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"Anselm und Neslin in Raum und Zeit" ist der Nachfolgeband des Romans "Anselm und Neslin", in dem zwei Kinder aufgrund widriger Umstände eine Reise durch die mittelalterliche Welt bis hin nach Ägypten überstehen müssen. In Oberägypten hat Anselm in einem traumatischen Zustand die Vision befremdlicher Erlebnisse auf einem anderen Planeten in einem anderen Universum. Zurück im mittelalterlichen Bremen überkommt Anselm in "Anselm und Neslin in Raum und Zeit" die Erkenntnis, dass seine Vision real war. Er war auf einem fremden Planeten, da ist er sicher, weil ihm so viele Einzelheiten einfallen, die ein Mensch des Mittelalters gar nicht kennen kann. Zusammen mit ihrem Freund Adam reisen Anselm und Neslin wieder nach Ägypten an den Ort des damaligen Geschehens und werden von dort tatsächlich auf den fernen Planeten Golgon gebeamt. Dieser Planet befindet sich in einem Abbild der Milchstraße unseres Universums. Auch unser Sonnensystem und die Erde gibt es dort. Und es gibt in Gestalt von Jack und Nelly genaue Ebenbilder von Anselm und Neslin. Auf Golgon leben die Menschen im Jahre 2290 in einer weit fortgeschrittenen Zivilisation. Sie haben die Möglichkeit, sich von einem Ort zu einem anderen zu beamen und können so in die Vergangenheit reisen. Diesen Umstand machen sich Anselm und Neslin zu nutze und unternehmen Zeitreisen in die Vergangenheit ihrer Erde. Dabei lernen sie viel und machen überraschende Entdeckungen. Zuweilen wird es auch richtig gefährlich. Mitunter greifen sie auch ein wenig in die Vergangenheit ein und verändern so den Lauf der Dinge. Am Ende aber zieht es sie doch zurück ins Mittelalter, nach Bremen, wo sie Teilhaber einer Goldschmiede sind.
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Seitenzahl: 673
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anselm und Neslin
in Raum und Zeit
Rolf Esser
Impressum
Autor: Rolf Esser © 2022
Umschlaggestaltung, Layout, Grafik: Rolf Esser © 2022
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Paperback: 978-3-347-70047-5
ISBN Hardcover: 978-3-347-70048-2
ISBN eBook: 978-3-347-70049-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Rolf Esser
Anselm und Neslin
in Raum und Zeit
Roman
Inhalt
Zeit und Ort der Handlung
Die wichtigsten Personen der Geschichte
Vorwort
Kapitel 1
Von den Folgen einer plötzlichen Erinnerung
Kapitel 2
Von der Rückkehr auf den Planeten Golgon
Kapitel 3
Von der Reise zu den Pharaonen
Kapitel 4
Von der Philosophie und einem Gleichnis
Kapitel 5
Von einem, der auszog, die Menschen zu erlösen
Kapitel 6
Von Dinos und Nordmännern
Kapitel 7
Von Entdeckern und Konquistadoren
Kapitel 8
Von einem König mit zwei Gesichtern
Kapitel 9
Von Erkenntnissen, die die Welt verändern
Kapitel 10
Vom Licht und vom Schatten in der Malerei
Kapitel 11
Von einem Kurzbesuch, einer Oper und der Revolution
Kapitel 12
Vom tropischen Hamburg und vom Leben in der Altsteinzeit
Kapitel 13
Von einer Hochzeit, vom Märchenland und vom Fabrikproletariat
Kapitel 14
Von den Swinging Sixties und einem musikalischen Meilenstein
Kapitel 15
Vom Mond, vom Wiedersehen und von einer Befreiung
Bildquellennachweis
Bücher von Rolf Esser
Zeit und Ort der Handlung
Wir schreiben das Jahr 2290. In einem Paralleluniversum existiert ein genaues Abbild der Erde und unseres Sonnensystems. Die dortige Bevölkerung musste zum Teil von der Erde fliehen, weil eine unbekannte Macht aus der vierten Dimension ihr nach Leib und Leben trachtete. Die Menschen fanden in der in diesem Universum ebenfalls vorhandenen Milchstraße in einer Entfernung von vielen Lichtjahren einen unbewohnten, erdähnlichen Planeten, den sie Golgon nannten. Golgon besitzt eine Atmosphäre wie die Erde, hat eine großes Meer und zwei Kontinente, ist aber insgesamt wüstenartiger.
Nach über 150 Jahren konnten sich die Menschen beider Planeten mit vereinten Anstrengungen und mittels einer neuartigen Waffe von der Bedrohung befreien. Sie erreichten ein hohes Niveau des technischen Fortschritts, müssen aber dauerhaft gegen die fortschreitende Überbevölkerung kämpfen.
Ein junges Paar aus dem späten Mittelalter gelangt zusammen mit einem Freund durch besondere Umstände auf den Planeten Golgon in jenem anderen Universum. Sie beschließen, die dort vorhandenen technischen Möglichkeit zu nutzen und Zeitreisen in die Geschichte ihrer Erde zu unternehmen. Folgende Stationen ihrer Zeitreisen steuern sie an:
2.600 v. Chr.
Ägypten – der Pharao Cheops
387 v. Chr.
Griechenland – der Philosoph Platon
35 n. Chr.
Judäa – Jesus Christus
800 n. Chr.
England und Norwegen – die Wikinger
1.492 n. Chr.
im Nordatlantik – der Entdecker Kolumbus
1.532 n. Chr.
Südamerika – der Inkaherrscher Atahualpa
1.533 n. Chr.
England – König Heinrich XVIII.
1.633 n. Chr.
Italien – der Astronom Galileo Galilei
1.642 n. Chr.
Niederlande – der Maler Rembrandt
1.794 n. Chr.
Frankreich – die Französische Revolution
35.000 v. Chr.
Frankreich – die Neandertaler
1.852 n. Chr.
Berlin – die Brüder Grimm
1.967 n. Chr.
London – The Beatles
1.358 n. Chr.
zurück im eigenen Universum
Die wichtigsten Personen der Geschichte
Anselm bzw. Jack
Neslin bzw. Nelly
Eberold von Sternwald – Kaufmann aus Bremen
Katharina – Frau von Eberold
Petrissa – Tochter von Eberold
Jakob Lichtenberg – Kaufmann aus Bremen
Christine – Frau von Jakob
Adam Wienstein – Kaufmann aus Bremen
Helfrich Miehlen – Kaufmann aus Bremen
Bertram von Schönburg – Ritter in den Voralpen
Juliana – Gemahlin des Ritters Bertram
Agnes – Tochter des Ritters Bertram
Harold Cramer – Erster Universonaut im Hyperraum-Gleiter
Sergej Prokanow – Navigator im Hyperraum-Gleiter
Lin Shi Huang – Kommunikator im Hyperraum-Gleiter
Jelly Cramer – Schwester von Harold, Mutter von Nelly
Madnedjme – Frau aus der Arbeitersiedlung
Neferkare – Madnedjmes Mann, Aufseher an der Pyramide
Chufu – Pharao Cheops
Anchhaf – Wesir, oberster Beamter des Pharaos
Hemiunu – Baumeister der Großen Pyramide
Platon – griechischer Philosoph
Jesus von Nazareth – der Erlöser
Johannes der Täufer – biblische Gestalt
Johannes der Fischer – biblische Gestalt
Simon der Fischer – biblische Gestalt
Jakobus der Fischer – biblische Gestalt
Judas – Verräter an Jesus
Pilatus – römischer Statthalter in Judäa
Herodes – König von römischen Gnaden
Barabbas – biblischer Verbrecher
Simon von Kyrene – trägt das Kreuz für Jesus
Maria – Mutter von Jesus
Maria-Magdalena – Frau von Jesus
Josef von Arimathia – nimmt Jesus vom Kreuz
Ole Svensson – Jellys verstorbener Mann
Thorvalor – Anführer der Wikinger
Eyja – Frau von Thorvalor
Kolumbus – Entdecker der Neuen Welt
Atahualpa – Inka-Herrscher
Pizarro – spanischer Eroberer
Heinrich XVIII. – König von England von 1509 – 1547
Thomas Cromwell – enger Vertrauter des Königs
Robert Aske – Führer der katholischen Aufständischen
Katharina von Aragón – erste Frau Heinrichs XVII.
Anne Boleyn – zweite Frau Heinrichs XVII.
Jane Seymour – dritte Frau Heinrichs XVII.
