Ans Meer - René Freund - E-Book

Ans Meer E-Book

René Freund

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Beschreibung

Es ist ein ziemlich übler Tag im Leben von Anton, dem Fahrer eines Linienbusses auf dem Land. Vor kurzem hat er sich verliebt: in Doris, seine Nachbarin. Doch letzte Nacht hat er auf ihrem Balkon einen Mann husten gehört. Dann steigt auch noch die krebskranke Carla in den Bus, die ein letztes Mal das Meer sehen möchte, und zwar sofort. Es ist heiß, und die Gedanken rasen in Antons Kopf. Mut gehört nicht zu seinen Stärken, aber hatte Doris nicht gesagt, dass sie Männer mag, die sich etwas trauen? Wenig später hören die Fahrgäste im Linienbus eine Durchsage: „Wir fahren jetzt Ans Meer.“ Ein herzerwärmendes Buch voller Humor über eine bunt gemischte Schar von Fahrgästen auf ihrer Reise in den Süden.

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Es ist ein ziemlich übler Tag im Leben von Anton, der jahraus, jahrein Schulkinder und andere Passagiere aus den Dörfern in die Stadt und wieder zurück bringt. Vor kurzem hat er sich verliebt: in Doris, seine Nachbarin. Doch letzte Nacht hat er auf ihrem Balkon einen Mann husten gehört. Dann steigt auch noch die krebskranke Carla in den Bus, die ein letztes Mal das Meer sehen möchte, und zwar: jetzt sofort. Es ist heiß, und die Gedanken rasen in Antons Kopf. Mut gehört nicht zu seinen Stärken, aber hatte Doris nicht gesagt, dass sie Männer mag, die sich etwas trauen? Wenig später hören die Fahrgäste im Linienbus eine Durchsage: »Wir fahren jetzt ans Meer.«

Ein herzerwärmendes Buch über das Schwere und das Leichte im Leben und darüber, dass man manchmal alles auf eine Karte setzen muss.

Deuticke E-Book

René Freund

Ans Meer

Roman

Deuticke

Für Tina

1

Als Doris den Anruf erhielt, wusste sie sofort, was sie zu tun hatte.

Sie lief die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus, zum Gartentor. Sie stieg in ihr Auto und versuchte zu starten.

Wenn jemand sie fragte, was für ein Auto sie hatte, antwortete sie: »Ein rotes.« Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich Automarken merken. Irgendetwas Französisches. Vielleicht aber auch italienisch.

Wie so oft sprang der Kübel nicht an. Entnervt zog sie den Schlüssel ab, steckte ihn dann gleich wieder an. Der Motor gab ein armseliges Jaulen von sich, und Doris spürte ein ganz ähnliches Jaulen aus ihrer Kehle kommen. Nicht jetzt! Bitte nicht ausgerechnet jetzt!

Sie schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad, bis es richtig wehtat. »Aaahhh«, brüllte sie, sprang aus dem Wagen und lief die Treppe wieder hinauf.

»Deinen Autoschlüssel, schnell.« Peter lag auf dem Sofa und öffnete mühselig die geschwollenen Augenlider.

»Was?«

»Wo ist dein Autoschlüssel?«

»Was willst du mit meinem Auto?«

»Wegfahren.«

»Es hat 410PS, du solltest nicht …«

»Jetzt. Sofort. Wegfahren.«

So etwas war Peter von Doris nicht gewohnt, und da er zu erschöpft war, nachzufragen, sagte er nur: »Auf der Kommode.«

Doris schnappte den Schlüssel und lief die Treppe hinunter. Wie oft hatte sie sich über dieses Auto lustig gemacht. Angeberisch. Monströs. Peinlich. Ein Klimaschädling erster Ordnung. Aber für ihr Vorhaben konnten 410PS und eventuell eine gewisse Rammkraft nicht schaden.

2

Diesen Tag in seinem Leben würde Anton, der Busfahrer, nie vergessen. Später schien es ihm sogar, als hätte sein halbes Leben aus diesem Tag bestanden. Aber davon ahnte er noch nichts, als er vor dem Gemeindeamt von Allmau hielt. Es war 06.34 Uhr, und die Schulkinder bewegten sich träge zur Tür, die er mit einem Seufzen öffnete. Genau genommen waren es zwei Seufzer. Die Tür seufzte, und Anton seufzte auch.

