Antarer - Ralph Edenhofer - E-Book

Antarer E-Book

Ralph Edenhofer

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Beschreibung

In einer einsamen Nachtschicht am Gravitationswellenobservatorium LIGO entdeckt die Astrophysikerin Tony Rodgers ein seltsames Signal aus den Weiten des Weltalls. Zuerst hält sie es für einen Messfehler. Doch bald zeigt sich, dass es real ist. Was diese Entdeckung nach sich zieht, stellt nicht nur ihre persönliche Welt völlig auf den Kopf, sondern rüttelt an den Grundfesten der Physik. Und nicht nur das. Nach und nach wird klar, dass die Quelle des Signals nicht natürlichen Ursprungs ist. Etwas ist auf dem Weg zur Erde. Und es bedroht nicht nur die Existenz der Menschheit, sondern alles Leben auf dem Planeten.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Antarer

Besuch aus dem All

Ralph Edenhofer

Inhalt

Teil 1: Ankunft

Teil 2: Kontakt

Epilog

Anhang

Dieses Buch ist ohne den Einsatz Künstlicher Intelligenz entstanden. Jeder einzelne Buchstabe wurde von Hand getippt. Und das bleibt bis auf Weiteres auch so bei meinen Büchern.

Teil 1: Ankunft

In einer nicht allzu fernen Zukunft

Tag 0, Gravitationswellendetektor LIGO, Hanford, Washington, USA

Ein ‚Pling‘ gemahnte Tony, ihre Aufmerksamkeit der wandfüllenden Batterie von Monitoren zuzuwenden. Mit einem Seufzen legte sie das Tablet zur Seite, auf dem sie gerade die keine-Ahnung-wie-vielte Version eines Papers für eine zweitklassige Konferenz in Wo-war-das-noch-gleich Korrektur las. Sie wischte eine Haarsträhne zur Seite, die ihrem Pferdeschwanz entkommen war, und klemmte sie provisorisch hinters Ohr, um freie Sicht zu haben.

Die Bildschirme zeigten in Echtzeit den Status der verschiedenen Subsysteme des Gravitationswellendetektors an. Derjenige, der das ‚Pling‘ verursacht hatte, war an dem rot hinterlegten Pop-up-Fenster schnell identifiziert. Ein kleiner Adrenalinschub vertrieb ihre Müdigkeit, als sie die Quelle erkannte. Der automatische Signaltrigger hatte in dem Rauschen des Rohsignals etwas potenziell Interessantes entdeckt. Wenn sie Glück hatte, waren mal wieder irgendwo im Universum zwei Neutronensterne oder schwarze Löcher kollidiert und hatten dabei über Millionen Lichtjahre hinweg die Raumzeit selbst erschüttert. Was davon nach Durchquerung dieser unermesslichen Entfernungen bei der Erde ankam, war nur noch ein winziger Hauch der freigesetzten Urgewalten, konnte aber mit modernster Technik am äußersten Rand des physikalisch Machbaren entdeckt werden.

Mit zwei Mausklicks ließ sie sich den Zeitverlauf der letzten Minute anzeigen und stöhnte. Was sie sah, war definitiv kein Kollisionssignal, im Idealfall erkennbar an einer schnell ansteigenden Schwingungskurve, die abrupt stoppte, sondern eher das Gegenteil: ein plötzlicher Anstieg, der langsam ausklang. Typisch für eine Störung der Anlage.

Tonys Begeisterung, den Rest ihrer Nachtschicht mit Fehlersuche zuzubringen, hielt sich in Grenzen. Insbesondere, da sie Dave, der eigentlich mit ihr im Kontrollraum sitzen sollte, freigegeben hatte. Der arme Kerl war gestern erst von einem Seminar in Kalifornien angereist und sein Flieger hatte ewig Verspätung gehabt. Schon als er eingetroffen war, konnte er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Schlechte Voraussetzungen für eine Nachtschicht. Üblicherweise war es kein Problem, das allein zu bewältigen. Aber anscheinend sollte es keine übliche Nacht werden.

Sie legte das Tablet zur Seite, setzte das Headset auf, das neben der Tastatur lag, und wählte eine voreingespeicherte Nummer in der Telefonsoftware. Es dauerte mehrere Sekunden, bis am anderen Ende jemand dranging. Noch während Tony erneut mit den widerspenstigen Haaren kämpfte, erklang eine Stimme. „Was gibt’s?“

Wenigstens war es Kyle. Mit einigen der übrigen Techniker aus der Wartungscrew stand sie auf Kriegsfuß, aber mit ihm kam sie meistens gut klar.

„Hi. Tony hier. Ich hab gerade ein Störsignal reingekriegt. Habt ihr an den Spiegeln rumgespielt? Oder was anderes an der Anlage gemacht?“

„Nö. Nicht, dass ich wüsste. Ich frag mal rum, ob von den anderen einer was repariert hat oder so.“

„Mach das! Bis gleich.“

„Bis gleich.“

Immer dasselbe. Irgendwer bastelte an irgendwas herum, ohne dem Rest der Truppe Bescheid zu geben, geschweige denn dem Kontrollraum. Die übliche Ausrede war ‚Oh, Tschuldigung, ich wusste nicht, dass das einen Einfluss auf das Signal hat‘. Warum hörte ihr bei den Briefings eigentlich niemand zu? Der Detektor war eines der empfindlichsten Messinstrumente, das die Menschheit jemals gebaut hatte. Alles, was in der Umgebung der beiden vier Kilometer langen Vakuumröhren passierte, hatte potenziell Einfluss auf die Laserstrahlen darin, die Spiegel, mit denen sie hin und her reflektiert wurden, und das Interferometer, mit dem Längenänderungen der Laufstrecken auf subatomaren Skalen detektiert werden konnten. Man musste nur neben der Röhre husten und schon war das im Signal deutlich zu sehen. Wann kapierten die Techniker das endlich? Wobei ein Störsignal der angezeigten Größe eher darauf schließen ließ, dass jemand die Spiegel selbst manipuliert hatte. Üblicherweise mit den besten Absichten, aber gut gemeint war eben nicht automatisch identisch mit gut gemacht.

Tony nahm das Tablet wieder auf und fuhr mit dem Korrekturlesen fort. Sie hatte nicht mal eine Seite geschafft, als die Telefonsoftware klingelte. Absender war die Instandhaltungsabteilung.

„Hallo Kyle“, grüßte sie den Techniker. „Ihr seid ja schnell heute. Was war’s diesmal?“

„Nichts. Von uns war keiner an der Anlage.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Und bevor du fragst: Nein, heute ist kein Praktikant auf Schicht, der dumme Fehler vertuschen will. Außer mir sind nur Ben und Phil hier.“

Das waren in der Tat erfahrene Mitarbeiter, denen bewusst sein sollte, wenn sie etwas getan hätten, das das System störte. Versehen waren zwar nie hundertprozentig auszuschließen, aber Tony beschloss, erst einmal in andere Richtungen zu fahnden.

„Danke, Kyle. Wenn euch doch noch was auffällt, gib Bescheid!“

„Geht klar.“ Seinem Tonfall war bereits zu entnehmen, dass von Seiten der Technikabteilung keine weiteren Nachforschungen zu erwarten waren.

