wir brauchen ihn und sein Team dringend. Ohne ihn geht gar nichts“, sagte Linda. Sie fummelte das Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer hautengen, weißen Jeans. Weil sie Martin nicht erreichen konnte, hinterließ sie ihm eine Sprachnachricht mit den Angaben zum Fundort der Leiche.

„Keith, komm! Nimm endlich deine Hände aus der Hosentasche! Zeig uns, wo du den Mann gefunden hast“, forderte der Kommissar ihn auf.

Keith nickte verhalten und raffte sich mühsam auf. Den Kassettenrecorder ließ er an Ort und Stelle zurück. Dann führte er die Ermittler geradewegs in die Nasszelle des alternativen Kindergartens. „Da, direkt hinter der Tür, da liegt die Leiche. Mir wird ganz schummrig, wenn ich nur daran denke.“

Um die Nase war das Urgestein des Frankfurter Häuserkampfs seltsam blass.

Steffen sah ihm an, dass er um sein Karma besorgt war und es nur mit Mühe im Gleichgewicht hielt. Immer cool rüberzukommen und ein lockerer Alt-68er zu sein, war ein anstrengender Job.

Die Ermittler stülpten Gummihandschuhe über ihre Hände und schauten sich beherzt an. Energisch öffnete Linda die Metalltür. Wie von einer Welle getragen, waberte ihnen der Geruch von Shit und Alkohol und anderem Kram entgegen.

„Das stinkt ja bis zum Himmel“, meinte die Kommissarin forsch und hielt sich die Nase zu. „Das ist ja ein bestialischer Gestank. Einfach furchtbar! Wie kann das sein?“

„Das ganze Lamentieren hilft nicht weiter, Linda. Wir müssen da jetzt durch. Komm, gib dir einen Ruck, Frau Kommissarin!“

Neben der Leiche ging Steffen elastisch in die Hocke. Das T-Shirt des Punks, mit dem Motiv des Union Jack, war zerrissen. Eine Handvoll Sicherheitsnadeln hielt es mehr schlecht als recht zusammen. Behutsam schob Steffen den verschlissenen Stoff des Shirts zur Seite.

Zu seiner Verwunderung entdeckte er, dass die Bauchdecke mit Messerschnitten verunstaltet war. Offenbar hatte ihm jemand eine Nachricht in den Körper geritzt.

„Was ist das denn, Linda? Kannst du für mich entziffern, was man ihm in die Haut geritzt hat?“

Seine Kollegin war sofort zur Stelle. Geschmeidig hockte sie sich neben Steffen auf den Boden. Mit großen Augen sagte sie: „Ja, ich glaube schon, dass ich das lesen kann.“ Sie machte einen tiefen Seufzer. „Also, da steht: Du scheiß Pig, das ist der Preis für deine Scheiße!“

Die zierliche Kommissarin sah ihren breitschultrigen Kollegen verwundert an. „Was soll das denn bedeuten? Kannst du mir das vielleicht verraten?“

Steffen schaute Linda ratlos an. Er hatte nicht die geringste Ahnung. „Unter Umständen ist der Mann Opfer eines Szene- oder Bandenkrieges geworden?“, orakelte er. „So was kommt ja öfter vor, als einem lieb ist.“

„Das kann durchaus sein“, antwortete Linda. „Vor allem die Schnittverletzungen auf dem Bauch sprechen dafür.“

Von außen drangen die Stimmen der Spurensicherung an Lindas Ohr. „Martin und sein Team sind eingetroffen“, sagte sie erleichtert.

„Das ist gut so. Die sollen sofort mit ihrer Arbeit loslegen. Wir sind dringend auf ihre Ergebnisse angewiesen. Ich will haarklein wissen, was sich hier zugetragen hat. Wer ist der Tote? Warum musste er sterben? Wer steckt hinter dem perfiden Mord?“

„Morsche, wir sind die Kriminaltechniker. Frau Kommissarin Linda Sachse hat uns herbestellt“, sagte Martin Henze zum Polier, der mit dem dreiköpfigen SpuSi-Team nichts anzufangen wusste und wie ein aufgeschrecktes Huhn hin und her hüpfte.

Seit mehr als zehn Jahren war Martin Henze Chef der Frankfurter Kriminaltechnik. Martin war ein bulliger Mann, mit Händen groß wie Bärenpranken. Auf dem Schädel wurde ihm langsam das Haupthaar schütter. Er war in Begleitung von Bea von Wertheim, seiner rechten Hand, einer Expertin für Ballistik, und Peter Escher, einem blutigen Neuling im Team der SpuSi.

Für Linda Sachse war Martin bei den Ermittlungen der letzten Jahre häufig ein Fels in der Brandung gewesen. Wie kein anderer strahlte er Ruhe und Gelassenheit aus. Regelmäßig erdete er das Team. Nicht selten war er es, der das Ermittlerduo mit präzisen Untersuchungsergebnissen auf die zielführende Fährte setzte.

Die beiden Kommissare und der SpuSi-Mann waren ein eingespieltes Team und kam noch der Computerexperte Errol Maxloh ins Spiel, waren sie nahezu perfekt bei der Aufklärung von Mordfällen.

Nahezu.

DREI

„Linda, kennst du dich ein wenig in der Frankfurter Punkerszene aus?“, wollte Steffen von seiner Kollegin wissen.

Mit ihren strahlend blauen Augen blinzelte Linda den Ermittler nur verständnislos an.

„Ich meine, wo die Punks in der Stadt im Allgemeinen zu finden sind, ... also, wo die für gewöhnlich rumhängen oder abchillen, wie man heute so sagt.“ Der Kommissar fuhr sich mit der Hand durch die grauen Locken. „Du weißt, was ich meine, wo die so Party machen und ihr Punkerdasein den lieben langen Tag über fristen?“

Nach dem Fund der Leiche beim Café Klatsch hatten die Kommissare die Kantine des Polizeipräsidiums auf der Adickesallee aufgesucht. Sie gönnten sich ein spätes Frühstück mit Kaffee und grünem Tee.

Steffen knabberte an einem Brötchen mit Jagdwurst herum. Linda biss beherzt in ein Teigstück mit reichlich Auberginenaufstrich.

