Anne Franks Kurzgeschichten - Anna Maria Graf - E-Book

Anne Franks Kurzgeschichten E-Book

Anna Maria Graf

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Beschreibung

Anne Frank: Kurzgeschichten und TextentwürfeVollständig verlinkte eBook-Ausgabe, mit eBook-Inhaltsverzeichnis, Vorwort und verlinkten FußnotenNeuerscheinung – Erstmals als eBookWer nur Anne Franks Tagebuch kennt, kennt zu wenig. Zwischen ihrem 13. und 15. Lebensjahr schrieb das Mädchen im Versteck im ›Hinterhaus‹ zahlreiche Kurzgeschichten und notierte in literarischer Form Beobachtungen aus dem täglichen Leben. Dieses belletristische Werk Anne Franks ist für ein Mädchen dieses Alters unglaublich professionell. Alle Geschichten Annes haben einen geplanten Handlungsbogen, verfolgen einen ›Plot‹ und kommen, je nachdem, zu einem tragischen oder fröhlichen Ende, nicht selten verknüpft mit einer Überraschung oder einem Aha-Erlebnis. Und nicht zuletzt scheint bei allen Geschichten Annes große, tief anrührende Sensibilität durch, ihre Sehnsüchte und ihre Erwartungen ans Leben.** Das hier vorliegende Buch bzw. eBook enthält nicht Anne Franks Tagebuch und die von ihr ›erweiterten‹ Tagebucheinträge, die an anderer Stelle erschienen sind, sondern ihr belletristisches Werk. **Über die Autorin: Anne Frank, ein jüdisches Mädchen von 14 Jahren, hielt sich vom 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 mit ihre Eltern, ihrer Schwester und vier weiteren Verfolgten im Hinterhaus eines Amsterdamer Firmengebäudes versteckt, ehe die geheime Wohnung von Nazi-Schergen entdeckt und die Bewohner verhaftet wurden. Alle, bis auf Anne Franks Vater Otto, starben in verschiedenen Konzentrationslagern. Anne etwa im März 1945. Das genaue Todesdatum ist nicht bekannt. Annes Tagebuch und ihre ›Erzählungen aus dem Hinterhaus‹ gelten heute als bedeutendste schriftliche Zeugnisse aus der Zeit der Nazi-Diktatur.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers
Anne Franks Kurzgeschichten
Evas Traum
Teil I
Teil II
Weißt du noch?
Mein erster Lyzeums-Tag
Eine Biologiestunde
Eine Mathematikstunde
Paulas Flug
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kaatje
Pensionsgäste oder Untermieter
Filmstar-Illusionen
Katrientje
Das Blumenmädchen
Mein erstes Interview
Der Sumpf des Verderbens
Der Schutzengel
Das Glück
Angst
Gib!
Der weise Zwerg
Blurry, der Weltentdecker
Unvollendetes
Die Fee
Riek
Joke
Warum?
Wer ist interessant?
Cadys Leben
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Impressum

Vorwort des Herausgebers

Wer nur Anne Franks Tagebuch kennt, kennt zu wenig. Zwischen ihrem 13. und 15. Lebensjahr schrieb das Mädchen im Versteck im ›Hinterhaus‹ zahlreiche Kurzgeschichten und notierte in literarischer Form Beobachtungen aus dem täglichen Leben. Dieses belletristische Werk Anne Franks ist für ein Mädchen dieses Alters unglaublich professionell. Alle Geschichten Annes haben einen geplanten Handlungsbogen, verfolgen einen ›Plot‹ und kommen, je nachdem, zu einem tragischen oder fröhlichen Ende, nicht selten verknüpft mit einer Überraschung oder einem Aha-Erlebnis. Und nicht zuletzt scheint bei allen Geschichten Annes große, tief anrührende Sensibilität durch, ihre Sehnsüchte und ihre Erwartungen ans Leben.

Hätte Anne Frank die Nazizeit überlebt, wäre wahrscheinlich eine große Schriftstellerin aus ihr geworden. In ihrem Tagebucheintrag vom 5. April 1944 schreibt sie: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir mit meiner Geburt schon einen Weg mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist. Durch Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer vergeht, mein Mut kommt zurück.«

Leider war es Anne nicht vergönnt, ihren Weg als Schriftstellerin durchs Leben zu gehen. Aber dieser Satz: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« – er hätte sich nicht eindrucksvoller bewahrheiten können.

