Anna & Otto - Blanca Imboden - E-Book

Anna & Otto E-Book

Blanca Imboden

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Beschreibung

Die drei WG-Partnerinnen Anna, Heidi und Caro haben in einer feuchtfröhlichen Silvesternacht eine veritable Schnapsidee: Jede der drei Frauen tippt - blindlings - in den Kurskatalog der Schwyzer Erwachsenenbildung und muss den zufällig gewählten Kurs dann auch tatsächlich besuchen. Anna, Journalistin mit Leib und Seele, erwischt den "Trommelworkshop". Abartig! Da hätte sie ja lieber noch das "Beckenbodentraining" besucht so wie Heidi, die hinterher allerdings in eine frühe Midlife-Crisis stürzt. Oder "Feng-Shui für Anfänger" wie Caro, die seither die WG total auf den Kopf stellt und ihren Mitbewohnerinnen mit ihren neu erworbenen Theorien mächtig auf die Nerven geht. Aber - Anna lernt im Trommelkurs Otto kennen, einen Krankenpfleger, mit dem sie sich gleich verbunden fühlt, und dies nicht nur, weil ihre beiden Vornamen Palindrome sind und vorwärts- wie rückwärtsgelesen dasselbe ergeben. Es entwickelt sich eine ebenso berührende wie schwierige Liebesgeschichte, die zu einem etwas ungewöhnlichen Happy End führt. Das Zauberwort heißt "loslassen".

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Seitenzahl: 279

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Blanca Imboden

Anna & Otto

Liebe mit Verfallsdatum

Die drei WG-Partnerinnen Anna, Heidi und Caro haben in einer feuchtfröhlichen Silvesternacht eine veritable Schnapsidee: Jede der drei Frauen tippt – blindlings – in den Kurskatalog der Schwyzer Erwachsenenbildung und muss den zufällig gewählten Kurs dann auch tatsächlich besuchen.

Anna, Journalistin mit Leib und Seele, erwischt den »Trommelworkshop«. Abartig! Da hätte sie ja lieber noch das »Beckenbodentraining« besucht so wie Heidi, die hinterher allerdings in eine frühe Midlife-Crisis stürzt. Oder »Feng-Shui für Anfänger« wie Caro, die seither die WG total auf den Kopf stellt und ihren Mitbewohnerinnen mit ihren neu erworbenen Theorien mächtig auf die Nerven geht.

Aber – Anna lernt im Trommelkurs Otto kennen, einen Krankenpfleger, mit dem sie sich gleich verbunden fühlt, und dies nicht nur, weil ihre beiden Vornamen Palindrome sind und vorwärts- wie rückwärtsgelesen dasselbe ergeben. Es entwickelt sich eine ebenso berührende wie schwierige Liebesgeschichte, die zu einem etwas ungewöhnlichen Happy End führt. Das Zauberwort heißt »loslassen«.

Blanca Imboden, geb. 1962, schrieb schon in der Primarschule Fortsetzungsromane. Schreiben blieb ihre erste Leidenschaft, die zweite war die Musik. Als Tanzmusikerin reiste sie während dreizehn Jahren durch die Schweiz und Deutschland. Später arbeitete sie als Redaktionssekretärin und Kolumnistin jahrelang bei einer Lokalzeitung. Als diese Ende 2013 wegrationalisiert wurde, fand sie ihren neuen Teilzeitjob dort, wo ihre dritte Leidenschaft liegt: in den Bergen, wo sie die Seilbahn Morschach-Stoos bedient. Und so arbeitet sie jetzt genau da, wo ihre beiden Bestseller »Wandern ist doof« und »Drei Frauen im Schnee« spielen. Die beiden Bücher standen insgesamt 32 Wochen lang in der Schweizer Bestsellerliste. Blanca Imboden lebt in Ibach SZ.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2014 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Andrea Heyde, Zürich

Korrektorat: Andrea Leuthold und Claudia Bislin, beide Zürich

Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen

Foto Cover: © Thomas Jarzina

Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau

Print ISBN 978-3-03763-045-7 E-Book ISBN 978-3-03763-551-3

www.woerterseh.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Danke

Leseempfehlungen

1

Tam, tam, bum, bum.

Ich glaube es selber nicht!

Bum, bubum, bum, bububum.

Ich bin tatsächlich hier!

Tam, tatam, bum, bubum.

In einem Trommelworkshop!

Wir sitzen auf Stühlen im Kreis, jeder eine große Djembe-Trommel zwischen die Beine geklemmt. Zuerst haben wir die drei Grundschläge gelernt. Steve, ein Bild von einem Mann mit senegalesischen Wurzeln, hat uns mit Hingabe und Engelsgeduld die Schläge Bass, Tone und Slap beigebracht. Jetzt geht es um Rhythmus. Steve wirbelt in der Mitte unseres Kreises herum, tanzt und stampft und ruft und lärmt. Er versucht, unsere ungelenken Schläge zu einem gemeinsamen Rhythmus zu vereinen, zu einem richtigen Trommelkonzert. Irgendwann singt er auch noch dazu, und sein Gesang ist wirklich gut, im Gegensatz zu unserem unbeholfenen Geklopfe.

»Schön aufrecht bleiben!«, ruft Steve aufmunternd. »Entspannt euch, vergesst das Atmen nicht! Lasst die Arme tanzen, die Schläge fließen!«

Der hat gut reden.