Sobald sie aufgelegt hatte, gab Tony einen neuerlichen, von Herzen kommenden Seufzer von sich und nahm das Headset ab. Im Gegensatz zu Kyle konnte sie als diensthabende Schichtleiterin die Angelegenheit nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Fehleranalyse war ein essentieller Bestandteil jedes physikalischen Experiments. Und bei einem derart schwerwiegenden Ausreißer würde ihre Chefin nicht lockerlassen, ehe eine hieb- und stichfeste Erklärung vorlag. Inklusive einer Strategie, wie solche Störungen zukünftig vermieden werden konnten. Die nächsten Stunden würde sie also wohl damit beschäftigt sein, sich aktuelle seismische und meteorologische Daten zu besorgen und darin nachzuforschen, ob irgendwelche äußeren Ereignisse im weiteren Umfeld des Detektors den Peak verursacht haben könnten, sei es ein Mikrobeben, ein Blitzeinschlag oder etwas ganz anderes. Besonders schwierig waren menschliche Einflüsse zu identifizieren, unangemeldete Baustellen oder Ähnliches. Zwar stand die Anlage viele Meilen von der nächsten Stadt entfernt mitten in der dornbuschbewachsenen Ödnis des Columbia Plateaus, aber vor dem Rumoren der Zivilisation war man nicht einmal hier sicher. Die Korrektur der Veröffentlichung konnte sie für den Rest der Nacht vermutlich vergessen. Statt sich nach der Schicht erst mal auszuschlafen, würde sie also weiter am Tablet hängen. Mist!

Bevor sie mit der Fleißarbeit begann, betrachtete sie noch einmal die Signalstörung, kopierte sie aus dem Datenfluss in eine Einzeldatei und studierte die grafische Darstellung auf dem Monitor. Tony hatte schon eine ganze Reihe Messfehler gesehen, aber das hier war etwas Neues. Zwar konnte man nie so ganz genau sagen, wie ein kleines Erdbeben sich auf den Detektor auswirkte, doch ihr Bauchgefühl sagte, dass es dieses Mal etwas anderes war. Nur was?

Einer spontanen Eingebung folgend, setzte sie das Headset wieder auf und wählte eine Nummer, die sie zum anderen Ende der Vereinigten Staaten führte. Genauer gesagt, in die subtropischen Wälder Louisianas, wo ein weitgehend identisches Gerät stand wie das, über das Tony gerade die Aufsicht hatte.

Es dauerte eine Weile, ehe jemand dranging. „LIGO Livingston, Steve Hanson.“

Wieder gute Nachrichten. Steve war ein netter Kerl. Bei einem Treffen der Arbeitsgruppe letztes Jahr hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn näher kennenzulernen. War aber nichts draus geworden.

„Steve, hi. Hier ist Tony.“

„Oh, hi. Wie geht’s? Ich hoffe, besser als bei uns.“

Bei Tony schrillten sämtliche Alarmglocken. „Was ist los? Habt ihr Probleme mit der Anlage?“

„Ja. Ist’n dicker Hund diesmal. Ein Riesen-Störsignal. Und keine Ahnung, wo das herkommt.“

„Wann war das?“ Sie schaute auf den Zeitstempel auf der Grafik. „Vor elf Minuten, zwanzig Sekunden?“

Einen Moment lang war auf der anderen Seite der Leitung nur angestrengtes Atmen zu hören. „Ja … genau. Woher …?“

Sie schickte ihm über den Chatkanal einen Screenshot des Ereignisses, das sie gerade beschäftigte. „Sieht eure Störung so aus wie die hier?“

Wieder eine Pause. „Fuck! Sag nicht, ihr hattet … Moment!“

Kurz darauf erschien auch auf ihrem Bildschirm eine Grafikdatei. Eilig öffnete Tony sie und hielt die Luft an. Die beiden Kurven waren auf den ersten Blick absolut identisch.

„Schick mir die Daten!“ Die letzten Silben bekam sie kaum aus dem Mund, weil sich ein dicker Kloß in ihrem Hals gebildet hatte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, während sie darauf wartete, dass Steve die Messwerte extrahierte und transferierte. Jede Sekunde zog sich wie Kaugummi in die Länge.

Als der Datensatz bei ihr erschien, kopierte sie die Werte, fügte sie in ihr Tabellenblatt ein und erzeugte eine gemeinsame Grafik beider Störsignale. Schauer liefen ihr über den Rücken, als sie das Ergebnis betrachtete.

„Und?“, fragte Steve nach. „Wie sieht’s aus?“

„Identisch“, hauchte sie. „Absolut identisch. Eine Zeitverzögerung von etwa vier Mikrosekunden, aber ansonsten identisch.“ Sie packte den kombinierten Datensatz in eine Datei und sandte sie nach Livingston.

„Wow!“, entfuhr es Steve. „Was zur Hölle ist das?“

„Ich habe keine Ahnung. So was hatten wir noch nie. Und es ist kein Messfehler.“

„Abwarten!“, mahnte er.

Damit hatte er natürlich recht. Da beide Detektoren dasselbe Signal gemessen hatten, schied eine Vielzahl möglicher Fehlerquellen schon mal aus. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass es sich tatsächlich um ein vollkommen neuartiges Phänomen aus den Tiefen des Weltalls handelte. Die Störquelle konnte genauso gut von der Erde oder aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas Neues entdeckt hatte, war gerade um mehrere Größenordnungen gestiegen. Eine völlig neue Signalform. Ein wissenschaftlicher Durchbruch. Das bedeutete, keine Veröffentlichungen mehr über neue Auswertestatistiken längst bekannter astraler Ereignisse, die außer einer Handvoll Fachexperten keinen Menschen interessierten, sondern die ganz große Bühne der internationalen Wissenschaft.

Ihr war bewusst, dass vorher noch viel Arbeit auf sie wartete, um sämtliche Fehlerquellen sicher auszuschließen. Und es war gut möglich, dass am Ende doch eine Enttäuschung auf sie lauerte und die Erklärung vollkommen banal war. Aber in jedem Fall würden die nächsten Tage und Wochen erheblich interessanter werden als die vergangenen Jahre.

Tag 1, Gravitationswellendetektor LIGO, Hanford, Washington, USA

Rund zwölf arbeitsintensive Stunden später klammerte Tony sich an ihre Kaffeetasse. Seit der erste Adrenalinschub der Entdeckung abgeklungen war, hielt nur noch Koffein in stetig steigender Dosierung sie auf zwei Beinen. Selbst den nicht enden wollenden Kampf gegen die Haare, die ihr ins Gesicht hingen, hatte sie aufgegeben. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, das Problem mit einer Schere zu beheben. So, wie sie es immer wieder tat, sobald sie ausreichend genervt war. Auch wenn das Abschneiden nur eine temporäre Lösung war. Um den Krieg zu gewinnen, musste sie lang genug durchhalten, bis die Haare so weit gewachsen waren, dass sie nicht mehr aus dem Pferdeschwanz entkamen. Also Augen zu und weiter!

Elisabeth Gray mit ihrem kurzen Pagenschnitt hatte solche Probleme nicht. „Okay!“ Die Arbeitsgruppenleiterin rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht und ließ den Blick über die sechsköpfige Runde schweifen. „Was haben wir?“

Tony öffnete die Präsentation auf ihrem Laptop und schickte mit wenigen Klicks das Diagramm einer Messkurve auf den wandfüllenden Bildschirm des Besprechungsraumes. „Das haben wir gestern Nacht detektiert. Zuerst dachten wir, es wäre eine interne Störung, aber das können wir mittlerweile sicher ausschließen. Livingston hat ein identisches Signal gemessen und heute Morgen habe ich eine Bestätigung aus Deutschland erhalten, dass der GEO600-Detektor es ebenfalls gesehen hat. TAMA in Japan und VIRGO in Italien waren zur fraglichen Zeit leider offline.“ Sie blendete über zur nächsten Folie, auf der zwei weitere, nahezu identische Kurven, hinzukamen. „Die Zeitverzögerungen der Signale sind kompatibel mit einer Ausbreitung des auslösenden Ereignisses mit Lichtgeschwindigkeit. Wir gehen also davon aus, dass es sich um eine Gravitationswelle handelt. Eine erste grobe Analyse deutet darauf hin, dass die Quelle des Signals im Sternbild Skorpion liegt. Irgendwo aus dem Umfeld des Sterns Antares.“

„Antares“, murmelte Gray. „Sieh einer an.“

Ihr abschätziger Tonfall ging Tony schon nach den wenigen Worten, die sie von sich gegeben hatte, gehörig gegen den Strich. Seit Gray ihr vor die Nase gesetzt worden war, hatten sich Meetings jeglicher Art zu lästigen Pflichtübungen gewandelt. Ja, Grays wissenschaftliche Qualifikation war unbestreitbar. Aber in Tonys Augen war sie kein Teamplayer und erst recht kein Teamleiter. Als sie noch gleichgestellte Kolleginnen waren, kamen sie einigermaßen miteinander zurecht. Doch Grays Beförderung, nachdem ihr Vorgänger in den Ruhestand gegangen war, hatte einen Keil in die gesamte Gruppe getrieben. Aber wehe, Tony äußerte ihre Bedenken irgendwem gegenüber. Dann wurde ihr sofort unterstellt, sie wäre nur neidisch darauf, dass Gray den Posten bekommen hatte. Nicht immer mit Worten, doch die Blicke waren eindeutig.

