Antonia Hain deckt auf: Ein tödliches Geheimnis - Angela Mackert - E-Book

Antonia Hain deckt auf: Ein tödliches Geheimnis E-Book

Angela Mackert

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kartenlegerin Antonia Hain ist in der kleinen Schwarzwaldgemeinde Rabenhofen bekannt wie ein bunter Hund. Als sie die Überreste eines Mordopfers findet, packt sie der Ehrgeiz und sie verkündet, dass sie den Fall mithilfe ihrer Lenormandkarten aufklären wird. Bald findet Antonia erste Hinweise. Doch die Suche nach dem Täter ist nicht nur komplizierter als gedacht, sondern auch mörderisch gefährlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 355

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Die Nachmittagssonne blendete. Antonia ging ans Fenster und zog den Vorhang halb zu. Ihre letzte Klientin für heute, eine junge Frau namens Lisa Weber, saß noch mit hängenden Schultern auf dem Besucherstuhl vor dem Tisch. Sie kam oft. Zu oft in letzter Zeit und jedes Mal ging es um dasselbe. Antonia seufzte leise. Vielleicht schaffte sie es ja heute, die Wende zum Besseren einzuleiten. Sie ging an ihren Platz zurück und konzentrierte sich auf das Kartenbild. So übel sah es gar nicht aus! Antonia deutete auf eine Reihe innerhalb der großen Tafel, die sie mit Lenormandkarten zuvor schon ausgelegt hatte: das Buch, das Herz und die Sonne.

»Hier steht, dass eine schöne neue Liebe für Sie kommen wird. Sie müssen nur bereit sein, es zuzulassen.«

»Tobias ist meine große Liebe.« Die Frau sprach leise.

»Ich weiß. Aber es ist vorbei. Sie werden das akzeptieren müssen. Je eher sie das schaffen, desto schneller kann der Richtige in ihr Leben treten.«

Antonia horchte auf, als die Haustürklingel schellte. Sie hörte die Schritte ihrer Schwester, die öffnete.

Lisa Weber wurde lebhaft. »Tobias ist der Richtige! Dann kommt er also doch wieder zu mir zurück!«

Ihre Worte lenkten Antonias Aufmerksamkeit umgehend auf das Kartenbild. Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Lisa. Es sieht nicht danach aus.«

»Aber ich liebe ihn doch! Er braucht vielleicht nur eine Auszeit. Ist es nicht so?« Die Stimme der Klientin klang drängend.

Vom Hausflur klang eine aufgeregte, weibliche Stimme ins Zimmer. Antonia bekam mit, wie sich ihre Schwester draußen alle Mühe gab, die Unbekannte zu beruhigen. Es klappte nicht. Die Hektik auf dem Gang störte. Antonia konnte sich kaum noch auf ihre Klientin und deren Kartenbild konzentrieren. Sie zwang sich, ihre Gedanken zu sammeln, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Antwort härter ausfiel, als üblich.

»Auszeit! Mehr als zwei Jahre lang und ohne nach Ihnen zu fragen? Nein, Lisa! In den Karten ist nicht einmal ersichtlich, dass er noch an Sie denkt.« Sie biss sich auf die Lippen und griff nach Lisas Hand. »Geben Sie sich selbst eine Chance. Das Glück wird zu Ihnen kommen, wenn Sie nicht zurück sondern vorwärts schauen.«

Die Klientin sank noch mehr in sich zusammen. »Wir waren glücklich miteinander, dachte ich … ich bin nicht so hübsch wie seine jetzige Freundin. Das wird es sein. Er hält mich für langweilig. Ich bin langweilig …«

Antonia spürte, wie sich in ihrem Bauch die Hitze zusammenzog. Wie oft hatte sie Lisa schon gesagt, dass sie etwas für ihr Selbstbewusstsein tun sollte. Draußen auf dem Flur kratzte etwas über den Boden. Konnten die keine Rücksicht nehmen? Der hohe Ton, den das verursachte, schrillte in ihren Ohren. Gleich darauf plumpste etwas gegen die Wand. Der Stuhl, dachte sie. Die da draußen hat sich hingesetzt. Wenigstens das! Sie schnaufte kurz aus. Herr, gib mir jetzt Engelszungen, flehte sie im Geist und beugte sich zu ihrer Klientin vor.

»Nicht hübsch? Soll ich einen Spiegel holen, Lisa? Sie haben wunderschöne Augen, zumindest dann, wenn Sie den Blick vom Boden lösen. Jetzt schauen Sie mich an und machen Sie nach, was ich Ihnen zeige!« Sie richtete sich kerzengerade auf und kommandierte. »Rücken aufrichten! Einatmen! Ausatmen! Schultern zurück und Brust raus. Einatmen! Ausatmen! Und die Nase nach oben! So ist es gut! … Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Viel besser!« Lisa Weber brachte ein Lächeln zustande.

Antonia berührte Lisas Arm. »Gut! Wissen Sie was? Das ist ihre Hausaufgabe! Einverstanden? Sobald sie spüren, dass die Traurigkeit kommt, machen Sie diese Übung.«

Die Kundin nickte und mühte sich, ihre aufrechte Haltung zu bewahren. Antonia registrierte es. Sie lächelte ihr herzlich zu. »So, wenn Sie das nächste Mal kommen, sehen wir weiter.«

Sie stand auf, um sich von der jungen Frau zu verabschieden.

Lisa hielt ihre Hand fest. »Wenn ich Sie nicht hätte, Antonia. Sie schaffen es immer wieder, mich aufzubauen.«

Ein wenig aufrechter als sie gekommen war, ging die Kundin zur Tür hinaus. Antonia setzte sich wieder an ihren Platz. Sie legte die Hände vors Gesicht und massierte ihre Augen bis sie farbige Sterne sah. Kaffee! Ein Königreich für einen Kaffee und bitte lieber Gott, respektiere meinen Feierabend. Ich kann nicht mehr.

Draußen fiel die Eingangstür ins Schloss. Ein Stuhl ächzte. Die Stimmen auf dem Flur wurden lauter. Es dauerte nicht lange, da kam Marlene zu ihr herein. Sie hob die Hände. »Es tut mir leid!«

Zu weiteren Erklärungen kam Antonias Schwester nicht. Hinter ihr drängte eine ältere Frau durch die Tür. Sie trug ein Kostüm, das eindeutig von einem Nobelschneider stammte, dessen Schnitt jedoch nicht mehr der aktuellen Mode entsprach.

»Sie müssen mir helfen! Meine Shari ist verschwunden.« Die Stimme der Frau klang laut und hoch.

»Das ist ihr Hund«, sagte Marlene matt.

