Apfelwein auf Rezept - Andrea Habeney - E-Book

Apfelwein auf Rezept E-Book

Andrea Habeney

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Beschreibung

Eine Leiche in den Trümmern des abgebrannten Goetheturms, ein abgetrennter Kopf im Schoße der Loreley. Es stellt sich heraus, dass einer der Toten eine Koryphäe auf dem Gebiet der Krebsforschung war, der andere unheilbar erkrankt. Als dann eine Anti-Schulmedizin Aktivistin tot in ihrem Whirlpool aufgefunden wird, stellt die Frankfurter Kommissarin Jenny Becker, die unerwartet wieder Single ist, rasch die Diagnose, dass in der Gesundheitsindustrie etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Doch was steckt hinter den Morden? Und gibt es für die Lösung des Falles ein brauchbares Rezept?

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Die Autorin

Andrea Habeney, geboren 1964 in Frankfurt am Main, in Sachsenhausen aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Gießen Veterinärmedizin. 1997 folgte die Promotion. Bis 2013 führte Andrea Habeney im Westen Frankfurts eine eigene Praxis. Heute arbeitet sie als Tierärztin für einen Tierärzteverbund.

Als Autorin hat sie sich einen Namen gemacht mit ihrer Frankfurter Krimi-Reihe um Kommissarin Jenny Becker: „Mörderbrunnen“ (Frühjahr 2011), „Mord ist der Liebe Tod“ (Herbst 2011), „Mord mit grüner Soße“ (April 2012), „Arsen und Apfelwein“ (2013), „Verschollen in Mainhattan“ (2014), „Apfelwein trifft Weißbier“ (2015) und „Abgetaucht“ (2017).

Zudem hat Andrea Habeney die Fantasy-Serie „Haus der Hüterin“, die derzeit in 9 Bänden vorliegt und fortgesetzt wird, bei mainbook veröffentlicht. Weiterhin liegen von der Autorin die beiden Fantasy-E-Books „Elbenmacht 1: Der Auserwählte“ und „Elbenmacht 2: Das Goldene Buch“ vor.

Andrea Habeney

Apfelwein auf Rezept

Ein Jenny Becker-Krimi

Handlungen und Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten sind rein zufälliger Natur und nicht beabsichtigt.

Das Örtchen Badenhard gibt es wirklich, ebenso den Metzger und auch den Katzenbaum und den Reinholdspad, der im örtlichen Dialekt tatsächlich ohne f geschrieben wird.

Die örtlichen Begebenheiten mit obigen Ausnahmen, die Gebäude und die im Buch vorkommenden Einwohner entspringen allerdings rein der Fantasie der Autorin.

eISBN 978-3-947612-62-8

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung und -rechte: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:www.mainbook.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 1

Michael Biederkopf war tot. Zumindest war er das für Jenny. Ihre Beziehung, die so vielversprechend begann, hatte kein Jahr gehalten.

Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich Jenny an den Augenblick, als er mit betretener Miene vor ihr gestanden hatte.

Noch am Tag zuvor hatte sie ihr Auto vollgepackt und den größten Teil ihrer Kleidung und ihrer persönlichen Dinge in sein Haus geräumt.

Zunächst hatte sie gezögert, als er sie gebeten hatte, zu ihm zu ziehen. Ihre Unabhängigkeit war ihr immer wichtig gewesen, und zu schwierig hatte sich der Anfang ihrer Beziehung gestaltet. Jenny war durch vorangegangene Erlebnisse traumatisiert und hatte nur langsam wieder Vertrauen fassen können.

Doch Michael hatte ihr Zeit gelassen und um sie geworben, ohne aufdringlich zu sein.

Sie hatte sich einen Ruck gegeben und beschlossen, ihr Leben an seiner Seite zu verbringen.

Am allerwenigsten hatte sie damit gerechnet, dass er kurz darauf einen Rückzieher machen würde.