Bevor die ungeliebte Vorgesetzte das Treffen an sich riss, redete Tony weiter: „Wir haben sofort verschiedene optische Observatorien informiert, damit sie sich die fragliche Region anschauen. Bisher kam von keinem eine Rückmeldung, dass sie irgendetwas Außergewöhnliches entdeckt haben. Sobald wir hier fertig sind, machen wir uns wieder an die Analyse, um die Signalquelle genauer zu lokalisieren.“

„Macht das!“, entgegnete Gray. „Aber noch wichtiger als die Frage, wo das herkam, scheint mir die Erarbeitung eines ersten Ansatzes, womit wir es überhaupt zu tun haben.“

„In jedem Fall etwas völlig Neues“, warf Tony eilig ein. „Das gleicht nichts aus unserer Datenbank. Von daher würde ich empfehlen, den optischen Teleskopen möglichst schnell bessere Daten an die Hand zu geben, wo sie hinschauen sollen. Wenn die was entdecken, erhalten auch wir neue Hinweise, womit wir es zu tun haben.“

Gray nickte bedächtig. „Darum wird Dave sich kümmern. Tony, du widmest dich bitte primär der Signalidentifikation.“

„Da gibt es nicht viel zu identifizieren.“ Tony deutete auf den Wandbildschirm. „Das ist weder eine Kollision von schwarzen Löchern noch Neutronensternen oder etwas Vergleichbares. Das sollte jedem hier im Raum klar sein. Die Stärke des Signals weist aber eindeutig darauf hin, dass es etwas Gewaltiges war. Ich meine … Normalerweise suchen unsere Analysealgorithmen nach Signalen, die irgendwo im Rauschen des Detektors versteckt sind. Das hier ist nur durch Hingucken mehr als offensichtlich. Ich arbeite hier schon seit über acht Jahren und habe noch nie so ein deutliches Signal gesehen. Und ich kenne alles, was die Simulanten sich aus dem Hirn gedrückt haben.“

Bei dem Wort ‚Simulanten‘ zuckte Gray nahezu unmerklich zusammen. Aber nur nahezu.

Bevor sie die Leitung der Gruppe übernommen hatte, war sie in der theoretischen Gravitationswellenphysik aktiv gewesen. Deren Aufgabe bestand darin, im Computer verschiedene astronomische Ereignisse nachzustellen, die Gravitationswellen aussandten, und die daraus resultierenden Signalformen zu beschreiben. Nach denen konnten dann die Analysealgorithmen die Rohdaten durchforsten und potenzielle Kandidaten identifizieren. Abgesehen von Kollisionen ultraschwerer kompakter Objekte wie schwarzen Löchern oder Neutronensternen war allerdings kein bekanntes Ereignis auch nur annähernd in der Lage, ein derart offensichtliches Signal hervorzurufen, wie Tony es entdeckt hatte. Sie selbst war experimentelle Physikerin und beschäftigte sich mit der kontinuierlichen Verbesserung des Detektors sowie der Auswertung der Daten, die er lieferte. Nur die enge Zusammenarbeit von Experimentatoren und Theoretikern ermöglichte das wissenschaftliche Wunderwerk, das sie gemeinsam betreuten. Dennoch war gegenseitiges Necken der Angehörigen beider Fachrichtungen an der Tagesordnung. Niemand nahm so etwas persönlich, außer Elisabeth Gray.

„Du kennst wirklich alles, was je modelliert wurde?“ Gray musterte Tony mit einem zusammengekniffenen Auge. „Soweit ich weiß, gibt es durchaus einige exotische Quellen, die seltsame Signalformen hervorrufen können.“

„Da wird’s aber ganz schnell esoterisch“, hielt Tony dagegen.

Allein Grays Stirnrunzeln brachte sie schon wieder auf die Palme. Dann wandte die Gruppenleiterin sich demonstrativ von ihr ab und richtete das Wort an Nigel Woodsworth. „Was sagen die ‚Simulanten‘ denn zu dem Signal, das Tony gefunden hat?“

Nigel hob zum ersten Mal seit Beginn der Besprechung die brillenbewehrten Augen vom Bildschirm seines Laptops. „Ähm … Also grundsätzlich gebe ich Tony schon recht. So was wie das da …“ Sein speckiger Finger wies auf die Diagramme an der Wand. „… haben wir nicht im Angebot. Zumindest nicht unter den üblichen Verdächtigen. Da müssen wir schon tiefer in die Trickkiste greifen.“

Grays Blick spießte ihn förmlich auf. „Was ist denn im Angebot in der Trickkiste?“

Tony hegte keine besonderen Sympathien für Nigel, in ihren Augen der Prototyp des nahezu lebensunfähigen Physiknerds. Aber in ihrer Abneigung gegen Gray waren sie beide sich einig.

„Also … So wirklich heiße Kandidaten haben wir tatsächlich nicht auf Lager. Schwarze Löcher und Neutronensterne können wir ziemlich sicher ausschließen, wie Tony schon gesagt hat. Das passt nicht. Ebenso wenig eine Supernova.“

„Auch nicht eine frontale Kollision statt der üblichen langsamen Annäherung und Verschmelzung?“, hakte Gray nach.

Nigel schüttelte den Kopf. „Schon geprüft. Passt auch nicht.“

„Und sonst?“ Gray ließ nicht locker. „Gar nichts?“

Kleinlaut, fast flüsternd, murmelte er. „Wir hätten da noch die Grotky-Signale.“

Tony verdrehte die Augen. Genau so etwas hatte sie gemeint, als sie von esoterischen Quellen gesprochen hatte.

Gray zeigte ähnlich wenig Begeisterung. „Grotky? Das ist ein Scherz, oder?“

„Du hast gefragt …“ Nigel verkroch sich hinter dem Monitor seines Laptops.

„Ja, schon. Aber Grotky …“ Gray seufzte. „Na gut. Was hat er dazu beizutragen?“

„Ich such mal …“ Nigel schien bereits zu bereuen, seinen ehemaligen Kollegen überhaupt erwähnt zu haben.

„Das ist doch Zeitverschwendung“, warf Tony ein. „Ich meine … Grotky! Es gibt einen Grund, warum er nicht hier am Tisch sitzt. Seine Ideen waren doch ein Witz, keine Wissenschaft.“

Gray wandte sich an die gesamte Runde. „Wenn irgendjemand eine Idee hat, womit wir es zu tun haben, bin ich ganz Ohr. Je plausibler der Lösungsansatz, umso besser. Aber solange wir vollkommen im Dunkeln tappen, was uns da ins Netz gegangen ist, bin ich bereit, auch nach Strohhalmen zu greifen, selbst wenn sie auf den ersten Blick abwegig sind.“ Ihre letzten Worte verband sie mit einem verächtlichen Seitenblick zu Tony. „Alles, was uns irgendwie voranbringen könnte, ist willkommen, auch auf ungeraden Wegen. In zwei Stunden habe ich eine Videokonferenz mit Professor Liu und ich möchte ihm gern irgendetwas präsentieren, im Notfall auch exotische Ansätze.“

Die Erwähnung des LIGO-Projektleiters, Nachfolger von Kip Thorne, dem geistigen Vater des Gravitationswellendetektors, erfüllte den Raum mit betretenem Schweigen.