Die Frau trat mit raschen Schritten an den Tisch und sah Antonia durchdringend an. »Ich habe ihrer Schwester das Geld schon gegeben. Für eine halbe Stunde. Das ist nur die Hälfte Ihrer Zeit. Sie können mich also nicht abweisen!« Mit zitternden Händen presste sie ihre Tasche an den Bauch. »Meine Shari … bestimmt wurde sie entführt!«

Antonia seufzte und deutete auf den Stuhl. »Setzen Sie sich erst einmal und beruhigen Sie sich.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr und notierte sich die Zeit für den Fall, dass sie für die Beantwortung der Frage noch ein Stundenhoroskop brauchte.

Die Frau zerrte am ihr zugewiesenen Sitzplatz, dass der Parkettboden stöhnte. »Ich wollte zum Metzger in der Gartenstraße. Dort kaufe ich immer Reste und Knochen für meine Shari. Die Leine wickelte ich um den Laternenpfahl, wie sonst auch. Shari hat gewartet, brav wie immer, weil sie ja ein Stückchen Wurst dort kriegt. Zur Belohnung. Aber wie ich aus der Metzgerei rauskomme, ist sie weg. Verschwunden! Nirgends zu sehen. Jemand hat sie mitgenommen, bestimmt. Mein Hund liebt die Wurst. Shari würde nicht weglaufen, ohne. Sie wurde entführt. Sie ist ein West Highland Terrier, mit Stammbaum, weiß. Bestimmt wollen die Entführer sie verkaufen. Meine arme Shari.« Sie redete, fast ohne Luft zu holen.

Marlene, die während ihres Wortschwalles hinausgegangen war, kam mit einer Tasse Kaffee zurück, die sie an den Platz ihrer Schwester stellte.

Antonia sah zu ihr hoch. »Du bist ein Schatz.« Sie nahm einen Schluck und als Marlene wieder draußen war, wandte sie sich an die alte Dame. »Wie heißen Sie denn?«

»Brunella Kamp. Wir sind vor einem halben Jahr hierher ins Dorf gezogen. Mein Mann meinte, die Schwarzwaldluft täte uns gut und hier würde alles besser werden. Aber an unseren Fersen klebt das Pech. Meine Shari …«

Antonia bewegte die Hände auf und ab, um die neuerliche Aufregung von Frau Kamp zu dämpfen. Sie nahm ihre Lenormandkarten, schichtete sie umeinander und pustete dreimal darüber. Dann reichte sie den Packen an die Frau.

»Mischen Sie!«

Die Klientin tat es und Antonia legte die Karten aus. Sie war kaum damit fertig, da ergriff die Frau mit beiden Händen die Tischkante und lehnte sich vor. »Was sehen Sie? Wo ist mein Hund?«

»Drängen Sie mich nicht, Frau Kamp. Ich muss die Karten erst betrachten.«

Mit Geduld schien die Kundin nicht gesegnet. Sie ließ den Tisch los und rutschte dafür unruhig auf ihrem Stuhl herum.

»Sehen Sie meinen Hund?«

Antonias Zeigefinger machte sich selbstständig und klopfte leise Morsezeichen auf den Tisch. »Im Kartenbild schon. Er liegt über ihrer Personenkarte und dazwischen die Wolken, die aussagen, dass er verschwunden ist.«

»Das weiß ich schon!« Frau Kamps Fuß begann auf ihre Morsezeichen zu antworten.

Antonia zwang ihren Zeigefinger zur Ruhe und nahm sich vor, sich zu beherrschen. Aber in ihrem Bauch bildete sich bereits ein Knoten. Was dache sich diese Frau? Sie las in den Karten! Nicht im Adressbuch! Mit einiger Mühe schluckte sie die unfreundliche Antwort hinunter. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande. Ihre Arme breiteten sich rechts und links neben dem Kartenbild aus. Sie beugte sich darüber und wie von selbst zuckte ihre Hand. Sie stieß an eine kleine, hölzerne Engelsfigur und fegte sie vom Tisch. Frau Kamp klappte den Mund auf und wieder zu.

»Hoppla«, sagte Antonia. Ihre Stimme klang zufrieden. Sie hob den Engel auf, streichelte über sein Haupt und stellte ihn wieder an seinen Platz. Dann konzentrierte sie sich auf die Bilder rund um die Karte Hund. Sie fand nichts, was auf den Diebstahl des Tieres hindeutete. Sie sah ihre Klientin an. »Ich habe schon mal eine gute Nachricht für Sie. Entführt wurde ihr Hund nicht.«

Frau Kamps Finger schnellten vor und stießen an den Tisch. »Shari ist doch keine Streunerin! Sie hätte auf die Wurst gewartet. Sie MUSS entführt worden sein!«

Antonia schüttelte den Kopf. »Mit Sicherheit nicht. Das Kartenbild sagt aus, dass ihr Hund noch da ist, wo sie mit ihm waren. Also in der Gartenstraße. Er wird in ein Haus gelaufen sein. Ich sehe ihn eingesperrt. Es ist dunkel. Könnte ein Keller sein.«

Das Gesicht von Brunella Kamp verfärbte sich rot. Ihre Augen funkelten Antonia an. »Nie im Leben ist sie noch irgendwo in der Straße.«

»Die Karten lügen nicht!« Antonias Geduld ging zu Ende. Sie stand auf. »Ihre Shari ist dort. Klingeln Sie bei den Leuten und lassen Sie im Keller nachsehen.«

Frau Kamp sprang so hektisch auf, dass fast der Stuhl umfiel. »Und da behaupten die Leute, Sie können was! Das Geld für Sie ist rausgeschmissen und dazu musste ich auch noch ewig warten. Das einzige, was stimmt, ist, dass meine Shari eingesperrt ist, aber von Hundefängern! Wie hätte sie denn in ein Haus oder einen Keller laufen sollen? Nirgends stand eine Tür offen und für so eine Aussage bezahle ich auch noch Geld!«

Brunella Kamp ging ohne Gruß aus dem Zimmer.