Nein, trommeln zu können, ist kein unerfüllter Wunsch, den ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrage. Ich habe auch nie von einem solchen Workshop geträumt. Ganz bestimmt nicht. Ich habe bloß letzten Silvester zu tief ins Glas geschaut. Und als Heidi und Caro mit ihrer blöden Idee kamen, fand ich die sogar noch witzig: Sie schlugen vor, aus dem Kurskatalog des Vereins »Bildung Schwyz« blind einen Kurs auszuwählen, zu buchen und ihn dann vor allem auch zu besuchen. Egal, was.

Bescheuert!

Eine Schnapsidee!

Und so sitze ich hier im Kreis, schlage auf ein Ziegenfell ein, das überhaupt nichts dafür kann, und schaue einem attraktiven Afrikaner zu, wie er tanzt und singt. Vielleicht hat sich das Ganze wenigstens wegen Steve gelohnt. Allerdings wird er sich kaum für mich interessieren, so unbegabt, wie ich bin. Wie übrigens die meisten hier, was keine Entschuldigung sein soll. Neben mir sitzt ein Typ, dem der Schweiß über sein Gesicht auf die Trommel tropft. Auch er scheint mit oder vielmehr gegen sich zu kämpfen. Aber ich sollte mich mehr auf mich konzentrieren, denn ich bin schon wieder völlig neben dem vorgegebenen Rhythmus.

Steve klatscht in die Hände: »Höchste Zeit für eine Pause. Wir treffen uns in 45 Minuten wieder hier.«

Gott sei Dank! Achtlos lasse ich meine Trommel stehen und ergreife die Flucht. Immerhin liegt das Bildungszentrum Mattli hoch über dem Vierwaldstättersee, und das Restaurant hat eine Terrasse mit herrlicher Aussicht. Ich steuere einen Tisch an, der direkt an der Sonne steht, und lasse mich nieder. Meine Hände wuscheln durch meine schweißfeuchten dunkelbraunen Locken. Hier oben in Morschach könnte es traumhaft sein, wäre da nicht dieser lästige Trommelkurs. Der Blick über den See und die Berge ist bezaubernd, die Luft klar und rein. Ein schöner Platz. Ich betrachte meine Hände, die rot sind und schmerzen, puste sie sanft an. Zum Glück dauert das Ganze nur ein Wochenende.

Mein Nachbar aus dem Trommelkreis taucht auf. Ich nicke einladend, und er setzt sich zu mir.

»Ich gebs zu, ich habe es mir nicht so schwierig und anstrengend vorgestellt«, sagt er, nachdem er sich ein Bier bestellt hat. Ich rühre schon in meinem Milchkaffee und lächle.

»Ich hatte überhaupt keine Vorstellung von diesem Workshop, ehrlich!«, erkläre ich.

Wir sitzen eine Weile schweigend da und hören den entfernt bimmelnden Kuhglocken zu, beide froh, jetzt nicht trommeln zu müssen.

»Ich glaube, dieses Getrommel wird mich noch bis in meine Albträume verfolgen«, meint eine etwas aufgetakelte Frau, die ungefragt einen Stuhl an unseren Tisch stellt. Sie verdreht leidend die Augen und zupft an einem ihrer Fingernägel herum. Es scheint sich ein wenig rote Farbe abgelöst zu haben.

»Ich hatte sie gerade frisch lackiert«, jammert sie.

Tja, Augen auf bei der Instrumentenwahl!, denke ich. Mein Mitleid kocht auf sehr kleiner Flamme, da ich gerade damit beschäftigt bin, mich selber ein wenig zu bedauern.

Immer mehr Kursteilnehmer setzen sich zu uns. Zwei Tische werden zusammengerückt. Wir sind ja ohnehin nur zehn Leute. Irgendwann kommt auch der schöne Steve. Er hat die großartige Idee, dass sich doch jeder kurz vorstellen könnte.

»Sagt, woher ihr kommt, wer ihr seid und warum ihr diesen Kurs besucht«, schlägt er vor.

Die Fingernägeltante kommt aus Brunnen, ist Sozialarbeiterin und besucht den Kurs, weil sie mit Jugendlichen trommeln möchte.

Eine ältere Dame wohnt in Luzern, macht seit Jahren African Dance und wollte daher schon immer mal trommeln lernen. Ein Mann aus Altdorf, Busfahrer von Beruf, hat gerade eine Reise durch Afrika gemacht und möchte so seine Erinnerungen wachhalten. Ich höre mit Interesse zu, was die Kursteilnehmer erzählen. Dann ist mein Nachbar dran.

»Ich heiße Otto. Ich bin Altenpfleger und arbeite in Ibach. Da ich schon als Kind immer von Afrika geschwärmt habe, hat man mir eine Djembe geschenkt, und so bin ich jetzt hier.«

Otto!

Ups, jetzt bin ich dran. Warum erschreckt mich das so sehr? War ja wohl vorhersehbar. Was sage ich jetzt? Die Wahrheit kann ich unmöglich hinausposaunen.

»Ich bin Anna, Journalistin aus Schwyz. Ich liebe Trommeln.«

Ich liebe Trommeln! Total bescheuert!

Kann keinen Rhythmus halten, aber liebt Trommeln!

Wahrscheinlich kugelt sich Steve jetzt innerlich vor Lachen.

»Anna und Otto«, murmelt die Fingernägeltante. Ich weiß schon, was jetzt kommt, sehe richtig, wie es in ihrem Kopf rumort.

»Wisst ihr eigentlich, dass man eure Namen vorwärts und rückwärts lesen kann?« Sie ist halt eine ganz Schlaue.

Ja, ja, und nochmals ja.

Wir wissen es ganz bestimmt beide.