„Ich bin mir sicher, dass ich mit der Frankfurter Punkszene so wenig am Hut habe wie du, Steffen. Vielleicht sogar noch weniger? Du hörst doch ständig die Platten von den Wegbereitern des Punk. Von diesem Iggy Pop, dem ‚Godfather of Punk‘, der Patti Smith von der US-Ost-Küste und so weiter. Das ist überhaupt nicht meine Generation. Ich gehöre der Generation Y an, wenn du mich verstehst? Wir sind, was das angeht, völlig anders aufgestellt. Punk ist Scum für uns.“ Sie hob ihre Augenbrauen an. „Was denkst du denn von mir? Glaubst du etwa, dass ich in meiner Freizeit heimlich Pogo tanze? Unkontrolliert in die Luft springe und andere betrunken remple, bis die umfallen und sich blutige Nasen holen?“

Linda hatte ihr Frühstück bis auf den letzten Krümel vertilgt und wischte sich mit der Papierserviette die Finger sauber.

„Nee, eher nicht. Du hast ja vollkommen recht. Irgendwie müssen wir aber einen Zugang zu der Punker-Szene finden.“

„Ja, klar, da bin ich unbedingt bei dir.“

„Ich hatte schon geglaubt, dass es die Punkbewegung gar nicht mehr gibt und ihre Adepten längst ausgestorben sind.“

Linda schüttelte entschieden den Kopf. „Nee, so weit ist es noch nicht gekommen. Die Punker sind nach wie vor präsent und lebendiger Teil der Stadtkultur. Ich denke, dass es kein großes Problem sein wird, sie ausfindig zu machen. Wir sollten uns zügig einen Überblick über die Szene verschaffen. Das wird sicher kein großes Problem sein“, meinte Linda zuversichtlich.

Die Kommissarin lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück und schaltete ihr Smartphone an. Dann tippte sie ein paar Worte in die Google-Suchleiste: Punk, Frankfurt, Kneipen. Als Erstes auf ihrer Liste wurde die Szenekneipe Feinstaub angezeigt. Direkt darauf folgte das New Backstage. Das Feinstaub lag im Frankfurter Nordend und das New Backstage mitten in der Frankfurter Innenstadt.

„Na, da könnten wir zwei ja mal hingehen und ein wenig in die Szene eintauchen. Was meinst du dazu?“ Demonstrativ deutete die Kommissarin mit dem Zeigefinger auf das Display ihres Smartphones. „Willst du mal sehen, Steffen? Ich habe hier Fotos von den Läden heruntergeladen.“

Der Kommissar nahm das Smartphone in die Hand. Stumm betrachtete er die Bilder von den beiden Kneipen. „Ich bin mir sicher, dass sich die Punker in der Szene alle irgendwie kennen und sie über die eine oder andere Ecke miteinander verdrahtet sind.“

„Ja, sicher, da hast du bestimmt recht. Das ist eine gute Idee. Aber zunächst sollten wir abwarten, ob Martin den Toten identifizieren kann“, entschied der Kommissar.

„Wenn wir erst einmal wissen, mit wem wir es bei unserem aktuellen Fall zu tun haben, erleichtert das unsere Arbeit enorm.“

Linda nickte zustimmend. Ihre Serviette knüllte sie mit Verve zusammen und warf das Knäuel auf den Teller, der vor ihr stand.

„Mich wundert eigentlich, dass wir bis jetzt noch nichts von unserem lieben Martin gehört haben. Der ist doch sonst immer so flott bei der Sache. Der lässt doch sonst nie was anbrennen“, meinte Steffen stirnrunzelnd.

Der Kommissar war aufgestanden, um sich dem neuen Kaffeeautomaten zuzuwenden, der für die Kantine angeschafft worden war. Entschlossen fuhrwerkte er an den Knöpfen der mannshohen Maschine herum.

„Linda, magst du auch eine Tasse Espresso haben? Der ist wirklich Extraklasse, seitdem die hier die neue Profimaschine stehen haben. Das Ding hat sicher ein Vermögen gekostet.“

„Nein, Steffen, zum x-ten Mal. Ich trinke lieber grünen Tee.“ Linda hob ihre Tasse in die Höhe. „Mit Espresso habe ich es nicht so.“

„Ist ja schon gut, sorry. Ich kann mir das einfach nicht merken. Wie kann man bloß ...?“

Da stand unerwartet Martin Henze im rot-weiß karierten Hemd und Jeans mit akkurater Bügelfalte vor ihnen. Unter dem Arm trug er eine schmale Unterschriftenmappe. „Schön, euch beide hier zu treffen, meine lieben Kollegen“, sagte er aufgeräumt.

„Kaffee, Espresso oder Kakao? Magst du was zu trinken haben, Martin?“, fragte Steffen und fixierte seinen Kollegen.

Martin schüttelte kurz den Kopf, dann setzte er sich, kräftig ausatmend, zu Linda an den Tisch. „Nein, danke. Es gibt Wichtigeres zu tun.“

„Steffen, komm schnell rüber zu uns. Bitte setz dich her“, meinte Linda erwartungsvoll.

„Der Bericht der Gerichtsmedizin und mein Bericht von der Kriminaltechnik sind so gut wie fertig. Sie sind quasi noch druckfrisch, und ich habe mir gedacht, dass es nicht verkehrt ist, wenn ich sie gemeinsam mit euch mal auf die Schnelle durchgehe.“

Gönnerhaft verteilte Martin die Gutachten an die Kriminalbeamten. Steffen hatte derweil am Tisch Platz genommen, vor sich eine kleine, dickwandige Porzellantasse, aus der es herrlich duftete. Martin faltete die Hände ineinander, bevor er mit seinem Vortrag startete. Die Kommissare musterten den Spurenermittler aufmerksam.

„Also, für euch zwei kurz und knapp zusammengefasst, ist im Ergebnis Folgendes festzuhalten“, begann der Kriminaltechniker seinen Bericht. „Der Punker ist einwandfrei an einer Stichverletzung verschieden“, betonte er. „Ihm wurde mit großer Gewalt ins Herz gestochen, und sein Tod dürfte innerhalb kürzester Zeit eingetreten sein. Ich glaube nicht, dass er große Qualen erlitten hat.“

Steffen hörte ihm aufmerksam zu, während er genüsslich seinen Espresso schlürfte. Linda entgegnete nichts. Sie schaute Martin über den Rand der Tasse an und pustete in ihren heißen Tee.

„Der Mörder dürfte sicher männlichen Geschlechts gewesen sein. Das sage ich wegen des Winkels der Stichverletzung, die ihn getötet hat, und der puren Kraft, mit der der Täter zugestoßen hat“, erklärte Martin. „Wenn es doch eine Frau gewesen ist, muss sie zum Beispiel eine großgewachsene Zehnkämpferin sein, wovon ich im Moment mangels entsprechender Indizien aber nicht ausgehe.“ Aufmunternd sah er Steffen und Linda nacheinander an, während er gelassen in seinem Bericht blätterte.