Kurz darauf hörte Antonia, wie die Haustüre ins Schloss fiel. Sie ließ sich nach vorne auf den Tisch fallen und vergrub den Kopf in den Armen. Als Marlene zu ihr ins Zimmer trat, sah sie auf. »Ist sie weg?«

»Ja.« Marlene fummelte an ihren Locken, deren rehbraune Farbe allmählich in Naturgrau wechselte und die ihren Kopf wie eine aufgebauschte Mütze umrahmten. Eine Strähne zog sie glatt vor das Gesicht. Sie rümpfte die Nase. »Wieder ein paar mehr.« Sie ließ los und ihr Haar kringelte sich in den ursprünglichen Zustand zurück. »Wie geht’s dir?«

»Wieso ist die gekommen, wenn sie die Wahrheit nicht hören will? Steht auf meiner Stirn Fußabtreter geschrieben?«

»Reg dich nicht auf, das ist es nicht wert.«

»Nicht aufregen?« Antonias Augen blitzten wie zwei Smaragde in der Sonne. Sie griff mit den Händen in ihren Nacken und schubste die kastanienbraune Haarpracht hoch. Die dichten Krausen fielen breit auf ihre Schultern zurück. Dann schlug sie mit der Faust auf den Tisch und ihre Stimme überschlug sich fast. »Die Frau hat mir gar nicht zugehört!«

»Ich würde dich ja gerne mit Schokolade besänftigen, aber die ist bereits meinem eigenen Frust zum Opfer gefallen.«

»Auch das noch … du Egoist!« Antonia griff nach dem hölzernen Engel und ihre Schwester trat rasch einen Schritt beiseite. Antonia drehte die Figur in der Hand und starrte sie an. »Du hast mich auch im Stich gelassen!« Dann sah sie zu Marlene. »Ein Krümelchen? Bitte!« Als ihre Schwester bedauernd den Kopf schüttelte, setzte sie den Engel hart auf den Tisch.

Marlene nutzte die Gelegenheit und gab noch eines obendrauf. »Eine Mahnung von der Kohlehandlung ist heute Mittag auch gekommen.«

Zwei Tage später befand sich Antonia wieder im Gleichgewicht. Sie hatte das Kartenbild von Frau Kamp noch einmal in Ruhe analysiert und konnte deren Verhaltensweise jetzt nachvollziehen. Auf jeden Fall passte ihre Deutung über den Aufenthaltsort des Hundes. Das bestätigte das im Nachhinein erstellte Suchhoroskop. Die Reaktion der Frau nagte zwar an ihr, aber sie mühte sich, den Gedanken daran zu verbannen. Es war ein Ausrutscher, nicht von Bedeutung. Mehr Sorgen machte sie sich um die Kohlerechnung, die sie vergessen hatte zu bezahlen. So etwas durfte nicht noch einmal passieren. Es setzte eine ungute Spirale in Gang, die am Ende nur auf sie selbst zurückfiel. Sie hatte Räucherwerk angezündet und versprochen, in Zukunft alle Rechnungen umgehend nach Erhalt zu begleichen, damit im Gegenzug weiterhin zahlungswillige Kunden den Weg zu ihr fanden.

Als Antonia nachmittags zur Bank ging, war sie guter Dinge. Sie plauderte ein wenig mit der Frau am Schalter und bummelte dann die Hauptstraße entlang. Seit ihrer Kindheit hatte sich hier kaum etwas verändert. In kleinen, von den Inhabern geführten Läden konnte man noch immer die typischen Holzschnitzereien kaufen, Kuckucksuhren oder den berühmten Schwarzwälder Schinken und im Holzofen gebackenes Brot.

Drüben auf der anderen Straßenseite dominierte das alte Rathaus und trotzte seit Urzeiten jeder Moderne. Geranien blühten vor den Fenstern. Die Pflanzen wurden vom Bürgermeister höchstpersönlich gegossen, weil ihre Farben für den Gemeindeverbund Rabenhofen mit seinen Ortschaften Blumbrücken, Ochsenrath, Kreuztann und Weintal standen. Weiter vorne, in dem Gebäude mit der großen Hofeinfahrt befand sich das Polizeirevier. Antonia grinste, als ihr Blick das offene Tor dort erfasste. Kommissar Schmidt würde demonstrativ seine alte Schiebermütze verkehrt herum aufsetzen, falls er ihrer ansichtig wurde. Sie schaute zum Dach des Gebäudes hoch. Dahinter ragte die Turmspitze der katholischen Kirche auf, in der sie sich bei jedem Gottesdienst kalte Füße holte. Die Turmglocke schlug gerade die fünfzehnte Stunde.

Antonia gefiel es hier im Ort, obwohl die meisten Wohnhäuser so alt waren, dass sie noch mit Holz und Kohle beheizt wurden, auch ihr eigenes. Sie fand das gemütlich und hatte bis jetzt noch keine Sekunde bereut, dass sie vor vier Jahren mit ihrer Schwester zurück in ihr Elternhaus gezogen war. Marlene ließ sich damals gerade scheiden, während sie selbst lange alleine gelebt hatte.

Nur noch wenige Meter, dann befand sie sich auf der Höhe des Geschäftes von Susanne Ritter. Antonia beschleunigte ihren Schritt und schaute stur geradeaus. Es half nicht. Je näher sie dem Laden kam, desto weniger wollten ihre Beine weiter. Als die Ladentür sichtbar wurde, führte ihr Körper eine Wendung nach rechts aus, ihr Fuß hob sich, um die kleine Stufe zu erklimmen, und dann befand sie sich mitten im Paradies.

Die Inhaberin lächelte sie an. »Hallo Frau Hain. Sie haben mal wieder den richtigen Riecher. Die extra Dunkle ist heute frisch gekommen.«

»Her damit! Ich nehme fünf Tafeln.« Antonia lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Während Frau Ritter die Schokolade aus dem Regal holte, betrachtete sie die Trüffeln, die hinter einer Glasscheibe offen auslagen. Sie seufzte. »Da nehme ich auch was von mit.«

»Gern.« Frau Ritter füllte nach Antonias Angaben von den runden Kugeln in ein Tütchen. Sie kam ins Plaudern, über Schokoladetrüffel und das Geschehen im Ort. »Haben Sie schon gehört? Der Hund von der Zugereisten ist verschwunden. Seit zwei Tagen schon. Die arme Frau ist fix und fertig. Hat alle in der Gartenstraße verrückt gemacht, geklingelt und gefragt, aber das Tier ist nicht aufgetaucht. Sie schwätzt von Hundefängern, aber ich kann mir das bei uns gar nicht vorstellen.«

Antonia horchte auf. Sollte Frau Kamp ihrem Rat gefolgt sein? Aber warum hatte sie den Hund dann nicht gefunden? Es stand eindeutig in den Karten.