„Also, Nigel …“, nahm sie den dicken Theoretiker erneut aufs Korn. „Gibt es in Grotkys Hinterlassenschaften irgendwas, das uns weiterbringt?“

Die Brille erhob sich gerade eben so weit über den aufgeklappten Laptop wie unbedingt notwendig, um überhaupt etwas zu sehen. „Also … Ich hab mal nachgesehen. Grotky hat fast alle seine Aufzeichnungen gelöscht, als er … gegangen ist. Nur ein paar Präsentationen sind noch da.“ Er tippte auf die Tastatur und schickte ein neues Bild auf den Wandbildschirm. Es zeigte verschiedene unbeschriftete und unskalierte Diagramme. „Das da rechts unten ist gar nicht so weit weg von dem, was Tony entdeckt hat.“

Grays Miene hellte sich auf. „Und was stellt es dar?“

Nigel ging wieder auf Tauchstation, als wollte er sich hinter seinem Laptop verstecken. „Ich … weiß nicht. Er hat das mal auf einem internen Meeting gezeigt. Das ist nie rausgegangen. Ich weiß nicht mehr, was er dazu erklärt hat, wie er auf diese Signalformen gekommen ist.“

Mit verbissenem Gesichtsausdruck starrte Gray auf die Diagramme. Ihre Kiefer mahlten unentwegt. „Ich glaube, ich habe die auch schon mal gesehen. Aber Grotkys Ideen waren immer so absurd, dass ich nur mit einem Ohr zugehört habe. Wenn überhaupt. Aber das da …“ Ihr Blick verweilte auf dem Bild, das Nigel bereits erwähnt hatte. „Sieht tatsächlich ein bisschen so aus wie das von letzter Nacht.“

Tony musste ihr recht geben. Aber ausgerechnet Grotky … Genau genommen gab es nicht nur einen Grund, warum er nicht mehr bei LIGO arbeitete, sondern eine ganze Reihe von Gründen. Und jeder Einzelne davon hätte für sich allein schon ausgereicht, ihn zu feuern.

„Wir sollten dem nachgehen“, beschloss Gray schließlich. „Grotky ist ein schräger Vogel, aber vielleicht kann er uns weiterhelfen. Momentan ist er unsere heißeste Spur, dieses Rätsel zu lösen. Tony, du hast das Signal entdeckt. Ich denke, du solltest das übernehmen. Nimm bitte Kontakt mit Grotky auf und finde heraus, welche Annahmen zu dieser Signalform geführt haben! Oder ob er sonst eine Idee hat, was du gefunden hast.“

„Was?“ Tony war entsetzt. „Ich soll …? Bei allem Respekt, ich halte es für sinnvoller, die Signalanalyse weiterzuführen und …“

„Du hast selbst gesagt, das gleicht nichts, das wir kennen.“

„Ja, aber … Wir haben es doch noch nicht mal versucht.“ Aufgebracht fuchtelte sie mit den Armen herum. „Das Signal ist uns erst letzte Nacht ins Netz gegangen. Gib Nigel und uns allen doch erst mal ein bisschen Zeit, eigene Ansätze zu suchen, bevor wir Grotky ins Boot holen!“

Gray rückte die Brille zurecht und setzte ihren Schulmeister-Gesichtsausdruck auf. „Wenn es nur um uns ginge, würde ich dir zustimmen. Aber Livingston und alle anderen Arbeitsgruppen kennen das Signal auch. Willst du, dass uns von denen einer zuvorkommt?“

Offiziell gehörten Hanford und Livingston zur gleichen Kollaboration und sämtliche Teams, die sich mit Gravitationswellen beschäftigten, bildete eine große globale Gemeinschaft. Das verhinderte allerdings nicht die Existenz interner Rivalitäten und dass jeder neue Entdeckungen möglichst aufs eigene Konto verbuchen wollte.

„Natürlich werden Nigel und wir alle fortfahren, eigene Erklärungsansätze zu suchen“, fuhr Gray fort. „Aber wir sollten keine Chance ungenutzt lassen, den Prozess zu beschleunigen. Und dabei könnte Grotky uns helfen.“

„Ja, schon …“ Verzweifelt suchte Tony nach Argumenten. „Aber wäre es nicht besser, jemand anderen loszuschicken, um ihn zu suchen? Ich denke, ich kann bei den Analysen mehr bewirken als wenn ich …“

„Du gehörst zu den Dienstältesten im Team. Das verleiht dir mehr Autorität, wenn du Grotky triffst. Im Gegensatz zu den Jüngeren kennst du ihn noch von früher. Ich würde das ja selbst übernehmen, aber ich muss mir irgendwas einfallen lassen, das ich Professor Liu berichten kann. Ich denke, auch er würde es gutheißen, wenn jemand Erfahrenes dem nachgeht, und kein Neuling.“

Verschiedene weitere Gründe, warum sie diese Aufgabe unter gar keinen Umständen übernehmen konnte, rasten durch Tonys Hirn. Doch sie waren allesamt nur vorgeschoben und Gray würde das merken. Die Gruppenleiterin war so einiges, aber nicht dumm.

„Okay …“ Mit einem tiefen Seufzen gestand Tony ihre Niederlage ein. „Ich koordiniere noch Dave und die anderen, dann lege ich los.“

Gray nickte. „Danke. Und an alle: Urlaub und Wochenenden gibt es nicht, bis wir zumindest eine halbwegs plausible Erklärung gefunden haben. An die Arbeit!“

Allgemeines Stöhnen ging durch die Versammlung.

Es tröstete Tony nicht, dass ihre Kollegen ebenfalls leiden mussten. Ihre ursprüngliche Begeisterung, als sie das Signal entdeckt hatte, verflog zusehends.

Tag 3, Convention Center Reno, Nevada, USA

Niemals hätte Tony es für möglich gehalten, sich eines Tages an einen derartigen Ort zu begeben. Auf einem fernen Stern wäre sie sich kaum fremdartiger vorgekommen als hier inmitten von Horden überdrehter Teenager in freakigen Kostümen. Sie konnte nur ahnen, dass die zugegebenermaßen kunstvollen Verkleidungen Elfen, Orks und allerlei sonstige Fantasiegestalten darstellten. Sie selbst hatte früher auch gern entsprechende Filme angesehen und Bücher gelesen. Sogar das eine oder andere Computerspiel hatte sie ausprobiert. Aber sie war niemals auch nur in die Nähe davon gekommen, so etwas zum zentralen Inhalt ihres Lebens zu machen.

Die extravaganten Outfits der Besucher waren allerdings noch harmlos im Vergleich zum eigentlichen Zweck der Veranstaltung. Sich zu hunderten oder gar tausenden in riesigen Hörsälen zu versammeln, um frenetisch schreiend und kreischend zuzuschauen, wie auf der Bühne Einzelpersonen oder Teams in Computerspielen gegeneinander antraten, und das virtuelle Popcorn-Gemetzel auf kinoreifen Leinwänden zu verfolgen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, dafür auch noch horrende Eintrittsgelder zu bezahlen. Tony kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus.

