ANTISEMITISMUS HEUTE -  - E-Book

ANTISEMITISMUS HEUTE E-Book

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Beschreibung

Michael Wolffsohn wurde geboren in Israel und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität in München. In den vergangenen Jahren ging es ihm vermehrt um den von muslimischen Einwanderern mitgebrachten neuen Judenhass. Woher kommen diese archaischen Vorurteile einer Minderheit gegenüber, deren Anteil an der Weltbevölkerung gerade einmal 0,2 Prozent beträgt?Das Gespräch mit Michael Wolffsohn erfolgte im Rahmen der Sendung "Kontext" bei Radio SRF 2 Kultur. Die Fragen stellte Susanne Schmugge.Beigefügt ist Gotthold Ephraim Lessings berühmtes dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Nathan der Weise.

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zeitfragen

Antisemitismus heute

Michael Wolffsohn im Gespräch

Ergänzt mit Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise – Ideendrama in fünf Akten. 1779 erstmals veröffentlicht, 1783 in Berlin uraufgeführt.

kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Susanne Schmugge

Transkription eines Interviews bei Radio SRF 2 Kultur, vom 11.11.2019

Medien beschreiben ihn zuweilen als streitbar. Er sei einer, der anecke und sich gerne zwischen alle Stühle setze. Die Rede ist vom Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn. Geboren in Israel, lebt er seit Jahrzehnten in Deutschland. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität in München, hat dort gelehrt und geforscht, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012.

Michael Wolffsohn hat diverse Bücher geschrieben: über Israel, über deutsch-jüdische Beziehungen, über das Verhältnis von Christen und Juden und eines über die Geschichte seiner Familie.

Seit er als junger Mann nach dem Militärdienst in Israel zurück nach Deutschland kam, mischt er sich ein. Er war einer der Ersten, der den Antisemitismus in der DDR erforschte und der früh erkannte, dass es auch unter westdeutschen 68ern einen linken Antisemitismus gab. Und auch mit der Emeritierung ist Michael Wolffsohn kein bisschen leise geworden.

In den vergangenen Jahren ging es ihm vermehrt auch um den von muslimischen Einwanderern mitgebrachten neuen Judenhass. Woher kommen diese archaischen Vorurteile gegenüber einer Minderheit, deren Anteil an der Weltbevöl­kerung gerade mal 0,2 Prozent beträgt? Fragen, die Michael Wolffsohn immer wieder und auch ganz aktuell beschäftigen.

Soeben erschienen ist sein neuestes Buch «Tacheles». Und da beschäftigt er sich mit den vielen Zerrbildern von und über Juden. Ende 2019 war Michael Wolffsohn in Zürich. Dort entstand das Interview mit Susanne Schmugge beim Schweizer Radio SFR2.

Susanne Schmugge:

In Ihrem neuesten Buch «Tacheles» geht es um Vorurteile und Projektionen gegenüber Juden – negative wie positive. Es gibt da ein Zitat, dass Juden häufig mit dem positiven Vorurteil konfrontiert seien, sie hätten den Bonus, klug und intellek­tuell zu sein, und würden als Experten zu allen möglichen Themen befragt.

Michael Wolffsohn:

Solche Klischees sind natürlich «wunderbar». Als Jude wäre man dann sozusagen das Genie vom Dienst, was völlig absurd ist – ein absurdes Theater. Es gibt positive und negative Klischees, und dann sucht man sich das Klischee à la carte aus, je nachdem, wo man politisch steht. Nein, was ich damit meinte, war, dass es aus psychologisch und historisch nachvollziehbaren Gründen viele Nichtjuden gibt, die Angst haben, Dinge beim Namen zu nennen. Wenn sie etwa jemanden einen jüdischen Deppen nennen, fürchten sie, dass ihnen das Signum des Antisemiten angeheftet wird. Wir haben also eine verkrampfte Situation, und ich versuche seit Jahrzehnten – freilich vergeblich wie Don Quijote – eine Entkrampfung im jüdisch-nicht­jüdischen Dialog zu bewirken.

Susanne Schmugge:

Wir wissen alle, dass es diesen alten europäisch-abendlän­dischen Antisemitismus gibt wegen des Weltjudentums, der jüdischen Finanzelite und so fort. Dass dieser jedoch heute, im Jahr 2019, bei uns in tödliche Gewalt umschlägt, erstaunt mich. Ich dachte, das sei weitgehend vorbei. Und dann, vor einem Monat, dieser Anschlag von Halle. Ich lag da offenbar völlig falsch.