»Hm«, sagte sie und dachte, dass sie das nicht auf sich sitzen lassen konnte. Ihr Blick fiel auf ein Regal in der hinteren Ecke des Verkaufsraums. Besser, sie wappnete sich für einen langen Marsch. »Ich nehme noch eine Flasche stilles Wasser und eine von den Dosen mit Schokotalern.«

Antonia verstaute ihren Einkauf im Korb, deckte ihn mit ihrem Stoffbeutel ab und verließ ziemlich rasch den Laden. Auf direktem Weg ging sie in die Gartenstraße. Langsam lief sie dort an den Häusern entlang. Was könnte einen neugierigen kleinen Hund wohl anlocken? Vor einem leer stehenden Anwesen, nur zwei Hausnummern von der Metzgerei entfernt, blieb sie stehen. Die außen liegende Kellertür war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Der Riegel schien frisch geölt. Antonia ließ den Blick weiter zum Kellerfenster wandern. Jemand hatte es ausgehebelt und nachlässig wieder eingesetzt. Am Rahmen klebten Erdkrümel. Es irritierte sie. Drüben, auf der anderen Straßenseite, kläffte plötzlich ein Hund. Ihr Kopf flog herum. Hinter einem Fenster erkannte sie den Zwergspitz von Frau Anderer, der sich wohl für den Bewacher des Kellers hielt, vor dem sie stand. Schade! Das triumphierende Gefühl, das sie eben verspürt hatte, verflog. Aber hier in der Straße musste der Terrier sein. Es gab keinen Zweifel daran. Sie schaute wieder auf das Kellerfenster. Wieso hingen Erdkrümel am Rahmen? Maria Wolf fiel ihr ein. Sie kannten sich seit der Schulzeit und sie wohnte nebenan in dem Haus mit dem alten, baufälligen Tor. Ohne lange zu überlegen ging sie dorthin. Als sie ihre Hand ausstreckte, um zu klingeln, trat Maria mit einem Beutel voller Küchenabfälle heraus.

»Hallo Antonia … wolltest du zu mir?« Neugierig schaute sie in ihren Korb und lüpfte den Stoffbeutel. »Ah, bei der Ritter gewesen …«

»Klar«, erwiderte sie, »hast du eine Minute Zeit?«

»Was gibt’s denn?« Die Neugier stand in Marias Gesicht.

»Es geht um den Hund von Frau Kamp.«

Maria ging zum Mülleimer hinüber. »Ah, die war schon bei mir, aber bei uns ist er nicht.«

Antonia lief ihr hinterher. »Habt ihr auch im Keller der Glasers nachgesehen? Das Haus verwaltest du doch, oder?«

»Ja, ich meine, ich habe die Verwaltung, aber nachgesehen haben wir dort nicht. Ist ja immer alles verschlossen.«

In Antonias Bauch fing es an zu kribbeln. »Maria, könntest du trotzdem den Schlüssel holen. Ich habe so ein Gefühl.«

»Klar!« Maria schloss den Deckel des Mülleimers. Während sie zum Nachbarhaus gingen, zog sie aus ihrer Schürzentasche einen Schlüsselbund heraus, hielt ihn hoch und suchte kurz. Nur wenige Minuten später schob sie den Riegel der Kellertür zurück. Kurz darauf stieg sie schon die Treppe hinunter.

Antonia folgte ihr dicht auf den Fersen. Ihr Blick flog zu dem klobigen Schalter neben dem Eingang und den auf Putz verlegten Leitungen. »Der Strom ist wohl abgeschaltet?«

»Ja, schon lange. Pass bloß auf die Stufen auf, die sind tückisch!«

Das hatte Antonia schon bemerkt! Das Holz ächzte bei jedem Schritt. Sie atmete auf, als sie den gestampften Erdboden des Kellers unter den Füßen spürte.

Das Tageslicht von draußen reichte nicht weit in den Raum hinein. Als Antonia sich umsah, erkannte sie zuerst nur dunkle Umrisse. Maria schien sich schneller zu orientieren.

»Hier ist die Shari nicht.« Ihre Stimme klang enttäuscht.

Maria wollte schon umkehren, aber Antonia hielt sie am Ärmel zurück. »Hörst du das nicht?« Ihr Blick flog über das Gerümpel, das sich überall stapelte. Sie ging ein paar Schritte tiefer in den Raum hinein. Fast wäre sie über einen Holzpflock gestolpert, in dem noch eine verrostete Axt steckte. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf den Verschlag vor dem Kellerfenster gelenkt, der das Licht von dort fast vollständig schluckte. Sie ging hinüber, lehnte sich seitlich an der Bretterwand vor und schaute hinein. Das bisschen Tageslicht, was durch das kaputte, schmutzige Fenster von draußen hereindrang, ließ einen Berg Kohlen erkennen, der hier wohl seit Jahren lagerte. Am unteren Ende, zwischen Bretterabsperrung und der Wand dahinter, schien er lebendig zu sein. Ein Augenpaar blinkte und leise, winselnde Töne erklangen.

Maria reckte über Antonias Schulter hinweg neugierig den Hals. Antonia drehte sich um und reichte ihr den Korb hin. »Halt mal!«

Vorsichtig stieg Antonia an der Bretterwand entlang in den Verschlag hinein. Ein paar Kohlestücke purzelten umeinander. Das Winseln aus der hinteren Ecke steigerte sich zu einem verängstigten Jaulen und ein Müllsack, der auf den Kohlen lag, glitt ein Stückchen tiefer. Der Sack hing eingewickelt an einer Schnur, die bis zum Stiel einer Schaufel führte, welche neben dem Fenster in das Heizmaterial gerammt war. Antonia beobachtete, wie sich das Seil spannte. Der Müllsack ruckte und wurde am weiteren Abrutschen gehindert, aber das offene Ende der Hülle schlängelte sich aus dem nachlässig gebundenen Knoten, faltete sich auf und gab den Inhalt frei. Entsetzt keuchte Antonia auf. Ein vermoderter Schädel glotzte mit leeren Augenhöhlen in ihre Richtung, ein paar Haarbüschel gaben ihm ein groteskes Aussehen. Hinter ihr schrie Maria gellend auf. Der Korb, den sie gehalten hatte, fiel zu Boden. Antonia drehte sich um, drängte Maria zurück und schnappte sich ihren Korb. Dann atmete sie tief durch, kramte ihr Handy heraus und wählte die Nummer der Polizeistation. »Hallo, hier ist Antonia Hain. Im Keller vom Glaser-Haus liegt eine Leiche. Mord, wie es aussieht …«

2. Kapitel

Während Maria draußen auf der Straße auf das Eintreffen der Polizei wartete, versuchte Antonia den Hund zu befreien. Seine Pfote klemmte unter den Brettern des Verschlags. Sie hatte es gerade geschafft, da hörte sie hinter sich eine aufgebrachte Stimme.