Schon lange.

Auf jeder Party, bei jeder Veranstaltung, es kann eine Beerdigung oder eine Pressekonferenz sein, ist sicher ein besonders intelligenter Gast, der einen darauf aufmerksam macht.

Otto steckt sich hinter dem Rücken der Frau symbolisch den Finger in den Hals.

Wusste ich es doch! Er kann es auch nicht mehr hören.

Ich selber konnte schon im Kindergartenalter zahlreiche Palindrome aufsagen:

Reliefpfeiler.

Uhu.

Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie.

Lagerregal.

Tarne nie deinen Rat!

Nette Betten.

Damals habe ich die Sätze nie richtig verstanden. Ehrlich gesagt, weiß ich heute noch nicht, was ein Reliefpfeiler ist. Aber darum gehts ja nicht.

»Anna und Otto, gleich zwei Palindrome. Wenn das nicht ein Zeichen ist«, meint nun auch die Tänzerin und blickt vielsagend von Otto zu mir und zurück.

Otto grinst verlegen.

Ich werde rot.

Steve bereitet dem Ganzen ein Ende: »Los, weiter gehts. Die Trommeln rufen.«

Wir gehen wieder hinüber in das Kurslokal. Otto legt mir kurz die Hand auf die Schulter und sagt: »Du Palindrom, du!«

Dazu verdreht er derart die Augen, dass ich laut lachen muss.

Wir klemmen uns wieder die Trommeln zwischen die Beine. Der Kurs geht weiter.

Eigentlich würde ich mir diesen Otto gern etwas genauer anschauen, wo wir doch jetzt eine besondere Verbindung haben und er so sympathisch reagiert hat. Aber ich muss mich auf das Trommeln konzentrieren, denn Steve fordert uns heraus.

»Ich gebe einen Rhythmus vor, ihr trommelt ihn nach«, erklärt er.

»Zwischendurch klatsche ich auch mal in die Hände oder rufe etwas. So lernt ihr, zuzuhören, schnell zu reagieren, und trainiert das Trommeln und euer Rhythmusgefühl.«

Steve fängt langsam und einfach an.

Bum, bum, bam.

Da halten wir noch locker mit.

Bum, bum, bam.

Bald trommeln jedoch nur noch wenige. Die meisten haben aufgegeben. Otto ist noch immer dabei. Der Schweiß tropft wieder von seiner Stirn. Otto scheint begabter zu sein als ich, ehrgeiziger und konzentrierter.

Otto. Er sieht wesentlich besser aus, als sein Name vermuten lassen würde. Er trägt Jeans, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt. Sein kurz geschorenes braunes Haar lenkt wenig ab von seinem markanten Gesicht. Es ist braun gebrannt und schmal. Seine dunkelbraunen Augen könnten einige Geheimnisse verbergen. Seine Lippen wirken weich und das Lächeln warm.

Otto.

Anna und Otto.

Ich schüttle mich ein wenig und versuche, wieder locker zu werden. Die Schläge sollen aus den Armen herausfließen, sagt Steve. Ich bemühe mich. Steve schlägt jetzt leichtere Rhythmen an, damit wieder alle mitmachen können. Ich versuche, nicht an Otto zu denken, sondern mich in den Trommelschlägen zu verlieren. Später lässt Steve dröhnend laut ein paar afrikanische Songs von einer CD spielen, und wir können alle frei dazu trommeln. Das macht Spaß. Ein richtiges Trommelinferno geht los. Da reagieren sogar die Gedärme, und der ganze Körper vibriert mit.

Otto strahlt mich an.

Hallo?

Eigentlich bin ich nicht hierhergekommen, um mich zu verlieben. Ich habe nicht einmal erwartet, mich zu amüsieren. Ich wollte nur diesen Kurs hinter mich bringen und ihn dann sofort wieder vergessen.

Aber Otto ist süß, keine Frage.

Haben wir sonst noch irgendetwas gemeinsam, abgesehen von den komischen Namen und unserer absoluten Hingabe an das Trommeln? Sonst könnte es etwas schwierig werden, jedenfalls langfristig gesehen. Aber wer denkt heute noch langfristig?

Hätte ich doch nicht dieses verwaschene T-Shirt angezogen und die alten ausgebeulten Jeans, die nur bequem sind, aber ansonsten nicht gerade viel hermachen. Auf meinem Zimmer habe ich nur noch ein weiteres Shirt, zwar in einer anderen Farbe, aber das wird mich auch nicht rausreißen. Dazu komme ich barfuß in Sandalen daher, obwohl es dafür im April eigentlich noch etwas kühl ist. Was muss Otto von mir denken? Während ich Ottos Strahlen erwidere, zerwühle ich wie nebenbei meine Locken, damit sie aufhören, an meinem Kopf zu kleben.

Wer hätte denn voraussehen können, dass man in einem Trommelkurs interessante Männer trifft? Und selbst wenn: Wie hätte ich mich dann angezogen? Ich bin einfach nicht der weibliche, tussige Typ mit hundert Handtaschen und hochhackigen Schuhen in allen Farben. Eigentlich komme ich immer so daher wie heute: einfach und praktisch gekleidet, ungeschminkt. Aufbrezeln mag ich mich nicht. Im Grunde meines Herzens denke ich auch, man sollte sich nicht verstellen, um sich einen Mann zu angeln. Das kann doch sonst auf Dauer nicht gut gehen.

Jetzt rede ich schon wieder von Dauer. Caro würde sagen, die Dauer einer Beziehung werde überbewertet. Die Qualität des Moments sei entscheidend.