Galileo Galilei – berühmter italienischer Astronom
Florita Sivori – Galileis Haushälterin
Rembrandt Harmenszoon van Rijn – niederländischer Maler
Saskia Uylenburgh – Rembrandts Frau
Geertje Dircx – Rembrandts Haushälterin und Geliebte
Hendrickje Stoffels – Rembrandts 2. Haushälterin und Geliebte
Titus – Rembrandts Sohn
Pieter Dircx – Bruder von Geertje Dircx
Gevert – Schüler von Rembrandt
Dries – Schüler von Rembrandt
Maximilien de Robespierre – französischer Revolutionär
Jean-Pierre Blanchard – Wirt in Paris
Georges Jacques Danton – französischer Revolutionär
Bark – Anführer der Neandertalersippe
Geka – Barks Frau
Sirko – Anführer der Cro-Magnon-Menschen
Scheunemann – älterer Herr im Theater
Brüder Grimm – Wissenschaftler und Märchensammler
John Mayall – britischer Bluesmusiker
The Beatles – weltberühmte Band
Ringo Starr – Drummer der Beatles
Paul McCartney – Bassist der Beatles
John Lennon – Gitarrist der Beatles
George Harrison – Gitarrist der Beatles
Patti Boyd – Frau von George Harrison
George Martin – weltberühmter Produzent der Beatles
Geoff Emerick – Toningenieur der Abbey Road Studios
The Rolling Stones – weltberühmte Band
Mick Jagger – Sänger der Rolling Stones
Marianne Faithfull – Freundin von Mick Jagger
Keith Richards – Gitarrist der Rolling Stones
Abt Gieselbert – Abt des Klosters auf Burg Falkenfried
Der Bischof von Bremen
Vorwort
Es ist eine große Gnade für einen Romanautor, dass er fabulieren kann, was das Zeug hält. So speist sich auch diese Fortsetzung von „Anselm und Neslin“ aus der Tatsache, dass sich Wirklichkeit und Fantasie munter mischen. Während im ersten Band Anselm in einem eher traumatischen Zustand eine Zeitreise erlebt, werden in diesem Band Zeitreisen zum alles bestimmenden Thema. Allerdings werden die aktuellen wissenschaftlich-physikalischen Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts völlig auf den Kopf gestellt. So halten heutige Astrophysiker Zeitreisen in die Vergangenheit eher für unmöglich, allenfalls auf dem Weg über Wurmlöcher, wenn es solche überhaupt geben sollte. Reisen in die Zukunft scheinen aber aufgrund der speziellen Relativitätstheorie von Albert Einstein denkbar. Einstein hat die Bewegung im Raum und die Zeit in Beziehung zueinander gesetzt. Würde man mit nahezu Lichtgeschwindigkeit ins All hinaus düsen, dann würde die Zeit fast still stehen, während sich auf der Erde die Uhren unverändert weiter drehen. Würde ein Mensch sich sieben Jahre lang mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durchs All bewegen und anschließend zur Erde zurückkehren, so wären dort 500 Jahre vergangen. Der zeitreisende Mensch selbst wäre aber kaum gealtert und würde auf der Erde vermutlich einen Kulturschock erleiden. Eine solche Zeitverlangsamung hat man im kleinen Maßstab 1971 experimentell bewiesen, indem man je eine Atomuhr auf der Erde und in einem Flugzeug miteinander verglichen hat. Die Uhr im Flugzeug war um ein paar Milliardstel Sekunden langsamer. Das ist wenig, aber immerhin ein Unterschied. Die Zeitreise in die Zukunft scheitert u. a. daran, dass wir keine Fahrzeuge bauen können, die Lichtgeschwindigkeit erreichen. Ganz abgesehen davon, dass ein Mensch die Beschleunigung auf Lichtgeschwindigkeit nicht überleben würde.
Für diesen Roman erschien es interessanter, Zeitreisen in die Vergangenheit zu ermöglichen. Das Seltsame daran ist nur, dass Anselm, Neslin und Adam ja durchaus auch in die Zukunft reisen. Eine Erklärung dafür wird im Buch geliefert. Es ist alles ganz einfach, auch das Unerklärliche.
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Geschichten ist die Tatsache, dass es nicht nur um Zeitreisen geht, sondern dass darüber hinaus diese Zeitreisen auch noch das Universum der beiden Protagonisten überwinden und aus einem anderen parallelen Universum heraus erfolgen. Dazu ist anzumerken, dass in diesem Zusammenhang dem Verfasser nicht etwa die Fantasie durchgegangen ist. Vielmehr bewegt er sich auf aktuellem wissenschaftlichen Stand. Viele angesehene Astrophysiker, Kosmologen und Philosophen gehen davon aus, dass neben unserem Universum weitere Universen existieren. Die Rede ist vom Multiversum. Ihre Annahmen gründen sich auf Berechnungen im Kontext der Quantenmechanik, die einen solchen Schluss zwingend zulassen. Darüber hinaus sollen wir Menschen als Individuen in unendlicher Wiederholung in all diesen Universen existieren, natürlich mit jeweils eigenem Lebensweg. Im Gegensatz zu diesem Buch sehen die Wissenschaftler aber bis jetzt noch keine Möglichkeit, von einem Universum ins andere zu gelangen.
Auch die sogenannte Stringtheorie liefert einen Ansatz für die Existenz des Multiversums. Strings sollen vibrierende eindimensionale Objekte sein, die das gesamte Universum durchziehen. Die Elementarteilchen der bekannten Materie kann man sich als Schwingungsanregungen der Strings vorstellen. Verfechter der Stringtheorie haben errechnet, dass es 10500 Möglichkeiten der Ausformung von Universen gibt. Darunter lässt sich gewiss eine Lösung finden, die genau unser Universum beschreibt. Ob es allerdings diese Strings wirklich gibt, kann niemand sagen und es wird schwer fallen, ihre Existenz zu beweisen, da sie sich in einem Größenrahmen von 10-33 cm bewegen sollen.
Die Frage sei erlaubt, ob alles, was rechnerisch möglich ist, auch die Wirklichkeit abbildet. In der Tat gibt es ebenso viele namhafte Forscher, die die These vom Multiversum ablehnen. Als Autor dieses Romans habe ich ebenfalls meine Zweifel. Ich glaube nicht, dass es eine wahre Schaumblase von Universen neben dem unseren gibt, gefüllt mit einer Unzahl unserer Doppelgänger, weil es keinen Sinn macht. In der Natur hat alles seinen tiefen Sinn. Gedankenspiele haben ihren Sinn in der Natur des Menschen. Aber eben nur da.
Aber es ist das Schöne am Autorendasein: Man kann auch das Paradoxon des Paradoxons entwerfen. So werden in diesem Buch Zeitreisen in die Vergangenheit möglich gemacht, die aus der Zukunft heraus starten. Was wiederum die Möglichkeit zu unendlich vielen Begegnungen und Eindrücken schafft, von denen ich einige ausgesucht habe, die hoffentlich Interesse wecken und Spannung erzeugen. So wird aus diesem Buch auch ein Geschichtsbuch der etwas anderen Art. Dabei entsprechen die in den einzelnen Geschichten berichteten Hintergründe durchaus den geschichtlichen Tatsachen, soweit sie zu ermitteln waren. Es ist aber möglich, dass die tatsächlichen Daten mitunter ein wenig verschoben oder komprimiert werden. Als Beispiel sei das Kapitel 8 über Heinrich XVIII. genannt. Das schließt nicht aus, dass auch die Fantasie hier und da deutlich mitmischt. Beim Lesen gilt allerdings für alle wissenschaftlichen Einlassungen die Devise: Der Leser möge nichts vom dem glauben, was sich in diesem Buch hochwissenschaftlich anhört. Es kann durchaus einen wahren Kern haben, aber es ist allemal ein Produkt der Fantasie.
Rolf Esser, im Mai 2022
Kapitel 1
Von den Folgen einer plötzlichen Erinnerung
Vier Jahre sind vergangen, seit Anselm und Neslin mit den Kaufleuten nach Bremen kamen. Vier Jahre, die wie im Fluge vergingen. Sie sind jetzt neunzehn Jahre alt und haben viel gelernt seither. Ihre kaufmännische Ausbildung haben sie abgeschlossen. Sie sind nun Kaufleute und ausgebildete Goldschmiede. Helfrich war ein hervorragender Lehrmeister und er ist sehr zufrieden mit dem, was er erreicht hat.
Neslin hat ganz nebenbei ihre außergewöhnliche Sprachbegabung genutzt und sich in die italienische und die englische Sprache eingearbeitet. Italienisch fiel ihr nicht sonderlich schwer, weil sie doch viele Ähnlichkeiten mit dem Lateinischen entdecken konnte. Und beim Englischen fielen ihr viele Wörter auf, die sehr große Verwandtschaft mit dem norddeutschen Sprachschatz aufwiesen. Auch die arabischen Wörter hat sie nicht vergessen. So beherrscht Neslin nun außer ihrer eigenen vier weitere Sprachen recht gut.
Anselm hingegen hat sich als ausgesprochen mathematisch und technisch begabter Mensch erwiesen. Nichts, was er nicht berechnen könnte, nichts, wofür er keine Lösung finden würde. Besonders als Goldschmied kann er diese Eigenschaften gut gebrauchen. Oft müssen Maße oder Gewichte bestimmt oder umgerechnet werden, oft müssen für die Herstellung von exklusivem Schmuck oder für die Verbindung unterschiedlicher Werkstoffe außergewöhnliche Wege gefunden werden.
Helfrich hat nun zwei äußerst begabte Mitarbeiter in seiner Goldschmiede. Allerdings – Mitarbeiter ist nicht der richtige Ausdruck. Vielmehr haben die vier Freunde bestimmt, dass Neslin und Anselm nach dem Abschluss ihrer Ausbildung nunmehr Teilhaber am gemeinsamen Geschäft sein sollen. Als Eberold den jungen Leuten diesen Beschluss mitteilte, waren sie zunächst völlig sprachlos. Damit hatten sie nun gar nicht gerechnet. Welch eine Ehre! Aber Eberold machte ihnen klar, mit Ehre habe das nichts zu tun, sie seien seit der gemeinsamen Reise die besten Freunde und daher berechtigt an all ihren Entscheidungen und Unternehmungen teilzuhaben. So besteht die kaufmännische Gesellschaft jetzt aus sechs überaus einsatzfähigen Menschen, während in ihren Gedanken Hartmud als Siebter immer noch im Bunde ist.
In der Goldschmiede führen Anselm und Neslin oft selbständig die Geschäfte, wenn Helfrich allein oder mit den anderen Freunden kurze Reisen unternimmt, um neue Materialien einzukaufen. Besonders Neslins Sprachkünste sind gerade dann hilfreich, wenn ausländische Kunden sich in der Goldschmiede nach Schmuck umsehen. Kürzlich war sogar ein englischer Adliger da, der ganz erstaunt war, hier in seiner Sprache begrüßt zu werden. Dies schlug sich am Ende deutlich nieder in der Menge der wertvollen Stücke, die er erwarb.