Von Freiheit hatte er geredet, davon, dass seine Entführung Narben hinterlassen hätte, dass er sich nicht binden und niemandem Rechenschaft ablegen wolle.

Sie hatte erst nicht verstanden, was er ihr hatte sagen wollen. Nur langsam waren seine Worte zu ihr durchgedrungen. Sie hatte sich im Wohnzimmer umgesehen. Im Regal stand ihre Lieblingsskulptur, ein kleiner steinerner Buddha. Auf dem Sofa lag einer ihrer Pullover und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie gelesen hatte.

Mühsam wahrte sie Haltung. Kein Problem sei es, hatte sie gesagt, wenn das Zusammenziehen für ihn zu früh wäre. Dass der Vorschlag von ihm gekommen war, konnte sie sich nicht verkneifen, zu erwähnen.

Er hatte weggesehen. Es ginge ihm nicht ums Zusammenziehen. Sie müsse das verstehen. Er wolle sich gar nicht binden, auch nicht an sie, obwohl sie etwas Besonderes sei.

Sie hatte ihn angestarrt, dann, als ihr langsam klar wurde, was er gesagt hatte, musste sie sich an der Tischkante festhalten. Sie hatte gewartet, auf eine Erklärung, darauf, dass er ihr sagte, dass alles ein Scherz sei. Doch er hatte sich nur abgewandt und war aus dem Zimmer gegangen.

In Jenny war jedes Gefühl erstorben. Schweigend hatte sie begonnen, ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie musste mehrmals den Weg zu ihrem Wagen machen, bis sie alles eingepackt hatte. Sie fand Michael auf der Terrasse, wo er mit dem Rücken zu ihr stand und in den Garten hinaus schaute. Sie warf ihm einen letzten Blick zu, dann drehte sie sich wortlos um. Legte ihren Hausschlüssel auf das Schränkchen im Flur und verließ das Haus, das sie noch vor einer halben Stunde als ihr zukünftiges Heim angesehen hatte.

Wie betäubt fuhr sie nach Hause. Mechanisch trug sie ihre Sachen zurück in ihre Eigentumswohnung in Frankfurt-Sossenheim. Ihre Nachbarin begrüßte sie fröhlich, doch Jenny ignorierte sie. In der Wohnung räumte sie sorgfältig alles an seinen Platz.

Sie fühlte nichts. In der Diele lag ein Paketmesser. Sie nahm es in die rechte Hand, starrte darauf und zog es über die Innenfläche des linken Unterarms. Sie betrachtete den Schnitt und die Blutstropfen, die daraus hervorquollen. Plötzlich fröstelte es sie. Ihr Blick richtete sich auf die Badewanne. Sie trat heran und griff nach dem Wasserhahn. In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Jenny zuckte zusammen, sah verwirrt auf, als würde sie aus einem Traum erwachen. Wie eine Schlafwandlerin ging sie ins Wohnzimmer und starrte das Telefon an. Es hörte auf zu klingeln, fing jedoch nach einem Moment wieder an. Mit dem Arm, von dem immer noch das Blut tropfte, griff sie nach dem Hörer. Sie hielt ihn vor sich und blickte darauf. Aus dem Lautsprecher klang die Stimme ihrer Freundin Sabine. „Jenny? Jenny bist du dran? Ich höre nichts. Sag doch was. Hallo?“

Gehorsam antwortete sie: „Hallo.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung“, sagte sie mechanisch.