Aber ich bin nicht Caro.

Beim Abendessen sitzen Otto und ich dann wie zufällig wieder nebeneinander. Wir reden wenig, denn um uns herum wird heftig debattiert. Es geht um Politik, ums Wetter, um Sport. Man streitet sich über die Wirtschaftskrise, über das Bankgeheimnis, über die Beziehungen der Schweiz zur EU, über alternative Energien.

Otto und ich sitzen einfach dabei. Wir genießen erstklassige Pasta mit Basilikum und trinken ab und zu einen Schluck Rotwein. Manchmal blinzelt er mir zu, etwa, wenn jemand gerade etwas besonders Originelles zum Besten gibt wie der junge Mann, der ganz genau erklärt, wie er den Weltfrieden wieder herstellen würde, wenn man ihn nur ließe.

Uns verbindet etwas.

Wir schauen einander an und fühlen uns verstanden.

Es ist höchst merkwürdig, hochgradig beunruhigend, aber ohne Zweifel schön.

Nach dem Abendessen zeigt uns Steve einen Film über eine Trommelschule im Senegal und über die Herstellung von Djembe-Trommeln. Berühmte Trommler werden vorgestellt, und wir bekommen Einblick in die Geschichte des Trommelns. Der Film ist spannend und gut gemacht, aber Otto lenkt mich ab. Er sitzt ganz nahe neben mir und berührt ab und zu wie zufällig meine Hand, ganz vorsichtig, ganz zärtlich. Mir wird heiß, und der geschlossene Raum beengt mich. Ich brauche dringend frische Luft. Irgendwann stehe ich auf und verlasse den Saal.

Es sitzt keiner mehr auf der Terrasse, denn nach dem sonnigen, warmen Tag ist die Nacht wieder richtig kalt. In meiner warmen Jacke setze ich mich auf eine Bank in einer windgeschützten Ecke und atme tief ein und aus. Mein Kopf wird trotzdem nicht so richtig klar.

Habe ich mich etwa verliebt?

Na so was.

Das ging aber schnell.

Ich habe eindeutig Schmetterlinge im Bauch und duftige bunte Nebelschleier in meinen Gehirngängen. Sie verwirren mich, betören mich, bringen meine Gedanken durcheinander, so als wäre ich nach einem Drogenexperiment auf einem guten Trip mit ungewissem Ausgang.

»Anna!«

Otto hat mich gefunden.

»Gefällt dir der Film nicht?«, fragt er verwundert.

»Doch! Der Film ist wirklich gut, aber jemand hat mich ständig abgelenkt«, antworte ich.

Otto lacht. Er setzt sich zu mir, rutscht ganz nah heran und legt keck seinen Arm um mich.

»Ich wärme dich«, erklärt er. Und so bleiben wir einfach eine Weile sitzen. Es sitzt sich gut, so nahe neben ihm. Ob er sich auch fragt, was ich jetzt denke? Ob er das Knistern zwischen uns auch so laut hört wie ich? Wie gern würde ich jetzt wissen, wie es in ihm aussieht. Meine Gefühlswelt ist jedenfalls ziemlich aufgewühlt.

Irgendwann wird uns kalt, und wir mischen uns wieder unter die Leute.

Eine afrikanische Gruppe tritt jetzt in der Hotelbar auf. Sechs Männer singen und trommeln. Inzwischen sind auch Besucher hier, die nicht zu unserem Kurs gehören. Es ist laut, und die Luft scheint durch das Trommeln zu vibrieren. Otto und ich tanzen eine Weile zu den wilden Rhythmen. Dann lassen wir uns erschöpft in einer Sitzecke in der Lobby nieder. Hier ist die Luft frischer, und die Musik ist zwar hörbar, aber man kann sich trotzdem noch unterhalten.

»Erzähl mir etwas von dir«, bittet mich Otto. »Lebst du allein?« Er grinst leicht verlegen wegen seiner allzu direkten Frage, aber ich kann ihn beruhigen.

»Nicht ganz allein. Ich wohne in einer Frauen-WG mit Heidi, einer Lehrerin, und Caro, einer Informatikerin, die jetzt ein eigenes Geschäft hat. Wir drei haben zusammen eine richtig schöne, große Wohnung mit viel Luxus in einer Neuüberbauung in Schwyz.«

»Was verstehst du unter Luxus?«, will Otto wissen.

»Eingebaute Mikrowelle, Backofen mit Steamer, Induktionsherd«, zähle ich auf.

»Ach, so Frauenzeug«, lacht er verständnisvoll.

»Oh, wir haben auch eine große Badewanne mit Whirlpool-Funktion. Auf unserem Balkon kann man locker zu zwölft feiern, und im Keller gibt es ein Hallenbad.«

Jetzt ist Otto platt.

»Zu dritt können wir uns das leisten. Und wir verstehen uns richtig gut.«

»Du bist Journalistin, oder?«, will Otto wissen.

»Ja, ich arbeite bei der ›Zeitung Zentralschweiz‹. Nach der Matura habe ich am Medienausbildungszentrum Luzern verschiedene Kurse besucht: Lokaljournalismus, Fotografie, Recherche, Interviewtechnik und anderes. Bei der ZZ habe ich meinen ganz persönlichen Traumjob gefunden. Nur geht es den Zeitungen leider nicht gut im Moment.«

Die Wirtschaftskrise hat die Werbeeinnahmen schrumpfen lassen. Dazu wollen immer weniger junge Leser überhaupt noch eine Zeitung abonnieren, wo es jetzt überall Gratisblätter gibt und die News so schnell im Internet abrufbar sind. Dunkle Gedanken wollte ich jetzt eigentlich nicht aufkommen lassen, dennoch erkläre ich Otto ein wenig meine Lage.