Die edlen Steine aus Ägypten wurden im Laufe der Jahre alle zu wertvollem Schmuck verarbeitet und fanden begeisterte Abnehmer. Besonderes Aufsehen erregten aber die Skarabäen. So etwas hatte man in Bremen noch nie gesehen. Sie wurden den Goldschmieden regelrecht aus den Händen gerissen. Kurz: Das Geschäft, das Helfrich und die Freunde aufgebaut haben, ist in voller Blüte und bringt erstaunliche Erträge.
Hin und wieder machen sich Anselm und Neslin auf, um zuhause im heimatlichen Dorf nach dem Rechten zu sehen. Immer scheint es ihnen, als sei dort die Zeit stehen geblieben. Alles ist wie immer. Die Bauern arbeiten sich die Rücken krumm und stöhnen unter ihren Abgaben, die Frauen verharren im Kinderkriegen und in der Hausarbeit. Die Reiter des Ritters benehmen sich unverschämt wie eh und je. Und der zunächst so sanftmütig gewordene Pfarrer hat sich offenbar auf seine alten Untugenden besonnen. Immerhin sind Neslin und Anselm dank ihres beruflichen Erfolgs nun in der glücklichen Lage, ihren Eltern und Geschwistern die ein oder andere Wohltat zukommen zu lassen. So hat Anselm dafür gesorgt, dass das Dach des elterlichen Hauses endlich einmal vernünftig gedeckt wurde und der Regen nun nicht mehr bis in den Innenraum vordringen kann. Und Neslin ließ den sich immer weiter ausbreitenden Misthaufen im Hof ihres Elternhauses neu anlegen und befestigten. Zudem wurde eigens für die Notdurft eine separate Hütte mit einer ordentlichen Grube errichtet. Darüber hinaus stecken die beiden den Eltern bei jedem Besuch noch manchen Gulden zu, damit diese für sich und die Geschwister dringend benötigte Dinge kaufen können.
Die Jahre in Bremen haben auch die Beziehung zwischen Anselm und Neslin verändert. Sie sind ein Paar. Aber eigentlich waren sie das immer schon. Als Kinder im Dorf verbrachten sie jede freie Minute miteinander und teilten all ihre Sorgen und Nöte. Die lange Reise nach Ägypten schweißte sie regelrecht zusammen. Aus den eng verbundenen Kindern wurden gestandene Erwachsene, die sich noch enger als jemals zuvor verbunden fühlten. In Eberolds Haus lagen ihre Zimmer direkt nebeneinander, sodass sie ständig Kontakt halten konnten. So blieb es nicht aus, dass sie sich ihrer Körperlichkeit immer mehr bewusst wurden. Wie magisch zog es sie zueinander hin und sie entdeckten gemeinsam die Freuden der Liebe, der Sinnlichkeit und der Lust. Zwei Zimmer waren jetzt kaum noch nötig, meist fand man sie in einem vereint.
Fast genau mit dem Abschluss ihrer Ausbildung vor einem Jahr haben Anselm und Neslin geheiratet. Das ist in diesen Zeiten und in dieser Stadt nicht selbstverständlich. Denn es bedarf der Erlaubnis des Magistrats, der Gilden oder der Zünfte. Eine Ehe darf nur eingehen und eine Familie gründen, wer in der Lage zu ihrem Unterhalt ist. Weite Teile der Bevölkerung werden so von einer Familiengründung ausgeschlossen.
Zudem sind Ehen aus Liebe eher die Ausnahme. Wirtschaftliche und politische Interessen bestimmen, wer wen heiratet. Hochzeiten ermöglichen so manch einem, gesellschaftlich deutlich aufzusteigen. Kaufleute, die es zu etwas gebracht haben, heiraten gewöhnlich im Rahmen ihrer Gilde, in die sie sich mit ihrem erarbeiteten Vermögen eingekauft haben. Es ergeben sich für sie dadurch gut bezahlte Aufträge und Gelegenheiten zu wertvollen Kontakten mit Aussicht auf eine „lohnenswerte“ Heirat.
In den unteren Schichten der Bevölkerung bestimmen Lehnsherren, Dorfpfarrer oder Eltern den Ehepartner. Das hat oft für die Frau böse Folgen, besonders, wenn der Mann viele Jahre älter ist. In höheren Adelskreisen bedeutet eine Ehe Macherhalt beziehungsweise Ausbau der Macht. Verlobt werden können die Kinder nach dem Kirchenrecht schon mit sieben Jahren. Seit dem 12. Jh. durfte aber das Eheversprechen von Mädchen, die jünger als 12 Jahre waren, und von Jungen, die jünger als 14 Jahre waren, widerrufen werden. Tatsächlich hielt man sich in den Adelshäusern nicht im Geringsten an diese Altersangaben. Der kleine Prinz Heinrich, der ältere Bruder von Richard Löwenherz, wurde als Fünfjähriger mit der zweijährigen Margarete, einer Tochter des französischen Königs Ludwig VII., vermählt. Kaiser Heinrich IV., bekannt durch seinen Gang nach Canossa, wurde als Vierjähriger mit Berta von Turin verlobt.
Bei einer Hochzeit wird zwischen den Familien des Paares verhandelt, wobei die Verlobung und das Aufsetzen eines offiziellen Heiratsvertrages vorausgehen. Dabei ist meist ein Vertreter der Kirche zugegen. Festgelegt werden Besitzfragen, die besonders im Fall des vorzeitigen Todes des Gatten für die Frau von großer Bedeutung sind. Besonders lange wird um die Höhe der Mitgift gefeilscht.
Wer auf sich hält, muss bei der Hochzeit möglichst viele Gäste einladen und ein festliches Mahl mit erlesenen Getränken auftischen. Ein solches Fest dauert viele Tage, an Fürstenhöfen manchmal sogar mehrere Wochen. Der Brautvater muss die Kosten tragen und die eingeladenen Gäste und Spielleute werden mit kostbaren Geschenken bedacht. Je reicher der Brautvater ist, desto pompöser fällt das Fest aus.
Das alles trifft auf die Hochzeit von Anselm und Neslin nicht zu. Sie haben aus Liebe geheiratet. Die Heiratserlaubnis erhielten sie vom Magistrat als inzwischen gestandene Kaufleute ohne Probleme. Ansonsten war niemand da, der Einspruch hätte erheben können oder wollen. Die Eltern? Die waren ohne Frage froh, dass die beiden sich gefunden hatten. Über eine Mitgift gab es ohnehin nichts zu verhandeln, so arm, wie die Familien waren. Und die Freunde bestärkten sie in dem Entschluss zu heiraten bei all der Einvernehmlichkeit, die sie über die Jahre bei Anselm und Neslin beobachten konnten.
So fand dann eine schöne Feier statt im Familien- und Freundeskreis, die nichts Ausuferndes oder Protziges an sich hatte. Das wollte niemand. Eberold hatte es sich nicht nehmen lassen, die Eltern und Geschwister des Brautpaares ohne dessen Wissen mit zwei Kutschen aus ihrem Dorf herbei schaffen zu lassen, natürlich mit Genehmigung des Ritters. Da war die Rührung wirklich groß, als alle so plötzlich und unverhofft vereint waren.
An einer Hochzeit im katholischen Ritus kommt man nicht vorbei. Alles andere würde als gotteslästerlich und frevelhaft angesehen. Immerhin konnte Eberold die Bekanntschaft mit einem Pfarrer nutzen. So fand die Vermählung in dessen kleiner Kirche in einem sehr bescheidenen Rahmen statt, was alle Beteiligten zu schätzen wussten.
Nun sind Neslin und Anselm ein Ehepaar. Es fühlt sich nicht anders an als vorher auch, denken sie oft. Aber es ist schön, so bewusst zusammen zu gehören. Auch Eberold fand, dass das junge Paar einen schönen Anblick bot. Allerdings war er der Meinung, dass es nunmehr nicht mehr in den beiden Zimmern in seinem Hause wohnen sollte. Frisch verheiratete junge Menschen müssen sich entfalten können, beschied er seinen drei Freunden, die ganz seiner Meinung waren. Kurzentschlossen wie Eberold ist, bestellte er eine ganze Schar Handwerker und ließ hinter seinem Haus im Garten einen Anbau in schönstem Fachwerk errichten. Von nun an hatten Anselm und Neslin ihren eigenen Wohnraum und waren dennoch nah bei Eberold und seiner Familie.
Die frisch Vermählten fühlen sich wohl in ihrem Haus und sie sind Eberold überaus dankbar, dass er diese Idee hatte. Zwar sind die Zimmer nicht sonderlich groß. Es ist ja nur ein Anbau. Aber sie haben ein gemütliches Wohnzimmer mit einem mächtigen Kamin, der im Winter für wohlige Wärme im ganzen Haus sorgt. Neben dem Wohnzimmer liegt eine kleine Küche, in die man sogar einen Backofen eingebaut hat. Im Geschoss darüber ist das Schlafzimmer und für eventuellen Nachwuchs ist sogar ein Kinderzimmer vorgesehen. Schließlich gibt es noch den Luxus eines Badezimmers mit einem großen Holzbottich. Wasser für das Haus und fürs Bad gibt es aus dem großen Brunnen in Eberolds Garten. In der Küche kann man das Wasser erhitzen und in einem Eimer durch eine Öffnung in der Decke direkt in das Badezimmer ziehen. So ist der Bottich schnell gefüllt und einem schönen, warmen Bad steht nichts mehr im Wege.