Von den Kommissaren gab es nicht den leisesten Widerspruch zu seinen Ausführungen.

Wortlos platzierte Martin seine Lesebrille auf dem Tisch. Die Gläser sahen aus, als hätte er mit der Brille ein Schmalzbrot geschmiert.

„Was die Botschaft angeht, die man unserem Mann in den Bauch geritzt hat, gehe ich momentan davon aus, dass die Aktion erst nach seinem Ableben, also post mortem, erfolgt ist. Vermutlich wurde dazu ein kleines Taschenmesser verwendet, wie man es überall kaufen kann.“

„Das ist ja interessant“, bemerkte Linda.

„Die Schrift ist so klein, da hätte selbst ein Messerchen aus den alten Kaugummiautomaten ausgereicht, die früher an jeder Ecke hingen. Könnt ihr euch daran noch erinnern?“

Steffen nickte. Linda schüttelte zaghaft den Kopf.

„Habt ihr auf der Baustelle so ein Mini-Taschenmesser gefunden?“, fragte Steffen, der in Habachtstellung war.

„Leider nein“, sagte Martin. „Obwohl wir jeden Quadratzentimeter umgepflügt haben, konnten wir das Ding nicht finden. Tut mir leid, aber das ist im Moment die Faktenlage.“

„Das ist aber jammerschade“, meinte der Kommissar resigniert. Die Espressotasse stellte er klirrend auf dem Untersetzer ab.

„Immerhin spricht der Text der Botschaft dafür, dass sich der Tote und der oder die Täter kannten“, warf Linda ein. „Offenbar hatten die noch eine Rechnung miteinander offen“, schlussfolgerte sie.

„Ja, hundert Prozent. Wir haben auch keine Spuren von Abwehrverletzungen bei dem Toten gefunden. Unter seinen Fingernägeln war keine Ablagerung fremder Haut, die Rückschlüsse auf den oder die Täter zulassen würde“, betete Martin herunter. „Er muss seinen Mörder ziemlich dicht an sich herangelassen haben. Aus welchem Grund auch immer.“

„Das könnte dafür sprechen, dass sein näheres Umfeld etwas mit seinem Tod zu tun hat“, grummelte der Kommissar vor sich hin.

Martin nickte kurz. „Ob der Fundort auch der Tatort ist, wird von uns zurzeit noch intensiv untersucht. Es kann aber noch ein paar Tage dauern, bis wir zuverlässige Ergebnisse zu dieser Frage auf dem Tisch liegen haben“, fuhr der Kriminaltechniker fort. Energisch klappte er seinen schriftlichen Bericht zu. „Bemerkenswert ist allerdings das Folgende ...“, betonte Martin. „Hört mir jetzt bitte genau zu!“

Um dichter bei Martin zu sein und keines seiner Wörter zu verpassen, rückte Steffen näher an die Tischplatte heran. „Wir sind ganz Ohr, Martin.“, sagte der Ermittler lammfromm.

„Uns ist zufällig aufgefallen, dass der Punker, von dem wir hier sprechen ...“

RINGRING, RINGRING. Unvermittelt läutete Steffens Handy. Steffen warf einen schnellen Blick aufs Display. Robert König, der Vizepräsident des Frankfurter Polizeipräsidiums, war der Anrufer. Er war ein junger Mann, dem es noch an praktischer Erfahrung in Sachen Polizeiarbeit mangelte. Dafür hatte er zwei juristische Prädikatsexamina in der Tasche. Er war etwa im Alter von Linda. Nicht wenige im Präsidium dachten, dass der Vize schon im Maßanzug auf die Welt gekommen sein müsse. Auf manche Mitarbeiter im Haus wirkte er seltsam steif und förmlich, was aber nicht den Tatsachen entsprach. Robert war ein kluger Kopf. Und er hatte kreative Ideen, wenn es um die Lösung komplizierter Fälle ging, was er bei der Zusammenarbeit mit Steffen und Linda mehrfach unter Beweis gestellt hatte.

„Da muss ich mal eben rangehen. Sorry, Martin, das ist bestimmt wichtig. „Was kann ich für dich tun, Robert?“ Beim Sprechen presste Steffen das Smartphone dicht an sein Ohr. „Nein, du störst wirklich nicht, Robert, mach dir darum bitte keine Gedanken. Ich würde es schon sagen, wenn es anders wäre. Komm, erzähl mir, was liegt dir auf dem Herzen?“

Wegen der Unterbrechung rollte der Kriminaltechniker verärgert mit den Augen.

Linda hob ihre zarten Augenbrauen und lächelte dem Chef der Kriminaltechnik versöhnlich zu. Es schien, als schämte sie sich für Steffens Verhalten.

VIER

„Sag mal, Linda, was hat unser Martin dir eigentlich noch Wichtiges mit auf den Weg gegeben, was seinen Leuten so Besonderes ins Auge gefallen ist?“ Der Kommissar war leicht verunsichert und sah fragend zu seiner Kollegin hinüber.

„Also, ich meine, was diesen toten Punker angeht?“, fragte Steffen voller Neugier.

Während des Telefonats mit dem Vizepräsidenten hatte der SpuSi-Chef Martin Henze die Kantine angefressen verlassen und den Kommissar ahnungslos zurückgelassen. Vermutlich hatte ihn Steffens Ignoranz ein wenig verärgert.

Zwar hatte der Ermittler beobachtet, wie Linda und Martin angeregt miteinander tuschelten. Aber was sie dabei besprochen hatten, konnte er wegen des Telefonats mit Robert nicht verstehen.

Mit der fahrbaren „Katze“verließen die Mordermittler Steffen Anbach und Linda Sachse zügig den Parkplatz des Polizeipräsidiums. Ihr Ziel war die Wohnung des toten Punkers Arne Lobe. Sein Personalausweis, der in seiner Lederjacke steckte, hatte die Kriminalisten auf seinen Namen und seine Wohnadresse gebracht.

Die Katze war Steffens ganzer Stolz auf vier Rädern. Sie war ein dunkelblauer Jaguar XJ6, Serie III, Baujahr 1988. Der Wagen war ein elegantes Gefährt mit einer geschwungenen Form, die sich zum Heck hin verjüngte. Wenn man vor dem Fahrzeug stand, war man über seine schiere Länge erstaunt. Der Wagen war optisch und technisch in einwandfreiem Zustand. Damit war das Ermittlerduo Steffen und Linda bei der Verbrecherjagd immer stilgerecht unterwegs.

