Ansichten aus der Mitte Europas - Antje Hermenau - E-Book

Ansichten aus der Mitte Europas E-Book

Antje Hermenau

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Beschreibung

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verschieben sich die Kraftfelder in und um Europa. Sachsen ist mittendrin. Viele Menschen fragen sich nach den Gründen für die politische Unruhe im Land. Europa streitet sich nicht nur übers Geld, sondern fällt derzeit vor allem bei den Themen Zuwanderung und nationale Identität auseinander. Aber auch innerdeutsche Konflikte um diese und andere Themen bedürfen der Analyse. Im Zentrum steht dabei Sachsen, das Mutterland der Reformation und der Friedlichen Revolution. Antje Hermenau, die bekannte ehemalige sächsische Grünen-Chefin, erklärt mit Mutterwitz und weltoffenem Patriotismus die sächsische Seele samt den Missverständnissen und ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen Ost- und Westdeutschen, Ost- und Westeuropäern. Sie wagt Ausblicke in die Zukunft und liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Bürgerverantwortung. Garantiert unideologisch und ohne Sprachzensur. Ein Buch für Sachsen, vor allem aber auch für Nichtsachsen!

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Antje Hermenau

Ansichten aus der Mitte Europas

Wie Sachsen die Welt sehen

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet uber http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz und Gestaltung: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

ISBN 978-3-374-05939-3

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an Sachsen, Deutschland und Europa. Exakt in dieser Reihenfolge. Seine Ich- oder Wir-Perspektive speist sich aus der Verarbeitung sehr vieler Gespräche mit ganz verschiedenen sächsischen Bürgerinnen und Bürgern. Uns eint die Wertschätzung einer über Jahrhunderte entwickelten Arbeits- und Lebensweise, die immer den jeweils neuen Bedingungen angepasst wurde. Flexibilität und eine gewisse »Wendigkeit« sind für Sachsen nicht untypisch. Denn wir wollen, dass »es läuft« – auf der Arbeit, in der Familie und in der Freizeit. Dieses grundlegende Prinzip ist uns wichtig und muss als sächsischer Beitrag zur Rettung der Welt genügen.

Seit einiger Zeit jedoch läuft es nicht mehr ganz so rund. Nach der erfolgreichen Friedlichen Revolution von 1989, die sehr viel mehr als eine »Wende« war, konnten wir unser Glück kaum fassen: Die Gesinnungsdiktatoren des DDR-Regimes konnten wir unblutig von der Macht entfernen, die Wiedervereinigung war unser Traum. Und sie schien gelungen, auch wenn das erste Jahrzehnt sehr schwer war. Inzwischen jedoch hat sich die Stimmung deutlich eingetrübt. Die Menschen sorgen sich um die Zukunft. Diese Sorge hat vor allem mit der Migrations-, Wirtschafts-, Sozial- und Euro-Politik zu tun. Seit der Finanzmarktkrise 2009 ist das Vertrauen in den »Westen« erschüttert. Die Massenmigration 2015 hat die Erschütterung weiter vertieft. Aber die Globalisten geben sich unbeeindruckt, ja, sie werfen den anderen vor, Hysterie und Panik zu verbreiten. Sie haben gut reden, sitzen sie doch im gemeinsamen Boot erhöht, so dass ihre Füße noch nicht nass werden vom hereinschwappenden Wasser des globalen Ozeans. Sie merken es noch nicht und verstehen deshalb die Klagen aus der Mitte des Bootes nicht, wo man mehr und mehr fürchtet, das Boot könnte über kurz oder lang kentern. So geraten rechts und links massiv durcheinander, weil der alte Klassenkampf des letzten Jahrhunderts keine Rolle mehr auf dem globalen Ozean des 21. Jahrhunderts spielt. Was allerdings inzwischen eine ganz wichtige Rolle spielt, ist eine Art kultureller Klassenkampf zwischen den einen, die die Probleme der Welt universalistisch »von oben« lösen wollen, und den anderen, die auf partikulare Lösungsstrategien »von unten« setzen. Die einen gehen davon aus, dass ihre Lebensform die Zukunft der Welt ist, was viele bloß noch nicht verstanden hätten, die anderen glauben, dass unterschiedliche Lebens- und Arbeitskulturen, unterschiedliche Staatsformen und Einkommensstrukturen und widerstrebende Interessenlagen bestehen bleiben werden. Die einen wollen globale Zusammenarbeit von oben verordnen, die anderen gehen davon aus, dass überregionale und internationale Zusammenarbeit von unten aufgebaut werden muss. In gewisser Weise stehen hier Utopisten gegen Realisten.