»Raus hier! Sie vernichten mir ja alle Spuren.«

Antonia hob das geschwächte Tier hoch und drehte sich um. »Spuren? Hier hinten? Nehmen Sie lieber das Kellerfenster unter die Lupe, Herr Kriminalkommissar Schmidt. Oder glauben sie etwa, der Täter hat sich mitsamt seiner Leiche am Seil runtergehangelt, um für Sie Tapsen zu hinterlassen?«

Der Kommissar schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. Er griff an seine Schiebermütze, hob sie Antonia entgegen und setzte sie demonstrativ verkehrt herum auf. »Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll, Antonia Hain. Schnappen Sie ihren Besen und reiten sie nach Hause.«

»Fliegen, Herr Kriminalkommissar, fliegen … wenn schon.« Antonia ging mit dem Hund auf dem Arm zu ihm und stellte sich dicht vor ihn hin. »Ein bisschen gereizt heute, wie mir scheint. Wird wohl Zeit, dass die Frau nach Hause kommt?«

Kriminalkommissar Hannes Schmidt schnaubte und trat einen Schritt rückwärts. »Halten Sie mir dieses zappelnde, schwarze Ungeheuer vom Leib! Ich will nicht so dreckig aussehen wie Sie.« Er machte eine herrische Handbewegung zu dem Polizisten, der ein paar Schritte abseits auf Befehle wartete. »Maier! Nehmen Sie die Aussage auf und schaffen Sie mir dieses Hexenweib aus den Augen.«

Antonia lächelte den Kommissar an. »Rufen Sie ihre Frau doch an. Telefonsex hat auch seine Reize.«

Noch ehe er den Mund aufmachen konnte, schlängelte sie sich mit einer geschmeidigen Bewegung an ihm vorbei. Sie hob ihren Korb auf und ging mit dem Polizisten namens Maier in die gegenüberliegende Ecke.

»Erst der Hund!« Antonia griff in den Korb, nahm den Stoffbeutel heraus und hielt ihn dem Polizisten hin. »Na los, packen Sie meine Schokolade da rein. Halt, die Dose aufmachen und den Inhalt in den Beutel leeren.« Die Flasche mit Wasser stellte sie auf den Boden. Der Terrier fing jämmerlich an zu fiepen. »Ist ja gut, kriegst gleich was zu schlabbern …«

Antonia setzte den zitternden Hund in den Einkaufskorb. Sie öffnete die Wasserflasche und goss etwas davon in die Unterschale der Dose. Es dauerte eine Weile, bis das Tier genug hatte und sich erschöpft im Korb zusammenrollte. Präzise schilderte Antonia nun, wie sie mit Maria in den Keller gekommen war und die Leiche gefunden hatte.

»Maier, ein bisschen Beeilung. Ich brauche Sie hier!« Der Kommissar hantierte mit einem kleinen Scheinwerfer, um den Kohleverschlag besser auszuleuchten. Missmutig schaute er auf Antonia. »Sie sind ja immer noch hier.«

Sie drehte sich zu ihm um und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Ich würde erst einmal den Gehweg vor dem Kellerfenster sichern lassen. Falls Sie an Spuren interessiert sind.«

»Stand das in ihren Karten?«

»Für den Tipp reichte ein Blick auf das Objekt.«

»Machen Sie, dass sie raus kommen!«

»Das Loch im Kopf des Opfers haben Sie aber gesehen?«

»Wollen Sie mir drohen?« Kommissar Schmidt machte einen Schritt auf sie zu.

Antonia seufzte. »Eines Tages werden Sie es auch kapieren und übrigens, wenn Sie Hexen abwehren wollen, sollten sie ihre Socken verkehrt herum anziehen. Ihre Mütze … ach, was soll’s.« Sie winkte ab, nahm den Beutel mit ihrer Schokolade und den Korb mit dem Hund. Auf dem Weg zum Kellerausgang blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um. »Nur für den Fall, Herr Kriminalkommissar … Wenn Sie nicht herausfinden, wer der Tote ist, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Meine Karten …«

Hannes Schmidt holte tief Luft. »RAUS!«

Auf dem Gehweg vor dem Haus der Glasers versammelten sich bereits die Schaulustigen. Ein junger Polizeibeamter, den Antonia nicht kannte, hatte alle Hände voll damit zu tun, sie von der Absperrung zurückzudrängen. Eine weitere Person in Zivil fotografierte bereits das Kellerfenster und eben fuhr ein Auto vor, dessen Insassen zielstrebig zum Kellereingang liefen. Verstärkung aus der Stadt. Antonia grinste. Kriminalkommissar Schmidt musste sich jetzt wohl anstrengen, wenn er den Fall behalten wollte. Besser konnten die Voraussetzungen für sie gar nicht sein.

Antonia blieb einen Moment stehen und beobachtete, wie der Kriminaltechniker vor dem Kellerfenster Erdklumpen einpackte. Das war keine Gartenerde aus der Umgebung. Sie schien viel zu dunkel. Von der Seite her sprach jemand auf sie ein. Antonia schaute auf, es war der junge Polizist. Er hob das Absperrungsband, damit sie darunter durchschlüpfen konnte. Antonia presste den Korb mit dem Hund vor den Bauch und zwängte sich durch die gaffende Menge. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie Maria, die dort wie ein Häufchen Elend auf der Treppe eines Hauseingangs saß. Ein paar Nachbarinnen umringten sie. Antonia winkte mit dem Beutel in der Hand hinüber. Als sie loslief, prallte sie mit der Schulter gegen einen Mann. Beinahe stürzte sie. Er fing sie auf, und sie erkannte den Jäger Leo Heckert.

Leo hielt sie am Arm, bis sie sicher stand. »Sieh an! Die Kartenlegerin. Mal wieder für eine Sensation gesorgt?«

Während des Redens blies er ihr der Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. Der Terrier in Antonias Korb streckte den Kopf hoch und fing an zu knurren.

Antonia hustete. »Was soll das, Herr Heckert? So kann ich den Code nicht lesen! Geben Sie beim nächsten Mal ihr Rauchzeichen nach oben ab.«

Der Mann grinste, warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Verzeihung.« Er beugte sich zu dem Hund. »Gilt auch für dich.«

Eine aufgeregte weibliche Stimme wehte zu ihnen herüber. Antonias Name fiel. Sie schaute über Leos Schulter und entdeckte auf der Treppe zur Metzgerei ihre Klientin Lisa Weber, die ihr zuwinkte. Antonia hob den Arm und winkte zurück. Der Beutel mit ihrer Schokolade schlenkerte dabei gegen Leo Heckerts Brust. Er trat einen Schritt zur Seite, schaute ebenfalls zu der jungen Frau und wandte sich dann an Antonia.