Wenn sie geahnt hätte, dass dies hier die einzige Möglichkeit war, Grotky anzutreffen, hätte sie sich noch vehementer gegen diese Aufgabe gewehrt. Aber sein Wohnort war nicht öffentlich bekannt und die einzig verfügbare Anschrift eine Agentur, die Tonys Versuche, ein privates Treffen zu arrangieren, rigoros abgeblockt hatte. Ihr ehemaliger Kollege war offenbar zum VIP aufgestiegen. Was das mit seinem schon als Doktorand reichlich entwickelten Ego gemacht hatte, mochte Tony sich gar nicht ausmalen. Aber bevor sie ihm ihre Verachtung zukommen lassen konnte, musste sie sich erst mal durch den bonbonbunten Zirkus kämpfen, in dem sie gelandet war.

Abseits der Turniere, auf den Ständen der Sponsoren, wurden die Spieler von den Fans verehrt wie Filmstars oder Topmusiker. Autogrammstunden, gemeinsame Selfies sowie tiefschürfende Gespräche über Strategien und Manöver rundeten die Veranstaltung ab. Dank sorgsamer Vorbereitung anhand von Programmheften und Hallenplänen konnte Tony sich sicher durch das Gewühl zum Ziel ihrer Mission vorarbeiten. Sie seufzte, als sie die Schlange sah, die sie von der Person trennte, derentwegen sie das Spektakel ertrug. Schon eine halbe Stunde, bevor Samuel Grotky angemeldet war, um Poster, Spielehüllen und allerlei andere Gegenstände zu signieren, deren Zweck Tony teilweise nicht einmal erkannte, standen seine Groupies sich die Beine in den Bauch. Mit großem Hallo wurde der Held der Gamerszene schließlich begrüßt, als er sich mit zwanzigminütiger Verspätung endlich den Massen stellte. Am liebsten hätte Tony sich an den Wartenden vorbeigemogelt, aber eine ganze Kompanie bulliger Ordner sorgte dafür, dass niemand aus der Reihe tanzte. Denen zu erklären, dass sie hier war, um ein kosmisches Rätsel der Gravitationswellenastronomie zu lösen, und es eilig hatte, kam wohl nicht ernsthaft infrage. Also übte sie sich in Geduld, bis sie dran war.

„Hi“, grüßte Grotky sie, ohne aufzusehen. Erst, als sie ihm nicht, wie alle anderen, etwas vor die Nase legte, das er mit unleserlichem Gekritzel vollschmieren konnte, bedachte er sie mit einem geringschätzigen Blick. Doch schon nach wenigen Sekunden wich der verhaltene Ärger über die Verzögerung des Fließbandsignierens einem überheblichen Lächeln. „Ach guck! Wen haben wir denn da?“

„Hi, Sam.“

„Seit wann interessiert sich Tony Rodgers für Computerspiele?“

Für den überheblichen Ton hätte sie ihm am liebsten eine gescheuert. Aber das wäre sowohl für das Wohlwollen ihres Gegenübers als auch das der Ordner nicht förderlich. „Ich bin nicht wegen der Spiele hier. Können wir nachher irgendwo in Ruhe reden?“

Er breitete die Arme aus. „Ich hab hier ziemlich volles Programm.“ Sein Blick ging an ihr vorbei zu den übrigen Anstehenden, die langsam unruhig wurden, weil Tony ihr Idol länger als drei Sekunden beanspruchte. „Wenn das hier durch ist, hab ich vielleicht ein paar Minuten. Warte hier irgendwo!“ Mit einem Wink bedeutete er der Security, dass sie nicht auf der Stelle wieder verschwinden musste, sondern bleiben durfte. Sogar ein Stuhl wurde ihr gewährt, während sie wartete, dass Grotky seinen Pflichten nachkam.

Sie beobachtete, wie er routiniert sein Programm abspulte. Für jeden Fan ein paar nette Worte und eine Unterschrift. Er machte das nicht zum ersten Mal. Und er sah erstaunlich gut aus. Fast schon sportlich. Die kurzen Haare und der ordentlich getrimmte Bart standen ihm erheblich besser als die lange Mähne, die er früher getragen hatte. Dazu gepflegte Kleidung mit Hemd und legerem Sakko statt gammeligem T-Shirt und Trainingshose. Anscheinend war er doch noch erwachsen geworden. Zumindest äußerlich. Seinen Beruf konnte Tony immer noch nicht ernst nehmen, egal, wie viel er verdiente.

Schon damals, als er noch am LIGO gearbeitet hatte, hatte er sich intensiv mit Computerspielen beschäftigt. Für den Geschmack von Elisabeth Grays Vorgänger ein bisschen zu intensiv. Zusammen mit seinen fachlichen Eskapaden sowie seiner gewöhnungsbedürftigen Persönlichkeit hatte das zu seinem Rauswurf beigetragen. Aus finanzieller Sicht hätte ihm nichts Besseres passieren können. Endlich konnte er sich in Vollzeit mit seinen geliebten Spielen beschäftigen und hatte wider alle Wahrscheinlichkeit Karriere in der Szene gemacht. Und so, wie es aussah, war die noch nicht an ihrem Ende angelangt, trotz seines mittlerweile fortgeschrittenen Alters. Tony rechnete kurz nach. Er war damals äußerst jung zur Arbeitsgruppe gestoßen, gerade einmal Anfang zwanzig. Ein Wunderkind, das sein Studium in Rekordzeit abgeschlossen hatte. Insgesamt war er zwei oder drei Jahre bei LIGO gewesen. Das hieß, seine Profikarriere als Gamer hatte er mit Mitte zwanzig begonnen, einem Alter, in dem die meisten aus diesem Metier bereits wieder ausstiegen. Inzwischen war er demnach knapp dreißig und damit nach Tony und den Saalordnern vermutlich der Älteste auf dem gesamten Gelände, in jedem Fall aber unter den Aktiven. Eine lebende Legende in der Szene. Der Gaming-Opa.

Zur Vorbereitung auf das Treffen hatte Tony sich am Gate und im Flugzeug über Profigamer informiert. Der Grund für das geringe Durchschnittsalter in diesem Gewerbe war, dass die Reaktionsgeschwindigkeit bereits in den Zwanzigern abnimmt. Nicht dramatisch, aber ausreichend, um nicht mehr in der Spitzengruppe der Szene mithalten zu können. Dass Grotky sich immer noch gegen die Jüngeren behaupten konnte, war wohl ein weiterer Beweis für seine besonderen Fähigkeiten, die auch seine kurze wissenschaftliche Laufbahn geprägt hatten. Vom Wunderkind zum Gaming-Opa. Mal sehen, was als Nächstes kam.

In jedem Fall schon mal nicht er zu ihr, wie Tony entsetzt feststellen musste, nachdem die Fanschlange abgearbeitet war. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, verschwand er hinter der bunten Pappwand, die das Ambiente für seine Autogrammstunde bildete.

Tony sprang auf, wurde jedoch von einem Ordner gestoppt, bevor sie auch nur in die Nähe des Durchschlupfs gelangte. Sie wollte gerade protestieren, als Grotky wieder zum Vorschein kam, sich an den Signiertisch setzte und sie zu sich winkte.