Vor allem aber beschwert uns Sachsen das unabweisbare Gefühl, über die Probleme, die wir sehen, nicht offen reden zu dürfen. Das kennen wir. Was wir glaubten, hinter uns gelassen zu haben, geschieht nun von Neuem. Wieder ist eine Situation entstanden, in der fast jeder hinter vorgehaltener Hand irgendwann flüstert: »Das sage ich aber nur unter uns.« Erneut gibt es eine private und eine öffentliche Meinung, plakativ zur Schau gestellte Überzeugungen und beredtes Schweigen. Ist es dem Bürgerengagement zuträglich, wenn wieder taktisches Sprechen allenthalben dem offenen Wort entgegensteht? Ist da nicht etwas faul im Staate? Ist es wirklich verwunderlich, dass sich der Unmut über diese Situation wenig differenziert auf der Straße äußert?

Wir müssen uns seit Jahren fragen lassen, warum wir so »hasserfüllt« seien. Wir hätten doch jetzt so schöne Städte und Straßen. Uns gehe es besser als je zuvor. Unsere eigene Kanzlerin hat da den Takt mit vorgegeben. Dabei versuchen wir die ganze Zeit ein ernstes Gespräch darüber zu beginnen, was uns irritiert und was wir als Bedrohung oder Herausforderung für alle sehen. Das Ausmaß an Nichtverstehen und Nichtverstehenwollen, das dem Osten und speziell den Sachsen vom linksliberalen Teil der Medien und der Politik entgegenschlägt, ist erschreckend. Erst kürzlich rief eine aus »dem Westen« stammende kirchliche Würdenträgerin dazu auf, den Ostdeutschen mehr Zeit für das Einüben von Demokratie zu geben, schließlich wären in der frühen – also demokratisch noch ungeübten – Bundesrepublik die Rechtsextremen auch stark gewesen. So reißt man »wohlmeinend« neu auseinander, was schon fast zusammengewachsen war. Wer beispielsweise die Flüchtlings- und Migrationspolitik der Berliner Regierung seit 2015 ablehnt, ist in aller Regel kein Rechtsextremer. Meist sogar versteht er sich als guter Demokrat und hält ganz im Gegenteil das diesbezügliche Regierungshandeln für ausgesprochen undemokratisch. Das Netteste ist noch, dass wir als ein wenig zurückgeblieben betrachtet werden – als Menschen, die die neue Zeit noch nicht verstanden hätten und sich in ihrer Heimatverbundenheit einigelten. Von »der neuen Zeit« und »dem neuen Menschen« wollen wir in der Tat nichts mehr wissen. Das kennen wir schon. Schließlich zog »die neue Zeit« schon im Sozialismus mit uns. Solchen fruchtlosen Zukunftsutopien, die vor allem dazu dienen, das bestehende System und die ideologische Deutungshoheit seiner Profiteure aufrechtzuerhalten, begegnen wir skeptisch. Das Volk zieht dabei immer den Kürzeren.

Für unsere Region wollen wir beibehalten, was wir als gut und richtig ansehen, indem wir es an moderne Gegebenheiten anpassen und Arbeitsmigranten wie Flüchtlingen als lebenswertes Modell präsentieren. Hinterwäldler sind wir deshalb nicht. Wir waren immer begierig, von fremden Ländern und den neuesten Moden zu hören. Da sind Sachsen neugierig. Und was zu uns passt, wird »eingesachst«. Man lernt ja nie aus. Das ist wahre Weltoffenheit. Viele von uns kennen inzwischen die halbe oder gar die ganze Welt. Ich selbst war mit einem US-Amerikaner verheiratet, habe eine chinesische Schwägerin, betrachte die Nachkommen eines syrischen Kurden als meine Familie, und eine meiner besten Freundinnen stammt aus dem Jemen. Sie alle leben hier. Sie arbeiten hier. Sie zahlen hier ihre Steuern und gehören zu meiner Familie und meinem Freundeskreis. Das ist nicht die Frage. Wer etwas anderes behauptet, will ablenken von den Problemen, die es wirklich gibt.