„Ja, das kann ich dir auf den Punkt genau sagen. Sie haben herausgefunden, dass der Punk als Elite-Soldat in Afghanistan stationiert war. Er war als ausgebildeter Scharfschütze in Masar-e Scharif, der viertgrößten Stadt Afghanistans, im Einsatz. Da staunst du jetzt aber gewaltig. Oder?“

Der Ermittler glotzte seine Partnerin völlig verblüfft an. Mit dieser Nachricht hatte er nicht gerechnet. Steffen hatte das Gefühl, als hätte man den Bock zum Gärtner gemacht. Was herrschte denn für ein seltsames Durcheinander bei der Armee, dachte er.

„Ein Sniper?“, warf Steffen verunsichert ein.

Linda nickte. „Soweit Martin es mir berichtet hat, ist der tote Punk mit der letzten Einheit und dem allerletzten Flieger unter tumultartigen Umständen aus Kabul nach Deutschland zurückgekehrt.“

„Aha“, machte Steffen anerkennend.

„Ich habe die Bilder aus den Fernsehnachrichten noch im Kopf. Ich kann mich gut an das Chaos, das damals auf dem von den Amerikanern besetzten Flughafen in Kabul herrschte, erinnern. Da hatte es ein ziemliches Durcheinander gegeben, mit Toten und Verletzten. Vor allem Einheimische, die so genannten Ortskräfte hatte es erwischt.“

Steffen nickte verständnisvoll. Gedanklich versuchte er sich in die Vorgänge zurückzuversetzen.

„Das Bild, als ein winziges Baby einem der behelmten und schwer bewaffneten US-Soldaten über den Zaun gereicht wurde, damit es aus Kabul ausgeflogen wird, ist in meinen Gedanken hängen geblieben“, sagte Linda.

„So was vergisst man nicht so schnell. Das war ein großer Mist, den die Bundeswehr da veranstaltet hatte. Mehr als 50.000 Ortskräfte und Unterstützer haben die in Afghanistan schutzlos zurückgelassen ... und den Taliban förmlich ans Messer geliefert. Das war ziemlich scheiße.“

Linda kramte ihr Smartphone hervor, um zu checken, ob es Neuigkeiten gab. Das Gespräch stockte eine Weile.

„Da gab es konkrete Versprechen den Menschen gegenüber, die leider nicht eingehalten worden sind. So was geht einfach nicht, so geht man nicht mit Menschen um,“ bemerkte Steffen. Unmerklich schüttelte sich der Kommissar.

Linda nickte, ohne ihren Kollegen anzusehen. „Der tote Punk ist deutscher Staatsangehöriger und 25 Jahre alt geworden“, sagte sie und schielte auf den winzigen Notizzettel, den sie aus ihrer Bomberjacke gekramt hatte. „Arne Lobe wurde hier in Frankfurt am Main geboren und ist in der Stadt zur Schule gegangen. Lobe hat brav das Abitur mit einer ordentlichen Note abgeliefert, aber sein Studium der Germanistik und der Philosophie hat er schon nach ein paar Semestern hingeschmissen.“

„Ach, schau mal einer an“, murmelte Steffen.

„Danach ist er dann zur Bundeswehr und hat sich dort für vier Jahre verpflichtet.“

„Der Punker soll Soldat gewesen sein?“, fragte Steffen ungläubig. Verständnislos schüttelte er den Kopf.

„Ja und kein schlechter. Das haben meine umfangreichen Recherchen zu seiner Person ergeben.“

„Nee, das kann ich jetzt einfach nicht glauben. Das passt doch überhaupt nicht zusammen, überleg doch mal! In meinen Augen war der junge Mann ein waschechter Punk mit allem Drum und Dran. So einer geht doch niemals zum Bund. Eher hackt der sich die rechte Hand ab.“

„Doch, es stimmt aber, so haben es mir die zuständigen Kollegen brühwarm erzählt. So ist die Faktenlage eben, wie Martin immer so schön zu sagen pflegt.“

„Scharfschütze, hast du gesagt?“ Steffen mochte seinen Ohren nicht trauen. „Was hat ihn nur dermaßen verändert und aus der Bahn geworfen?“ Der Kommissar kratzte sich nervös am Kinn. „Soldat sein und dann Punker werden ... das sind völlig unterschiedliche Welten.“

„Vielleicht war Arne Lobe ja auch schon vorher Punker gewesen, also ... bevor er zur Armee gegangen ist. Denen bei der Bundeswehr rennen die Bewerber ja auch nicht gerade die Bude ein, wie man so hört,“ warf Linda eilig ein.

Wieder schüttelte Steffen den Kopf, dass die grauen Locken tanzten. „In der einen Welt bist du ein Glied in einer Kette von Befehlsempfängern, und in der anderen Realität scherst du dich um nichts, um rein gar nichts. Da herrscht der pure Anarchismus ... die völlige Gesetzeslosigkeit. Ich sage nur No Future foryou und so weiter.“ Der Kommissar war kaum mehr zu halten, der Tote passte in keine seiner gängigen Schubladen.

„Ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, was ihn dazu bewegt hat“, erwiderte seine Kollegin schulterzuckend. „Ich bin doch selber total baff. Auf jeden Fall hat er sich bei dem Verein dann bis in die härteste Eliteeinheit hochgeschafft“, meinte Linda anerkennend.

„Auch das noch“, bemerkte Steffen trocken. Er drückte auf die Hupe, weil ein anderer Verkehrsteilnehmer im Begriff war, ihm die Vorfahrt zu nehmen. Mit der flachen Hand fuchtelte Steffen hektisch vor seinem Kopf herum.

„Seine Karriere ist doch mehr als bemerkenswert ... Was meinst du dazu? Blöd kann der Arne Lobe bei Lichte betrachtet nicht gewesen sein. Da gehört schon einiges dazu, was der geleistet hat. In meinen Augen war der junge Mann fast ein Karrierist.“

„Ob das wirklich so erstrebenswert war, was der da in Afghanistan angestellt hat? Da habe ich allerdings meine begründeten Zweifel“, erwiderte Steffen ungläubig.