»Man redet erstmals von Entlassungen, und ich versuche, diese Vorstellung weit von mir zu schieben. Es wäre eine Katastrophe. Auch bei anderen Zeitungen gibt es ja zurzeit viele Entlassungen. Es wäre verdammt schwer, wieder irgendwo unterzukommen.«

Otto drückt meine Hand.

»Jetzt du!«, fordere ich ihn heraus.

»Ich bin Krankenpfleger. Seit fünf Jahren im Altersheim tätig. In der Freizeit muss ich manchmal etwas übertreiben. Ich fahre Mountainbike und brauche den Sport. Manchmal betreibe ich ihn bis zur Schmerzgrenze. Das liegt an meinem Job.«

Einen Job zu haben, der mich mit dem Mountainbike die Berge hochtreibt, das kann ich mir fast nicht vorstellen.

»Ich liebe meinen Beruf, und ich liebe die alten Leute, um die ich mich kümmere«, beteuert Otto, »jedenfalls die meisten. Aber ständig Menschen sterben zu sehen oder, was noch schlimmer ist, Patienten monatelang leiden zu sehen, geht an die Substanz. Ich halte zu wenig Distanz, wirft meine Chefin mir vor. Aber ich frage mich: Bin ich ein guter Pfleger, wenn ich Distanz halte?«

Auch Otto möchte wohl keine schlechte Stimmung aufkommen lassen und wechselt schnell das Thema: »Wie bist du eigentlich zu diesem Trommelkurs gekommen?«

»Die ehrliche Antwort? Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«, frage ich zurück.

Otto lacht und macht sich schon auf etwas Ausgefallenes gefasst. Als er meine Antwort dann hört, lacht er wieder. Er hat ein warmes, ansteckendes Lachen.

»Ihr seid ja verrückte Weiber!«

Er will wissen, was noch alles im Programm war.

»Oh, da gab es alles Mögliche: einen Biogartenkurs, Hormon-Yoga, Feuerlaufen, einen Okarina-Baukurs, philosophische Abendgespräche, Mentalwerkstatt, Augentraining, Gesichtsmassage mit Edelsteinen …«

Die Vielzahl der ungewöhnlichen Angebote hatte uns erst auf die verrückte Idee gebracht, blind irgendeinen Kurs herauszupicken und uns anzumelden. Es waren welche dabei, bei denen wir nicht im Entferntesten wussten, worum es geht.

Gefühlsmanagement?

Effektive Mikroorganismen?

Nuno-Filzen?

Jin Shin Jyutsu?

»Und wie ist es Caro und Heidi mit ihrer ›Wahl‹ ergangen?«, fragt Otto gespannt.

»Heidi war insgesamt viermal beim Beckenbodentraining. Sie fand das total peinlich. Im Kurs lernte sie viele Frauen, alte und junge, kennen, die echte Probleme haben, weil sie ständig Urin verlieren. Seither trainiert Heidi vorbeugend ihren Beckenboden. Sie ist richtig in Panik geraten.«

Leider hat der Kurs auch sonst viele Ängste bei ihr ausgelöst. Sie hat angefangen, über ihre biologische Uhr nachzudenken und sich über ihr Alter Sorgen zu machen. Aber das behalte ich erst mal für mich. »Caro, unsere ganz Rationale, die Computerfrau, wurde gezwungen, sich mit Feng-Shui zu befassen. Sie hat geflucht und geschimpft, tagelang. Sie fand, Feng-Shui sei doch bloß esoterischer Humbug. Und dann besuchte sie diesen Kurs – auch so ein Wochenendworkshop wie unser Trommelkurs –, und seitdem ist bei uns nichts mehr so, wie es war. Caro hat ihr Zimmer total umgeräumt und will nun auch bei uns alles verändern.«

Sie hat massenhaft Bücher zum Thema gelesen. In ihrem Büro hat sie einen Feng-Shui-Berater kommen lassen und die ganze Einrichtung den Lehren von Feng-Shui angepasst.

»Caro behauptet, es gehe ihr seither besser, sie habe weniger Kopfschmerzen, und ihr Geschäft habe trotz Wirtschaftskrise einen Aufschwung erfahren«, erkläre ich Otto weiter.

In unserer WG haben wir seither allerdings öfter mal Meinungsverschiedenheiten wegen Caros Veränderungssucht.

»Caro kommt sicher gern mal zu dir heim und richtet alles neu ein«, biete ich Otto gönnerhaft an.

»O nein! Da gibt es leider kaum Möglichkeiten zur Veränderung«, protestiert Otto heftig. »Ich wohne im Personalhaus.«

»Wieso das denn? Da kannst du ja gar nie richtig abschalten«, wundere ich mich.

»Früher habe ich mit meiner Partnerin Susanne zusammengewohnt. Als das auseinanderging, vor sechs Monaten, wollte ich nur schnell weg und kam im Personalhaus unter. Bis jetzt bin ich da hängen geblieben. Ich habe eine kleine Studiowohnung, die ich eigentlich mag. Aber du hast schon recht: Ich müsste dort weg.«

»Warum ging eure Beziehung auseinander?«

Achtung, Fangfrage!

Ich denke, man lernt enorm viel über einen Mann, wenn man ihn über frühere Beziehungen reden lässt.