Die große Welt ist allerdings nur das Eine. Das Interesse an unseren näher gelegenen Nachbarn ist wieder gewachsen. Westeuropa ist offenbar nicht, wie wir lange glaubten, bruchlos unsere Zukunft. Es hat selbst erhebliche Probleme, weiß nicht so recht, was seine Gegenwart ist und seine Zukunft sein soll. So entdecken wir wieder, wie sich sächsische Ansichten stark mit denen anderer Mitteleuropäer überschneiden, die in Polen, in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, im Baltikum oder in Österreich leben. Auch mit Bayern und selbst mit der Schweiz verbindet uns manches. Da kommt vielfach wieder zusammen, was über Jahrhunderte zusammengehörte und nur im letzten Jahrhundert getrennt war: Mitteleuropa. Man weiß, dass man Partner braucht, wenn man ein kleines Land ist und nicht am Meer liegt. Sachsen, zumindest Ostsachsen, ist den vier Visegrád-Ländern (Slowakei, Polen, Tschechien, Ungarn) näher, als viele in Deutschland – und auch schon im Raum Leipzig – erwarten. Dafür gibt es historische Gründe. Dieses alte Land hat eine über etwa 1000 Jahre hinweg eigenständige Geschichte. Es ist über Jahrhunderte gewachsen. Seine kulturhistorische Einbettung in das östliche Mitteleuropa ist stark. Auch das begründet Eigenarten.

Viele Sachsen sind wie andere Mitteleuropäer unzufrieden mit wesentlichen Entscheidungen in Berlin und Brüssel. Sie sehen durch sie ihre Lebens-, Wert- und Denkvorstellungen gefährdet, wenn es um Sozial- und Rechtsstaat, Nation und Demokratie geht. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, als endlich die Tatsachen nüchtern anzusprechen und den offenen Diskurs zu wagen. Die Politik sollte das erst recht tun. Die Bürger sind mündig. Sie haben ein Recht darauf, ernst genommen zu werden. Man sollte ihnen Vertrauen schenken. Sachsen sind mehrheitlich nicht konservativ in einem altbundesrepublikanischen Sinn. Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau oder die Akzeptanz von Homosexuellen sind eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch als solcher zählt. Gerade darum aber haben sehr viele Sachsen wenig Verständnis für ideologische Gleichmacherei, Sprechverbote und Sprachvorschriften. Neue gesellschaftspolitische Großversuche im Rahmen der Globalisierung werden nach den Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus weithin abgelehnt. Menschen sind keine Labortiere oder Versuchsanordnungen. Was viele Sachsen verbindet und zusammenhält, hat nichts mit ethnischer Homogenität zu tun, sondern mit einer gemeinsamen Lebens- und Arbeitsweise, die stark prägt. Darum fangen viele an zu reden und beharren – gelegentlich etwas störrisch, manchmal sogar unhöflich – darauf, die Entwicklungen in unserem gemeinsamen Land zur Diskussion zu stellen. Sie werden sich den Mund nicht verbieten lassen. Sie wollen die strittigen Fragen ausdiskutieren, mit Mehrheit oder im Konsens entscheiden und diese Entscheidungen politisch auch stringent umsetzen.

Eine aktuelle Umfrage ergab, dass die »in Deutschland gelebte Demokratie« im Osten auf weniger Akzeptanz stößt als im Westen. Das bedeutet nicht, dass der skeptische Teil der Bevölkerung lieber ein autokratisches Regime hätte. Es zeigt erst einmal nur, dass diese Leute sich und ihre Interessen zu wenig vertreten sehen. Viele blicken neidisch auf die Schweiz. Und natürlich haben viele Ältere noch die SED-Doktrin im Kopf, der zufolge westliche Demokratien nur »Scheindemokratien« seien, die den internationalen Großkonzernen zur Tarnung ihrer Machenschaften dienten. Spätestens seit der Finanzmarktkrise ist diese Theorie wieder populär. Ändern lässt sich das nur durch demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten in den Regionen und die Bereitschaft zu einer deutlich freieren Debatte. Denn die allermeisten Leute wollen Demokratie, aber eben eine, die ein bescheidenes Maß an Eigenwirksamkeit erfahren lässt. Die Doktrin vom »Nachbau West« ist schon seit der Finanzmarktkrise nicht mehr überzeugend, wird aber von oft westlich sozialisierten Führungskräften in Sachsen vertreten. Inzwischen redet man aneinander vorbei und die Bevölkerung durchschreitet die Tiefen einer Arroganz der Macht. Die »Wessis« wissen es aber nicht besser.