Die jungen Leute führen ein schönes Leben. Mit Freude eilen sie täglich in die Goldschmiede, die nun auch ihnen gehört, und gehen ihrer Arbeit nach. Mit Freude verbringen sie ihre Freizeit in ihrem schönen Haus, in dem oft genug die Freunde zu Gast sind. Und mit Freude gehen sie immer wieder hinüber zu Eberold und seiner Frau Katharina und beobachten, wie aus der kleinen Petrissa ein aufgewecktes junges Mädchen wird.
Anselm und Neslin sitzen in ihrem Wohnzimmer. Es ist dies dominica1, an dem sie natürlich nicht in die Goldschmiede gehen. Für sie ist es immer ein Tag der Besinnung. Den regelmäßigen morgendlichen Kirchgang an diesem Tag, der geboten wäre, ersparen sie sich oft – genauso wie ihre Freunde. Mit der Kirche haben sie es nicht so. Ihr damaliger Dorfpfarrer hat ihnen den Umgang mit dem kirchlichen Wesen ordentlich verleidet. Nicht, dass sie gänzlich ungläubig wären, aber sie haben festgestellt, dass das große Wissen, das sie sich inzwischen angeeignet haben, dazu geführt hat, dass sie Vieles, was von der Kanzel verkündet wird, nicht unwidersprochen hinnehmen möchten. Aber laut darf man das natürlich nicht sagen. Noch immer ziehen die Inquisitoren durch die Lande und spähen nach Opfern. Und man wird schnell eines Frevels bezichtigt, wenn man unliebsam auffällt. So gehen sie, um allem Übel vorzubeugen, etwa alle drei bis vier Wochen in die Kirche, einfach nur, um gesehen zu werden als vermeintlich gläubige Menschen. So haben sie es mit Eberold und den anderen verabredet und niemand kann ihnen nun vorwerfen, sie missachteten die Gebote der Kirche.
Anselm ist heute besonders still. Ihn beschäftigt etwas, aber er weiß nicht, wie er es Neslin sagen soll. Vor einigen Tagen nämlich war er nachts aus dem Schlaf gefahren und eine verdrängte Erinnerung eroberte mit aller Macht sein Bewusstsein. Waren ihm schon öfter mal Wörter wie „wow“ oder „teleportieren“ in den Sinn gekommen, von denen er nicht wusste, was sie bedeuten sollten, so sah er plötzlich glasklar Szenen vor seinem geistigen Auge, die ihn regelrecht erschreckten. Da befand er sich plötzlich in der großen Halle der Gleiter-Station, hatte den Transmitter vor Augen und neben ihm stand Harold. Da saß er mit Nelly in Jellys Wohnzimmer und sie redeten über die Warlords. Da erklärte ihm Harold den Plan, ihn, Anselm, im Austausch mit seinem alter ego2 Jack zurück in die eigene Welt zu beamen.
Anselm hat keine Zweifel: Das war kein Bild seiner Fantasie, das hat er wirklich erlebt in jenem Zeitraum, als ihm in der Hütte des alten Nubiers auf der Insel Elephantine die Sinne schwanden. Und dass ihn gerade jetzt die Erinnerung so massiv überfällt, betrachtet er als Zeichen. Jemand hat ihm eine Botschaft geschickt, womöglich aus jener Welt, in der er offensichtlich gewesen ist. Ich muss dahin zurück, denkt er immer wieder wie unter Zwang. Aber wie soll das gehen?
„Was ist los mit dir, Anselm? Du gibst heute kein Wort von dir. Das ist doch sonst nicht deine Art.“ Neslin kommt aus der Küche, wo sie gerade einen Tee zubereitet hat und wundert sich. „Ach, Neslin“, seufzt er, „manchmal möchte man soviel sagen und bringt doch kein Wort hervor.“ „Aber wenn dich etwas bedrückt, dann solltest du es sofort erzählen. Das erleichtert dich und hilft dir und ich muss mich nicht dauernd fragen, was los ist.“ „Da hast du wohl Recht“, gibt Anselm zu. Und er berichtet ihr von seinem nächtlichen Anfall der Erinnerung. Bis in jede Einzelheit kann er ihr seinen Aufenthalt auf dem Planeten Golgon schildern. Dass er dort Neslin in Gestalt von Nelly getroffen hat. Dass er mit Jack verwechselt wurde. Vom Angriff der Warlords. Von dem Flug mit dem Hyperraum-Gleiter. Seine Darstellung ist so anschaulich und lebensecht, aber angefüllt mit so fremdartigen Begriffen, dass Neslin sich sicher ist, dass er so etwas nicht erfunden haben kann. „Und stell dir vor, Neslin, dieser Planet Golgon befindet sich zudem noch in einem anderen Universum in einer Zeit weit nach der unseren.“ Damit kann Neslin nun gar nichts anfangen. „Nun, wenn du nachts in den Himmel schaust“, erklärt Anselm ihr, „dann siehst du die vielen Sterne. Das alles zusammen ist unsere Welt, unser Universum. Aber es scheint so, als gäbe es noch andere Welten da draußen, von denen wir nichts wissen, weil wir sie nicht wahrnehmen können. Und diese Welten können in der Zukunft liegen.“ Na ja, denkt Neslin, erstaunlich, aber ich verstehe es trotzdem nicht.
„Alles in allem“, schließt Anselm seinen Bericht ab, „habe ich in dieser fremden Welt wirklich nette Menschen kennengelernt, die sehr große Probleme hatten, weil sie von der Erde fliehen mussten. Fast wäre ich dort bei ihnen geblieben, wenn es dich nicht auf der Erde gäbe. Denn Nelly ist ein genaues Abbild von dir, aber sie ist eben nicht wie du. Ich habe aber jetzt das Gefühl, ich müsste noch einmal dorthin zurück, mir ist, als würden sie mich rufen.“
Neslin ist ratlos. Wenn ihr Anselm ein solches Gefühl hat, dann ist das in Ordnung. Bei seinen Gefühlen lag er immer richtig, wie sie selbst zu ihrem eigenen Glück erfahren durfte. Aber wie kann sie ihm helfen? Wer kann schon aus einer Welt mit Pferdekutschen in ein anderes Uni… – wie hieß das noch? – Universum reisen? So sitzen beide da und grübeln vor sich hin. Anselm sieht vor seinem geistigen Auge den Hyperraum-Gleiter ein Wurmloch ansteuern. Neslin sieht…ja, was sieht sie? Sie sieht die Hütte des Nubiers vor sich. Das ist der Kern des Problems, denkt sie. In dieser Hütte lag Anselm und von dort hat ohne Zweifel seine Reise in die andere Welt begonnen.
„Ich hab´s“, sagt sie in die Stille hinein. Anselm schreckt auf. „Was hast du?“ „Wir müssen zurück an den Ort des Geschehens und die genauen Umstände nachstellen. Wir müssen zurück nach Ägypten, nach Assuan, in die Hütte des alten Nubiers.“ Anselm ist verblüfft. Dass er darauf nicht selbst gekommen ist! Neslin ist eben in hohem Maße intelligent und dazu noch praktisch veranlagt. „Du hast Recht, dort hat alles angefangen. Es muss mit dem Rauch über dem Feuer zusammen hängen, der mir die Sinne nahm. Vielleicht kann man den Zusammenhang wirklich noch einmal wiederherstellen. Aber wir können doch nicht einfach nach Ägypten reisen und unsere Freunde und unsere Geschäfte vernachlässigen.“ Das sieht Neslin ein und sie schlägt vor, dass man die anderen einweiht in Anselms befremdliche Erlebnisse und sie um ihren Rat fragt.
Am nächsten Wochenende sitzen sie alle beieinander, wie so oft. Jakob, Adam und Helfrich sind gekommen, für Eberold waren es ja nur ein paar Schritte. Es fällt Anselm schwer, aber er ist fest entschlossen, den Freunden alles über die absonderliche Wiederkehr seiner Erinnerung zu erzählen. Je mehr er darüber nachdenkt, desto genauer kann er die Einzelheiten seiner Zeit auf Golgon nachvollziehen. Und so beginnt er zunächst stockend, dann immer flüssiger und schließlich in einem wahren Redefluss die Ereignisse in der fremden Welt zu schildern. Die Freunde sitzen mit offenem Mund da und können ihren Ohren kaum trauen, so fremdartig ist das, was sie da hören. Was soll ein mittelalterlicher Mensch mit Begriffen wie Hyperraum oder Teleportation auch anfangen? Oder dass man mit Hyperwaffen die Warlords bekämpfen kann. Mit Schwertern und Lanzen kann man Ritter bekämpfen, aber was sind Hyperwaffen und was sind Warlords? „Auf eine Sache muss ich noch besonders hinweisen“, ergänzt Anselm seinen Bericht, „eine solche Reise in eine andere Welt, in ein anderes Universum, hat offenbar auch eine Verschiebung der Zeit zur Folge. Während vermutlich Jack auf dem Lager des alten Nubiers vielleicht eine Viertelstunde gelegen hat, war ich mehrere Wochen in einem anderen Universum in einer anderen Zeit auf dem Planeten Golgon.“
Wenn du es sagst, denkt Jakob. „Was du uns da berichtet hast, klingt wie eine ausgesprochen geschickt ausgedachte Sage. Du gehst aber mit Begriffen um, die niemand bei uns versteht, besser noch, die niemand je gehört hat. Ich meine daher, das kann man sich nicht ausdenken. Du hast es wohl wirklich erlebt, so unerklärlich das für uns ist.“ Die anderen pflichten Jakob bei und sind ein wenig geschockt. Unser Anselm in einem anderen Universum oder wie er das nennt? Unglaublich! „Aber sag mal, Anselm“, will Eberold noch wissen, „was sind eigentlich Warlords?“ „Warlords sind fürchterliche Wesen aus einer anderen Dimension. Aber das kann ich euch kaum erklären, weil es jenseits allen heutigen Verständnisses liegt. Stellt euch einfach vor, ein Warlord ist ein ungnädiger Leibherr, ein Großinquisitor, ein Folterknecht und ein Henker in einer Person.“ Da schaudert es sie alle.