Anne Franks Tagebuch und ihre ›Erzählungen aus dem Hinterhaus‹ gelten heute als bedeutendste schriftliche Zeugnisse aus der Zeit der Nazi-Diktatur.

Die Zeit im ›Hinterhaus‹, im Versteck der dort verborgenen Juden, dauerte von 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 – etwas mehr als zwei Jahre. Anne schrieb hier ihr berühmtes Tagebuch, und auf losen Blättern belletristische Kurzgeschichten und Textentwürfe, die nach der Verhaftung der Versteckten von einer früheren Mitarbeiterin1 von Annes Vater Otto Frank im Hinterhaus aufgesammelt und verwahrt wurden.

Das hier vorliegende Buch bzw. eBook enthält nicht Anne Franks Tagebuch und die von ihr ›erweiterten‹ Tagebucheinträge, die an anderer Stelle erschienen sind, sondern ihr belletristisches Werk.

 

Die Verhaftung

Es war ein schwüler Sommermorgen, am 4. August 1944, und das Leben im Hinterhaus schien auch an diesem Tag seinen gewohnten Lauf zu nehmen – als vormittags gegen halb elf ein Auto vor dem Haus Prinsengracht 263 stoppte. Aus dem Wagen sprangen ein SS-Mann2 und eine Handvoll bewaffneter Helfer. Sie schienen die Lage des Verstecks zu kennen, denn zielsicher schlugen sie die richtige Richtung ein, durchbrachen den Wandschrank, der die nach oben führende Treppe verbarg, gelangten in die Wohnräume der Untergetauchten und nahmen alle acht Versteckten3 fest. Ebenso die beiden Helfer Victor Kugler und Johannes Kleiman.

Die Nazis gingen gnadenlos mit den verhafteten Juden um. Mit dem letzten Transport, der von Amsterdam in die Vernichtungslager des Ostens fuhr, brachte man sie am 3. September 1944 nach Auschwitz, einige wurden danach in andere Konzentrationslager verteilt.

Annes Mutter Edith Frank starb am 6. Januar 1945 im Frauenlager Auschwitz-Birkenau an Hunger und Erschöpfung. Anne und ihre Schwester Margot wurden Ende Oktober 1944 ins KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide gebracht. Dort herrschten entsetzliche hygienische Zustände, und im Winter 1944/45 brach eine Typhusepidemie aus. Viele Tausende Häftlinge fanden den Tod. Völlig erschöpft, ausgehungert und krank starb Anne hier einige Tage nach ihrer Schwester Margot. Das vermutete Todesdatum der beiden Mädchen liegt zwischen Ende Februar und Anfang März 1945. Nur rund einen Monat später, am 12. April 1945, erreichten englische Truppen das Lager und befreiten die letzten Überlebenden.

Als Einziger der acht im ›Hinterhaus‹ Versteckten überlebte Annes Vater Otto Frank. Über viele Umwege traf er im Juni 1945 wieder in Amsterdam ein und ging zu seiner alten Firma in der Prinsengracht 263, in deren Hinterhaus das Versteck gewesen war. Hier traf er auf seine frühere Assistentin Miep Gies4, die ihm Annes Tagebuch und die anderen Schriften übergab. Sie hatte, als die Nazis nach der Verhaftung der Juden das Haus wieder verlassen hatten, die überall am Boden verstreuten Blätter mit Annes Aufzeichnungen aufgesammelt und sorgfältig verwahrt.

© Edition Metis, 2016

Anne Franks Kurzgeschichten

Evas Traum

Oktober 1943    [Anne und ihre Familie sind nun seit 14 Monaten im Versteck]

Teil I

»Gut’ Nacht, Eva, schlaf gut!«

»Gleichfalls, Mams!«

Das Licht erlosch, und Eva lag einen Moment im Dunkeln, dann, als sie an die Dunkelheit gewöhnt war, merkte sie, dass die Mutter die Vorhänge gerade so weit zugezogen hatte, dass noch ein breiter Spalt blieb, und da hindurch konnte Eva direkt in das kugelrunde Gesicht des Mondes blicken. So ruhig stand der Mond am Himmel, bewegte sich nicht, lachte immerzu und war zu jedem gleich freundlich.