Sabine versuchte es erneut. „Jenny? Ich dachte, du wärst bei Michael. Aber er meinte, du seist nach Hause gefahren.“

Michael … der Gedanke berührte etwas in Jenny. „Ich muss jetzt auflegen.“ Sie ließ den Hörer achtlos auf die Couch fallen und ging zurück ins Bad. Sie drehte den Hahn auf und zog sich aus. Ihr Blick fiel auf den Badezimmerschrank. Sie öffnete die Tür und zog ein paar Utensilien nach vorne. Ganz hinten lag eine Packung Schlaftabletten, die sie damals verschrieben bekommen hatte. Schlafen bedeutete vergessen, wenn auch kurzfristig. Sie drückte einige heraus und schob sie sich in den Mund. Ohne Wasser schluckte sie sie. Sie wollten nicht rutschen, und sie schöpfte etwas Wasser aus dem Strahl, der sich in die Wanne ergoss, und trank. Dann zögerte sie. Sah sich suchend um. Ging in den Flur. Das Paketmesser lag auf der Anrichte, wo sie es abgelegt hatte. Sie nahm es, ging zurück ins Bad und stieg in die Wanne, die sich bereits halb gefüllt hatte. Nachdenklich sah sie auf ihren Unterarm. Die Blutung hatte sich inzwischen gestillt, doch das warme Wasser wusch die getrockneten Reste ab. Fasziniert beobachtete sie die Schlieren, die sich im Wasser verdünnten und auflösten. Sie setzte das Messer wieder an und zog es in Zeitlupe erneut über die zarte Haut. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Es war, als würde sie einem Fremden zusehen. Sie fühlte nichts außer Leere. Dann kam die Müdigkeit.

Den erschrockenen Schrei, den wenig später Sabine, die mit der Nachbarin in die Wohnung kam, ausstieß, hörte sie nicht mehr.

Drei Wochen später wurde Jenny aus der psychiatrischen Abteilung der Frankfurter Universitätsklinik entlassen. Die Entlassung erfolgte auf ihren ausdrücklichen Wunsch und gegen die Empfehlung der behandelnden Ärzte. Da es zweifelhaft war, ob es sich um einen Suizidversuch gehandelt hatte, waren ihnen die Hände gebunden. Für ihre Freundin hatte es zunächst so ausgesehen, doch Jenny hatte gerade so viel Schlaftabletten genommen, dass sie einige Stunden geschlafen hätte, und die Schnitte an ihren Armen waren nur oberflächlich. Argument der Ärzte, sie so lange in der Klinik zu halten, war, dass sie mindestens billigend in Kauf genommen hatte, im Schlaf tiefer ins Wasser zu rutschen und zu ertrinken. Jenny selbst wusste nicht mehr, was damals in ihr vorgegangen war. Was sie wusste, war, dass nichts, schon gar nicht die Trennung von einem Mann, sie dazu bringen könnte, sich das Leben zu nehmen. Trotzdem war der Schmerz wohl so groß gewesen, dass sie sich ihm mit aller Gewalt hatte entziehen wollen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit.

Jenny hatte niemandem den Zeitpunkt ihrer Entlassung mitgeteilt. Sie hatte auch gebeten, keine Besucher zu ihr zu lassen. Sie wollte niemanden um sich. Niemanden, der ihr gut zuredete, sie tröstete, wo es keinen Trost gab.

Von einer posttraumatischen Belastungsstörung hatte ihr Arzt gesprochen. Die Ursache läge vermutlich im früheren Erlebnis mit dem Serienmörder. Der Auslöser in etwas, das in der Gegenwart passiert sein musste und die Störung getriggert und massiv zum Ausbruch gebracht hatte. Was, wusste der Arzt nicht.

Jenny weigerte sich, mit ihm darüber zu sprechen. Sie sprach überhaupt nur so viel, wie nötig war, damit sie entlassen wurde. Zugute kam ihr, dass sie genügend Straftäter in die Psychiatrie gebracht hatte oder zuhören durfte, wie sie durch ärztliche Gutachten ihrer Gefängnisstrafe entgingen, um das Richtige zur richtigen Zeit zu sagen.