»Aus psychologisch und historisch nachvoll­zieh­baren Gründen gibt es viele Nichtjuden, die Angst haben, Dinge beim Namen zu nennen.«

Michael Wolffsohn:

Nein, nicht nur sie. Aber diejenigen, die überrascht waren, sollten überrascht sein ob der Überraschung, denn der Rechtsextremismus war ja nie wirklich tot.

Wir müssen auf zwei Varianten des Antisemitismus blicken. Es gibt einen diskriminatorischen Antisemitismus, und es gibt einen liquidatorischen Antisemitismus. Der liquidatorische will die Liquidierung des Juden, weil er ein Jude ist. Der diskriminierende Antisemitismus diskriminiert «nur». Diskriminierung ist unerfreulich, unmenschlich und nicht akzeptabel, aber sie lässt auf jeden Fall den Juden am Leben. Das ist keine Beschönigung und keine Verniedlichung des diskriminatorischen Antisemitismus, aber es gibt einen Unterschied.

Jetzt haben wir aber eine allgemein viel gewalttätigere gesellschaftliche Situation, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Und warum sollen dann aus der rechtsextremistischen Sicht die Rechtsextremisten auf dieses Instrument verzichten?

Susanne Schmugge:

Sie setzen quasi den rechtsextremen, gewalttätigen Judenhass gleich mit dem muslimischen?

Michael Wolffsohn:

Aber selbstverständlich! In einer globalisierten Mediengesellschaft ist doch völlig klar, dass Muster übernommen werden. Wenn ein rechter, linker oder muslimischer Antisemit mit liquidatorischen Absichten in Frankreich sieht, dass man – mit welchem Instrument auch immer – einer Knarre oder einem Messer – Juden umbringen kann, dann wird das ein liquidatorischer Antisemit in Deutschland und vielleicht sogar in der Schweiz oder woanders auch tun. Das ist überhaupt keine Überraschung. Die Überraschung ist nur, dass diejenigen, die sich professionell mit solchen Fragen beschäftigen müssen wie Politik- und Sicherheitsbehörden, hiervon überrascht waren. Und das halte ich für ein schlicht und ergreifend handwerk­liches Versagen.

Susanne Schmugge:

Sie haben nach dem Anschlag von Halle gesagt, die drei Feinde der jüdischen Gemeinschaft, oder auch der offenen Gesellschaft, seien Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus: lauter Ismen. Von welcher Gruppe geht die größte Gewaltgefahr aus?

Michael Wolffsohn:

Das wissen wir aus Erfahrung, auch wenn durch den Terror­akt von Halle die Diskussion wieder fokussiert wird auf den Rechtsextremismus.

Wir haben diese drei extremistischen Gefahrenquellen für die offene Gesellschaft. Jetzt kommen wir auf die Makroebene und müssen abwägen. Da zeigen alle Indikatoren der letzten Jahre ganz eindeutig, dass der muslimische Extremismus – nicht nur gegen Juden, sondern ganz allgemein – der gefährlichste ist.

Das kann eindeutig belegt werden, sowohl in Frankreich als auch Deutschland oder sonst wo. Vor genau einem Jahr gab es eine Studie der Europäischen Menschenrechtsagentur. Dort wurden 17 000 Juden befragt, von wem sie in den letzten Jahren am häufigsten mündlich bedroht worden sind oder körper­liche Gewalt erfahren haben. Mit ungefähr 40 Prozent wurde eindeutig an erster Stelle die muslimische Quelle genannt, an zweiter Stelle, mit ca. 20 Prozent, die linke Szene und mit ca. fünfzehn Prozent die Rechtsextremisten.

Dann gibt es eine Umfrage des renommierten amerikanischen Umfrageinstituts PEW in neun oder zehn europäischen Staaten mit praktisch derselben Fragestellung. Da wurden Nichtjuden befragt, von welcher Seite sie in den letzten Jahren die stärkste Gefahrenquelle nicht nur erwartet, sondern konkret erlebt hatten. Auch da wies an erster Stelle das Resultat eindeutig auf die muslimische Gefahr hin. Danach folgte «links» und an dritter Stelle «rechts».

Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wenn Medien, Politiker und Stammtisch sagen, die größte Gefahr komme von rechts, kann ich das historisch und psychologisch verstehen. Denn der Holocaust, der bekanntlich von Rechtsextremisten – also den deutschen Nationalsozialisten – verübt worden ist, war kein muslimisches und auch kein linkes Phänomen.