Er deutete auf den Beutel in ihrer Hand. »Muss ich für den Schock büßen, den Sie da drinnen erlitten haben?«

»Nur wenn Sie der Mörder sind. Sind Sie es?« Antonia grinste ihn an. »Entschuldigung!«

Leo Heckert hob den Zeigefinger. »Passen Sie auf ihr Mundwerk auf! Wenn ich Sie nicht kennen würde …« Sein Blick aus blauen Augen fixierte sie. »Der Tote da drinnen wurde also ermordet. Weiß man schon, wer es ist?«

»Sein Gesicht war zu knöchern, als dass ich ihn auf Anhieb hätte erkennen können.«

Von weiter vorne rief jemand. »Leo! Wie lange willst du da noch herumstehen? Wir sind spät dran.«

Antonia sah auf den Geländewagen, der am Straßenrand parkte. Lutz Iffland, der Schwiegersohn von Leos Arbeitgeber streckte den Kopf zum Seitenfenster heraus. Er schien nervös. Seine halb gerauchte Zigarette flog auf den Gehweg. Mit dem Arm vollführte er hektische Bewegungen, um den Jäger anzutreiben.

Leo zuckte die Schultern. »Ich muss los. Sonst gibt es Ärger.« Er rührte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern beugte sich zu Antonias Korb und streichelte über den Kopf des Hundes. »Arme Kleine! Das ist die Shari, nicht wahr? Der Metzger hat mir vorhin erzählt, dass sie verschwunden war.« Leo tastete vorsichtig über ihre Pfote. »Die muss bandagiert werden. Aber es scheint nichts gebrochen zu sein.« Shari fiepte und leckte seine Hand. Aus dem Auto erklang noch einmal die ungeduldige Stimme von Lutz Iffland. Leo Heckert blies genervt die Backen auf. »Also dann, bis zu unserem nächsten Zusammenstoß.«

Antonia lachte. Sie sah ihm nach, wie er zum Wagen ging und auf der Fahrerseite einstieg. Es stimmte schon, sie lief oft blindlings in ihn hinein. Sie wusste auch nicht, warum. Antonia grinste. Vielleicht lag es ja an seinem knackigen Körper, dass sie nicht an ihm vorbeikam. Er sah gut aus! Sportlich durchtrainiert, feste Muskeln, wie sie bei ihren Zusammenstößen spüren konnte. Männlich-markantes Gesicht. Wenn sie jünger wäre und nicht in festen Händen, müsste sie wohl auf sich aufpassen …

Antonia wartete noch, bis der Jäger mit Lutz Iffland an der Menschenansammlung vorbeigefahren war und ging dann über die Straße.

»Was wollte der Heckert? Du hast so lange mit ihm geredet«, fragte Maria. Sie sah ziemlich blass aus und knabberte nervös an den Fingernägeln.

»Nichts, der stand mir nur im Weg ― wie so oft. Ist Donnerstag heut, hat wohl dem Metzger wieder so ein armes Reh abgeliefert.« Antonia machte eine wegwerfende Handbewegung und sah an sich herunter. »Du meine Güte!« Ihre Kleidung war voller Flecken und der Hund in ihrem Korb wirkte im vollen Sonnenlicht noch erbärmlicher als vorhin. Sein Fell sah nicht mehr weiß, sondern grau verschmiert aus. Sie grinste. »Dein Frauchen wird dich nicht wiedererkennen.«

»Ich glaube, dort kommt sie. Ist wohl auch aufgeschreckt worden durch das Tamtam hier.«

Die Frau neben Maria deutete die Straße entlang und Antonia schaute in die angegebene Richtung. Als Frau Kamp näher kam und sie unter den Frauen erkannte, kniff sie die Lippen zusammen und steuerte auf die andere Straßenseite. Antonia schnitt ihr den Weg ab.

»Frau Kamp, warten Sie! Sie haben bei ihrer Suche ein Haus ausgelassen!« Sie konnte den leisen Triumph in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Die alte Dame blieb stehen und schaute sie misstrauisch an. Als sie merkte, dass in Antonias Korb etwas Lebendiges fiepte und jaulte, riskierte sie einen Blick. »Das ist nicht … oh mein Gott! Shari! Um Himmels Willen! Was ist mit dir passiert?« Das schmutzige Wollknäuel leckte die Hand seines Frauchens und versuchte aus dem Korb zu springen. Frau Kamp konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ach du je, meine Shari!« Kleinlaut sah sie Antonia an. »Wo?«

»Im leerstehenden Glaser Haus. Neben einer Leiche.«

»Jesus und Maria, meine arme Shari.«

Antonia beruhigte sie. »Es geht ihr gut. Sie hat höchstens ein bisschen abgenommen, aber nicht so viel wie der arme Kerl dort drinnen.« Sie drückte der alten Dame den Korb in die Hände. »Bringen Sie den bei Gelegenheit vorbei.«

Frau Kamp wischte sich die feuchten Wangen. »Ich schäme mich wegen meines Auftritts vorgestern.«

Sie zuckte die Schultern. »Jetzt können Sie ja guten Gewissens Werbung für mich machen.«

Die Frau nickte und ging mit ihrem Hund nach Hause. Antonia begab sich wieder zu Maria.

Birgit Anderer, die Besitzerin des Hauses, auf deren Stufen sie saß, brachte Kaffee und schenkte jedem ein. Nach einer Weile wies sie auf die andere Straßenseite, wo sich noch immer die Neugierigen drängten. »Das Glaserhaus ist verflucht.« Ihre Stimme klang düster. »Erst vor fünf Jahren wurde der Alte da drinnen ermordet, der Edwin, und ich sage euch, garantiert von Holger ― seinem eigenen Sohn! Und jetzt findet ihr dort drüben wieder eine Leiche. Oh ja, das Haus ist verflucht!«

»Sie hat so grausig ausgesehen! Vor einer Woche war die noch nicht im Keller. Das weiß ich genau!« Marias Finger zitterten, als sie ihre Tasse zum Mund hob.

Frau Anderer sah sie an und blickte dann zum Glaserhaus hinüber. »Vor vier Tagen hat unser Hund in der Nacht mal Alarm geschlagen. Aber bis mein Mann endlich aus dem Bett stieg, konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Er hat nur noch ein Auto fahren hören.«

»Es ist nicht sicher, dass es der Sohn vom Edwin war, damals vor fünf Jahren«, meldete sich eine Nachbarin zu Wort.

Birgit Anderer winkte ab. »Wer soll’s denn sonst gewesen sein. Holger hatte doch die Wochen davor dauernd mit seinem Vater gestritten und dann schleppte er diese Pflanze an. Der Kerl ist ein eiskalter Mörder, wenn ihr mich fragt.«

»Vielleicht, vielleicht nicht. Er ist seither verschwunden.« Die kleine Frau neben Maria wiegte den Kopf.