Naserümpfend marschierte Tony an der Security vorbei und lehnte sich mangels weiterer Stühle an die Tischkante. Sie schluckte ihren Ärger herunter und zwang sich zu einem freundlichen Gesicht. „Scheint ganz gut für dich zu laufen, hm?“

Lässig fläzte er sich gegen die Stuhllehne. „Kann nicht klagen. Aber du bist nicht hergekommen, um mir deine Bewunderung zuteilwerden zu lassen, oder?“

Na gut. Sie hatte kein Problem damit, auf den Smalltalk zu verzichten. Stattdessen zog sie einen Ausdruck des geheimnisvollen Signals aus ihrem Rucksack und legte es vor ihn. „Deswegen bin ich hier.“

Er beugte sich vor und studierte das Diagramm. „Von wann ist das?“

„Vorgestern.“

„Hanford, Livingston und Deutschland?“

„Alle drei dasselbe Signal. Nur leicht zeitverschoben.“

„Passend zur Ausbreitungsgeschwindigkeit.“ Er nickte. „Und ihr habt keine Ahnung, was es ist.“ Letzteres war der Betonung der Worte zufolge keine Frage, sondern eine Feststellung. Grotky ließ von dem Papier ab, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ihr müsst echt verzweifelt sein, wenn ihr damit zu mir kommt.“

Tony bemühte sich, sein selbstgefälliges Grinsen zu ignorieren. „Nigel meinte, du hättest ähnliche Signale konstruiert. Wir wüssten nur gern, was für Annahmen du für diese Simulationen getroffen hast.“

„Ja, das wüsstet ihr gern.“ Genüsslich musterte er sie.

Angesichts seines Gebarens bekam ihre Selbstbeherrschung Risse. „Hilfst du uns oder nicht?“

„Ihr habt mich damals ausgelacht. Und jetzt kommst du angekrochen und bettelst mich an, euch zu erleuchten?“

Das reichte. Sie packte das Diagramm und stopfte es in ihren Rucksack, ohne Rücksicht darauf, dass das Papier dabei zerknüllt wurde. „Du bist so ein Arsch!“ Wutentbrannt stand sie auf und wandte sich zum Gehen.

„Tony!“, rief er ihr hinterher.

Mehrere Sekunden rang sie mit sich, ob sie reagieren sollte. Dann drehte sie sich zu ihm um. „Was?“

Auch er hatte sich erhoben und deutete auf ihren Rucksack. „Das ist was Großes, was ihr da habt. Aber ohne mich schafft ihr das nicht.“ Nun klang er fast versöhnlich.

Sie atmete mehrmals tief durch. „Dann sag mir, was es ist! Danach bist du mich los und wir gehen getrennte Wege.“

„So einfach ist das nicht. Ich habe eine Ahnung, was ihr da gefunden habt. Aber ich muss das überprüfen. Das kann ich aber nur mit Zugriff auf die LIGO-Rechner und die internen Datenbanken.“

„Dann komm mit mir! Gray gibt dir alles, was du brauchst.“

„Gray?“ Er zog die Stirn kraus. „Lizzy Gray? Die ist jetzt der Boss?“

„Sie leitet die Arbeitsgruppe.“

Er lachte laut auf. „Ach du Scheiße! Kein Wunder, dass ihr Hilfe braucht.“ Diese Aussage machte ihn beinahe sympathisch. „Also gut. Sobald ich hier fertig bin, komme ich nach Hanford.“

Erleichterung durchströmte Tony. „Danke.“

Grotky hob warnend den Zeigefinger. „Bedank dich nicht zu früh! Wenn sich bestätigt, was ich vermute, wird das für euch alle schwer zu verdauen.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du schaust zehn Sekunden lang auf das Diagramm und hast schon eine Hypothese?“

„Klar.“ Er nickte. „Deswegen bist du doch zu mir gekommen.“

„Entweder bist du der arroganteste Hochstapler, den ich kenne …“

„… oder das Genie, das euch aus der Patsche hilft.“ Erneut grinste er von einem Ohr bis zum anderen.

Tony schüttelte den Kopf. „Wir sehen uns in Hanford.“ Sie holte eine Visitenkarte aus ihrer Jackentasche. „Ich besorge dir einen Besucherausweis. Ruf an, wenn du da bist! Dann bringe ich dich aufs Gelände.“

Grotky nahm die Karte und zwinkerte ihr zu. „Freu mich schon drauf.“

Ob diese Freude beidseitig war, durfte getrost bezweifelt werden.

Tag 5, Gravitationswellendetektor LIGO, Hanford, Washington, USA

Die Gereiztheit im Besprechungsraum wuchs stetig. Nicht nur Elisabeth Gray schaute immer öfter auf ihre Uhr.

„Ob er uns heute noch mit seiner Anwesenheit beehren wird?“ Dave sprach aus, was sie wohl alle dachten.

Dass sein Blick dabei Tony traf, entging ihr nicht. Nur weil sie Grotky aus Reno hergeschleppt hatte und seit seiner Ankunft gestern Abend ihr Büro mit ihm teilte, wurde sie nun implizit für sein Handeln verantwortlich gemacht. Dabei war es Gray gewesen, die überhaupt veranlasst hatte, ihn um Hilfe zu bitten. Diese Kleinigkeit wurde geflissentlich ignoriert.

Mit entnervtem Stöhnen klemmte Tony ihre losen Haare hinters Ohr, holte ihr Mobiltelefon hervor und schickte ihm eine Nachricht. Immerhin kam die Antwort umgehend.

„Er ist unterwegs“, grummelte sie in die Runde.

Bis die Tür sich öffnete und er eintrat, vergingen trotzdem noch einmal mehrere Minuten.

„Hi.“ Mit missmutiger Miene stellte Grotky fest, dass sich der einzige freie Platz im Raum neben Gray befand. Kurzerhand nahm er sich den Stuhl, zog ihn fast um den halben Tisch und quetschte ihn neben Nigel, bevor er sich setzte. Sichtlich besser gelaunt, klappte er seinen Laptop auf und sah in die Runde. „Soll ich gleich loslegen?“

Gray schien einen Moment zu überlegen, ob sie ihn nicht doch lieber auf der Stelle rauswarf, ehe sie ihm mit einer knappen Geste bedeutete zu beginnen.

Er duplizierte seine Anzeige auf den Wandbildschirm. „Das hier ist das Signal, das ihr vor vier Tagen reinbekommen habt. Und das hier …“ Die Darstellung wechselte auf eine ganz ähnliche Kurvenform, allerdings ohne das typische Rauschen realer Daten aus dem Detektor. „… habe ich vor fünf Jahren berechnet, bevor ihr mich rausgeworfen habt.“

Als er eine dramatische Pause einlegte, rang Gray sich widerstrebend zu der Frage durch, die er offensichtlich erwartete. „Und was ist das?“

Grotkys Freude darüber, dass die Besprechung seiner Choreografie folgte, war unverkennbar. „Das, meine geschätzten Ex-Kollegen, ist die Entsprechung eines Machschen Kegels, nur eben als Gravitationswelle.“

An der Entgleisung der Gesichtszüge konnte man genau erkennen, in welcher Reihenfolge den Anwesenden die Bedeutung seiner Aussage bewusst wurde.

„Das …“ Nigel überwand die allgemeine Sprachlosigkeit als Erster. „Es gibt keinen Machschen Kegel bei Gravitationswellen. Das funktioniert nur bei Schallwellen, wenn die Geräuschquelle sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegt. Aber Gravitationswellen breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Und nichts bewegt sich schneller als das Licht, also auch keine Quelle von Gravitationswellen.“

„Tja.“ Grotky breitete die Arme aus. „Das dachten wir zumindest bis heute. Aber es ist die beste Erklärung für das, was ihr gefunden habt.“

„Moment!“ Gray zog das Gespräch wieder an sich, bevor es ihr vollends entglitt. „Nur, damit ich das richtig verstehe … Ein Machscher Kegel entsteht zum Beispiel bei überschallschnellen Flugzeugen, wenn der ausgesandte Schall sich langsamer fortpflanzt, als das Flugzeug fliegt. Dann überlagern sich die einzelnen Schallwellen zu einer kegelförmigen Wellenfront, die das Flugzeug hinter sich herzieht.“