Susanne Schmugge:

Nach Halle hieß es ja in Deutschland immer, die rechtsextreme Gewalt werde vernachlässigt. Die Zahlen zeigen aber etwas anderes. Das geht auch in die Richtung dessen, was sie gesagt haben: dass die rechtsextremen Übergriffe überschätzt und die von muslimischer Seite unterschätzt werden. Warum tut man sich offenbar in Deutschland so schwer, das Kind beim Namen zu nennen?

Michael Wolffsohn:

Man muss es eindeutig historisch, psychologisch verstehen, und es ist politische Dummheit – aber in bester Absicht. Das muss man fairerweise hinzufügen! Das Benennen von Muslimen im Zusammenhang mit Antisemitismus kommt sofort in den Geruch des Rassismus. Das ist sozusagen gegen die DNA der Bundesrepublik. Es gehört in Deutschland zur Staatsraison, dass Intoleranz gegen Herkunftsgruppen – welcher Art auch immer – nicht akzeptabel sein darf. Das finde ich sehr ehrenwert.

Susanne Schmugge:

Aber es hat offenbar eine Kehrseite, die vielleicht dazu führt, dass man auf einem Auge ein bisschen blind ist.

Michael Wolffsohn:

Richtig! Da haben wir ja nun Gott sei Dank Dichter, Schriftsteller und Denker, die intensiver denken als Politiker, Journalisten und Professoren.

Nehmen Sie den Mephisto in Goethes Faust. Mephisto ist der Geist, der stets das Böse will und doch das Gute schafft. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das umgekehrte Phänomen. Wir haben den Geist, der stets das Gute will und doch das Böse schafft. Nämlich in diesem Falle hier wird eine Statistik präsentiert, die aus politisch-pädagogischen Gründen eine nicht vorhandene Wirklichkeit erfassen soll. Wenn also irgendein Rechtsextremer jemanden, der nicht orientalischer Herkunft ist, als altes Judenschwein bezeichnet und «Heil Hitler» beifügt, ist das ganz klar rechtsextremistischer Antisemitismus. Wenn also ein Moslem – auf der Straße in Zürich, Berlin oder sonst wo – einerseits Allahu Akbar sagt und dazu jemanden, weil er Jude ist oder hebräisch spricht, als Judenschwein oder miesen Zionisten beschimpft, so ist das nicht Antisemitismus in der Statistik, sondern politisch motivierte Kriminalität.

Das heißt, sie haben Antisemitismus nur auf eine zum Teil gar nicht empirische Grundlage gestellt. Dann ist es in der Politik und Sicherheitspolitik noch schlimmer als in der Medizin, wenn Ärzte eine falsche Diagnose stellen – dann ist die Therapie aussichtslos. Und wenn ich mit einer solchen Statistik an den Antisemitismus herangehe, muss oder kann ich mir einbilden, dass ich ihn irgendwie in den Griff bekommen kann.

Susanne Schmugge:

Man tut quasi den muslimischen arabisch inspirierten Anti­semitismus ein bisschen schönreden oder kleinreden. Ich habe manchmal den Eindruck, diese Form von Antisemitismus, die ja häufig auch als Antizionismus oder als heftiger Affront gegen den Staat Israel daherkommt, sei «unverstellter» und darum auch unkorrigiert gewalttätiger als der alteuropäische, der heute in Deutschland, eben vielleicht auch aufgrund der Geschichte, viel kontrollierter daherkommt und nicht nur in Gewalt ausartet.

Michaele Wolffsohn:

Richtig, deswegen gab es ja immer auch den Salon-Antisemitismus, der durchaus den Nationalsozialismus einschließlich der Judenmorde billigte, und andere eben nicht billigte, weil das ja nicht fein war. Juden diskriminieren ja, aber Juden liquidieren nein. Das wurde nur den Unterschichten zugemutet, ein vulgärer Antisemitismus – nein, man war anständiger Antisemit.

In Bezug auf den muslimischen Antisemitismus muss man zwei Quellen unterscheiden: zum einen die traditionelle, religiöse Dimension und zum anderen den Nahostkonflikt – das ist ein Stimulus schlechthin.