Mein Buch ist keine strenge gesellschaftspolitische Analyse, sondern eine Momentaufnahme dessen, was landauf landab zu hören ist: jetzt, wo in Sachsen in einem halben Jahr Wahlen anstehen, die – so oder so – Konsequenzen für ganz Deutschland haben werden. Dabei befleißige ich mich trotz allen bitteren Ernstes, wo es irgend geht, eines humorvollen, augenzwinkernden Tons. Denn ich will nicht einfach »zurückschlagen« oder »mein Sachsenvölkchen« streicheln, damit es sich wieder brav einordnet in die beste Bundesrepublik aller Zeiten. Ein wenig zuspitzen muss ich aber schon, sonst überhört man uns wieder. Aus Respekt vor der Intelligenz meiner Leser werde ich aber nicht dauernd erläutern, wo der Ernst nur teilweise ernst ist und der Spaß an der Pointe anfängt. Nur so viel sei gesagt: Hier findet keine Anklage statt, sondern es wird von vielen Seiten her die Frage beleuchtet, ob wir alle noch auf dem richtigen Weg sind. Ich will zeigen, wo und warum viele unserer Fragen und Einwände berechtigt sind. Dabei spreche ich natürlich nicht für alle Sachsen. Wenn ich verallgemeinere, dann nur, um einen signifikanten Meinungsstrang nachzeichnen zu können. Ich schreibe dieses Büchlein aber auch nicht nur für Sachsen, sondern für Menschen überall in Deutschland: für die einen, die manches ähnlich sehen, und für die anderen, die nicht verstehen wollen oder können. Ach, gelänge es doch, die zu wecken, die sich schlafend stellen.

Dresden, im Januar 2019 Antje Hermenau

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1Was man über Sachsen wissen sollte

2Was es bedeutet, Mitteleuropäer zu sein

3Was wir von der Regierung eines demokratischen Industriestaates erwarten

4Was Europa und die große Welt für Sachsen bedeuten

Zur Autorin

1Was man über Sachsen wissen sollte

»Loofen musses«

Fragt man in Sachsen danach, wer regieren und was die Regierung machen sollte, kann schon mal die Antwort kommen: »Is mr eechentlich egal, wer da ohm den Gassbr machd, aber loofen musses.« Darin liegt tiefe Weisheit. Vor allem klärt der Spruch eindeutig, wer die Arbeit macht und die Mäuse für alle verdient. Kleiner Tipp: »Der Kasper da oben« ist es nicht.

Die Sachsen möchten von jemandem regiert werden, der sich als Geschäftsführer der Sachsen GmbH versteht. Der soll den Leuten nicht mit erhobenem Zeigefinger in die Feierabendgestaltung reinquatschen und darf ihnen nicht zu viel vom sauer verdienten Geld per Steuer abknöpfen, sondern möchte bitte einfach dafür sorgen, das alles ruhig und ordentlich läuft. Das hat die letzten tausend Jahre mal mehr, mal weniger gut geklappt. Wie auch immer es kam, zumeist blieben wir friedlich. Als kriegerisches Volk sind wir jedenfalls nicht bekannt. Eher hat sich Preußen um die kriegerische Gloria gekümmert, Sachsen mehr um Glanz und Präzision. Ich finde, es gibt keinen echten Grund, das zu ändern.