„Genau“, bestätigte Grotky. „Und wenn einen diese Wellenfront trifft, nachdem das Flugzeug über ihn hinweggeflogen ist, hört man den allseits bekannten Überschallknall. Ähnlich bei Schiffen. Die ziehen Bugwellen hinter sich her, die dann gegen das Ufer schwappen, auch wenn der Mechanismus im Detail anders ist als beim Machschen Kegel. Aber prinzipiell funktioniert das bei allen Arten von Wellen, auch bei Gravitationswellen.“

„Mit der Einschränkung, dass Gravitationswellen sich, wie Nigel bereits festgestellt hat, mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten.“ Gray hielt einen Augenblick inne, ehe sie fortfuhr: „Die Signalform, die du modelliert hast, würde also entstehen, wenn etwas mit Überlichtgeschwindigkeit an der Erde vorbeifliegt und dabei Gravitationswellen aussendet. Ein Überschallknall aus Gravitationswellen.“

„Genau. Ich fand das damals witzig. Hab viel rumgespielt. Hätte zugegebenermaßen nicht erwartet, dass ihr so was jemals findet. Wegen Einstein und seiner Relativitätstheorie und so. Schneller als Licht geht demnach ja angeblich nicht. Aber jetzt ist es da. Oder zumindest etwas ziemlich Ähnliches.“ Er schaltete die Präsentation weiter. Ein neues Diagramm erschien an der Wand, wieder eine Simulation, doch diesmal war die Übereinstimmung mit dem gemessenen Signal noch ein bisschen deutlicher. „Das hier habe ich vorhin gebastelt. Deshalb die Verspätung.“

Erneut hielt er inne und beobachtete genüsslich die Versammlung.

Gray war anzumerken, dass sie kurz davor war zu platzen.

So sehr Tony sich auch daran weidete, ihre ungeliebte Vorgesetzte leiden zu sehen, wollte sie jetzt doch die ganze Geschichte hören und nicht riskieren, dass Gray Grotky vorzeitig den wohlverdienten Arschtritt verpasste. „Und was stellt das dar?“

Der Gamer bedachte Tony mit einem enttäuschten Seitenblick. Es war klar, dass er die Frage aus Grays Mund hatte hören wollen. Aber er steckte die Niederlage weg. „Ich habe die Grundannahmen meiner alten Modelle variiert, so dass sie besser zu den Messwerten passen. Klassischer Parameterfit. Bin noch nicht fertig. Ist viel Arbeit. Aber zumindest die Geschwindigkeit habe ich schon mal grob abschätzen können. Die beste Korrelation wird für Werte zwischen dreieinhalb und fünf c erreicht.“

„Drei- bis fünffache Lichtgeschwindigkeit?“ Elisabeth Gray war nicht für ihre Neigung zu emotionalen Ausbrüchen bekannt, aber das war jetzt offenbar zu viel. „Willst du uns verarschen?“

Mit Unschuldsmiene sah er sie an. „Ich beantworte nur eure Fragen. Ihr wolltet wissen, anhand welcher Annahmen ich damals meine Modellierungen vorgenommen habe. Bitte! Das waren sie.“

„Fünffache Lichtgeschwindigkeit!“, wiederholte sie. „Hast du zu viel Star Trek geschaut?“

Er ließ sich von ihrem herausfordernden Tonfall nicht beeindrucken. „Mir ist absolut bewusst, dass das verdammt dünnes Eis ist. Dass das Lichtgeschwindigkeits-Tempolimit eine heilige Kuh der Physik ist. Aber es ist die beste Erklärung für eure Messungen, die ich liefern kann. Wenn ihr was Besseres habt … Nur zu! Ich bin ganz Ohr. Aber allein schon die Tatsache, dass ihr mich hergeholt habt, zeigt, dass ihr vollkommen im Dunkeln tappt.“

Während Gray um ihre Fassung rang, nutzte Tony die entstehende Pause, um das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurückzuführen. „Wie hoch ist die Korrelation zwischen der Simulation und den Daten?“

„Etwas über achtzig Prozent“, erwiderte Grotky. „Noch nicht überragend, aber mit weiteren Feineinstellungen wird das bestimmt noch besser.“

Die Gesichter um sie herum zeigten wahlweise Enttäuschung oder Erleichterung.

Bei Elisabeth Gray war es Genugtuung. „Achtzig Prozent! Das ist verdammt weit von allem entfernt, was mich dazu veranlassen könnte, solche Hypothesen ernst zu nehmen. Das sind ja nicht mal Hypothesen. Spekulationen, das trifft es besser. Und nicht mal gute.“

Ihre fortgesetzten Provokationen nagten sichtlich an Grotkys Selbstbeherrschung. „Ich wühle mich gerade durch fünf Jahre alte Modelle und hatte noch keine Zeit für eine detaillierte Analyse. Was erwartest du denn?“

„Jedenfalls nicht so einen Star-Trek-Scheiß! Fünffache Lichtgeschwindigkeit! Wir betreiben hier Wissenschaft, keine Science Fiction! Genau wegen so einem Mist bist du damals aus der Gruppe geflogen.“

„Und jetzt fällt euch genau dieser Mist direkt vor die Füße.“ Er erhob sich. „Ich behaupte nicht, dass das, was ich modelliert habe, der Realität entspricht. Aber es passt verflucht gut zu den Daten. Ich denke, es wäre ein guter Ansatz, um weitere Nachforschungen anzustellen. Aber wenn ihr das nicht wollt, dann macht eben alleine weiter!“ Schwungvoll klappte er seinen Laptop zu und verließ den Raum.

Schweigen legte sich über die Versammelten.

Gray mahlte mit den Kiefern. „Ich schlage vor, wir begeben uns wieder an die Arbeit.“ Sie deutete auf den nun dunklen Bildschirm. „Dafür gibt es mit Sicherheit eine plausiblere Erklärung. Wir müssen sie nur finden.“

Mit diesen Worten war die Sitzung beendet. Statt der üblichen Gespräche begleitete eisiges Schweigen den allgemeinen Aufbruch.

Tony beeilte sich, als eine der Ersten rauszukommen, und steuerte ihr Büro an. Grotky war noch da, aber zu ihrer Überraschung packte er nicht seine Sachen, sondern hockte wieder am Rechner auf seinem improvisierten Schreibtisch und malträtierte die Tastatur.

„Ich dachte, du haust ab.“

Er wandte sich ihr zu. „Bin ich bekloppt? Auch wenn Lizzy es nicht wahrhaben will, meine Modelle sind korrekt. Und sie passen einfach viel zu gut zu den Messungen, um total danebenzuliegen. Selbst mit achtzig Prozent Korrelation. Die übrigen zwanzig kriege ich auch noch hin.“ Sein Grinsen kehrte zurück, aber dieses Mal fehlte die Überheblichkeit darin.

Sie setzte sich neben ihn und betrachtete den Monitor. „Was du gerade gezeigt hast … Das war wirklich keine Verarsche?“

„Keine Verarsche. Nur Physik. Wenn auch mit unkonventionellen Annahmen.“

„Der Überlichtgeschwindigkeit.“

„Genau die. Abgesehen davon ist alles Standard. Keine weiteren Tricks.“

„Du meinst also, da wäre etwas an der Erde vorbeigerast. Fünfmal so schnell wie das Licht.“

„Größenordnungsmäßig. Ja. Genaueres müssen die weiteren Berechnungen zeigen. Ist alles noch ziemlich vage.“

„Du machst also weiter? Lässt dich nicht von Gray abschrecken?“

Er lehnte sich zurück und sah ihr in die Augen. „Wenn das, dem wir da auf der Spur sind, auch nur annähernd das ist, was meine Berechnungen andeuten, dann könnte das die größte wissenschaftliche Entdeckung des Jahrhunderts werden. Oder noch mehr. Dir brauche ich das wohl nicht zu erklären. Denkst du wirklich, so etwas lasse ich mir entgehen? Oder wegnehmen? So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Lass Lizzy zetern und toben! Aber diesmal kriegt sie mich hier nicht weg.“