»Wäre ich nur auch so«, sagte sich Eva halblaut, »könnte ich nur immer freundlich und gelassen sein, so dass jeder mich brav und lieb findet. O, das wäre so schön!«

Eva sann und sann weiter über den Mond nach und verglich ihn mit sich selbst, die bloß so schrecklich unbedeutend war. Schließlich fielen ihr vom vielen Nachdenken die Augen zu, während ihre Gedanken sich in einem Traum verloren, an den Eva sich am nächsten Morgen noch so gut erinnerte, dass sie sich später oft fragte, ob er nicht doch Wirklichkeit gewesen war.

Eva stand am Eingang eines großen Parks, durch dessen Zaun sie zögerlich hineinsah und nicht recht wagte, einzutreten. Gerade als sie wieder umkehren wollte, kam ein kleines Mädchen mit Flügeln herbei und sagte: »Na Eva, komm ruhig herein, oder weißt du nicht, wohin des Wegs?«

»Nein«, gab Eva verlegen zu.

»Nun, dann will ich dir den Weg weisen«, und das energische Elflein ergriff schnell Evas Hand.

Mit ihrer Mutter und Großmutter war Eva schon oft in Parks gewesen, aber noch nie hatte sie so einen schönen Park wie diesen hier gesehen.

Eine Fülle von Blumen, Bäumen und üppigen Wiesen sah sie, alle möglichen Sorten von Insekten, und kleine Tiere, wie Eichhörnchen und Schildkröten.

Das Elflein sprach heiter über vieles mit ihr, und Eva hatte nun ihre Scheu so weit überwunden, dass sie etwas zu fragen wagte, aber schell bedeutete ihr die Elfe Schweigen, indem sie den Finger auf Evas Lippen legte.

»Ich werde dir alles der Reihe nach zeigen und erklären, und danach darfst du mich, wenn du etwas nicht verstehst, fragen, sonst aber musst du still sein und mich nicht unterbrechen; falls du das tust, werde ich dich sofort wieder zurück nach Hause bringen, und dann bleibst du genauso unwissend wie die anderen dummen Menschen. Also, nun fange ich an: Zuerst ist hier die Rose, die Königin der Blumen; sie ist so schön und duftet so lieblich, dass jeder davon berauscht wird, und sie selbst von sich am meisten. Die Rose ist schön, elegant und verströmt Wohlgeruch, aber wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht, zeigt sie sofort ihre Dornen. Die Rose ist ganz wie ein verwöhntes kleines Mädchen, schön, elegant und auf den ersten Blick lieb, aber kommst du ihr zu nahe, oder widmest du ihr nicht deine volle Aufmerksamkeit, so zeigt sie sofort ihre Krallen. Ihr Ton wird schnippisch, sie ist beleidigt und will sich gerade dadurch interessant machen. Ihre Manieren sind aufgesetzt und gekünstelt.«

»Aber Elfchen, wie kommt es dann, dass jeder die Rose als Königin der Blumen betrachtet?«

»Das kommt daher, dass fast alle Menschen sich durch ihren äußerlichen Glanz blenden lassen; es gibt wenige, die nicht die Rose genannt hätten, wenn die Menschen hätten abstimmen dürfen. Die Rose ist erhaben und schön, und genau wie in der Welt wird auch bei den Blumen nicht gefragt, ob eine andere, die von außen hässlich erscheint, vielleicht innerlich schöner ist und eher zum Regieren bestimmt.«

»Sag, Elflein, gefällt dir die Rose also nicht?«

»Doch sicher, Eva, die Rose ist von außen schön, und würde sie nicht immer im Vordergrund stehen wollen, könnte sie vielleicht auch liebenswert sein; aber da sie nun einmal die Blume aller Blumen ist, wird sie sich immer schöner finden, als sie in Wahrheit ist; und solange es so bleibt, ist die Rose hochmütig, und hochmütige Wesen mag ich nicht!«

»Ist Leentje dann auch hochmütig? Sie ist doch auch so schön und durch ihren Reichtum die Anführerin der Klasse?«

»Denk einmal selbst nach, Eva, dann wirst du erkennen, dass Leentje, wenn sich Marietje in eurer Klasse einmal gegen ihre Meinung stellt, alle Mädchen gegen sie aufhetzt. Sie sagt, dass Marietje hässlich und arm ist. Ihr anderen tut, was Leentje sagt, denn ihr wisst alle, dass sie böse auf euch wird, wenn ihr nicht tut, was die Anführerin will, und ihr schnell für immer ihre Gunst verspielt.