Dadurch, dass wir – und ich sage das in keiner Weise anklagend – einen immer größer gewordenen Teil von Muslimen aus arabisch-islamischen Regionen in Westeuropa und Deutschland haben, haben wir den Nahostkonflikt importiert. Der Nahostkonflikt ist, wie jedermann weiß, gewalttätig. Die jüdische Gemeinschaft identifiziert sich zweifellos – und zu Recht – sehr stark mit Israel. Das heißt nicht, dass sie unloyale Staatsbürger sind, ganz im Gegenteil! Aber sie haben eine stärkere Bindung an Israel als beispielsweise an Neuseeland. Deswegen werden sie von Muslimen wahrgenommen als der verlängerte Arm des Staates Israel.

Was liegt also aus ihrer Sicht näher, als sich zu sagen, dass sie sich leichter einen Juden, der mit oder ohne Kippa herumläuft, schnappen können, als etwa Benjamin Netanjahu oder den israelischen Generalstabschef.

Wir haben also auf diese Weise den gewalttätigen Nahostkonflikt hier bei uns importiert, und das bringt mich auf einen ganz wichtigen Punkt. Ich werbe nicht für Judenliebe – das ist genauso ein Klischee. Man muss uns nicht lieben. Man darf und soll individuelle Juden sehr mögen, schätzen oder lieben, aber auch kritisieren dürfen. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für Nichtjuden.

Aber kommen wir zurück auf die Makroebene. Der Antisemitismus ist die größte Dummheit der Antisemiten, denn sie schaden sich selbst. Klassisches Beispiel ist das Deutschland im Dritten Reich. Was da an Intelligenz und Wissen verloren ging, war selbstverschuldet. Im Neuhochdeutschen nennt man das Braindrain – den Abzug von Verstand.

Der Großteil der Juden wanderte in die Vereinigten Staaten aus, das war die Grundlage für die Wissens- und Wissenschaftsexplosion in den Vereinigten Staaten. Das heißt, das Vertreiben der jüdischen Intellektuellen aus Deutschland brachte dem Aufnahmeland riesige Vorteile.

Das können Sie in der Geschichte weiter zurückverfolgen. Im Mittelalter des 14. Jahrhunderts wurden Juden aus West- und Zentraleuropa vertrieben. Kasimir der Große von Polen nahm sie auf, und die polnische Gesellschaft und Wirtschaft fing an zu blühen. Nehmen Sie Spanien und Portugal. Spanien vertrieb die Juden um 1492, Portugal um 1497. Das war die Zeit, als Spanien auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Doch danach kam der relativ schnelle Abstieg. Was ist da passiert? Man hatte die Intellektuellen – Juden oder nicht –, die bürgerlichen Leistungsträger vertrieben. Das war ein sich selbst zugefügter immenser Schaden. Kurzum, wenn man einen großen Teil der Leistungselite beschädigt und vertreibt, schadet man sich selbst nach dem Spruch: Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.

Susanne Schmugge:

Noch einmal zum Thema Vergangenheitsbewältigung in Deutschland: Sie haben ja vorhin dargelegt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland heute Standard ist, darauf zu achten, Gruppen nicht zu diskriminieren oder diskriminierend anzusprechen. Man hat sich eine klare Förderung des jüdischen Lebens auf die Fahnen geschrieben. Aber es gibt in Deutschland auch ein Phänomen, das man relativ häufig hört in Bezug auf Vergangenheitsbewältigung, wie beispielsweise den Spruch: Damit muss doch jetzt mal Schluss sein! Und die Neue Rechte in Deutschland, also die AfD, und die Ultra-Rechten der AfD wie Herr Höcke, reden ja auch von «Schuld-Kult» in Deutschland, von dem sich die Deutschen befreien müssten. Wie soll man darauf reagieren?

Michael Wolffsohn:

Zwischen Herrn Höcke und vielen, die sagen «es muss Schluss sein», muss man sehr deutlich unterscheiden. Was heißt «Schluss»? Dass man überhaupt nicht mehr darüber reden soll? Oder dass Schluss sein soll mit der Überfütterung? Es gibt diesbezüglich eindeutig genug Information! Das Thema Judentum und Antisemitismus ist ein fester Bestandteil in Schulen und Universitäten. Fast jeden Tag wird in den Medien ein jüdisches Thema besprochen. Deshalb muss man sich fragen, ob zu viel nicht manchmal schädlich ist? Überfütterung ist immer negativ.