»Wir hatten nach schon einem Jahr geschafft, wofür andere Paare zwanzig Jahre brauchen. Wir lebten wie ein altes Ehepaar zusammen, hatten manchmal kaum noch Gesprächsstoff, kaum mehr Sex, dafür immer mehr Gründe, uns zu zanken, meist wegen Nichtigkeiten. Wir hatten einander zu Anfang unserer Beziehung keine ewige Treue versprochen, sondern eher das Gegenteil: Wir würden keine tote Beziehung aufrechterhalten wollen. Wir kannten beide genug Paare, die anscheinend gar nicht mehr wussten, warum sie zusammen waren. Als uns bewusst wurde, dass wir genauso weit waren, haben wir uns getrennt. Nicht ohne Tränen, aber ohne böse Worte. Wir waren ein gutes Paar. Ich weiß nicht genau, warum wir es nicht geschafft haben«, gibt er ehrlich zu. Otto ist voll in Ordnung. Wusste ichs doch.

Er ist kein oberflächlicher Gockel, kein Macho, kein gefühlloser Kerl.

Eben Otto.

Wir stürzen uns zum Tanzen wieder in das Getümmel der Bar. Die Musik wird langsamer, und ich verkrieche mich in Ottos Arme. Das fühlt sich gut an. Ich mag seinen Geruch, seine Haut, seine Nähe. Ottos Hände verlieren sich in meinen Locken, die leider keine Frisur sind, auch wenn ich sie vor dem Abendessen schnell gewaschen und mit einem hineingewundenen Haarband ein wenig aufgehübscht habe.

Dann wandern seine Hände meinen Körper entlang, zärtlich und schmeichelnd. Mein Puls beschleunigt sich. Während wir so tanzen, bin ich glücklich. Alles ist perfekt. Dabei ist mir völlig klar, dass dies meist so ist, wenn man sich verliebt. Aber das ist mir wurst.

Später kommt er wie selbstverständlich mit auf mein Zimmer, und wir lieben uns zärtlich und innig. Wir können kaum genug voneinander bekommen, bis wir schließlich erschöpft einschlafen, liebevoll aneinandergekuschelt.

Am nächsten Morgen will ich vor dem Frühstück ein paar Minuten allein sein, auf dem Balkon, die kühle Morgenluft tief in meine Lungen ziehen und durchatmen. Otto ist in seinem Zimmer und packt. Ich habe zwiespältige Gefühle und wäre jetzt gern daheim. Wie kann ich mit meinen 33 Jahren noch immer so spontan handeln, so blauäugig sein? Ich verliebe mich Hals über Kopf in einen Fremden, und statt in Panik zu geraten bei den Gedanken an all das, was schieflaufen könnte, vertraue ich ihm. Ich schüttle den Kopf über mich. Das Lächeln auf meinem Gesicht bleibt. Ich kann nicht anders. Ich bin verliebt.

Ich will an uns glauben, hier und jetzt, an Anna und Otto, an eine gemeinsame Zukunft, an unzählige sich aneinanderreihende Tage, die so enden wie der gestrige.

Beim Frühstück traut sich keiner unserer Kurskameraden, eine spitze Bemerkung zu machen, obwohl jeder sehen muss, was mit uns beiden passiert ist. Wir haben noch einmal ein Trommeltraining. Ich setze mich mit meiner Trommel bewusst nicht neben Otto, denn sonst habe ich keine Chance, mich zu konzentrieren. Ich sehe trotzdem nur ihn. Otto lacht mich aus. Er hat recht.

Wir üben noch einmal die Grundschläge. Dann erhalten wir ein paar schriftliche Instruktionen, damit wir nichts vergessen. Steve versorgt uns außerdem mit wertvollen Weblinks. Auf Youtube soll es gute Übungsfilme geben, verrät er, einige sogar von ihm selber. Demnach hätten wir gar nicht nach Morschach kommen müssen. Aber dies ist nur eine rein theoretische Überlegung. Wie hätte ich sonst jemals Otto kennen gelernt?

Zum Abschluss des Seminars lässt Steve von einer CD drei afrikanische Stücke spielen, und wir veranstalten unser letztes gemeinsames Trommelinferno. Wir trommeln, als gäbe es kein Morgen oder als müssten wir jetzt und hier die Welt damit retten. Hoffentlich lösen wir keinen Tsunami im Vierwaldstättersee aus oder gar einen Bergsturz am Fronalpstock. Wir legen uns ins Zeug, sind voll dabei, laut und mehr oder weniger rhythmisch, kennen keinen Schmerz. Die Luft vibriert. Steve tanzt dazu und freut sich über unseren Einsatz. Dann verabschieden wir uns alle, von unserem Lehrer und untereinander.

Was für ein Workshop! Ich hatte an Silvester wirklich das große Los gezogen.

Otto fährt mit mir in meinem Smart nach Hause. Er wohnt in Ibach, ich in Schwyz. Beides sind Nachbardörfer, nur eine Viertelstunde von Morschach entfernt. Die Trommeln und unsere Taschen füllen den Smart, und Otto lacht, als er das vollgepackte kleine Auto betrachtet.

»Bitte keine blöden Bemerkungen«, sage ich nur kühl. »Ich mag es gar nicht, wenn man über meinen Smart spottet. Er ist klein und vielleicht kein richtiges Auto, aber er bringt mich überallhin, jedenfalls meistens. Außerdem habe ich ihn bezahlt, bar, ohne mich zu verschulden, und einen Parkplatz finde ich auch immer.«

»Schon gut, schon gut!«, beschwichtigt mich Otto und ist still.