„Nun habe ich aber noch ein Problem“, knüpft Anselm an seinen Bericht an, „ich habe das dringende Gefühl, dass ich noch einmal dort hin muss auf den fremden Planeten, ja, es scheint mir sogar so, als habe man mich gerufen.“ Neslin übernimmt: „Ich bin der Meinung, dass man Anselms Gefühl Ernst nehmen muss. Der Ausgangspunkt seiner fremdartigen Reise liegt in der Hütte des alten Nubiers auf Elephantine. Meine Idee war es nun, dass wir noch einmal dorthin zurückkehren und die damaligen Bedingungen nachstellen. Anselm hat allerdings Bedenken, euch, die Arbeit und das Geschäft für lange Zeit zu verlassen.“
Die Freunde sind überrascht. Noch einmal nach Ägypten? Noch einmal so eine irre Reise? Nach einer Weile meint Eberold: „Wenn ich ehrlich bin, ich würde eine solche Reise durchaus noch einmal machen. Der Gedanke daran ist verführerisch, auch wenn wir viel Ungemach erlitten haben und den Tod unseres Freundes beklagen mussten. Aber ich kann meine Familie nicht erneut so lange allein lassen. Grundsätzlich jedoch sollte Anselm seinem Gefühl nachgeben und keine Rücksicht auf uns nehmen.“ Jakob gibt zu bedenken, dass seine junge Frau gerade schwanger ist. Da kann er nicht reisen. Aber auch er ist der Meinung, dass Anselm das tun sollte, was er tun muss. Helfrich schließt grundsätzlich aus, dass er in der gegenwärtigen Lage die Goldschmiede verlassen kann. Das Geschäft würde sofort einbrechen. Das sehen alle ein. Adam aber verkündet: „Ich bin nicht gebunden. Wenn Neslin und Anselm noch einmal nach Ägypten reisen wollen, dann bin ich bereit, sie zu begleiten. Zu Dritt ist es vermutlich einfacher, den vielen Unwägbarkeiten einer solchen Reise zu begegnen. Ich schlage aber vor, dass es ein Gemeinschaftsunternehmen wird und dass unser kaufmännischer Bund alle Kosten übernimmt.“
Da sind alle erleichtert. Das junge Paar muss nicht allein in die weite, gefährliche Welt hinaus. Wer weiß schon, was alles passieren kann? Und dass alle die Kosten tragen, erscheint schon fast selbstverständlich. So haben sie es immer gemacht. Es ist beschlossen! Es geht wieder nach Ägypten!
Gemeinsam wird die Reise vorbereitet. Es wird bald Sommer, eine gute Zeit, um ein solches Unternehmen zu starten. Für jeden müssen zwei Pferde beschafft werden, Geschirr und Sättel, Packtaschen, geeignete Reisekleidung für alle Fälle. Bankvollmachten sind auch unentbehrlich, damit sich die Reisenden bis nach Südeuropa hin noch mit Bargeld versorgen können. Denn alle große Banken haben in den wichtigsten Städten Niederlassungen gegründet. In Genova und Venedig haben die Freunde das ja schon erlebt. Natürlich werden sie bereits ausreichend Bares von Anbeginn an mitnehmen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Allein die Aufenthalte in Gasthäusern werden manchen Gulden verschlingen.
Dann ist es soweit. Die Abreise steht bevor. Anselm und Neslin fällt es schwer, sich von ihrem schönen Haus und den zurückbleibenden Freunden und ihren Familien zu trennen. Adam ist eher der Typ, der nach vorne schaut. Eberold trägt der Reisegesellschaft dringend auf, unbedingt den Weg über die Burg seines Freundes Bertram von Schönburg zu suchen. Nichts lieber als das, ein paar Tage auf der Burg bei diesen lieben Menschen werden ihnen gut tun. Neslin möchte, dass Eberold einen Boten zu den Eltern ins Dorf schickt, damit diese über ihre Abreise in die Ferne informiert werden. Das will Eberold gerne tun. „Und schickt eine Nachricht, wann immer und von wo immer ihr könnt“, bittet er inständig. Ja, das wollen sie wohl versuchen. Nun liegen sich alle in den Armen, Wehmut macht sich breit. Katharina und Petrissa vergießen ein paar Tränen. Es hilft nichts, es muss los gehen. Die Drei reiten an, ein letzter Gruß und schon sind sie entschwunden.
Der wochenlange Ritt bis in den Süden Deutschlands war vergleichsweise problemlos. Einmal wollte ein Wirt sie betrügen, indem er alles doppelt berechnete. Ein anderes Mal mussten sie einen weiten Umweg nehmen, weil man ihnen sagte, dass sich in der vor ihnen liegenden Gegend zwei Ritter eine blutige Fehde lieferten. Schließlich gab es noch ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter mit Hagel, Sturm, Blitz und Donner. Sie konnten sich gerade noch in einen dicht stehenden Nadelwald retten und waren so einigermaßen geschützt. Alles in allem also eine recht entspannte Reise bisher.
Nun sind unsere drei Reiter bereits in den Voralpen und erreichen bald die schöne Burg des Ritters Bertram von Schönburg. Schon sehen sie den hohen Burgberg aufragen und vor sich den Wirtschaftshof der Burg, der sich ja hier unten im Tal befindet. Je näher sie kommen, desto mehr trauen sie ihren Augen nicht. Die Felder ringsum machen einen verwahrlosten, ja, verwüsteten Eindruck. Nirgendwo ist auch nur ein Bauer zu sehen, obwohl es gerade jetzt Einiges auf den Feldern zu tun gäbe. Dann stehen sie vor dem Hof und sind schockiert. Das Hauptgebäude ist abgebrannt, die übrigen Gebäude und Stallungen sind zerstört. Als habe ein Riese mit eiserner Faust dreingeschlagen. Menschen können sie nicht entdecken. „Ich wage gar nicht daran zu denken, was hier passiert ist“, meint Adam erschrocken. Neslin vermutet, dass Räuberbanden über den Hof hergefallen sind. Der Ritter wird es ihnen sicher erzählen können.
Sie machen sich an den steilen Anstieg zur Burg. Als sie um die letzte Kehre vor der Zugbrücke kommen, stockt ihnen der Atem. Die Burg, diese wunderschöne Burg, ist ebenfalls völlig ausgebrannt. Es stehen nur noch die von Ruß geschwärzten Mauern da. Über der Wehrmauer links hängen die Leichen von zwei Männern, entseelte Zeugen eines schlimmen Ereignisses. Unfassbar! Was ist hier bloß geschehen?
Die Zugbrücke ist herunter gelassen. Sie besteht aber nur noch aus zwei dünnen Planken. „Wir müssen da rein“, stammelt Anselm, „vielleicht können wir noch helfen.“ Danach sieht es eher nicht aus. Aber natürlich müssen sie da rein, koste es, was es wolle. Sie binden die Pferde an einem Mauervorsprung fest. Adam setzt als Erster einen Fuß auf die Planken. Sie biegen sich bedenklich durch. „Warte, Adam“, ruft Neslin, „ich hole ein Seil aus meiner Packtasche und wir sichern dich zumindest so gut es geht.“ Sie schlingen das Seil um Adams Leib und binden das andere Ende an die Begrenzungsmauer des schmalen Weges. Zusätzlich halten Anselm und Neslin es noch mit ihren Händen fest. Dann geht Adam los. Es ist ein schwankender Gang, ein Sturz wäre immer noch gefährlich. Schließlich kommt er aber wohlbehalten drüben an. Sie wiederholen die Prozedur noch zwei Mal, wobei Neslin ein weiteres Seil für den Rückweg mitnimmt.
Im Inneren der Burg ist der Anblick nicht weniger trostlos. Alles verwüstet, zerstört. Der große Saal, die Kemenate, vom Feuer dahingerafft. In der Trümmern des Gesindehauses entdecken sie weitere Leichen. Einige der Bedauernswerten kennen sie noch von ihrem Aufenthalt. Vom Burgherrn, seiner Gattin und seiner Tochter keine Spur. Trauer macht sich breit unter den Freunden. Es hätte so schön sein können hier und dann dieses! Ermattet lassen sie sich inmitten der Trümmer nieder und brüten vor sich hin. „Wir müssen wieder hinunter ins Tal und sehen, ob wir einen Menschen finden, der uns berichten kann, was auf dieser Burg passiert ist“, sagt Anselm in die Stille hinein. Die beiden anderen nicken. Tun können sie hier ohnehin nichts. So machen sie sich auf, passieren noch einmal die gefährlichen Überreste der Zugbrücke und reiten zurück ins Tal.