Wir haben nicht zu wenig Aufklärung, und doch wissen immer weniger Leute Bescheid. In Deutschland war das vor 20 Jahren ganz anders. Allen internationalen Umfragen zufolge wussten die Leute in Deutschland weitaus mehr über Nationalsozialismus und Juden als woanders. Das ist heute nicht mehr so, und man fragt sich, warum. Nicht etwa, weil zu wenig darüber gesprochen wird, sondern zu viel. Man sollte anfangen nachzudenken, statt immer die gleichen Ideen, die nachweislich vom Output her negative Ergebnisse gebracht haben, auszuspucken.

»Wir haben den gewalt­tätigen Nahost­konflikt hier bei uns importiert.«

Susanne Schmugge:

Die Wortwahl «Schuld-Kult» und «die Deutschen müssen sich davon befreien» ist eine bewusste Provokation?

Michael Wolffsohn:

Das ist inakzeptabel, und ich habe hier kein Patentrezept, wie man darauf reagieren soll. Ignorieren darf man das keinesfalls. Aber was passiert mit der AfD und was ist die AfD? Die AfD ist eine Partei, die immer stärker aus einem gewordenen völkischen Flügel besteht, der einerseits Ausländer verbal diskriminiert, andererseits aber auch ein liquidatorisches Potenzial hat. Wir haben zwar noch keine Täter aus diesem völkischen Milieu überführt, aber es ist sozusagen in der Logik der Dinge.

Es gibt aber von Seiten der Soziologie der Mitgliederschaft und Parlamentarier eine ganz starke Repräsentation von Polizei, Richtern etc. Die AfD ist, vereinfacht gesprochen, einerseits eine Partei, der Gangster und Schläger und andererseits der Polizisten. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Folglich wird es zu einer Spaltung der AfD kommen, und das würde eine dramatische Schwächung bedeuten. 20 Prozent (plus minus) wird eine solche Partei nicht bekommen.

Die muffig Spießigen, Unzufriedenen, auch die Polizisten und Richter, werden dann sich als Partei mehr oder weniger auflösen. Entweder werden sie wieder zu Nichtwählern oder sie werden – zähneknirschend – die Union oder eine andere Partei wählen. Die völkische Restpartei würde zu einer Mini-­Partei schrumpfen. Weil sie als Mini-Partei nichts erreichen können, würden sie die Extremisten bei Terroraktionen unterstützen. Die Geister des Völkischen sind tatsächlich gefährlich, auch wenn sie noch nicht terroristisch sind. Da besteht inhaltlich ganz eindeutig ein Bezug – auch in der Wirkung – zwischen dem völkischen Flügel der AfD und Halle.

»Mephisto ist der Geist, der stets das Böse will und doch das Gute schafft. Wir haben in der Bundes­republik Deutschland das umgekehrte Phänomen.«

Susanne Schmugge:

Man hat irgendwie das Gefühl, dass der Antisemitismus als negatives, aggressives Klischee nicht wegzubekommen ist. Es braucht sicher mehr Sicherheit für die Synagogen und die jüdischen Einrichtungen in Deutschland. Aber das hat ja keine Wirkung auf das, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Wie kommen wir denn aus dieser Situation heraus? Das wiederholte Thematisieren des Jüdischen und der Schuldfrage ist vielleicht mitunter kontraproduktiv. Aber wie erreichen wir eine Normalisierung zwischen Deutschen und Juden bzw. jüdischen Deutschen?

Michael Wolffsohn:

Es ist eine Frage des menschlichen Verhaltens. Sie können Hass aus den Köpfen und Herzen von Menschen nicht rausbekommen, das muss man leider sagen. Wir haben Vorurteile und es wird immer Vorurteile geben. Natürlich muss man dies kontrollieren, und dazu braucht es Gesetze. Gesetze sind ja die Übertragung von Werten in die Exekutive und in die Judikative. Wenn Sie – was in Deutschland ein großes Problem ist – die Gesetze nicht strikt anwenden, müssen Sie sich nicht wundern, wenn der Staat schwach ist. Der deutsche Staat nach 1945 ist – wenn auch aus sehr sympathischen Gründen – ein schwacher Staat. Aber ein schwacher Staat ist nicht in der Lage, gegen seine Gegner vorzugehen. Hier ist der Staat gefordert. Dies ist die Aufgabe der Polizei, und das ist eine öffent­liche Aufgabe – Punkt!