In Sachsen wurde vor 1989 bei einem Bevölkerungsanteil von ca. 25% ein Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der DDR produziert, der bei ca. 40% lag (Die deutschen Länder: Geschichte, Politik, Wirtschaft). Sachsen war, wie andere deutsche Regionen auch, immer eine Tüchtigkeitsgesellschaft – egal, unter welchem Regime. Und auch jetzt führt es die Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern an. Es könnte also alles gut sein, wenn nicht in der Sicht auf Deutschland, Europa und die Welt die Mehrheitsmeinungen in Sachsen und einigen westdeutschen Bundesländern immer weiter auseinandergingen. Zumindest empfinden das viele offenbar so.

Der richtige Geschäftsführer der Sachsen GmbH

Ich gehöre zu einem stolzen »Völkchen« von Tüftlern und Ingenieuren. Es sind auch viele Eigenbrötler dabei. Sie alle brauchen einen stressarmen Alltag, um einer Sache konzentriert auf den Grund zu gehen und etwas Schlaues zu erfinden oder einfach nur perfekte Arbeit abzuliefern. Das muss der Geschäftsführer der Sachsen GmbH verstehen. Und wenn er seine Sache gut macht, darf er sich gern auch ein goldenes Krönchen auf seine Staatskanzlei setzen. Den Prunk hat er sich dann verdient, finde ich. Macht ja auch was her – für die Touristen und so.

Sächsische Heimtücke: Eskalationsstufen des Unmuts

Versteht der Sachsen GmbH-Geschäftsführer das nicht, rege ich mich als waschechter Sachse ganz langsam, aber mit viel Anlauf auf. Ich gebe erst ein paar verstohlene Hinweise – fast spielerisch. Man will ja nicht unhöflich sein und keinesfalls den Gelbwesten in Frankreich oder den Autonomen in Hamburg zum G-20-Gipfel ähneln.

Nein. Zuerst einmal gehe ich nicht zur Wahl, notfalls mehrmals nicht. Wacht der Chef dann nicht auf, lege ich eins drauf: Ich wähle eine von diesen linken (naja, die taugen heutzutage nicht mehr so recht zur Provokation) oder rechten Protestparteien (die machen zurzeit richtig Rabatz) und lasse die stellvertretend für mich meinen Unmut äußern. Wird auch dieses noch höfliche, aber eigentlich klare Signal beflissentlich übersehen, werde ich langsam rabiat: Ich gehe zu einer Demo, zu einer richtigen, waschechten Demo. Ich, der ich zuvor einen Parkschein ziehe und mein Auto ordnungsgemäß parke, gehe zur Demo, aber nicht etwa vermummt (Deutschlandhütchen fallen nicht unter das Vermummungsverbot) und maximal mit einem Regenschirm bewaffnet. Kein Witz, echt jetzt: Ich gehe zur Demo – so nebenbei irgendwie, als Spaziergang quasi. Es soll ja gemütlich bleiben. Und denke mir: Nun muss er es aber doch begreifen, der da oben, wahlweise auch die da oben. Aber nee, die kleinen und großen Chefs und Chefinnen in Dresden, Berlin und Brüssel haben offenbar eine solche Flughöhe, dass sie die Befeuerung links und rechts an der Landebahn des Heimatflughafens einfach nicht mehr sehen können. Lost in space, sozusagen.

Die lange Leitung der anderen

Die SED-Leute in Leipzig, Plauen und Dresden waren im Oktober 1989 klug genug, den Schießbefehl aus Berlin nicht zu befolgen, als Abertausende auf die Straße gingen. Dafür wurden sie hinterher auch nicht erschossen, sondern gemütlich, aber kühl am Runden Tischen Schritt für Schritt entmachtet. So kann eine Revolution in Sachsen laufen. Wenn man höflich bleibt. Das war die erste Revolution auf deutschem Boden, die nicht nur friedlich, sondern auch erfolgreich war. Darauf sind wir stolz.