Sie reiten zu dem Dorf in der Nähe des Wirtschaftshofes, in dem damals das Ritterturnier stattgefunden hat. Das Dorf scheint unversehrt. Sobald sie aber die Dorfstraße hinunter reiten, flüchten die wenigen Bewohner, die zu sehen sind, wie panisch in ihre Häuser. Unsere Freunde spüren fast körperlich die Angst, die offenbar auf dem Dorf lastet. Sie halten bei dem größten Hof in der Annahme, dass hier womöglich der Schultheiß zu finden ist. Auch hier scheint alles wie verrammelt. Adam klopft energisch an das Portal und ruft: „Macht auf, wir sind nur harmlose Reiter auf der Durchreise!“ Langsam öffnet sich das Tor und zwei Augen schauen durch den Spalt. „Was wollt ihr?“ „Wir suchen den Schultheiß. Wir benötigen eine Auskunft.“ Nun wird das Tor ganz geöffnet und ein drahtiger Mann mittleren Alters tritt hervor. „Ich bin der Schultheiß. Was wollt ihr wissen?“
„Hört zu Schultheiß“, sagt Anselm in beruhigendem Tonfall, „wir wollen Euch nichts Böses. Wir sind Freunde des Ritters Bertram von Schönburg aus dem Norden Deutschlands. Wir wollten den Ritter besuchen und haben oben auf der Burg all das Schreckliche gesehen. Nun möchten wir wissen, was hier geschehen ist.“ Der Schultheiß atmet durch. Gott sei Dank! „Na, dann kommt erst einmal herein“, sagt er, „das wird eine lange Geschichte werden.“ Drinnen in der Stube sitzen noch drei Männer. Eine Frau steht an der Feuerstelle. „Die Männer hier sind aus dem Dorf“, erklärt der Schultheiß, „wir beraten gerade, wie es weitergehen soll, ohne dass wir eine Lösung gefunden haben. Meine Frau wird erst mal einen Tee für uns machen.“
Jetzt sitzen sie alle beim Tee und der Schultheiß beginnt mit seinem Bericht. „Begonnen hat alles vor zwei Jahren. Die Tochter des Ritters, Agnes, war in einem heiratsfähigen Alter. Sie war eine sehr schöne, junge Frau und es gab daher sehr viele Bewerber um ihre Hand. Der Ritter aber liebte seine Tochter sehr und wollte sie am liebsten gar nicht gehen lassen. Was die Bewerber anging, so war er sehr kritisch und wies einen nach dem anderen ab. Schließlich warb auch Graf Alexander von Löwenhof um die Gunst der jungen Dame. Aus einem Grund, den ich nicht kenne, konnte der Ritter gerade diesen Grafen aber absolut nicht leiden. Er erteilte ihm eine derart derbe Abfuhr, dass dieser sich beleidigt fühlte. Nun nahm das Unheil seinen Lauf. Der Graf sandte dem Ritter einen Fehdebrief.“
Dazu muss man wissen, dass es für derartige Auseinandersetzungen durchaus Regeln gibt. Wer eine Fehde anzettelt, der muss sie drei bis vier Tage vorher durch einen Brief ankündigen, den ein Bote dem Gegner bei Tage überbringen muss. Dem Boten darf nichts geschehen, so schreiben es jedenfalls die Reichsgesetze vor. Eine Fehde ist als Selbsthilfe nicht nur gegen einen schweren Verbrecher erlaubt, sondern gegen Jeden, der einem die geringste Verletzung zufügt, wenn einem der Staat und die Gerichte nicht zu seinem Recht verhelfen können. Wer die ordentliche Ansage der Fehde missachtet, wird als Landfriedensbrecher bestraft. Grundsätzlich kann man die geltenden Regeln für Fehden so zusammenfassen:
1. Die Fehde muss durch einen förmlichen Fehdebrief angesagt werden.
2. Die Tötung Unschuldiger ist verboten.
3. Das Niederbrennen von Häusern und das Verwüsten von Land ist jedoch erlaubt.
4. Während der Fehde muss der Frieden in der Kirche, im Hause, beim Gang zur Kirche, bei der Rückkehr von der Kirche, beim Gang zum Gerichtstermin und bei der Rückkehr vom Gerichtstermin beachtet werden.
Der Schultheiß fährt fort: „Ritter Bertram war im Grunde ein friedlicher Mensch. Er erhielt den Fehdebrief, aber nach Fehde stand ihm gar nicht der Sinn. So teilte er dem Grafen mit, für einen solchen Unsinn stehe er nicht zur Verfügung. Das aber brachte den Grafen vollends gegen ihn auf. Von nun an gab es keinerlei Regeln mehr und es galt nur noch das Gesetz des Grafen Alexander. Da er wusste, dass Ritter Bertrams Burg nur schwer einzunehmen war, versammelte er rund eintausend Söldner und fiel mit diesen hier ein. Unser Dorf verschonten sie wohl, weil sie uns später für ihre Versorgung missbrauchen wollten. Den Wirtschaftshof der Burg überfielen sie als Erstes. Sie brannten das Hauptgebäude nieder, zerstörten den Rest und verwüsteten die Felder. Die Männer und Kinder wurden niedergemetzelt, die Frauen vergewaltigt und anschließend umgebracht.
Das nächste Ziel war die Burg. Die Männer besetzten den gesamten schmalen Pfad bis zur Zugbrücke und errichteten unten ein Lager. Oben war der Ritter schon gewarnt worden, weil einem Mann vom Wirtschaftshof die Flucht gelungen war. Die Zugbrücke war also oben. Über die tiefe Schlucht und die Mauern kam niemand. Allerdings gab es auf der Burg nur wenige erfahrene waffenfähige Männer. Man konnte sich also kaum wehren. Der Graf ließ Brandpfeile abschießen und schon bald fing das Wirtschaftsgebäude Feuer. In die Burg kam die Horde des Grafen trotzdem nicht. Also setzte der Graf auf Zeit. Er belagerte die Burg ein gutes halbes Jahr lang. Während all der Zeit wurden wir gezwungen, Lebensmittel für die Belagerer bereit zu halten. Hätten wir uns geweigert, wäre das unser Tod gewesen.
Schließlich gingen die Vorräte des Ritters zu Ende. Er musste sich ergeben. Die Zugbrücke wurde herunter gelassen und die Mordbrenner überrannten die Burg. Mitsamt seiner Frau wurde der Ritter ermordet. Die Tochter Agnes ist seither verschwunden, vermutlich hat sie der Graf entführt. Das Gesinde der Burg musste auch mit dem Leben bezahlen. Alle Gebäude wurden in Brand gesteckt. Wir wissen das alles so genau, weil die Reiter des Grafen, die immer wieder hier auftauchten, es sich nicht nehmen ließen, mit ihren schrecklichen Untaten zu prahlen. Als alles in Schutt und Asche lag und unzählige Ermordete zu beklagen waren, war es der rachedurstige Graf zufrieden und zog mit seiner furchtbaren Horde ab. Ich hoffe nur, dass er irgendwann einmal eine gerechte Strafe findet, denn er hat gegen alle geltenden Regeln und ritterlichen Gebote verstoßen. Wir aber haben nun keinen Herrn mehr und wissen nicht, wie es weiter gehen soll.“
Im Verlauf der Schilderung wuchs bei Adam, Neslin und Anselm das Entsetzen ins Unermessliche. Wie anders hatten sie sich diesen Besuch vorgestellt. Ein paar schöne Tage bei überaus lieben Menschen. Nun sind diese alle tot. Sie können es nicht fassen. Die arme Agnes, denkt Neslin, was mag nur mit ihr geschehen sein?
„Schultheiß“, sagt Adam, „das ist entsetzlich, was Ihr da berichtet. Es ist schlimm, dass es Menschen wie den Grafen gibt, die zudem auch noch die Macht haben, solche Untaten zu befehlen. Und es ist schlimm, dass es Menschen gibt, die diese Befehle ausführen. Aber das ist immer so gewesen und wird wohl immer so sein.“ „Da habt Ihr Recht. Man hatte den Eindruck, dass nichts schlimmer als der Schwarze Tod3 sein kann – bis der Graf und seine Verderben bringenden Gesellen kamen.“ „Vielleicht hat der Ritter noch Verwandte“, meint Neslin, „die die Burg und das Gut erben. Dann habt Ihr wieder einen Grundherrn.“ „Na ja“, der Schultheiß wiegt mit dem Kopf, „ob diese aber so gnädig und umgänglich sind wie Ritter Bertram, das weiß man auch nicht.“
Ratlos sitzen sie da, die Männer aus dem Dorf und unsere drei Reisenden. Im Grunde kann man sich sein Schicksal nicht aussuchen, denken sie. Dann verabschieden sich die drei Dorfbewohner. Anselm fragt: „Schultheiß, können wir bei euch die Nacht verbringen? Ich denke, wir werden morgen in der Frühe weiter reiten, denn es hält uns nicht unbedingt hier.“ Der Schultheiß bedeutet ihnen, dass sie drüben im Nebengebäude ihr Lager aufschlagen können und lädt sie zum abendlichen Mahl ein. Ermattet und voller Trauer fallen sie spät am Abend in den Schlaf, der ihnen schlimme Träume bringt.
So schnell sie konnten, waren sie dem schrecklichen Schauplatz entflohen, hatten das Alpengebirge fast wie gehetzt überquert und sind jetzt bereits in Oberitalien unterwegs. Milano haben sie hinter sich gelassen. Sie haben sich entschlossen, wieder bis Genova zu reiten, das von allen wichtigen Hafenstädten am nächsten liegt. Von dort aus besteht immer gute Aussicht, eine Schiffspassage nach Ägypten zu bekommen.