Die meisten Kinder hatten ihre Ohren zugestöpselt. Anton beschlich der Eindruck, sie hörten dann nicht nur nichts von ihrer Umwelt, sondern sahen auch weniger. Aber das verstimmte ihn nicht. Eher verstimmte ihn, dass es ihm aus Sicherheitsgründen verboten war, seine Ohren ebenfalls zuzustöpseln.

»Guten Morgen«, sagte Helene.

»Guten Morgen«, sagte Anton, der Busfahrer.

»Guten Morgen«, sagte Ferdinand.

»Guten Morgen«, sagte Anton.

Ein Busfahrer trägt viel Verantwortung. Vor allem ein Linienbusfahrer. Er muss jeden Tag dieselbe Strecke zeitgerecht zurücklegen, um morgens alle Kinder und Jugendlichen aus den Dörfern in die diversen Schulen der Stadt zu bringen. Und nachmittags wieder zurück. Im Winter war es in der Früh noch finster und manchmal am Nachmittag schon wieder. Im Sommer bekam man im Bus kaum Luft vor lauter Hitze, denn die Fenster konnte man nicht öffnen, und wenn Anton den Schalter der Klimaanlage auf »EIN« stellte, änderte sich dadurch nur, dass der Schalter eben auf »EIN« stand. Bei nassen Straßen, bei glatten Straßen, wenn er müde war, wenn es ihm nicht so gut ging, immer, immer musste Anton dieselbe Strecke ohne Fehler, ohne Unfall, ohne große Verzögerung zurücklegen.

Trotz der großen Verantwortung empfand Anton seinen Job nicht gerade als erfüllend. Seinen Kindheitstraum, Busfahrer zu werden, hatte die Realität dieses harten Berufs an die Wand gefahren. Jede Fahrt war zwar irgendwie anders, aber jede Fahrt war auch irgendwie gleich: Zuerst lärmten die Volksschulkinder, und wenn die ausgestiegen waren, machte sich Stille breit, denn die älteren Jugendlichen dämmerten in einer Art Wachkomazustand ihren höheren Schulen entgegen. Eines aber hatte sich der Busfahrer vorgenommen: Er würde diesen Kindern wenigstens das Grüßen beibringen. Denn wer anständig grüßen kann, tut sich im Leben erheblich leichter. Im Grunde legt ein Gruß das Fundament dafür, dass man überhaupt jemanden kennenlernen kann. Ohne Grüßen hätten wir keine Freunde, ohne Gruß würde man niemals einen Partner finden, ohne vorhergehendes Grüßen kann man auch keine Kinder zeugen. Jedenfalls würde es als ziemlich unhöflich angesehen. Ohne Grüßen also keine Menschheit. Und selbst, wenn man dereinst an der Himmelspforte stünde, fand Anton, wäre ein höfliches »Grüß Gott« ziemlich angebracht.

»Guten Morgen«, sagte Anton.

Erik sagte nichts. Anton hörte den rhythmischen Bass durch Eriks Kopfhörer dröhnen. Als der Jugendliche geistesabwesend an ihm vorbeischleichen wollte, tippte Anton ihm an den Arm.

»Ausweis?«, fragte er mit der strengsten Miene, die er aufsetzen konnte.

»Was?«, fragte Erik zurück und nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. Der Bass wummerte. Wahrscheinlich ist er längst taub, dachte Anton, oder sein Gehirn ist durch die Schwingungen weich geworden.

»Wie bitte heißt das«, sagte Anton.

»Wie bitte was?«, fragte Erik.

»Hast du einen Ausweis?«

»Guten Morgen«, sagte Erik.