Es gefällt mir nicht, von hier wegzufahren. Wir haben uns hier gefunden, per Zufall oder Schicksal, je nach Sicht der Dinge. Wie geht es weiter?

Wir sind beide ein wenig nachdenklich auf den letzten Kilometern heimwärts. Als ich Otto vor dem Heim absetze, wo er in einer Stunde schon wieder Dienst hat, umarmen und küssen wir uns. »Sehen wir uns wieder?«, frage ich mutig. Was weiß ich, was in ihm vorgeht?

»Klar«, antwortet er locker.

Unsere Telefonnummern haben wir einander schon vorher ins Handy getippt. Schließlich verspricht Otto: »Ich ruf dich an.«

Damit verlässt er den Wagen und zieht davon. Ich könnte schreien. Ich ruf dich an?

Klingt wie in einem dämlichen Film, wo einer eine loswerden will, die ihn während eines Wochenendes ganz nett unterhalten und ihm die Nacht verkürzt hat.

Ich unterdrücke den Wunsch, ihm hinterherzurufen: Wann? Das kann ich nicht machen. So verhält man sich nicht. Man rennt Männern nicht hinterher, hat mir meine Mutter beigebracht. Man setzt sonst völlig falsche Signale. Damit hat sie sicher recht.

»Wann?!«

Jetzt habe ich es doch getan! Ich habe das Fenster runtergekurbelt und ihm laut hinterhergeschrien. Signale und Mütter hin oder her. Ich konnte einfach nicht anders, auch wenn ich mir nun am liebsten die Zunge abbeißen würde.

»Heute Abend. Was denkst denn du? Ist doch klar«, ruft er zurück und lacht. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Jetzt renne ich doch Männern hinterher. Entschuldige, liebe Mama. Ich machs ja auch nur bei diesem einen hier, bei Otto. Und wer weiß: Vielleicht ist er es wert.

Als ich am Nachmittag unsere Wohnung betrete, ist es still. Die Zimmertüren meiner Freundinnen sind geschlossen. Falls eine da ist, will sie demnach nicht gestört werden. So halten wir das hier. Vielleicht sind auch alle ausgeflogen. Ich stelle meine Trommel vor Heidis Zimmertür. Sie hat mir das Instrument aus dem Musikraum ihrer Schule geliehen.

In unserer geräumigen Küche lasse ich mir einen Kaffee aus der Maschine und will damit auf den Balkon. Doch in der Tür erschrecke ich gewaltig. Immer noch leicht verträumt, scheine ich in eine Falle getappt zu sein.

»So ein Mist!«, schimpfe ich vor mich hin, während um mich fröhliches, vielstimmiges Geläut ertönt. Ein Windspiel! Ich bin hineingelaufen und habe dabei den halben Kaffee verschüttet. Auch wenn die herunterhängenden Röhrenglocken in Kombination mit meinem Kopf interessante Klangbilder erzeugen: Lustig finde ich das nicht. Dieses Ding hing doch vorher nicht hier!

»Oh, du hast mein neues Windspiel gesehen?«, fragt Caro plötzlich hinter mir, und ich schütte noch mehr Kaffee aus vor Schreck. Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe, sieht meine Verärgerung und holt einen Putzlappen.

»Ja, es ist vielleicht nicht optimal platziert. Aber es sollte laut Feng-Shui genau hier hängen. Meinst du, du könntest dich daran gewöhnen, wenn dafür die Energie nicht einfach durch die offene Balkontür wegfließt?«

»Vorerst ist mein Kaffee weggeflossen, so sehr bin ich erschrocken«, schimpfe ich laut, aber ich habe mich längst beruhigt, da ich heute besonders milde gestimmt bin.

Im Moment führen wir ständig solche oder ähnliche Diskussionen. Caro hat eine Vollmeise, seit sie diesen Kurs besucht hat. Der Spiegel im Badezimmer sei zu klein, hieß es vor kurzem. Er ließe unserer Aura zu wenig Raum. Als möchte ich im Badezimmerspiegel meine Aura sehen. Aber Caro hat weder Kosten noch Mühen und schon gar keine Auseinandersetzung gescheut. Jetzt haben wir einen Badezimmerspiegel, in dem unsere Aura Platz hat. Ich sehe sie trotzdem nicht. Aber das sei ja, laut Caro, auch nicht wichtig. Immer wenn ich nun in den Spiegel schaue, halte ich seither stumme Zwiegespräche mit meiner Aura. Ob die Aura sich jetzt selber sieht und glücklich dabei ist und mich dafür glücklich macht?

Ansonsten ist Caro total in Ordnung. Sie ist ein liebenswerter, intelligenter Mensch. Man muss ihr diesen Spleen einfach verzeihen. Und schließlich ist sie auch nur ein Opfer. Sie hatte sich den Kurs ja nicht ausgesucht.

Ich setze mich an die Sonne und lege meine Füße aufs Balkongeländer. Caro bringt mir einen frischen Milchkaffee. Zur Versöhnung hat sie sogar etwas Schokopulver darübergestreut. Jetzt will sie natürlich alles über meinen Trommelkurs wissen.

»Keine Angst, ich werde jetzt hier nicht jeden mit meiner Trommelkunst nerven, so wie du uns mit deinen Feng-Shui-Theorien nervst«, necke ich sie.

Caro lacht nur. Sie kann austeilen, aber auch einstecken.

Als ich ihr von Otto erzähle und dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt habe, bleibt ihr glatt die Spucke weg.