Politisch hat sich in Italien wenig geändert. Der Papst sitzt immer noch in Avignon. Der deutsche Kaiser versucht weiterhin, ein Reichsitalien zu errichten, so, wie es einmal war. Die großen unabhängigen Städte ringen fortgesetzt um die Vormachtstellung als Handelsmacht. Sie haben einen enormen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss. Fünf Mächte, das süditalienische Königreich, der Kirchenstaat, Florenz, Milano und Venedig teilten sich in wechselnden Koalitionen4 die politische Macht und die Ressourcen5 der Halbinsel. Auch Genova versucht in diesem Rennen mitzuhalten, indem es sich mit Venedig einen Wettstreit um Fernhandel, Krieg und Kaperei im Mittelmeer liefert, wobei beide Städte bis tief nach Asien vordringen. In Italien wütete ab 1348 die Pest wie überall in Europa. Die Bevölkerung wurde grausam dezimiert. Weite Landstriche wurden unbewohnt, weil die verbliebenen Menschen in die Städte flüchteten. Dieses Bild bietet sich auch unseren drei Reitern. Auf dem Land ist es oft recht einsam, während in den Städten das Leben überquillt.
Während des gesamten bisherigen Rittes hat Neslin über das Schicksal der armen Agnes gegrübelt. Hat der Graf sie entführt und sie gezwungen, seine Frau zu werden? Weiß sie, was mit ihren Eltern passierte? Eines abends – sie sitzen in einem Gasthaus zusammen – überkommt es sie. Sie muss mit den Freunden darüber reden. Anselm und Adam bekennen, dass sie sich darüber auch Gedanken gemacht haben. Anselm sagt: „Wir müssen etwas tun. Ich weiß nur nicht, was.“ „Zunächst sind wir erst einmal auf dem Weg nach Ägypten, um zu erfahren, was es mit deinen Erlebnissen im anderen Universum auf sich hat“, meint Adam, „aber mir schwebt so eine Idee vor. Wenn wir heil und gesund zurückkehren, sollten wir vielleicht einmal bei dem Grafen vorbeischauen.“ „Genau das ist es“, erklärt Neslin, „aber wir sollten nicht einfach vorbeischauen, sondern uns regelrecht in seinen Hof einschleichen. Niemand darf wissen, zu welchem Zweck wir dort sind. Wir tun ganz harmlos. Vielleicht können wir Agnes auf diese Weise entdecken und sie heimlich mit uns nehmen. Das ist zwar auch eine Art Entführung aus Sicht des Grafen, aber ich denke nicht, dass er dagegen klagen wird.“ „Er wird sich hüten, sich zu beschweren. Dann kämen all seine Schandtaten ans Licht“, ist Anselm sicher. Wieder einmal sind sie sich einig. Genauso wollen sie es machen. Aber zuerst steht Ägypten auf dem Plan.
So reiten sie unverdrossen weiter durch die italienische Landschaft gen Süden. Kurz vor dem Ort Tortona, etwa auf der Hälfte des Weges zwischen Milano und Genova, geschieht Wundersames. Plötzlich scheint die Gegend wie von einer Art Krankheit der Überbevölkerung befallen. Unglaublich viele Reiter sind unterwegs. Ebenso zahlreich ist Fußvolk vertreten. Sie alle und streben offenbar einem gemeinsamen Ziel zu. Ein wilder Haufen ballt sich da zusammen. Ritter, weiß gewandet, mit einem großen Kreuz auf der Brust, bis an die Zähne bewaffnet, mischen sich unter Bauern, die auf Eseln reiten und Mistgabeln mit sich führen. Mönche, die gar nicht friedlich ein Schwert am Gürtel tragen, folgen in Lumpen gewandeten Bettlern, die Knüppel schwingen. Dazwischen Frauen aller Altersgruppen. Die älteren Frauen murmeln Gebete, die jüngeren bieten offen ihre Reize zur Schau. Unsere Freunde wollen wissen, was da los ist und schließen sich der Menge an.
Das Ziel ist eine große Weide vor der Stadt. Mehrere Tausend Menschen haben sich dort bereits versammelt. Zelte sind aufgebaut. Händler verkaufen Getränke, Esswaren, Bibeln, Heiligenbilder, Salben, Kräuter und sonstiges Nützliches oder Überflüssiges. Der neutrale Beobachter hat den Eindruck eines Jahrmarktes. Neuankömmlinge müssen durch bewachte Einlassgatter. Als Neslin, Adam und Anselm an ein solches Gatter kommen, fragt der Wächter: „Habt ihr schon eine schriftliche Entsendung?“ Sie wissen nicht, was er meint, verneinen aber, denn sie haben ja keine Entsendung. „Dann müsst ihr dort hinten zu dem großen Zelt. Da wartet der päpstliche Nuntius und stellt euch die Erlaubnis des Heiligen Vaters aus.“
Das finden die Drei schon merkwürdig. Eine Erlaubnis des Heiligen Vaters, hier am Fest teilnehmen zu dürfen? Natürlich begeben sie sich nicht zu dem großen Zelt, sondern schauen sich erst einmal um. Das ist schon eine absonderliche Versammlung. Und für ein Fest geht es gar nicht fröhlich zu. Es ist eher eine große Spannung in der Luft, die kurz vor der Entladung steht. Schließlich wird es Anselm zu dumm. Kurzerhand fragt er einen vorbei eilenden Händler, der Tinkturen und Salben verkauft: „Sagt mal, guter Mann, was ist das eigentlich hier für ein Fest?“ „Fest ist gut, junger Mann! Kommt Ihr vom Mond? Dies ist kein Fest, sondern der Versammlungsort für den Aufbruch zum Kreuzzug gegen die Mauren.“
Jetzt wird es klarer. Die Mauren, das sind die Araber, die immer noch den Süden Spaniens besetzt halten. Seit 1238 besteht dort in Andalusien das Sultanat Granada, das von der Dynastie der Nasriden beherrscht wir. Sie sollen endlich besiegt und vertrieben werden, damit ganz Europa wieder christlich wird. Die Kreuzfahrer bekommen daher eine päpstliche Bescheinigung und legen damit ein Kreuzzugsgelübte ab. Das hat viele Vorteile. Damit wird der Kreuzfahrende von allen Schulden und anderen Verpflichtungen befreit. Er und seine Familie unterstehen nicht mehr weltlichen Gerichten, sondern kirchlichen. Wer einen Kreuzfahrer oder sein Hab und Gut angreift, muss mit schlimmen kirchlichen Strafen rechnen. Auch Verbrecher und Gesetzlose folgen gern den Aufrufen, weil sie sich durch ihr Kreuzzugsgelübde der Strafverfolgung entziehen können und sich ein neues Leben oder große Beute erhoffen.
Genau diesen Eindruck macht die Versammlung hier. Edle und Niedere vereint, dem Ruf des Papstes zu folgen und für sich das Beste heraus zu holen. Die Adeligen unter den Kreuzfahrern erhoffen sich durch die Eroberung neue Besitztümer. Unter ihnen befinden sich gerade auch die nicht erbberechtigten jüngeren Söhne des Adels, die nun die Chance sehen, doch noch über ein eigenes Gebiet herrschen zu können.
Kreuzzüge hat es in der Vergangenheit viele gegeben. Sie hießen nur nicht so. Man beschrieb sie vornehm als „bewaffnete Pilgerfahrt“ oder sogar als „Expedition“ oder „Reise ins Heilige Land“ (iter in terram sanctam). Ursprünglich hatte ein Kreuzzug ausschließlich die Befreiung Jerusalems zum Ziel. Der Begriff wurde dann schnell ausgeweitet und man zog außer nach Jerusalem zu Kreuze gegen
• Heiden wie Wenden, Finnen und Balten
• die Ostkirche
• Ketzer bzw. zu Ketzern erklärte Aufständische wie Katharer, Stedinger und Hussiten
• politische Gegner des Papsttums
Besonders die Ritterorden taten und tun sich bei Kreuzzügen besonders hervor. Sie verbinden die Kampfkraft des Ritterstandes mit der Disziplin und der Enthaltsamkeit der Mönchsorden. Während die einzelnen Mitglieder eines Ritterordens der Armut verpflichtet sind, gehören die Orden selbst jedoch durch Erbschaften, Schenkungen und Eroberungen zu den reichsten Organisationen der Zeit.
An einem Kreuzzug wollen Neslin, Anselm und Adam gewiss nicht teilnehmen. Auf eine päpstliche Entsendung verzichten sie daher gerne. Aber sie finden das, was hier vorgeht, schon recht außergewöhnlich. Dass sich Menschen freiwillig in eine große Gefahr begeben – und ein Kreuzzug ist nicht anderes als ein Krieg – das können sie überhaupt nicht verstehen.
Warum man sich nun ausgerechnet hier zum Aufbruch versammelt, erfahren sie auch bald. Als sie gerade an einem Stand ein Getränk kaufen wollen, stellt sich neben ihnen ein bewaffneter Mann auf, ein Ritter, wie es scheint. Ihn sprechen sie an und erfahren von ihm die Umstände dieses geplanten Kreuzzuges. Ein jugendlicher Hirte aus den Ausläufern des Apennin hatte von sich behauptet, der Heilige Geist sei über ihn gekommen und habe ihn angewiesen, die Mauren in Spanien zu bekämpfen. Die Nachricht verbreitete sich unter der wundergläubigen Bevölkerung rasend schnell und ebenso schnell waren unzählige Menschen bereit, sich dem jungen Hirten anzuschließen. Durch seine überall im Land verteilten Späher ereilte den Papst die Nachricht bald und unverzüglich rief er zum Kreuzzug gegen die Mauren auf, so, als sei es seine Idee gewesen. Ort und Zeitpunkt der Aufstellung zum Abmarsch wurden öffentlich bekannt gegeben und das Ergebnis können die Freunde hier besichtigen. Wenn der Papst ruft, so könnte man meinen, dann kommen alle. Nur den jungen Hirten hat niemand gesehen.