„Keine gutbezahlte Gamerkarriere mehr?“

„Scheiß auf Gaming.“ Er machte eine Geste in Richtung des Laptops. „Dieses Spiel hier ist viel größer. Und ums Geld ist es mir nie gegangen. Nicht in erster Linie zumindest. Das hier ist mein Freifahrtschein in die oberste Liga. Veröffentlichungen, Prime Time Nachrichten, das volle Programm. Mehr als ich im Gaming je erreichen könnte.“

„Du willst den Ruhm.“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Dafür wurde ich geboren.“ Er wurde wieder ernst, als er ihre Zurückhaltung erkannte. „Wenn an dem hier etwas dran ist, bringt mich das bis Stockholm.“

„Nobelpreis?“

„Na klar. Und du, Tony, wirst direkt neben mir stehen, wenn wir ganz oben angekommen sind. Du hast das Signal als Erste entdeckt und nicht für einen Messfehler gehalten. Wenn ich recht habe und es ist wirklich was Großes, dann gebührt dir nicht weniger Ruhm als mir. Lass dir das nicht von Gray oder irgendwem anderem wegschnappen! Okay?“

Nur langsam sickerte in ihr Bewusstsein ein, was er da sagte. „Okay.“

„Na dann! An die Arbeit! Ich bastele neue Modelle und du vergleichst sie mit den Daten. Wir haben viel zu tun.“

„Glaubst du, Gray wird dich hier weiter dulden, nach dem, was da eben gelaufen ist?“

Er verzog das Gesicht. „Von der lasse ich mich nicht aufhalten.“

„Ohne Zugriff auf die internen Rechner kannst du die Arbeit aber kaum fortführen.“

„Dann brauche ich wohl jemanden, der mir einen VPN-Zugang zur Verfügung stellt, damit ich auch von außerhalb weitermachen kann.“ Der Blick, den er ihr zuwarf, changierte irgendwo zwischen verschwörerisch und treuer Hund.

„Du willst mein VPN nutzen? Das wird nicht funktionieren. Die kontrollieren, ob der Zugriff von einem institutseigenen Rechner erfolgt oder nicht.“

„Dann brauche ich wohl deinen Laptop.“

„Bist du …? Nein! Womit soll ich dann arbeiten?“

„Ich nehme ihn nur, wenn du ihn nicht brauchst.“

„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich dir den Laptop jedes Mal vorbeibringen, wenn ich was anderes mache?“

„Wäre natürlich hilfreich, wenn wir möglichst nah beisammen wären.“

Eine ungute Ahnung beschlich Tony. „Wie nah?“

„Wo wohnst du?“

„Richland, knapp zwanzig Meilen von hier.“

Er hob die Achseln. „Hast du ein Sofa, auf dem ich pennen könnte?“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Nobelpreis …“ Er wedelte mit den Händen.

Sie stöhnte laut und sackte in sich zusammen. „Hast du eine Katzenhaarallergie?“

„Nicht, dass ich wüsste. Warum? Hast du eine Katze?“

Tony nickte. Ihre letzte Hoffnung, eine Ausrede dafür zu finden, ihm die Gastfreundschaft zu verwehren, war dahin.

Es widerstrebte ihr zutiefst, sich mit Samuel Grotky zusammenzutun. Und ihn auch noch in ihre Wohnung zu lassen. Aber sie befürchtete, ohne ihn hätte sie keine Chance, das Rätsel um das geheimnisvolle Signal zu lüften, unabhängig davon, ob es von ominösen überlichtschnellen Objekten stammte oder doch etwas anderes dahintersteckte. Also blieb ihr wohl keine Wahl, als seine Egomanie und sonstigen Spleens zu ertragen. Was opferte man nicht alles für die Wissenschaft?

Tag 7, Richland, Washington, USA

Immer noch schlaftrunken betrat Tony das, was Grotky aus ihrem Wohnzimmer gemacht hatte. Dafür, dass er nur mit einem Rucksack bei ihr eingezogen war, hatte er sich erstaunlich weit ausgebreitet. Irrsinnig groß war ihre Wohnung zwar zugegebenermaßen nicht – gerade genug Platz für einen dauerhaften Bewohner –, aber dennoch erforderte es ihrer Ansicht nach eine wohldurchdachte Strategie, mit derart wenig Gepäck so viel Fläche zu annektieren. Wenigstens konnte ihr nun keiner ihrer seltenen Besucher mehr vorwerfen, die Einrichtung wäre steril. Der einzige Ziergegenstand war einer der Pokale ihres Vaters, ein kitschiges vergoldetes Rennauto mit einem Siegerkranz oben drauf. Und auch der stand eher dezent in einer Ecke. Doch den Mangel an Stehrümchen und sonstiger Deko glich ihr neuer Dauergast mit seiner invasiven Okkupation locker aus. Inmitten seiner Habseligkeiten hockte er in kurzer Hose und T-Shirt auf dem Sofa, ihren Laptop auf dem Schoß, und bearbeitete die Tastatur. Tonys Kater Eddie beobachtete den Eindringling in sein Revier von der Fensterbank aus, wagte jedoch nicht, Protest zu äußern. Als er seine gewohnte Mitbewohnerin erspähte, kam er zu ihr, wählte dafür allerdings den Weg, der ihm die größte Distanz zu Grotky gewährte. Bei ihr angekommen, schnurrte er so lang um ihre Beine, bis sie ihn hochnahm und streichelte. Ihr Gast nahm von all dem keinerlei Notiz.

Seit der Trennung von ihrem letzten Freund hatte Tony sich immer gewünscht, wieder Herrenbesuch zu empfangen. Aber Grotky war nicht, was sie erhofft hatte. Ja, optisch hatte sein Abstecher in die Gamerszene ihm durchaus gutgetan. Dort schien er gelernt zu haben, wie gesittete Kleidung aussah und dass man einen Bart auch in eine gepflegte Form trimmen konnte. Und seine Statur deutete darauf hin, dass er neben dem Gaming genügend Zeit für ein Fitnessprogramm fand. Aber er blieb dennoch Grotky. Unabhängig davon, wie er sich nun zeigte, würde Tony nie den ungewaschenen Schrat vergessen können, als der er damals in die LIGO-Gruppe gekommen war. Außerdem war er ein paar Jahre zu jung für sie. Nein, er war eindeutig nicht der Mann, den sie sich als Bereicherung ihres Lebens ersehnte.

Seinem Verhalten nach zu urteilen, beruhte das sexuelle Desinteresse auf Gegenseitigkeit. Erst als sie ein „Morgen“ von sich gab, schien er sie zu bemerken und schaute auf. „Oh. Hi, Tony. Morgen.“ Sein Blick wanderte von unten nach oben über ihren Körper und verharrte für einen Sekundenbruchteil auf ihren Haaren. Dann wandte er sich eilig wieder dem Monitor zu.

Zu Hause hatte Tony sich angewöhnt, ihre Frisur nicht in einem Pferdeschwanz zu bändigen, sondern in vier offenen Zöpfchen, die mehr oder weniger gleichmäßig über ihren Kopf verteilt waren. Auf diese Weise verhinderte sie die permanenten Fluchtversuche ihrer Haare. Das Ergebnis sah allerdings verboten aus, so dass sie diese Methode in der Öffentlichkeit tunlichst vermied. Aber da Grotky in ihrer Zwangs-WG offenbar ebenfalls wenig Wert auf sein Erscheinungsbild legte, würde er den Anblick wohl ertragen.

Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, Eddie weiter auf dem Arm. „Hast du die ganze Nacht gearbeitet?“

„Klar. Tagsüber brauchst du den Rechner ja. Aber es hat sich gelohnt. Schau dir das an!“

---ENDE DER LESEPROBE---