»Na klar! Was würdest du tun, Emma? Etwa freiwillig ins Gefängnis gehen?«

»Vielleicht hat ihn die gerechte Strafe längst ereilt.« Eine der Frauen deutete mit dem Finger auf die andere Straßenseite. »Am Ende ist der Holger auch tot.«

Die schlanke Schwarzhaarige neben ihr schüttelte den Kopf. »Nein, der ist in Brasilien. Er wurde erkannt. Ist noch gar nicht lange her. Ich weiß das aus sicherer Quelle.«

»Ich möchte wissen, wie die Leiche in den Keller gekommen ist. Ich habe sie nicht da rein, falls das einer denkt … und mein Sohn Georg auch nicht!«

Die Frauen rückten enger um Maria herum und versicherten ihr, dass keine auf so eine absurde Idee käme. Die Anteilnahme schien Maria gut zu tun und doch nahm es nicht ihre Unruhe. Sie senkte den Blick, stützte den zitternden Ellbogen auf die Knie und knabberte weiter an ihren Fingernägeln. Unter den Lidern hervor schielte sie zu Antonia, als wenn sie abschätzen wollte, was sie dachte.

Konnte es sein, dass Maria etwas wusste oder ahnte? Hatte sie etwa ein Geheimnis, das durch den Leichenfund aufgedeckt zu werden drohte? Antonia grübelte.

Emma stieß sie mit dem Ellbogen an. »Ob sie herausfinden, wer der arme Mensch ist?«

»Wenn nicht, dann finde ich es heraus!« Antonia klopfte Maria tröstend auf die Schulter, gab die ausgetrunkene Tasse zurück, verabschiedete sich und ging nach Hause.

Kaum dass Antonia die Haustüre hinter sich geschlossen hatte, rief sie bereits nach ihrer Schwester. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie durch den Küchenausgang in den Garten.

Sie entdeckte Marlene am hinteren Ende vor dem Beerengestrüpp am Lattenzaun. Das Grundstück grenzte hier an einen schmalen Weg und gab den Blick auf die dahinter liegenden Felder und den Waldrand frei. Normalerweise genoss sie diesen Ausblick, doch jetzt schlängelte sie sich eilig zwischen Bohnen, Zucchini und Kürbissen durch, um zu Marlene zu gelangen.

»Leni, ich habe den Hund gefunden, und stell dir das vor ― dazu eine Leiche mit einem mörderischen Loch im Kopf!«

Marlene fiel beinahe die Schüssel mit den Himbeeren aus der Hand. Sie presste das Gefäß an ihren Bauch und trat einen Schritt zurück. Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie Antonia an. »Ich lass dich einsperren!«

»Wieso? Weil ich den Hund gefunden und mit seinem Frauchen vereint habe?« Antonia rückte ihr ungerührt wieder nach und stibitzte ein paar Beeren aus der Schüssel.

Marlene schubste sie weg und bedeckte die Schale mit ihrer Hand. »Pflücke dir gefälligst selbst welche, und du weißt ganz genau, dass es nicht um den Hund geht. Deine Augen glitzern. Ich hasse dieses Glitzern!«

Antonia grinste und versuchte erneut an die Schüssel heranzukommen. »Mord ist gut fürs Geschäft.«

»Hast du umgesattelt auf Leichenbestatter?«

»Ich will den Mörder finden, nicht unter die Erde bringen.«

»Ich sage dem Kommissar, dass er dich in Sicherheitsverwahrung nehmen soll.« Marlene drehte sich zu den Sträuchern um, zupfte und warf die Himbeeren in ihre Schale.

»Nicht so heftig, die zermatschen ja.«

»Und? Werden eh gekocht.«

»Was ist los mit dir? Freu dich doch! Das ist ein Glücksfall. Ich kann dem Kommissar endlich zeigen, was ich als Kartenlegerin drauf habe. Oh, Leni, ich höre ihn schon Abbitte leisten! Und denk an den neuen Kühlschrank, den können wir uns bestimmt viel schneller leisten. Die Klienten werden uns die Tür einrennen.«

Marlene drehte sich zu ihr um und schrie sie an. »Ich ertrage es nicht!«

Antonia schwieg und fing an Beeren zu zupfen, die sie in Marlenes Schüssel tat. Nach einer Weile legte sie den Arm um ihre Schwester. »Ich habe dich auch lieb und du musst keine Angst um mich haben. Ich lese nur die Karten. Alles andere überlasse ich der Polizei.«

Marlene befreite sich aus ihrer Umarmung und zischte sie an. »Lüg nicht! Ich kenne dich viel zu gut und weiß es besser!«

Am Abend saß Antonia am Küchentisch und kramte ein Päckchen Lenormandkarten aus der Schublade. So wie hier hatte sie überall im Haus ihre Depots, sogar im Badezimmer. Forschend schaute sie zu ihrer Schwester. Sie stand mit dem Rücken zu ihr am Herd und rührte Marmelade. Ihre Aufregung vom Nachmittag schien verraucht. Zumindest blieb sie äußerlich gelassen, obwohl sie das Geräusch der sich öffnenden Schublade gehört haben musste.

Antonias Hand blieb trotzdem noch eine Weile auf der Schachtel liegen, ehe sie die Karten herausnahm. Dann begann sie zu mischen. Die Karten schlugen in schneller Folge aufeinander.

Für einen Moment rührte Marlene die Marmelade nicht mehr weiter. Sie blies heftig den Atem aus. »Es lässt dir keine Ruhe, nicht wahr?«

Antonia schichtete weiter die Karten umeinander. »Ich will wissen, wer der Tote ist, den ich gefunden habe.«

»Das wird bald in der Zeitung stehen.«

»Mag sein, aber ich freu mich, wenn ich sagen kann, dass ich das schon eher wusste.« Antonia legte den Stapel Karten verdeckt auf den Tisch, dann nahm sie nacheinander drei Karten von oben weg und deckte sie auf. »Die Wolken, der Hund und das Haus«, murmelte sie. »Himmel, ist das eindeutig!«

»Was, ist die Leiche ein Hund? Ich dachte …«

Marlene hörte auf zu sprechen. Sie nahm den Topf vom Herd und schüttete die brodelnde Masse in die parat stehenden Gläser.