„Ach ja, nicht, dass ich es noch vergesse“, warf die Kommissarin ein. „Martin hat gemeint, dass das Tattoo in seinem Gesicht, du weißt schon, die dunklen Balken, gar nicht echt war. Das waren bloß so Aufkleber. Die waren aber wirklich gut gemacht. Ich wäre auf jeden Fall darauf reingefallen und hätte ihm den Schmu abgenommen.“

Plötzlich starrte Linda erschrocken aus dem Fenster. Mit der überlangen und extrabreiten Katze hatte ihr Kollege mit überhöhter Geschwindigkeit in einer 30er-Zone einen Pedelecfahrer mit grüner Jack-Wolfskin-Jacke überholt und haarscharf geschnitten, dass der in seiner Not in die Bremsen steigen musste.

Der benachteiligte Fahrradfahrer, der wie ein frustrierter Erdkundelehrer aussah und sicher Mitglied der Lehrergewerkschaft war, beschwerte sich prompt über seine sträfliche Behandlung.

„Laut unserem Navi müssten wir die Bude, in der Arne Lobe zuletzt gelebt hat, bald erreicht haben“, meinte Steffen schroffer, als er es gewollt hatte.

„Da, schau, da ist ja ein freier Parkplatz, Steffen.“ Linda deutete zur Straßenseite hin.

„Ist geritzt, den nehmen wir. Alles klar. Die letzten paar Meter gehen wir zu Fuß. Ein bisschen Bewegung wird uns zwei Stubenhockern sicher nicht schaden.“

Linda hatte den Sicherheitsgurt vom Beifahrersitz gelöst, da klingelte ihr Smartphone. Sie blickte auf das Display.

„Andrea Ponino, unsere Staatsanwältin“, sagte sie, „was mag sie bloß von uns wollen? Nur dumm, dass wir zwei so in Eile sind und alle Hände voll zu tun haben.“

Steffen war bereits aus der Katze ausgestiegen. Er hielt den Fahrzeugschlüssel in die Höhe, um den Wagen abzuschließen. Der Ermittler stand unter Strom, er war begierig darauf, belastbare Ergebnisse in den Händen zu halten. „Komm, Linda, steig jetzt besser aus! Wir schauen uns erst mal die Bude von diesem Arne Lobe an, dann sehen wir weiter. Du kannst Andrea ja später zurückrufen. Das wird schon nicht so dringend sein.“

Lauthals schlug Steffen die Fahrertür zu. Leichtfüßig machte er sich auf den Weg in Richtung des Wohngebäudes, in dem Arne Lobe bis zu seinem gewaltsamen Tod gelebt hatte.

Linda bastelte ihr Smartphone zurück in die Bomberjacke. Wohl fühlte sie sich bei dieser unkollegialen Maßnahme aber nicht. Sofort hatte sie ein merkwürdiger Gedanke beschlichen. Für die Kommissarin fühlte es sich an, als hätte sie ihre Vertraute Andrea in einer schwarzen Stunde, ohne ausreichenden Grund, im Stich gelassen.

Linda schüttelte den Kopf, um die dunklen Gedanken zu vertreiben. Sie wollte sich auf den Einsatz optimal vorbereiten. Niemand konnte vorhersagen, was sie in wenigen Minuten erwartete.

FÜNF

Die Kommissare standen jetzt vor Arnes Wohnhaus. Es lag an einer vielbefahrenen Straße im Frankfurter Stadtteil Rödelheim, im Westen der Rhein-Main-Metropole. Unzählige Autos brausten, teils laut hupend, die Fahrbahn in Richtung Autobahnanbindung entlang. Bei einer defekten Ampelanlage stockte der Verkehr und das nervende Gehupe wurde schlagartig lauter.

Linda blickte die graue Fassade der gesichtslosen, sechsstöckigen Mietskaserne hinauf. Auf jedem der Minibalkone, die nicht größer als eine mittelprächtige Fußmatte waren, hatten die Bewohner Parabolantennen installiert, die die Verschandelung des Gebäudes optimierten.

Unvermittelt donnerte und krachte es heftig am Himmel. Wie aus Eimern ergoss sich unangekündigt ein Regenschauer über die Stadt. Um sich vor den Regentropfen zu schützen, drängte sich Linda unter das schmale Dach des Hauseingangs.

„Hui, uns bleibt aber auch nichts erspart“, flötete sie leise. Dann studierte die Kommissarin das abgegriffene Klingelbrett. „Fein, da ist er ja schon. Wenn ich das jetzt korrekt interpretiere.“ Triumphierend tippte Linda auf eine von der Sonne ausgeblichene Schelle.

Auf der Klingel stand kein Name, sondern Punkstelle.

„Wie witzig“, kommentierte Steffen.

„Punkstelle“, echote sie.

„Mhmm, ... drück schon drauf auf das verdammte Ding, Linda!“, murmelte Steffen, der den Kragen seiner Lederjacke aufgerichtet hatte. „Worauf wartest du denn noch?“

Steffen wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht und rüttelte an der verblichenen Stüssy-Kappe.

Linda hörte ein leises Geräusch in der Gegensprechanlage. Mit einer fließenden Handbewegung bat der Kommissar seine Kollegin, zur Seite zu treten. Dann stieß er die Haustür, deren Glas, vermutlich nach einem zielgerichteten Tritt, nur noch aus Splittern bestand, mit einem beherzten Schubs auf. „Los geht‘s!“, sagte Steffen kurz und bündig. „Jetzt bin ich ja mal gespannt, wer uns reingelassen hat“, feixte er.

Mit großen Schritten durchquerte Steffen den verwahrlosten Flur, um flott den Aufzug zu erreichen. Seine Kollegin hatte er dabei im Schlepptau.

Der Fußboden war mit vergilbten Werbeflyern von ALDI, LIDL, NORMA und Konsorten übersät. Ein ganzer Stapel schien unberührt. Kein Mieter des Wohnsilos schien sich dazu veranlasst, den Werbemüll in die Tonne zu werfen.

Unter den verbeulten, offenbar mit roher Gewalt zerstörten Briefkästen stand ein ausgemusterter Kinderwagen. Wie es aussah, war er Opfer eines Brandanschlags geworden. Der winzige Sitz war bis auf die Grundfesten heruntergebrannt. Das Fahrzeugwrack verströmte den beißenden Geruch von geschmolzenem Plastik.

„Ziemlich trostlos hier. Das letzte Stück der Straße sieht irgendwie wenig wohnlich aus. Mir kommt es so vor, als wohnten hier Menschen, die man irgendwie vergessen hat. Schöner Wohnen ist komplett anders“, grummelte Linda.