Das Schauspiel des Aufbruchs, der für den nächsten Tag vorgesehen ist, wollen sich die Drei nicht entgehen lassen. So suchen sie sich im nahe gelegenen Ort ein Quartier und sind früh am nächsten Morgen wieder am Versammlungsplatz. Sie treffen auf eine riesige Menschenmenge, die den Eindruck einer allgemeinen Unausgeschlafenheit macht. Es scheint, als haben alle kein Auge zugemacht während der Nacht. Vermutlich haben sie ohne Ende über das palavert, was sie möglicherweise erwartet.
Der päpstliche Nuntius schwingt sich nun auf einen Wagen und schreit über die Köpfe hinweg, wie es nun weiter gehen soll. Die am Rande Stehenden verstehen kein Wort. Der Nuntius stellt zunächst den Anführer der Kreuzzuges vor, ein hoher Adliger wohl im Rittergewand. Dann zählt er auf, in welcher Reihenfolge einzelne Gruppen zu gehen haben. Die Hochwohlgeborenen vorne, die Bettler und Habenichts hinten und dann – ganz zum Schluss – die Frauen. Auch diese Ansage geht im wahrsten Sinne des Wortes über die Köpfe hinweg. Nun ist alles gesagt und es kann endlich losgehen. Es ist, als habe man eine Last von den Menschen genommen. Der Anführer reitet an und hinter ihm strömt das kreuzziehende Volk begierig nach. Am Gattertor entsteht ein großes Gewühle, weil nicht alle gleichzeitig hindurch können, es aber wollen. Dann aber zieht sich der Zug bald in die Länge und es scheint, als nehme er kein Ende. Es dauert eine ganze Stunde, bis der letzte Kreuzzügler hinter dem nächsten Hügel verschwunden ist. Zurück bleibt ein zertrampelter, vermüllter Platz, auf dem ein paar einsame Männer die Zelte abbauen. Anselm, Neslin und Adam fragen sich, ob sie jemals vom Ausgang dieses Kreuzzuges hören werden.
Nun werden sie bald Genova erreichen. Dort warten die normalen Geschäfte von Fernreisenden auf sie. Das haben sie alles schon einmal erlebt. Die Pferde, die ihnen treue Dienste geleistet haben, müssen verkauft werden. Ein wenig tut es ihnen immer leid, wenn sie ihre Tiere verkaufen, denn man wird doch sehr vertraut mit ihnen während einer solch langen Reise. In Genova müssen sie die Niederlassung ihrer Bank aufsuchen und sich mit neuen Barmitteln versorgen. Ein Schiff muss gefunden und die Passage gebucht werden. Dann liegt nur noch das Mittelmeer vor ihnen, das es zu überqueren gilt. Das hört sich harmlos an, doch unsere Reisenden wissen: Eine Seefahrt kann voller tückischer Überraschungen sein.
Eines aber wollen sie auf keinen Fall versäumen: Sie wollen eine Botschaft an die Freunde in Bremen senden, damit diese wissen, dass es ihnen gut geht. Was aber mit Ritter Bertram, seiner Familie, seinem Besitz und seiner Burg geschah, das wollen sie gewiss nicht berichten. Das ist zu schrecklich, als dass man es in einer schlichten Botschaft beschreiben könnte. Das müssen sie persönlich erzählen, wenn sie wieder in Bremen sind.
1 dies dominica - Sonntag
2 alter ego – zweites Ich
3 Schwarzer Tod – Pest
4 Koalition – Bündnis
5 Ressource – Hilfsquelle, auch: natürliche Rohstoffe
Kapitel 2
Von der Rückkehr auf den Planeten Golgon
Die drei Freunde sind am Ziel angelangt, sie sind in Aswān. Die Reise über das Mittelmeer war diesmal wenig dramatisch, eher langweilig, weil sie doch übermäßig lange dauerte. Dreimal gab es eine tagelange Flaute, in der das Schiff nur vor sich hin dümpelte. Dafür aber war von irgend welchen Stürmen oder Piraten keine Spur. Die Reise durch Ägypten bis in den tiefen Süden haben sie extrem abgekürzt, indem sie gleich auf ein Nilboot gestiegen sind. Sie müssen ja diesmal nicht durch das ganze Land reiten, um wertvolle Steine aufzuspüren. Nilaufwärts, das ist bekannt, geht es sehr viel schneller als abwärts. Denn aus dem Norden weht ein stetiger Wind, sodass die Schiffsführer voll unter Segeln fahren können. In kaum einer Woche waren sie in Aswān.
Dort kehren sie natürlich wieder in jenem Gasthaus am Nil mit dem freundlichen Wirt ein, wo sie so gut bedient wurden und wo der Freund des Wirtes ihnen oft beim Übersetzen half. Der Wirt freut sich außerordentlich, dass er diese Gäste noch einmal begrüßen darf. Zwar sind inzwischen fast fünf Jahre vergangen, aber er hat sie sofort wiedererkannt, obwohl Neslin und Anselm nun erwachsen sind. Er hat sie auch deshalb in so guter Erinnerung behalten, weil sie ihm durch das Kamelgeschenk zu unverhofftem Reichtum verholfen haben. So bereitet er ihnen einen besonders gemütlichen Aufenthalt und umsorgt sie, so gut er kann. Was sie diesmal genau hier wollen, das sagen sie ihm nicht. Er würde es nicht verstehen und es würde ihn nur verwirren.
Neslin braucht keinen Übersetzer mehr. Sie kann sich immer noch gut verständigen und hat nichts verlernt. Zuerst erkundigt sie sich danach, wie es damals in Aswān mit der Pest ausgegangen ist. Der Wirt ist immer noch erschüttert. Fast die Hälfte der Bevölkerung sei dieser tückischen Krankheit zum Opfer gefallen. Seltsamerweise sei sie aber auf der Insel Elephantine nicht ausgebrochen und auch seine Familie sei verschont geblieben. Vielleicht habe es daran gelegen, dass sie sich alle so vorsichtig verhalten hätten, wie es ihnen die Reisenden vorgemacht haben.
Wenn die Pest auf Elephantine nicht gewütet hat, denkt Anselm, dann ist es ja möglich, dass der alte Man im Nubierdorf noch lebt. Neslin soll den Wirt danach fragen. „Das kann ich nicht sagen“, meint der Wirt, „zum Nubierdorf habe ich kaum Kontakt. Das ist eine Sippe für sich. Den alten Mann habe ich zuletzt vor Monaten – oder sind es Jahre? – gesehen.“ Na, sie werden es selbst herausfinden. Zwei Tage wollen sie sich von der Reise erholen, ein wenig im Basar bummeln und auf den gemächlich dahin fließenden Nil mit all den Feluken schauen. Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, werden sie wohl hinauf zum Himmel blicken, der hier im Süden ein besonders klares Bild des Sternenzeltes bietet. Und sie werden sich fragen, was sich dort draußen alles verbirgt, von dem sie nichts wissen. Dann werden sie sich aufmachen zur Insel Elephantine und versuchen, ihren in Bremen gefassten Plan umzusetzen.
Am Morgen des dritten Tages setzen sie früh über auf die Insel. Es scheint, als habe sich Einiges verändert. Es haben sich offensichtlich mehr Menschen hier angesiedelt. Vielleicht sind auch viele im Verlauf der Pest hierher geflohen. Das hätte natürlich zur Folge haben können, dass sich der Schwarze Tod auch auf der Insel ausgebreitet hätte. Das ist zum Glück wohl nicht geschehen, wie der Wirt berichtet hat.
Im Nubierdorf sieht alles aus wie ehedem. Die Gassen sind eng, vor den Häusern sind die Waren aufgebaut. Es sind nur dunkelhäutige Menschen unterwegs. Unsere Freunde kommen sich vor wie Eindringlinge. Trotzdem werden sie auch dieses Mal überall freundlich gegrüßt. Am Brunnen schöpfen die Frauen Wasser wie ehedem und tragen es in Tonkrügen auf dem Kopf weg. Ob sie hier immer noch Kaffa trinken?
Die Drei müssen überlegen. Wo war denn noch die Hütte des alten Mannes? Das Durcheinander der Gassen ist so verwirrend. Schließlich fragt Neslin eine vorbei eilende Frau. Ja, den Alten kennt man gut, der hat es doch immer mit seinen Kräutern. Wenn sie dahinten rechts abbiegen, sich links halten und dann geradeaus… Sehr erhellend ist diese Wegbeschreibung nicht, aber sie versuchen, ihr zu folgen. Und tatsächlich, endlich stehen sie vor dem gesuchten Objekt.
Anselm klopft an die Tür. Nichts rührt sich. Er öffnet die Tür und sie gehen hinein. Der Alte steht an seinem Feuer und verbreitet wie schon vor Jahren Rauchschwaden. Er hört wohl schlecht. Und er ist wirklich noch älter geworden als er damals schon war. Seine Haut spannt sich straff über die Knochen, so dünn ist er. Sein Gesicht ist mit Falten übersät.
Überrascht schaut er auf und sieht die Freunde vor sich. Sein Gesichtsausdruck erhellt sich, soweit das möglich ist, denn er erkennt sofort, wen er vor sich hat. Da ist der Junge, dem übel war, dem hier in dieser Hütte die Sinne schwanden und der nun kein Junge mehr ist. Da ist das Mädchen, dem er die Pest austrieb und das nun kein Mädchen mehr ist. Und da ist der Mann, der draußen mit den Anderen auf den Jungen gewartet hat. In seiner etwas schroffen Art heißt er sie willkommen und bittet sie, sich zu setzen. Sofort macht er sich daran, einen Tee zu brauen und die Freunde erwarten so etwas wie einen Hexentrank. Aber der Tee schmeckt ganz normal und bekommt ihnen vorzüglich.