Wesentlich ist: Sachsen haben nicht auf Sachsen geschossen, sondern dafür gesorgt, dass sich etwas ändert. Und wer das nicht wollte, durfte »diggschn«, aber nicht ernsthaft Widerstand leisten. Und schon gar nicht schießen. Heute, wo eher in den »unsozialen« Netzwerken scharf geschossen wird, ist das schon schwieriger. Und in den Medien, die vom Rohrkrepierer über die Stinkbombe bis hin zum Nebelwerfer alles zur Verfügung haben, sind die Verhältnisse auch nicht ganz ausgeglichen. Sogar Schießbefehle aus Berlin gibt es wieder. Die fetten Kugeln nennen sich »failed state«, »Nazis« und »Dunkeldeutsche«. Und dann gibt es da noch jede Menge Kleinschrot für die Kartätschen: »abgehängt« oder »Pack«. Kaum hatte Herr Gabriel das Wort »Pack« benutzt, gab es wenige Tage später T-Shirts mit dem Aufdruck: »Erst waren wir Eure Helden, nun sind wir Euer Pack«.

Unter solchem Dauerfeuer trinken wir zu Hause erst einmal einen Kaffee, denn ohne Kaffee kein Kampf. Das ist ein sächsischer Schlachtruf. Kaffee gehört nicht nur zur sächsischen Kultur, nein, die Sachsen haben aus dem Kaffeetrinken ganz praktisch auch ein Geschäft gemacht und das sehr weltoffen betrieben. Eines der ältesten Café-Häuser Europas, das über nahezu 300 Jahre bis heute Gäste willkommen heißt, öffnete seine Türen Anfang des 18. Jahrhunderts und befindet sich in Leipzig: Zum Arabischen Coffe Baum. Die Handelsstadt hatte diese neue Mode aus dem Morgenland schnell für sich entdeckt, ergänzte sie aber flugs um Tee, Kakao, Likör und anderes. Die Importware Kaffee war allerdings teuer. Deshalb wurde er so dünn gebrüht wie Tee und man konnte im Tasseninneren beim Trinken die innen aufgemalte Blume sehen. Daher stammt das Wort »Blümchenkaffee«. Ist der Kaffee zu dünn, glaubt man die Meißner Schwerter unter der Tasse erkennen zu können, weshalb das Gesöff dann abschätzig »Schwerterkaffee« genannt wird. Die Bezeichnung »Kaffeesachsen« beschreibt etwas spöttisch unsere Vorliebe für dieses Getränk. Als dann die Preußen in Leipzig Mitte des 18. Jahrhunderts einmarschierten und den Siebenjährigen Krieg vom Zaun brachen, gab es in Leipzig den Beruf des Kaffeeschnüfflers. Das war ein preußischer Beamter, der durch die Gassen ging und schnüffelte, wer Kaffee zubereitete und ob er auch seine Steuern bezahlt hatte. Denn Kaffee wurde natürlich überall geschmuggelt, aber das Rösten zu Hause konnte man eben riechen. An Steuernarreteien aus Preußen sind wir also gewöhnt. Da muss man einfach den Humor behalten und erfinderisch bleiben.

Doch zurück, wir waren ja beim Kampf: Nachdem wir also unseren Kaffee genossen haben, gehen wir wieder auf die Straße und wehren uns verbal. Schon zu DDR-Zeiten wurde im Sächsischen aus »der Sozialismus siegt« eine lokal interpretiertes, mundartlich perfektes »der Sozialismus siecht«. Diese Liedzeile entsprach nicht nur einfach der Wahrheit, sondern wurde mit diebischer Freude immer wieder lauthals gesungen und bei Kritik auf den Dialekt geschoben – unserer Allzweckwaffe für den indirekten Angriff. Selbst die »Lückenpresse/Lügenpresse« kann wieder auf den Dialekt geschoben werden: Der Sachse vertauscht halt gern harte und weiche Mitlaute. Kann man fast alles missverstehen: quasi als subversive Empörung mit perfekter Rückzugsmöglichkeit unter einem lauten »Halten zu Gnaden, Obrigkeit«. Österreicher wissen, wovon ich spreche. Zusammen mit den etwas abenteuerlichen Vokalkombinationen wird so aus unserer Kultursprache (Martin Luther schuf mit seiner Bibelübersetzung und der daraus entstandenen Sächsischen Kanzleisprache die Voraussetzung für ein allgemeines Standarddeutsch) ein sanft dahinplätschernder Bach, der harmlos den Berg hinabrinnt, ohne Kiefer oder Zunge durch Artikulation zu überanstrengen. Wenn ich dagegen manch andere Mundart höre, in der im Mund wahre Wackersteine gekaut werden ... Im Ernst, ich liebe mein Sächsisch und lasse es mir nicht nehmen. Seine ironische Vielschichtigkeit macht es zu einem kleinen Kunstwerk des Humors. Andere bodenständige Dialekte finde ich übrigens auch klasse – klingen nur völlig anders. In jeden muss man sich liebevoll reinhören. Habe ich gemacht. Tat nicht weh. Dialekt ist Seele.