„Ja, da kann ich dir nur beipflichten. Aber wir sind nicht hier, um einen Schönheitspreis zu verleihen, sondern um solide Polizeiarbeit abzuliefern.“ Steffen nickte stoisch und marschierte weiter voran.

Rumpelnd landete der verkratzte und mit Marker beschmierte Fahrstuhl auf ihrer Ebene. Quietschend öffneten sich die Türen des Lifts.

Linda beschlich der Eindruck, dass es im Treppenhaus nach abgestandenem Urin stank. Um sich gegen den Mief zu wappnen, presste sie ein frisches Tempotuch vor Mund und Nase.

Im Schneckentempo quälte sich der Aufzug, dessen TÜV-Plakette das Baujahr 1969 bestätigte, ächzend in die oberste Etage hinauf. Unter Garantie hatte die Stadt Frankfurt für mindestens 90 Prozent der Bewohner des Gebäudes für die Miete geradezustehen, schwirrte es Linda durch den Kopf. Nicht alle Menschen, die wie sie in der City der Mainmetropole wohnten, lebten auf der Sonnenseite, überlegte sie. Auf den Straßen gab es viel mehr Verlierer, als man es sich normalerweise vorstellte.

Um die Umgebung zu checken und keine böse Überraschung zu erleben, hielten sich die Kommissare eine Weile vor Arnes demolierter Wohnungstür auf.

Griffbereit hatte Linda die Hand ans Holster gelegt. Nicht eine Sekunde würde sie zögern, die Knarre zu ziehen und abdrücken, falls es dafür einen begründeten Anlass gab.

Arnes Türblatt war über die gesamte Fläche mit Aufklebern jeder Couleur gepflastert. Von Piss off, Fuck you, über kill Yuppie scum bis No Future – war gestern und Fridaysfor Terror war das volle Programm dumpfer, primitiver Pamphlete zu finden.

Die Krönung bildete der Sticker ScheißBullenschweine. Der Schlagstock, den der Hessenlöwe in den Pranken hielt, war blutrot verschmiert. Angedeutete Bluttropfen waren auf die Erde geprasselt und bildeten eine rote Lake.

„Na, wem es gefällt ...“, kommentierte die Kommissarin zynisch. „Was hat unseren tapferen, hochdekorierten Elitesoldaten denn bloß so runtergezogen, dass der so draufgekommen ist?“, murmelte sie.

Linda hatte kein konkretes Bild vom toten Arne, dafür war die Zeit zu knapp gewesen.

Die Kommissarin drückte zwei Mal kurz hintereinander auf den Klingelknopf der Wohnungstür. Nichts geschah. Die Luft, die sie einatmete, wirkte abgestanden und verbraucht.

Als Linda realisierte, dass die Schelle defekt war, schlug sie mit Getöse auf die Tür ein. Es war heute nicht ihre Sache, sich in Geduld zu üben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit registrierte die Ermittlerin, dass sich jemand in der Wohnung polternd dem Eingang näherte. Umständlich wurde der Einlass, der mit zwei Sicherungsschlössern versehen war, aufgeriegelt.

Im Türrahmen erschien eine junge, schlanke, großgewachsene Punkerin, die etwa Mitte zwanzig war.

Aufmerksam studierte Linda die Frau vom Scheitel bis zur Sohle. Ihre Augen waren in einem grellen Rosa im Smokey-Eyes-Stil geschminkt. In der Nasenscheidewand steckte ein funkelnder Metallring, der groß genug war, um in ihn ein dünnes Seil einzufädeln. Die Haut ihres alabasterfarbenen Halses war verziert mit undefinierbaren Tätowierungen. Linda hatte den Eindruck, dass sich die junge Frau die Tattoos in Handarbeit selbst gestochen hatte. Aus Meisterhand stammten die verwackelten Machwerke aus dunkler Tinte und viel Pigment jedenfalls nicht.

Diesmal war es Steffen, der die Augenbrauen hochzog, als ihm die Punkerin ins Blickfeld geriet. Sie hatte die dunkelblau gefärbten Haare zu einem imposanten Liberty Hawk frisiert. Aus unmittelbarer Nähe hatte Steffen so was noch nie zu Gesicht bekommen.

Über der hellen Haut ihrer nackten Schultern flatterte ein zerrissenes, ausgeblichenes T-Shirt mit dem Bild der britischen Punk-Band THE CLASH. Ihr dunkelroter BH, mutmaßlich aus Polyester, sprang Steffen gleich ins Auge.

Die Punkerin selbst schien sich nicht im Geringsten daran zu stören. Mit halb geöffnetem Mund und irrlichternden Augen stierte sie die Besucher schweigend an.

Im Hintergrund hörte man deutsche Punkmusik aus dem Appartement. Der Kommissar verstand bloß ein paar Brocken, von den verzerrten Worten, die aus einem blechernen Lautsprecher tönten.

„Früher waren wir mal die allergrößten Punks der Stadt. Jetzt schaffen wir blöd in der … von IKEA ab. BAMM, BAMM, RATTATA.“

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wir sind von der Frankfurter Kriminalpolizei. Das ist Kriminalhauptkommissar Steffen Anbach. Mein Name ist Linda Sachse. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“ Linda hatte sich kerzengrade vor der Punkerin aufgebaut, um Dominanz zu zeigen.

Die junge Frau sagte kein Wort. Verständnislos glotzte sie die Ermittler an, während sie auf einem Kaugummi herumschmatzte. Offenbar hatte sie nicht die Absicht, die Polizeibeamten in das Allerheiligste zu bitten.

Warum auch? Wofür auch? Die Vertreter der Staatsmacht waren vermutlich ihre erklärten Feinde. Mit Feinden paktierte man nicht. Niemals, das wäre Verrat an der eigenen Sache.

Es machte PLOPP und die imposante Kaugummiblase, die die Punkerin vor ihren Lippen aufgeblasen hatte, war geplatzt.

„Dürfen wir bitte für einen kurzen Moment zu Ihnen hereinkommen?“, drängelte Linda, die ihren Dienstausweis in die Höhe reckte, um sich zu legitimieren. „Es ist für uns wirklich dringend. Es geht um Herrn Arne Lobe. Kennen Sie ihn? Können Sie uns Auskunft über ihn geben? Wir brauchen jede Unterstützung.“

Ihr Gegenüber stierte Linda bloß verächtlich an.

„Ihre lieben Nachbarn müssen ja nicht jedes Wort mitbekommen, dass wir mit Ihnen zu bereden haben. Oder bin ich da falsch gewickelt?“, meinte Linda.