Susanne Schmugge:

Aber ist es nicht eine Bankrotterklärung an den Wunsch nach Normalisierung und einem kulturell und religiös vielfältigen Leben, wenn man sagt, wir müssen halt damit leben, dass Synagogen und jüdische Veranstaltungen Polizeischutz benötigen, die Kirchen jedoch nicht?

Michael Wolffsohn:

Ja, das ist so. Das können wir nicht ändern und müssen es sogar forcieren. Auf der anderen Seite ist das ein Problem der Nichtjuden. Vergessen Sie nicht, dass der größte Teil unserer Bevölkerung den Antisemitismus nicht will, aber es gibt ihn. Der Antisemitismus ist nicht gefährlich für Eskimos, sondern für Juden. Die haben zum ersten Mal seit knapp 2000 Jahren die Möglichkeit wegzugehen. Damit verlieren die Nichtjuden einen loyalen und leistungsfähigen Teil ihrer Gesellschaft. Aber wir möchten gerne hierbleiben – die Schweizer Juden in der Schweiz – die deutschen Juden in Deutschland usf.

Aber wir sind nicht mehr abhängig von der Gnade. In Frankreich können Sie diesen Prozess sehr genau beobachten. Im Jahre 2000 gab es in Frankreich 500000 Juden, heute gibt es 400 000. Der Großteil ist nach Israel ausgewandert. Wir sind mehrsprachig. Wir haben aufgrund unserer Bildung die Möglichkeit, uns «umzupflanzen». Das möchten wir lieber nicht, aber wenn die nichtjüdische Mehrheit nicht in der Lage ist, uns zu schützen, dann können wir auch woanders leben.

Natürlich kann man sagen: Israel sei ja auch ein gefährliches Pflaster – Nahostkonflikt – völlig richtig. Aber dort wird man nicht diskriminiert, weil man Jude ist. Da ist – um den österreichisch-wienerisch-jüdischen Kabarettisten Georg Kreisler zu zitieren – der Antisemitismus ein innerjüdisches Problem. Das Problem Antisemitismus ist heute aus jüdischer Sicht nicht mehr als Gnadenakt zu verstehen: dass man uns duldet. Die nichtjüdische Gesellschaft hat objektiv – ob sie das subjektiv so sieht ist eine andere Frage – das größte Interesse an jüdischen Mitbürgern. Überall in Westeuropa gibt es in den hochentwickelten Dienstleistungsgesellschaften einen Mangel an Fachkräften, an Elite. Und hier haben sie eine loyale Elite, die mäzenatisch tätig ist, die sozial tätig ist und keine Bomben schmeißt. Das sind Bürger, die kann man sich nur malen. Und wenn man die nicht will, okay, dann ist man selber dran schuld.

Susanne Schmugge:

Man hat Israel im Rücken, man kann, man muss auch nicht mehr sagen «wir sind auf eure Gnade angewiesen». Jüdisches Selbstbewusstsein ist ein gutes Stichwort, um das Thema zu wechseln. Sie sind in Israel geboren, leben aber seit Jahrzehnten schon in Deutschland. Sie bezeichnen sich jedoch nicht als deutschisraelisch oder israelischdeutsch, sondern als deutschjüdisch oder jüdischdeutsch, und zwar ohne Bindestrich. Was hat es damit genau auf sich?

Michael Wolffsohn:

Ein Bindestrich ist ja eigentlich ein Trennstrich. Mit deutschjüdisch – wie auch der Titel meiner Publikation Deutschjüdische Glückskinder über meine eigene Familiengeschichte lautet –will ich ausdrücken, dass dieser Trennungsstrich, der irrtümlicherweise Bindestrich genannt wird, kein Bindestrich, sondern ein Trennstrich ist. Beides gehört aber zusammen.

Susanne Schmugge:

Es sind ja zwei unterschiedliche Kategorien, «jüdisch» ist die Religion und «deutsch» ist eine Nationalität.

Michael Wolffsohn:

Nein. Das wird zwar allgemein behauptet, aber das Jüdische ist nicht nur eine Religion, das Jüdische ist eine Gemeinschaft. Also anders als das Katholische oder Protestantische, weil im Judentum durchaus das Element des Gemeinschaftlichen, fast Nationalen besteht. Es wurde ja nicht zufällig vom jüdischen Volk gesprochen. Einem Volk als einer Gemeinschaft, die auch ein starkes Wir-Gefühl hat, wenn auch sozusagen durch Geburt (sofern man weiß, dass man in diese Gemeinschaft hineingeboren wurde). Wir werden verfolgt oder geliebt, weil wir Juden sind. Ich kann mir das nicht aussuchen, und das bewirkt ein sehr starkes Gemeinschaftsgefühl.