Leentjes Gunst zu verlieren, bedeutet für euch fast soviel, wie wenn der Direktor lange Zeit böse auf euch wäre.

Ihr dürft dann nicht mehr zu ihr nach Hause kommen, ihr werdet von dem Rest der Klasse geschnitten. Mädchen wie Leentje werden später im Leben einsam sein, denn wenn die anderen Mädchen reifer sind, werden sie zusammen gegen Leentje sein, aber, Eva, wenn dies bald geschieht, kann sich Leentje vielleicht noch ändern, bevor sie für immer alleine bleibt.«

»Muss ich also alles versuchen, um die anderen Mädchen zu bewegen, nicht mehr auf Leentje zu hören?«

»Ja. Erst wird sie böse und wütend auf dich sein; ist sie jedoch ruhiger geworden und erkennt, wie sie gehandelt hat, dann wird sie dir sicher sehr dankbar sein und sie wird aufrichtige Freunde finden, anders als bisher.«

»Nun verstehe ich alles, aber sage mir Elflein, bin ich auch so hochmütig wie die Rose?«

»Schau, Eva, Menschen und Kinder, die sich über solche Sachen überhaupt Gedanken machen, können gar nicht hochmütig sein, denn hochmütige Menschen scheren solche Gedanken nicht. Du kannst dir diese Frage also am besten selber beantworten, und ich kann dir nur empfehlen, das zu tun. Und nun lass uns weitergehen, schau mal, ist das nicht lieb?«

Bei diesen Worten kniete sich die Elfe zu einem blauen Maiglöckchen nieder, das sich im Takt des Windes sanft im Gras wiegte. »Dieses Glöckchen ist freundlich, lieb und schlicht. Es bringt Freude in die Welt; es läutet für die Blumen, wie die Kirchenglocke für die Menschen. Es hilft vielen Blumen und gibt ihnen Trost. Das Glöckchen fühlt sich nie einsam, es trägt Musik in seinem Herzen. Diese Blume ist ein viel glücklicheres Wesen als die Rose. Sie braucht sich keine Gedanken über das Lob der anderen machen; die Rose lebt nur für und von Bewunderung; bleibt diese aus, so ist nichts übrig, das ihr Freude machen könnte. Ihr schönes Äußeres lebt nur für die anderen Menschen, ihr Herz ist leer und trist. Das Glöckchen dagegen ist nicht so schön, hat aber ›echte‹ Freunde, die sie für ihre Melodien loben, und diese Freunde wohnen im Herzen der Blume.

»Dieses Glöckchen ist doch auch eine hübsche Blume ...«

»Ja, aber nicht so strahlend wie die Rose, und die Pracht zieht leider die meisten Menschen mehr an.

»Aber ich fühle mich auch oft allein und möchte bei anderen Menschen sein, ist das denn nicht gut?

»Damit hat das nichts zu tun, Eva. Wenn du einmal reifer bist, wirst du selbst das Lied in deinem Herzen klingen hören, da bin ich sicher!

»Erzähl nur weiter, liebe Elfe, ich finde dich und deine Geschichte sehr schön.

»Gut, weiter. Schau nach oben!«

Mit ihrem kleinen Finger zeigte die Elfe nach oben, auf einen sehr großen, alten, würdevollen Kastanienbaum: »Dieser Baum ist majestätisch, nicht wahr?«

»O ja, wie ist der groß; wie alt mag er wohl sein, Elflein?«

»Der ist sicher schon mehr als hundertfünfzig Jahre alt. Aber er ist noch kerzengerade und fühlt sich gar nicht alt. Diese Kastanie wird von jedem wegen ihrer Stärke bewundert, und dass sie stark ist, beweist ihre Gleichgültigkeit gegenüber jeder Bewunderung. Sie duldet niemanden über sich und ist in allem egoistisch und uninteressiert; wenn nur sie hat, was sie will, ist alles andere unwichtig. Diese Kastanie sieht so aus, als ob sie freigiebig wäre, und eine Hilfe für jeden, aber so sehr kann man sich irren. Der Kastanie ist es am liebsten, wenn sie keiner mit Sorgen behelligt. Sie führt ein heiteres Leben, aber gönnt das niemand anderem. Die Bäume und Blumen wissen das; mit ihrem Kummer gehen sie immer zu der freundlichen, liebenswürdigen Föhre, doch um die Kastanie machen sie einen Bogen.