Die Kinder hatten ohnehin alle einen Ausweis, aber wenn einer nicht grüßte, griff Anton zum Erziehungsmittel der Ausweiskontrolle. Anton und die Tür seufzten. Blinker, Rückspiegel, weiter ging es. Ein kräftiger Föhnwind erwärmte diesen Spätfrühlingsmorgen. Zwei Monate noch, dann würden die Sommerferien beginnen. Das war die traurigste Zeit für Anton. Auch im Sommer fuhr er jeden Tag in die Stadt, denn ein Linienbus muss seiner Linie natürlich treu bleiben, nur fuhr Anton in der Ferienzeit meistens allein, und da konnte man sich ganz schön einsam fühlen.

Nächster Halt, »Auf der Wies«, Antons Lieblingshaltestelle. Sie sah so aus, wie sie hieß. Noch nie war hier jemand aus- oder eingestiegen.

Jendorf.

Die Jugendlichen hatte Anton bereits alle erfolgreich zu grüßenden Mitgliedern der Gesellschaft gemacht. Eva und Raphael zum Beispiel, die jetzt zustiegen. Sie waren noch müder als die Kinder, weil man mit siebzehn ja nicht vor zwei schlafen gehen kann, und wenn dann um sechs der Wecker läutet, war das natürlich eine kurze Nacht.

»Guten Morgen«, flüsterte Eva und tat sich ein bisschen schwer damit, ihre Gitarre erfolgreich durch die Tür zu fädeln.

»Guten Morgen«, murmelte Raphael.

Anton und die Tür seufzten. Blinker, Rückspiegel, weiter ging es zur nächsten Station. Auf in die Stadt, auf zur Schule. Wie immer. An diesem Tag aber würden sie weit über dieses Ziel hinausfahren.

3

Vergeblich suchte Doris so etwas wie einen echten Schlüssel an diesem Autoschlüssel. Sie fand nichts. Und selbst wenn sie etwas gefunden hätte, in diesem Auto gab es kein Zündschloss. Sie schlug wütend auf das Lenkrad ein und sah dabei die Buchstaben auf dem Display: Bremse betätigen und Startknopf drücken.

Sie tat beides. Das bedrohliche Gurgeln des Motors vibrierte in ihrem ganzen Körper.

»R«, das musste der Rückwärtsgang sein. Und dann?

»D« wie Doris. Das war einen Versuch wert.

Die Beschleunigung fühlte sich an wie ein Flugzeugstart, Herzklopfen und dieses Ziehen in der Magengegend. Zum Glück waren die Bremsen mit denen ihres uralten Modells nicht zu vergleichen, sonst wäre sie unverzüglich in das Heck des Autos vor ihr gekracht.

Überholen. Einholen. Zurückholen. Doris raste mit ziemlicher Hemmungslosigkeit über die Landstraße, und nach ein paar Schreckminuten fand sie, es fühlte sich richtig gut an.

4

Die Kinder lachten. Anton hörte öfters seinen Spitznamen. Er wusste genau, dass sie ihn »Bärli« nannten. Dicke Menschen gelten ja gemeinhin als gemütlich, und da passte »Bärli« eigentlich ganz gut. Sagen wir mal, richtig respektvoll war »Bärli« natürlich nicht, aber mit Schaudern dachte Anton daran, dass andere Busfahrer »Silberrücken« oder »Fischkopf« hießen, und da war ihm »Bärli« eigentlich lieber. Außerdem war Anton gar nicht richtig dick. Fand jedenfalls er selbst. Bärig vielleicht irgendwie, aber sicher nicht dick.

Dick sicher nicht, aber vielleicht träge? Zu wenig kämpferisch? Gestern war da dieser hustende Mann gewesen. Auf dem Balkon seiner Nachbarin. Anton hatte ihn nicht gesehen, und es ist vielleicht schwer vorstellbar, dass ein hustender Mann auf dem Balkon der Nachbarin ein echtes Problem darstellt. Anton aber bekam den Ton dieses Hustens nicht mehr aus seinem Kopf. Jedes Mal, wenn er es wieder hörte, schnitt es ihm ins Herz, ja, es schnitt, so fühlte sich das jedenfalls an in seiner breiten Brust. Dem Hustenton nach zu schließen war der andere sicher jünger als Anton (das war leicht), reicher als Anton (das war noch leichter) und leichter als Anton (das war am leichtesten). Anton hätte beleidigt sein können oder gekränkt, er hätte vielleicht sogar wütend sein müssen, aber er war eigentlich nur traurig. Und an diesem Tag war er so traurig, dass er während der Fahrt seufzte, ganz ohne seine Tür.