»Nein, der Hund ist in diesem Fall ein junger Mann. Die Wolken sagen, dass er …«

»Still, ich will es nicht wissen.« Marlene schraubte die Deckel auf die Gläser und stülpte sie um. »Au, verdammt, ist das heiß.«

»Nimm ein Geschirrtuch oder Topflappen … ich kann es nicht für mich behalten. Jemand muss doch meinen Triumph nach außen tragen. Also hör zu …«

»Dein Rat kommt zu spät.« Marlene drehte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Wasserhahn auf und hielt ihre Finger unter das kalte Wasser. »Und deinen Ruhm kannst du allein vermehren. Ich hör dir gar nicht zu.«

»Jetzt sei nicht kindisch, Marlene.«

Marlene schüttelte das Wasser von den Händen. Sie drehte sich um. Langsam trat sie an den Tisch und setzte sich. »Leni … du kannst mich weiterhin Leni nennen. Warum willst du mich nicht verstehen? Ist Verständnis etwas, das du nur deinen Klienten entgegenbringen kannst?« Sie zog eine Haarsträhne vor das Gesicht. »Hier, ich habe sie gezählt. Seit heute Mittag haben sich die grauen Fäden darin verdoppelt.«

Antonia wehrte sich. »Aber nicht wegen mir, sondern wegen der Natur. Ich habe auch graue Fäden in den Haaren. Na und? Du kannst sie dir färben lassen, wenn’s dir nicht gefällt.«

Marlenes Lippen fingen an zu zittern. Das sanfte Braun ihrer Augen schien mit einem Mal dunkler zu werden. Ihr Blick schweifte ab.

Antonia seufzte und berührte ihre Hand. »Erinnerst du dich noch an Minnie?«

Ein Lächeln zuckte über Marlenes Gesicht. »Unsere Katze.«

Antonia nickte und wurde dann heftig. »Dieser alte trottelige Polizist glaubte mir nicht, dass sie von dem Alten vergiftet wurde. Weißt du noch? Er sagte mir ins Gesicht, ich hätte zu viel Fantasie und ich sollte unbescholtene Leute nicht verleumden. Du warst dabei. Und dann aß dieser kleine Junge von den vergifteten Plätzchen. Er hätte damals nicht sterben müssen, wenn man auf mich gehört hätte.«

Marlene vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Du warst erst neun und ich zwölf Jahre alt. Was hätten wir tun sollen?«

Antonia beugte sich zu ihr vor. »Es geht nicht um damals, sondern um heute. Man muss hartnäckig sein, genau hinschauen. Wenn man die Wahrheit erkennt, muss man sie herausschreien und die Leute dazu bringen, zuzuhören. Nur so kann man Unheil verhindern. Meine Karten sagen die Wahrheit. Sie helfen mir, sie auszusprechen. Ich habe eine Fähigkeit und die muss ich nutzen.«

»Ja, für deine Klienten. Aber nicht, um einen Mörder zu fangen. Das ist Sache der Polizei. Es übersteigt deine Kompetenzen.« Marlene ballte die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervor traten.

Antonia schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht.«

Marlenes Augen funkelten. »Du verstehst nicht. Erst starb Vater, zwei Wochen später die Katze und dann läufst du mir davon und gehst zu diesem Typ und sagst ihm deine Wahrheit auf den Kopf zu. Über eine Woche hast du im Bett bleiben müssen, weil er dir eine so heftige Ohrfeige verpasst hat, dass dein Kopf gegen die Hauswand knallte. Du lagst da wie tot und Mutter gab mir die Schuld, weil ich nicht genug auf dich aufgepasst hab.«

»Er war schuld, nicht du.«

»Wen interessiert das?«

»Dich sollte es interessieren. Außerdem bin ich zäh und schon lange erwachsen. Du musst nicht mehr auf mich aufpassen, Leni. Mit meinen 49 Jahren kann ich das wohl selbst.«

Marlene biss sich auf die Fingerknöchel. Sie sah Antonia an und stand auf. »Es ist zwecklos. Ich gehe ins Bett.«

Ein paar Minuten später erklang im oberen Stockwerk Beethovens No 5 in bühnenreifer Lautstärke. Antonia presste die Lippen aufeinander. Sie schob die Karten zusammen und verstaute sie in der Schublade. Ihre Arme sanken in den Schoß und ihre Haltung fiel in sich zusammen. So blieb sie sitzen, umweht von den machtvollen Tönen, welche die Zimmerdecke zum Zittern brachten. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hände hoben sich und ihr Gesicht sank hinein. Minutenlang verharrte sie auf diese Weise. Dann richtete sie sich mit einem Ruck auf. Sie ließ sich doch nicht manipulieren! Auch nicht mit Beethoven No 5, das ließ sie nicht zu. Sie wurde gebraucht. Es galt immerhin einen Mord aufzuklären!

Antonia ging in den Flur, holte das Telefon und marschierte damit in den Garten. Sie wählte die Nummer von Oliver Thiel. »Hallo, mein Lieber. Du hast es sicher schon gehört. Du kriegst Arbeit … ja, ich habe ihn gefunden und ich weiß auch schon, wer der Tote ist.

3. Kapitel

Als Antonia den vermutlichen Namen des Toten nannte, hielt Oliver für einen Moment die Luft an. Er sah an sich herunter auf seine Füße. Konnte es wahr sein, was er fühlte? Zum Test bewegte er die Zehen. Seine blauen Augen strahlten auf und er hauchte einen Kuss auf den Telefonhörer. Das galt nur zum Teil Antonia. Seine Fußzehen fingen an zu schwitzen! Wie sehr hatte er diese kribbelnden Schweißattacken vermisst. Er hatte sie nicht mehr verspürt, seit seine Laufbahn als Kripobeamter in Hamburg aufgrund von üblen Schussverletzungen vorzeitig endete. Das war vor sechs Jahren. Damals, nach der Reha, zog er zurück nach Rabenhofen, dem Ort seiner Kindheit.

Während Antonia erzählte, blitze in Oliver der Gedanke an seinen Freund, Kriminalkommissar Hannes Schmidt, auf. Er würde taktisch vorgehen. Ihn ein bisschen zappeln lassen, ehe er seine Hilfe anbot. Noch einmal vergewisserte er sich des Kribbelns in seinen Zehen. Ja, der alte Glaser-Fall! Er wusste es immer! Das letzte Wort war darüber noch nicht gesprochen. Oliver lief mit dem Telefon in der Hand zum Spiegel. Er drückte sein Rückgrat durch, hob die freie Hand und streckte Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen. Jetzt würde Hannes nicht umhin kommen, die alten Akten herauszurücken. Er brauchte seine Hilfe genauso wie Antonia sie brauchte. Während Oliver den Hörer ans Ohr presste und sich von ihr die Einzelheiten schildern ließ, drehte er sich vor dem Spiegel. Er hob sein T-Shirt, betrachtete die Muskeln seiner Brust und spannte den Waschbrettbauch an. Die Ärzte, die seine Hüfte damals operierten, hatten gesagt, er würde nie mehr seine volle Beweglichkeit erhalten. Aber die wussten nicht, was ein eiserner Wille und ein täglicher Teelöffel voll Braunhirse alles be