Und doch trägt auch der Kastanienbaum ein kleines, kleines Liedchen in einem ganz großen Herzen, das sieht man an seiner Zuneigung zu den Vögeln. Für die hat er immer ein offenes Plätzchen, und ihnen vergönnt er auch etwas, auch wenn es nicht viel ist.

»Kann ich diesen Kastanienbaum auch mit einer bestimmten Art von Menschen vergleichen?«

»Das brauchst du nicht zu fragen, Evchen. Es ist so, dass alle lebenden Wesen mit anderen verglichen werden können. Die Kastanie macht da keine Ausnahme; übrigens, sie ist nicht grundschlecht, aber gut für die Menschen ist sie auch nicht. Sie tut niemanden was zuleide; sie lebt ihr eigenes Leben und ist zufrieden. Möchtest du mich nun noch etwas fragen, Eva?«

»Nein, ich hab’ alles verstanden und bin dir sehr dankbar für deine Erklärungen, Elfe. Nun gehe ich nach Hause, aber komm doch wieder zurück, um mir mehr zu erzählen.«

»Das ist nicht möglich. Schlaf gut, Evchen!.

Weg war das Elflein, und Eva wachte auf, als der Mond der Sonne Platz machte und die Kuckucksuhr nebenan Sieben schlug.

 

Teil II

Dieser Traum hatte auf Eva Eindruck gemacht. Fast jeden Tag ertappte sie sich jetzt bei kleinen Fehlern und immer erinnerte sie sich dann an die Ratschläge des Elfleins.

Mit der Zeit bemühte sie sich auch, Leentje nicht immer nachzugeben, aber Mädchen wie Leentje merken sofort, wenn jemand etwas gegen sie hat oder ihren Platz in Frage stellen will. Sie wehrte sich dann auch heftig, wenn Eva bei diesem oder jenem Spiel vorschlug, eine andere solle einmal die Führung übernehmen. Ihre ›Getreuen‹ (so nannten sie die Mädchen, die Leentje durch dick und, so sagten sie, auch durch dünn folgen wollten) wurden gegen die ›herrische‹ Eva aufgehetzt. Eva jedoch spürte erfreut, dass Leentje gegen sie doch nicht so rücksichtslos verfuhr wie mit Marietje.

Die war ein kleines, zartes und schüchternes Mädchen, über das Eva sich sehr wunderte, denn sie wagte es, Leentje zu widersprechen. Genau betrachtet kam es Eva so vor, als sei Marietje eigentlich eine viel nettere und liebere Freundin als Leentje.

Ihrer Mams erzählte Evchen nichts von der Elfe; warum, wusste sie selbst nicht, denn bis dahin hatte sie ihr alles anvertraut; doch nun hatte sie zum ersten Mal das Bedürfnis, dies ganz für sich zu behalten. Sie wunderte sich über sich selbst, aber sie hatte das Gefühl, dass Mams sie in dieser Sache nicht verstehen würde. Die Elfe war so schön, und Mams war ja im Park nicht dabei gewesen. Sie hatte also die Elfe noch nie gesehen. Eva konnte ihr deshalb auch nicht beschreiben, wie das Elflein aussah.

Es dauerte nicht lange, und der Traum hatte auf Eva so eine große Wirkung, dass es ihrer Mutter auffiel, wie verändert ihre Tochter war. Sie erzählte andere, ernsthaftere Dinge als bisher und regte sich kaum noch über Belangloses auf. Aber da sie nicht erzählte, warum sie sich so auffallend verändert hatte, wagte ihre Mutter nicht, nachzuforschen. So lebte Eva weiter, während sie in Gedanken den Ratschlägen der Elfe noch andere gute hinzufügte, die sie sich selbst gab. Von der Elfe aber hatte sie seitdem nie mehr eine Spur gesehen.

Leentje war jetzt nicht mehr die Chefin der Klasse, die Mädchen übernahmen nun der Reihe nach die Führung. Zuerst war Leentje sehr wütend, aber als sie nach einiger Zeit merkte, dass dies nichts nützte, wurde sie umgänglicher. Zum Schluss behandelte man sie wieder wie alle anderen auch, denn sie verfiel nicht mehr in ihre früheren Fehler.