Seit die Buslinie privatisiert worden war, fuhr Anton einen uralten Bus. »Ausgelagert«, hatten die das genannt. Anton war als Fahrer des öffentlichen Verkehrsverbunds entlassen worden, um gleich darauf von der privaten Busgesellschaft wieder angestellt zu werden. Bei den Politikern heißt so etwas »die Kräfte der Wirtschaft spielen lassen«; oder »unternehmerische Freiheit« oder »Liberalisierung des öffentlichen Verkehrs«. Für Anton bedeutete diese Freiheit, dass er weniger Geld bekam, dafür aber mehr Arbeit. Und einen schäbigen Bus. Die private Gesellschaft hatte die uralten, gelben Postbusse zusammengekauft und sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie neu lackieren zu lassen. Immerhin, wenn bei diesen Bussen etwas defekt war, konnte es Anton meistens selbst reparieren, und ehrlich gesagt, die Busse waren zwar nicht komfortabel, aber so richtig kaputtgehen konnten die gar nicht. Die modernen Busse glitten lautlos über die Straßen, aber ständig leuchteten irgendwelche Warnlichter auf. Man musste dann in die Werkstatt, und dort hängten sie den ganzen riesigen Bus an einen winzigen Computer an. Der Computer sagte, es sei alles in Ordnung; der Werkstattleiter sagte, es ist alles in Ordnung. Anton fuhr weg, und zwei Kurven weiter leuchtete das Warnlicht wieder auf. Daraufhin kehrte Anton in die Werkstatt zurück, und der Chefmechaniker sagte: Das Warnlicht spinnt eben ein bisschen. So lief das jedes Mal. Aber wie gesagt, nur mit den neuen Bussen.

In Altbach stieg Deniza zu. Sie war das einzige Kind, das in Altbach zustieg. In Altbach gab es deutlich mehr Begräbnisse als Taufen, und wenn die Kirchenglocken läuteten, fragten sich alle, ob es schon wieder die Totenglocke war. »Deniza«: So stand es in ihrem Busausweis. Nicht Denise oder Denisa, so hießen die Einheimischen, sondern Deniza. Irgendein »Migrationshintergrund«, so nannte man das heute. Anton machte da keinen Unterschied, wer einen Ausweis hatte oder eine Fahrkarte löste oder zumindest grüßte, fuhr mit, und basta. Insgeheim dachte er, die Altbacher könnten für das bisschen Migration ruhig dankbar sein, so ganz auf sich allein gestellt wären die doch längst ausgestorben. Nebenbei bemerkt sprachen die Kinder mit dem sogenannten Migrationshintergrund meistens besser Deutsch als die Einheimischen. Denizas »Guten Morgen« klang um einiges klarer und schöner als das genuschelte »Muoagn« der Eingeborenen.

Aber wie gesagt, wenn einer einen Ausweis hatte, war es Anton gleichgültig, wie er »guten Morgen« sagte, so wie ihm eigentlich fast alles gleichgültig war. Nur wenn jemand stänkerte oder raufte, und das waren wiederum oft die Burschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund, dann stellte Anton widerwillig, aber unmissverständlich klar, dass er der Chef in diesem Bus war, und weil er alle gleich behandelte, glaubten ihm das auch alle. Alle, bis auf Anton selbst, der wusste, er hatte jedes Jahr ein bisschen weniger mitzubestimmen, ein bisschen weniger zu sagen. Aber für diese Bürschchen reichte es noch. Anton hatte 1,90 Meter, 110 Kilo und einen dichten Vollbart vorzuweisen. Wenn Anton nur die Stirn runzelte, verstummten auch die nervös herumhüpfenden Fliegengewichtskickboxer.