»Das ist ja der Hammer! Voll krass!«, meint sie. In ihrem Kurs seien überhaupt keine Männer gewesen.

Mich verwundert das nicht.

»Kannst du jetzt trommeln?«, will sie noch wissen.

»Nein. Ist das wichtig?«

Wir lachen.

Plötzlich hören wir ein Rumpeln und Schimpfen.

Ups. Könnte es sein, dass Heidi über meine Trommel gefallen ist, als sie ihr Zimmer verlassen wollte?

So ist es.

»Sagt bloß nicht, dass aus Feng-Shui-Gründen jetzt eine Trommel vor meiner Zimmertür stehen muss«, ruft Heidi erbost. »Ihr spinnt doch alle!« Dann verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

Caro und ich schauen uns an und lachen schon wieder los. Wir kichern und prusten und erholen uns nur langsam. Ich hatte ja nicht einmal die Chance, mich zu entschuldigen oder die Trommel wegzuräumen.

»Wie ist die denn drauf?«, frage ich verwundert.

»Sie kam das ganze Wochenende kaum aus ihrem Zimmer«, berichtet Caro. »Ich mache mir langsam Sorgen. Sie hat ihren Humor verloren, ist sofort genervt.«

Wir beschließen, ihr in nächster Zeit ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

»Aber lassen wir uns dadurch die Laune nicht verderben«, meint Caro.

Mit unseren Kaffeetassen stoßen wir auf Otto an. Caro will alles wissen und jede Sommersprosse in seinem Gesicht beschrieben haben. Einerseits möchte ich das alles für mich behalten, weil die Eindrücke noch so neu sind und die Gefühle noch so verworren. Aber ich bin so glücklich, so übermütig, dass es nur so aus mir heraussprudelt.

Während Otto also schon wieder fleißig arbeitet, verbringe ich mit Caro einen sonnigen Frühlingsnachmittag auf dem Balkon. Ich löse ein paar Sudokus und lese dann in einem Buch, das ich bald in der Zeitung besprechen soll.

Jeden Sonntagabend versuchen wir Freundinnen, gemeinsam zu essen. Wegen unserer verschiedenen Arbeitszeiten gelingt uns das unter der Woche höchst selten. Mit dem Kochen wechseln wir uns ab. Die Menüs sind immer sehr einfach: meist Teigwaren mit variierenden Saucen und Salat. Heute ist Heidi die Köchin. Caro und ich beobachten sie argwöhnisch von weitem, als sie sich in die Küche begibt und anfängt, mit Pfannen und Tellern zu klappern. Draußen wird es langsam kühl, und wir schleichen uns vorsichtig näher.

»Geht es dir gut?«, frage ich blöde.

»Ja, ja, natürlich«, kommt umgehend die Antwort. »Ich bin nur müde und fühle mich total erschöpft.«

Sehe ich Tränen in ihren Augen? Sie sieht blass und mager aus, die Wangenknochen treten stark aus ihrem Gesicht hervor. Ihr farbloses Blondhaar, das sie am Hinterkopf zusammengebunden hat, braucht dringend einen Friseur.

»Vielleicht fließen die Energien hier noch nicht richtig«, wage ich zu scherzen und stupse Caro an. Heidi lässt sich aber heute nicht aufmuntern. Auch später während des Essens ist sie still und wirkt bedrückt. Über meinen Kurs will sie alles wissen, das schon. Als ich ihr vom Trommeln und von Otto erzähle, heitert sich ihr Gesicht dann doch kurz auf.

»Ein Trommelworkshop. Wer hätte gedacht, dass dies der große Glücksgriff sein würde?«, meint Heidi.

Höre ich da ein wenig Neid heraus?

Das Beckenbodentraining war jedenfalls kein Glücksgriff. Es kommt mir wirklich so vor, als hätte der Besuch dieses Kurses sie verändert und der Ausblick auf mögliche weibliche Verschleißerscheinungen sie in eine Midlife-Crisis gestürzt. Dabei ist sie erst 41. Das ist doch heute kein Alter für eine Frau. Und ihr Beckenboden ist bestimmt völlig in Ordnung, straff und elastisch.

Frauen.

Wir verstehen uns manchmal selber nicht.

Auch Freundinnen können nicht immer über alles reden. Heute bin ich zum Beispiel viel zu überschäumend glücklich, als dass mir Heidi ihre Sorgen anvertrauen würde. Das verstehe ich.

»Du kannst die Trommel ruhig noch behalten. Der Musiklehrer will erst im Herbst wieder trommeln«, erklärt Heidi. Und dann, ein wenig sarkastisch, aber immerhin mit einem Lächeln: »Ich stelle sie gern vor deine Zimmertür. Hals- und Beinbruch.«

Wir essen Tomatenspaghetti mit Spiegelei. Dazu gibt es Gurkensalat und ein wenig Rotwein.

»Ich möchte auch wieder einmal frisch verliebt sein«, meint Caro sehnsüchtig.

»Mir würde das im Moment nur Angst machen«, erwidert Heidi.

»Ich habe viel zu viele hässliche Enden erlebt, um die glücklichen Anfänge noch unbeschwert genießen zu können.«

Ich schüttle den Kopf.

»Das habe ich auch gedacht. Aber verlieben ist immer wieder dasselbe: Du vergisst, was war, und hast plötzlich die rosarote Brille auf, egal, wie alt du bist. Natürlich ist man anfälliger für Zweifel, je älter man wird. Aber wenn du dich von diesen besiegen lässt, dann kannst du dich ja gleich beerdigen lassen«, gebe ich Heidi zu bedenken.