Der Antisemitismus ist der stärkste Katalysator für ein jüdisches Gemeinschaftsgefühl seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Seit dem Fall der Ghettomauern hat der Antisemitismus einen dialektischen Charakter für uns. Auf der einen Seite umfasst er natürlich den Holocaust, was eine barbarische, sechsmillionenfache Mordorgie gewesen ist. Andererseits ist durch den Holocaust vielen Juden bewusst geworden, dass sie stets als Juden wahrgenommen werden. Das heißt ganz klar, dass der Antisemitismus ebendiesen dialektischen Charakter hat: er stärkt unsere Zusammengehörigkeit. Ich will damit keinesfalls sagen, dass das Judentum den Antisemitismus bräuchte, um zu überleben. Aber es ist unbestreitbar, dass durch die Gefahr von außen unser Gemeinschaftszusammenhalt gefördert wird.

Susanne Schmugge:

Stichwort Identifikation. Sie haben sich des Öfteren schon deutschjüdisch, und deutschjüdischer Patriot genannt. Was meinen Sie damit?

Michael Wolffsohn:

Das ist ein Bürger, der sich für das eigene Gemeinwesen einsetzt, weil es das eigene ist. Natürlich könnte man sich auch für die Gemeinschaft der Eskimos einsetzen, aber nun bin ich mal in die jüdische Gemeinschaft hineingeboren worden. Ich bin in Deutschland groß geworden aus welchen Zufällen oder Nicht-Zufällen auch immer. Ich möchte dieses demokratische Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland mit meinem Background, der jüdisch – aber nicht nur jüdisch – geprägt ist, einbringen. Es ist auch klar, dass man auf dem Boden stehen muss, auf dem man gewachsen ist, zugleich aber offen für die Welt sein muss. Das ist doch ein Abenteuer, ein herrliches Abenteuer, nur begrenzt durch die Sterblichkeit, die wir nicht ändern können!

Susanne Schmugge:

Ihre Familie stammt aus Deutschland, aus Berlin. 1939 konnten die Wolffsohns gerade noch rechtzeitig raus aus Deutschland nach Tel Aviv in Israel, dem damaligen Palästina. Interessant ist, dass Ihre Eltern, besonders Ihr Großvater, schon sehr früh, Ende der 40er-Jahre oder Anfang der 50er-Jahre, zurück nach West-Berlin gegangen sind. Warum so früh ins Land der Mörder?

»Der Antisemitismus ist die größte Dummheit der Antisemiten, denn sie schaden sich selbst.«

Michael Wolffsohn:

Ja, es war das Land der Täter, 33 bis 45. Aber jetzt bringe ich das Gegenargumenten: Mein Großvater, der als Erster 1949 mit meiner Großmutter väterlicherseits zurückgekommen ist, hat gesagt: «Mir wurde ganz viel geraubt, und Deutschland – die Bundesrepublik Deutschland – will ein Rechtsstaat werden. Zu einem Rechtsstaat gehört, dass Raubgut zurückgegeben wird». Und warum hätte mein Großvater auf das damals beträchtliche Vermögen verzichten sollen? Er, der vor dem Krieg als Kinounternehmer und in der Unterhaltungsindustrie tätig war, war wirklich im europäischen Maßstab a very big shot, und er hat ganz nüchtern und vernünftig gesagt: «Ich lasse den Räubern nicht, was sie mir geraubt haben. Ich gehe nach Deutschland», vorübergehend, wie er meinte, «zurück, um das Geraubte zurückzuerkämpfen». Das ist eine rechtsstaatlich und elementar ethisch völlig vernünftige Entscheidung. Allerdings haben wir nur einen Bruchteil unseres Vermögens zurückbekommen, aber damit ist die Familie Wolffsohn keineswegs einzigartig. Eines der vielen antisemitischen Klischees nach 1945 heißt, dass Rembrandt nie so viele Bilder gemalt hätte, wie Juden dann zurückverlangt hätten – was natürlich völlig in­akzeptabel und falsch ist.

Mein Großvater wurde herzkrank, da er sich furchtbar aufregt hatte. Die aufregenden Prozesse waren seiner Gesundheit nicht bekömmlich. Darüber starb er auch im Jahr 1957