Als das erreicht war, beschloss Eva, die ganze Geschichte ihrer Mutter zu erzählen. Es wunderte sie ein wenig, dass diese nicht zu lachen anfing, sondern sagte: »Das ist ein großer Vorzug, den dir die Elfe da gewährt hat, mein Kind. Ich glaube nicht, dass sie viele Kinder dafür geeignet hält. Nimm dir dieses Vertrauen zu Herzen und sprich zu keinem mehr darüber. Tu immer, was dir die Elfe geraten hat, und weiche davon nicht ab!«

Eva wurde älter und tat viel Gutes, wo immer es ihr möglich war. Als sie sechzehn Jahre war (vier Jahre nach der Begegnung mit dem Elflein), war sie überall als ein freundliches, sanftes und hilfsbereites Mädchen bekannt. Jedes Mal, wenn sie wieder etwas Gutes vollbracht hatte, fühlte sie sich froh und innerlich gewärmt, und mit der Zeit verstand sie, was die Elfe mit dem ›Lied im Herzen‹ gemeint hatte.

Als sie erwachsen geworden war, kam ihr eines Tages der Gedanke und die Erkenntnis, was und wer die Elfe gewesen sein könnte. Mit einem Mal wusste sie sicher: Es war ihr eigenes Gewissen gewesen, das ihr im Traum das Gute gezeigt hatte; und sie war sehr froh, dass sie die Elfe in ihrer Jugend als Vorbild gehabt hatte.

Weißt du noch?

7. Juli 1943    [Nach genau einem Jahr im Versteck]

Erinnerungen an die Schulzeit im jüdischen Lyzeum

Weißt du noch?

Es sind schöne Stunden, wenn ich von Schule, Lehrern, Abenteuern und Jungs erzählen kann. Als wir noch ein normales Leben führten, war alles großartig. Das Jahr im Lyzeum war herrlich für mich. Die Lehrer, mein Curriculum, die Scherze, die Blicke, das Verliebtsein und die Verehrer.

Weißt du noch?

Eines Mittags kam ich aus der Stadt nach Hause, und im Briefkasten lag ein Päckchen »d'un ami. R...« ... Es konnte nur von Rob C.* sein. In dem Päckchen war eine Brosche, supermodern, die mindestens 2.50 Gulden wert war. Robs Vater handelte mit diesen Sachen. Zwei Tage trug ich sie – dann war sie kaputt.

Weißt du noch?

Wie Lies und ich die Klasse verraten haben. Wir hatten Klassenarbeit in Französisch. Ich war dabei ziemlich gut, Lies nicht. Sie kupferte alles von mir ab, und ich kontrollierte, um zu verbessern (ihre Arbeit). Sie bekam 5/6, ich 4/5, denn durch meine Hilfe hatte sie schließlich ›ein bisschen Vorsprung‹ vor mir. Durch die Noten 5/6 und 4/5 bekamen wir beide eine große Null. Riesige Empörung. Wir versuchten, P.* die Sache zu erklären, und am Ende sagte Lies: »Die ganze Klasse hat doch das Buch unter der Bank gehabt!«

P. versprach, die Klasse nicht zu bestrafen, wenn alle, die ihre Arbeit abgeschrieben hatten, den Finger hoben. Etwa zehn Finger – das waren nicht einmal die Hälfte – gingen nach oben. Nach drei Unterrichtsstunden mussten wir die Klassenarbeit unerwartet noch einmal schreiben. Lies und ich wurden als Verräterinnen abgestempelt. Schon sehr bald konnte ich das nicht mehr ertragen und schrieb einen langen Bittbrief an Klasse I L II, um es wieder gut zu machen. Zwei Wochen später war der Fall vergessen. Der Brief lautete ungefähr so:

An die Schüler der Klasse I L II.

Hiermit bieten Anne Frank und Lies Goosens den Schülern der Klasse I L II ihre verbindliche Entschuldigung wegen des feigen Verrats bei der französischen Klassenarbeit an.

Die Tat passierte, ehe wir richtig darüber nachgedacht hatten, und wir gestehen gerne ein, dass wir die Strafe eigentlich hätten allein tragen müssen. Wir meinen, dass es wohl jedem einmal geschehen kann, dass ihm in Zorn ein Wort oder ein Satz entgleitet, der schlimme Folgen hat, der jedoch nie so gemeint war. Wir hoffen, dassI L II