Ein einziges Mal hatte sich einer beweisen wollen, vor ungefähr zwei Wochen war das gewesen. Kevin, ohne Migrationshintergrund, dafür aber aus neureichem Haus, wie man an den teuren Markenklamotten erkennen konnte, die freilich noch viel zerrissener aussahen als echt zerschlissene Kleidung. Kevin mit dem Irokesenhaarschnitt, ein alter Bekannter. Immer auf der Suche nach Ärger in Form von Rangeleien um einen Sitzplatz oder ein Mädchen oder beides. Vor zwei Wochen war es um einen Sitzplatz neben einem Mädchen gegangen, und Kevin, dieser energydrinktrinkende Kapuzenjackenheld, hatte sich an Ferdinand vergriffen und ihn einfach auf den Boden gestoßen. Da lag Ferdinand ziemlich verblüfft, denn das Raufen war er gar nicht gewohnt, weshalb er sich auch nicht gegen die Tritte wehrte, die Kevin ihm mit seinen wuchtigen Lederschuhen versetzte. Anton war dazwischengegangen, hatte Kevin zurückgehalten, bis sich Ferdinand wieder aufrappeln konnte. Als er ihn losgelassen hatte, war Kevin in Angriffspose gegangen und hatte geschrien: »Was willst du, fetter alter Mann mit deinem Scheißdreckbus?!« Anton musste darüber lachen. »Scheißdreckbus«, das fand Anton lustig. Außerdem zutreffend. Doch nichts provoziert wütende Menschen mehr als ein herzhaftes Lachen, und so hatte dieser Hoodieträger doch tatsächlich versucht, Anton ein paar Fausthiebe zu versetzen. Anton konnte Kevin allein durch die Reichweite seiner mächtigen Arme auf Distanz halten, ohne ihm auch nur das kleinste Irokesen-Haar zu krümmen, und an der Kapuze ließ er sich problemlos aus dem Bus hebeln.

Seit zwei Wochen murmelten also auch die Streetfighter von der Hoodie-Fraktion irgendeinen Gruß, »Seass« sollte wohl »Servus« heißen, egal, Anton verbuchte es als guten Willen. Aber diese Jungs fuhren ohnehin nur eine Station innerhalb der Stadt, die grünen Wiesen und die frische Luft am Land mieden sie wie der Teufel das Weihwasser.

»Guten Morgen«, sagte Deniza, zeigte ihren Ausweis vor und strahlte voller Tatendrang. Sie war immer voller Tatendrang.

»Guten Morgen, Deniza«, sagte Anton, und er sprach es wie Denisa aus, so hatte das Mädchen es ihm beigebracht.

5

Oft konnte Anton nicht schlafen. Warum, wusste er nicht. Eigentlich war ja alles in Ordnung. In der Sekunde – oder war es eine Hundertstelsekunde? –, in der er spürte, dass er sich jetzt hingeben würde, durchzuckte so etwas wie eine elektrische Welle seinen ganzen Körper. Es fühlte sich an, als stünden plötzlich all seine Nerven unter Strom. Dann begann sein Herz wild zu schlagen, und das Denken setzte ein. Mit hundertzwanzig Puls und ratternden Gedanken einschlafen zu wollen, war ein sinnloses Unterfangen. Aus und vorbei.

In solchen Fällen hätte Anton gerne ein Bier getrunken. Oder zwei. Aber wenn es Mitternacht ist und die Frühschicht um fünf beginnt, kann man als Busfahrer kein Bier trinken. Schlaftabletten nehmen sowieso nicht. Also wärmte sich Anton missmutig eine Milch mit Honig.

»Milch mit Honig, schlaf wie ein König«, hatte seine Mutter immer gesagt. Auch abgesehen von dem miserablen Reim hasste Anton Milch. Aber irgendwie legte sich die süße Milch schwer in seinen Magen, und die leichte Übelkeit narkotisierte ihn in der Folge doch. Vielleicht führten aber auch die Kindheitserinnerungen zu dieser leichten Lähmung. Wenn man eine Mutter hat, die nicht nur Mechthild heißt, sondern sich auch so benimmt, hat man es nicht so leicht. So weit Anton zurückdenken konnte, hatte sich seine Mutter immer Sorgen um ihn gemacht. Du verkühlst dich, nimm einen Schal! Von Oktober bis März niemals ohne Mütze aus dem Haus gehen! Pass auf, wenn du über die Straße gehst! Das hatte sie noch dem vierzehnjährigen Anton nachgerufen, und der wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Sein Vater hatte ihn nie in Schutz genommen, denn auch er stand unter der Kontrolle von Mechthild.