„Was ist denn mit dem blöden Arsch passiert? Hat der wieder wehrlose Passanten im Stadtpark angegriffen und sie in Todesangst versetzt, das blöde Arschloch?“

„Arne Lobe ist ... tot. Aus diesem Grund sind wir hier“, erwiderte Linda trocken. Sie war im Einsatz, um einen guten Job abzuliefern, um den heißen Brei herumreden wollte sie nicht.

„Tot?“ Leicht verdattert machte die junge Frau einen Schritt zur Seite und zog die Tür ein Stück zu sich heran. Zögerlich ließ sie die Ermittler eintreten.

Dass es in der verwahrlosten Bude nach abgestandenem Bier und Shit roch, bemerkte Linda gleich, als sie den winzigen Flur des Appartements betreten hatte. Urplötzlich hatte sie Sorge, dass sich der süßliche Geruch in ihrer Kleidung festsetzte und sie ihn nicht mehr losbekam.

SECHS

„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf? Können Sie sich bitte ausweisen?“, sagte Linda. „Was tun Sie hier in der Wohnung? In welcher Beziehung stehen Sie zu Arne Lobe? Ich höre, sprechen Sie bitte!“

Die junge Frau schwieg eisern. Ihre großen, haselnussfarbigen Augen wanderten unstet von einem Kommissar zum anderen. Steffen blickte die Punkerin wortlos an.

Linda ärgerte sich, dass sie ihr mehrere Fragen auf einmal gestellt hatte. „Ich habe Sie etwas gefragt. Machen Sie Ihren Mund auf“, sagte Linda streng.

„Dann heul doch, Digga!“, meinte die Punkerin frech. „Damit hab ich nichts zu tun, damit das ein für alle Mal klar ist“, antwortete sie.

„Geben Sie mir bitte Antworten auf meine Fragen! Wir haben schließlich nicht ewig Zeit. Die Ermittlungen laufen übrigens in alle Richtungen.“

„Wenn es unbedingt sein muss: Ich bin die Nina. Die Nina Meineke, wenn Sie es genau wissen wollen. Einen Ausweis habe ich keinen.“ Die junge Frau machte ein paar Schritte in den Wohnraum und schaltete die Musik aus. „Ich bin seine Ex. Die Sache zwischen uns ist aber lange schon Geschichte! Ewig vorbei, vergessen und begraben.“

„Wohnen Sie hier noch zusammen mit Arne Lobe, Ihrem Ex?“, fragte Linda. Die Ermittlerin drehte sich um die eigene Achse, um sich auf eine mögliche Gefahrenquelle einzurichten. Mit Adleraugen durchkämmte Steffen das Quartier.

„Wenn ich nicht gerade auf der Straße lebe und auf Platte mache, ja, dann wohne ich gelegentlich hier. Aber das kommt nicht mehr so häufig vor. Und damit Sie Bescheid wissen; zwischen uns lief nichts mehr …“

Ninas Stimme klang in Lindas Ohren heiser und erschöpft. Mit der Hand deutete sie auf ein verschlissenes, dunkles Ledersofa, auf dem die Kommissare widerwillig Platz nahmen.

„Danke sehr“, sagte Linda und legte die Beine übereinander.

Nina pflanzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden vor ihnen. Die leeren Bierdosen, die neben ihr zu einer wackligen Pyramide aufgetürmt waren, fegte sie mit einem beherzten Schlag zur Seite.

Plötzlich schoss eine aufgeschreckte Katze aus der vermüllten Ecke neben dem Sofa hervor. Das Tiermiaute lauthals vor sich hin, während es sich im Eiltempo im Kreis drehte.

„Komm Vicious, mein Liebling! Komm schnell zu mir! Hab ich dich etwa erschreckt? Das habe ich nicht gewollt. Das musst du mir glauben, mein Lieber“, sagte Nina.

Zu dem Tier sprach sie mit einer zuckersüßen Stimme. Nina schien ihr Herz an den Kater verloren zu haben, dachte Linda.

„Sagen Sie mir bitte haargenau, wann Sie Arne Lobe zuletzt gesehen haben“, fragte Linda nun deutlich sanfter. „Und bitte, denken Sie auch genau darüber nach, wo das gewesen ist. Das ist für uns sehr wichtig, wie Sie sicher verstehen können.“ Steffen nickte bestätigend. Er ließ Nina nicht aus den Augen.

„Lassen Sie mich kurz überlegen. Linda ist dein Name ... habe ich das richtig verstanden?“, fragte Nina zögerlich.

„Ja, richtig, Linda heiße ich.“

„Gestern Morgen war das ... wo ich Arne zuletzt gesehen habe. Und er war wie immer in heller Panik.“

„Warum war er in heller Panik?“

„Weil er immer in heller Panik ist. Das habe ich dir doch gerade erklärt. Hörst du mir überhaupt richtig zu? Warum stellst du mir so viele Fragen, bis mir fast der Kopf raucht, wenn du dann nicht aufpasst, was ich zu dir sage?“, meinte Nina verstimmt.

„Ja, ja, ist ja schon klar, aber was war der Grund für seine immerwährende Panik?“, fragte Linda genervt.

„Der war ewig und drei Tage total scheiße drauf. Das war eigentlich schon immer so bei dem Arne. Zumindest solange wie ich ihn kenne.“

Während Nina an ihrem löchrigen T-Shirt herumfummelte, meinte sie lapidar: „Manche kommen irgendwann einfach nicht mehr runter von ihrem verdammten Schuss. Die haben dann für immer einen Knall in der Birne. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

Linda nickte ihr zu. „Und, sag mir bitte, wann hat es bei dem Arne dermaßen geknallt, dass es ihn völlig aus der Bahn geworfen hat?“

Vicious, der schwarz-weiß-gescheckte Kater, war zu Nina geschlichen, um es sich auf ihrem Schoß bequem zu machen. Aus der zerrissenen Jeans der Punkerin lugte ihr nacktes, blasses Knie hervor.

„Spätestens seit dem Einsatz als Soldat in Afghanistan, da, am Arsch der Welt, war er dem Knall von morgens bis abends ausgesetzt ...“, murmelte Nina. „Es war furchtbar, und mit ihm war es einfach nicht mehr auszuhalten.“

Steffen sah die junge Frau unbeirrt an. Vermutlich dachte er an seine Tochter Lilli, die im schönen Wien Medizin studierte. Von ihr wollte er sicherlich niemals ein solches Bild zu Gesicht bekommen, wie es die junge Frau, die vor ihm saß, abgab.