Die Sachsen gehören innerhalb der gültigen Parameter für ein demokratisch verfasstes Bundesland in einer modernen Industrienation ganz selbstverständlich zu Deutschland. Die Abweichungen liegen im Toleranzbereich. Dass das andere Deutsche nicht so empfinden, kann mehrere Ursachen haben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Anpassung von den Ostdeutschen einfach erwartet wurde und wird. Schließlich kam das Geld zum Wiederaufbau nach der Wiedervereinigung aus dem Westen. Das stimmt. Und Sachsen hat alles getan, das mit hoher Leistungsbereitschaft zu würdigen und dem Vertrauen dankbar durch sparsame Mittelverwendung zu entsprechen – bis solche Bemühungen ab 2011 mit dem Beginn der eher vergeblichen Griechenland-Rettung und ab 2015 mit dem Einlass sehr vieler Menschen in die sozialen Sicherungssysteme offenbar keine Rolle mehr spielten. Unsere Bemühungen waren vergebens, wenn nicht falsch gewesen. Sparen kam plötzlich in Verruf. Das hat viele irritiert. Aber Deutschlands Regierung ging es inzwischen um ganz andere Dinge als den sparsamen Umgang mit Steuergeldern. Da ging es plötzlich nicht mehr »nur« um die Rückkehr der ostdeutschen Länder, die 40 Jahre länger als der Westen die Kriegsschuld abarbeiten mussten, sondern um das große Ganze – nämlich die Rettung der Welt. Plötzlich waren dreistellige Milliardenbeträge da, die vorher für sehr wichtige Maßnahmen innerhalb Deutschlands wie den Ausbau einer flächendeckenden Internetversorgung undenkbar waren. Menschen, die selbst zu höchsten Standards im Internet surfen, haben anderen, die gerne auch an die Welt angeschlossen wären, diese Modernisierung auch mit der Begründung verwehrt, sie sei zu teuer.

Die Fragen, die jetzt in Sachsen aufgeworfen werden, sind existentiell für unsere Zukunft und werden auch in anderen europäischen Ländern offen diskutiert. Nur in der westdeutschen linksliberalen »Elite« scheint so mancher auf der sprichwörtlichen Insel der Glückseligen zu leben und von der unaufhaltsamen moralischen Höherentwicklung des Menschengeschlechts unter deutscher Anleitung zu träumen. Wer dabei stören könnte, wird abgewehrt. Mit wachsendem Entsetzen sehen viele Sachsen langsam zerbröseln, was vorhergehende Generationen mühsam aufgebaut haben. Das ist nicht nur respektlos, sondern für eine Gesellschaft selbstzerstörerisch.

Ich habe lange gerätselt, warum es den öffentlichen Radio- und TV-Sendern so wichtig war und ist, nahezu täglich über den demokratisch gewählten, wenn auch höchst zweifelhaft agierenden Präsidenten eines fernen Landes zu berichten – unentwegt lauernd auf den nächsten Eklat: Unseren täglichen Trump gib uns heute. Ist Mr. Trump die perfekte Negativfolie, vor der die Lebenslügen mancher Meinungsmacher noch einmal ordentlich aufgehübscht werden können?

Trump wirkt in den USA wie ein Brandbeschleuniger, während in Deutschland der Betrieb seit Jahren mit Beschwichtigungsversuchen einer »lame duck« aufgehalten wird. Erfolgreich ist diese politische Verschleppung nicht, die uns daran hindert, auszunüchtern und die Dinge etwas realistischer und praktischer anzupacken. Ein Ergebnis ist die AfD. In den USA spitzen sich die politischen Debatten zu. Die Streitsachen kommen auf den Tisch. Wie das ausgeht, kann niemand sagen. Aber den Druck im