Aber wie es halt so ist, später wird man immer ein bisschen wie seine Eltern. Bis auf seinen Hunger, mit dem das nie klappte, hatte Anton gerne alles unter Kontrolle. Beim Versuch, Schlaf zu finden, wirkte sich das allerdings nicht wahnsinnig positiv aus, denn das Wesen des Einschlafens ist Kontrollverlust. Man muss sich gehenlassen. »Gehenlassen« und »müssen«, das passt nicht zusammen. Das wusste Anton, aber es half ihm nichts. Also setzte er sich auf seinen kleinen Balkon und träumte davon, ein klein wenig und ganz zärtlich die Kontrolle zu verlieren, mit Doris. Ja, mit Doris stellte er sich das sehr fein vor.

Doris, so hieß seine Nachbarin. Ein schmaler Spazierweg, gesäumt von kleinen Bäumen und Sträuchern, trennte ihre Häuser. Manchmal saß Doris ebenfalls auf ihrem blumengeschmückten Balkon und rauchte, keine zwanzig Meter von ihm entfernt.

Im Winter hatte sie ihren Balkon weihnachtlich dekoriert. Anton saß in Pyjama und Anorak mit seiner Honigmilch auf seinem Balkon und wärmte sich daran, dass Doris auf ihrem Sofa lag und vor dem Kaminfeuer ein Buch las. Die Vorhänge hatte sie fast immer offen, und manchmal sah Anton sie spärlich bekleidet durch ihr Wohnzimmer gehen. Er stellte sich vor, wie warm und weich ihr wunderbarer Körper sich anfühlen würde, aber dann ging er schnell wieder hinein, denn erstens war ihm das peinlich, und zweitens half es ihm auch nicht gerade beim Einschlafen.

Jetzt im Spätfrühling glich der Balkon seiner Nachbarin bereits einem kleinen Dschungel, überall wucherndes Grün und üppige Blüten.

Doris hatte halblanges, dunkles Haar und grüne Augen. Oder waren sie blau? Türkis? Wenn sie sich beim Einkaufen in dem kleinen Laden im Ort trafen, schien ihm die Farbe jedes Mal ein wenig anders zu sein, aber er traute sich jedes Mal nur ganz kurz hinzusehen, deshalb blieb stets diese kleine Unsicherheit.

Eines wusste Anton mit unerschütterlicher Sicherheit: nämlich, dass Doris die wunderbarste Frau auf der ganzen Welt war. Dazu musste er die anderen Milliarden gar nicht kennen. Und diese wunderbarste aller Frauen hatte ihm das Schicksal zur Nachbarin geschenkt.

Ein paarmal hatte Anton Doris geholfen, ihre Einkäufe nach Hause zu tragen.

»Kommst du mit auf einen Kaffee?«, hatte Doris immer wieder gefragt und ihm mit ihren hinreißenden Augen zugeblinzelt.

»Gerne einmal«, hatte Anton meist geantwortet und dann irgendeine Ausrede erfunden, warum es nicht ginge.

Doch vor zwei Monaten, genau genommen am 4. März, hatten sie einander wiedergetroffen, in der Obstabteilung. Anton hatte Bananen gekauft und Doris Erdbeeren.

»Ein schneller Kaffee, komm halt einmal«, hatte sie gesagt. In dem kleinen Ort duzten sich alle, und natürlich wusste Doris, dass Anton Busfahrer war, so wie Anton wusste, dass Doris für das Naturmöbel-Unternehmen arbeitete.

Anton überprüfte innerlich ihr Angebot, und da er befand, dass es nichts Anzügliches enthielt, beschloss er spontan, mitzukommen.

6

Nun näherte sich der Bus bereits der Stadt. Anton freute sich auf seine Pause. Er hatte fünf Brezeln mit und drei Knackwürste. Und eine große Flasche Cola.