„Aber rein theoretisch könnte es auch schon wesentlich früher mächtig in ihm gebrodelt haben“, bemerkte Nina. „So, wie in einem beschissenen Schnellkochtopf, wo alles so lange verkocht wird, bis kein bisschen Fleisch mehr am Knochen klebt und alles in einer faden Brühe schwimmt.“

Die Punkerin sah die Kommissarin aus den grellgeschminkten Augen auf seltsam distanzierte Weise an. Auf Linda wirkte sie, als würde sie aus einer anderen Welt stammen. Dass die Punk-Lady auf Droge war, schloss die Kommissarin aber aus. Dafür war Nina zu differenziert und zu präsent.

„Irgendwann haben die Psycho-Docs bei Arne eine Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS“, - buchstabierte sie mit weit aufgerissenen Augen - ausgemacht. Das ist so ein neuartiges Psycho-Scheiß-Ding, wenn ich das richtig kapiert habe. Aber das hat es offenbar gewaltig in sich.“

Linda war sich sicher, dass sie einen Draht zu Nina gefunden hatte und sie sich ihr gegenüber langsam, aber sicher Schritt für Schritt öffnete.

„Irgend so ein neumodischer Quatsch eben“, seufzte die Punkerin resigniert. „Manche seiner Ärzte haben ihn allerdings von Anfang an für einen Simulanten gehalten, der auf dem besten Weg war, für sich eine Rente beim Bund zu ergaunern“, bemerkte sie verbittert. „Das ist doch alles krasse Scheiße“, fluchte Nina plötzlich. „Aber diese Drecksvögel in ihren weißen Kitteln haben immer nur ihr verschissenes Muster im Kopf. Da bist du am Ende aufgeschmissen und komplett hilflos. Das hat alles null Bock gemacht und war echt für die Sau.“

Vicious stresste die Situation nicht. Er streckte sich auf Ninas Schoß und miezte tiefenentspannt. Die Punkerin ließ nicht nach, den Kater mit ihren Streicheleinheiten zu verwöhnen. Das Tier ließ es sich gefallen.

„Wisst ihr, dass der Arne unterm Strich deutlich länger im Krankenhaus war und den synthetischen Drogen von diesen Scharlatanen ausgesetzt war, als sein gesamter Afghanistaneinsatz überhaupt gedauert hat?“

Verständnisvoll nickte Linda der Punkerin wieder zu.

„Wenn sich das irgendwann mal für die Beteiligten, die den mörderischen Ausflug nach Afghanistan organisiert und finanziert haben, rentieren wird?“, betonte Nina verächtlich. Sie verharrte in ihrer letzten Bewegung und meinte: „Ich für meinen Teil habe da jedenfalls Zweifel, dass dasfür irgendwen ein Sechser im Lotto gewesen ist. Die haben doch alle bloß die Arschkarte gezogen.“ Unerwartet schüttelte die Punkerin kräftig den Kopf. Doch ihre aufwändige Frisur hielt stand. Die Spikes blieben intakt und kein Zacken war ihr aus der Krone gefallen.

„Von Arzt zu Arzt ist der Arne gerannt, wie von ... Pontius zu Pilatus, wie meine Oma immer gesagt hat.“ Die Punkerin gähnte müde und streckte ihre Arme in die Luft. „Gebracht hat das alles aber, außer viel Ärger und Gerenne, nix. Gar nix. Irgendwann haben die dann klipp und klar gesagt, dass man seine Erkrankung niemals wird heilen können.“ Nina prustete genervt und zeigte ein zitronensaures Lächeln. Nach Worten ringend starrte sie in die Luft. „Aber wofür rennt man dann überhaupt zu den ganzen Psychos hin? Das hätten die ihm doch von Anfang an aufs Brot schmieren können und nicht so einen verdammten Bohai anstellen dürfen?“

Nina blickte Linda wütend an, als trüge die Kommissarin eine Mitschuld an Arnes Krankheit.

Auf die liebevolle Behandlung des Katers hatte der plötzliche Zorn, der die Punkerin erfasst hatte, keine Auswirkung. Nach wie vor ließ sich das verwöhnte Tier Ninas Liebkosungen gefallen.

„Die Ärzte, diese verfluchten Wichser, meinten ... ganz von oben herab, dass Arne endlich lernen muss, seine Ängste zu kontrollieren.“

Nina zuckte wie wild mit den Schultern und lachte heiser, glucksend. „Der Arne ... und die Scheiß Kontrolle, das kannst du bei dem Arne komplett knicken. Das kannste echt in die Tonne kloppen.“ Wieder schmatzte sie hemmungslos mit dem Kaugummi zwischen den Zähnen. „Nix hatte der unter Kontrolle, der Arne. Rein gar nix. Überall hat der nur noch Gespenster gesehen. Am schlimmsten war es aber mit ihm in der Nacht.“ Nina kratzte sich ungeniert am rechten Unterarm. „Keine einzige Nacht hat der Kerl durchgeschlafen. Das war die reinste Katastrophe mit dem. Ich hätte den würgen und gegen die Wand klatschen können. Es war echt unerträglich.“

Die Kommissarin folgte den Worten der jungen Frau aufmerksam. Steffen saß bewegungslos auf dem zerschlissenen Sofa und schien die Punkerin eindringlich zu analysieren.

„Hat er denn Feinde gehabt, der Arne? Irgendwelche Typen, die es auf ihn abgesehen hatten? Er scheint, wie ich das so einschätze, für Punkerkreise beim Bund nicht schlecht verdient zu haben“, wollte Steffen jetzt wissen.

Die Punkerin schüttelte gemächlich den Kopf. „Weiß ich alles nicht, keine Ahnung .... kann sein, kann nicht sein. Mir hat er jedenfalls kein Wort davon gesagt.“ Nina machte eine kurze Pause. „Feinde ... nee. Aber richtige Freunde hatte der auch keine gehabt. Irgendwie nicht Fisch und nicht Fleisch, war der Arne gewesen.“ Deutlich leiser fuhr sie fort: „Arne war mehr so ein Einzelgänger. So der Typ einsamer Wolf. Und dazu ein verfickter Waffennarr. Stundenlang hat der da auf dem Sofa gehockt und mit einer Feile an der Munition herumgeschliffen. Einem Psycho wie dem darfst du niemals eine Knarre in die Hand drücken. Das geht garantiert nach hinten los.“