Jetzt musste sie es nur noch schaffen, wieder arbeitstauglich geschrieben zu werden. Doch zuerst musste sie sich in den Griff bekommen. Soviel war ihr klar. Ihre Kollegen, Logo und Sascha, hatten es aufgegeben, sie besuchen zu wollen. Immer wieder hatten sie angerufen oder standen im Geschäftszimmer der psychiatrischen Klinik und forderten Auskunft. Endlich, als es ihr besser gegangen war, hatte Jenny sie selbst angerufen und in ruhigen aber bestimmten Worten darum gebeten, keine Kontaktversuche mehr zu starten. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte sie aufgelegt.

Keiner von beiden wusste, dass sie heute entlassen wurde. Sie nahm sich ein Taxi, das kaum zwanzig Minuten später vor ihrer Haustür hielt, bezahlte schweigend, nahm ihre Tasche, und stieg die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Niemand begegnete ihr. Als sie aufschloss, ging ihr kurz der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich ihre Schlüssel zurückgeben lassen musste. Sowohl ihre Nachbarin als auch ihre Freundin Sabine hatten Ersatzschlüssel und sich in ihrer Abwesenheit um die Wohnung gekümmert. Verloren stand Jenny einen Moment in ihrem Flur. Ihr Blick fiel auf die Tür zum Bad. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was an diesem Tag vorgefallen war. Die Ärzte hatten erklärt, was sie getan hatte. Doch ob sie wirklich vorgehabt hatte, sich umzubringen, oder ob sie sich durch die Einnahme der Tabletten nur zeitweises Vergessen erhoffte, konnte nicht geklärt werden. In ihrem Kopf lagen alle Ereignisse, nachdem sie Biederkopfs Haus verlassen hatte, in einem dichten Nebel.

Sie sah sich um. Sie sollte irgendetwas tun. Was tat man, wenn man nach Hause kam? Sie runzelte angestrengt die Stirn. Dann ließ sie die Tasche von ihrer Schulter achtlos auf den Boden rutschen. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, nicht auf ihren üblichen Platz, sondern auf den, der normalerweise Gästen vorbehalten war. Dort saß sie einige Zeit und starrte auf den Tisch. Irgendwann stand sie auf, ging in die Küche, und begann, sich einen Kaffee zu kochen. Mittendrin hielt sie inne und starrte auf die Tasse, die sie in der Hand hatte. Sie hatte vergessen, was sie im Begriff zu tun war.

Es klingelte. Erst nach einiger Zeit drang das Geräusch zu Jenny durch. Mit der Tasse in der Hand ging sie zur Tür und erblickte durch den Spion ihre Nachbarin. Hilfe suchend sah Jenny sich um. Es blieb ihr keine Wahl, sie musste mit ihr reden. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt, sodass sie mit einem Auge hinaus schauen konnte.

Ihre Nachbarin lächelte sie besorgt an „Du bist endlich zu Hause. Wie geht es dir?“

Jenny antwortete zunächst nicht. Ihr Mund bewegte sich, doch es kam nichts heraus. Sie schluckte. „Gut … es geht mir … gut.“

Das Lächeln ihrer Nachbarin verblasste. „Brauchst du etwas? Kann ich etwas für dich tun?“

Jenny zog die Tür einen Zentimeter weiter auf. „Kannst du mir meinen Schlüssel zurückgeben?“

Jetzt lächelte ihre Nachbarin nicht mehr. „Ja, natürlich. Wenn du das möchtest. Aber … Wenn wieder etwas mit dir ist?“

Jenny starrte sie schweigend an. Die Nachbarin nickte, ging kurz in ihre Wohnung und kam mit dem Schlüsselbund zurück. Jenny öffnete so weit, dass sie ihre Hand durch den Schlitz stecken konnte. Sie nahm die Schlüssel, drückte die Tür zu und hörte nicht mehr, wie später die Tür der Nachbarwohnung ins Schloss fiel.

Die nächsten Tage vergingen für Jenny wie in einem Traum. Sie tat wenig mehr, als auf der Couch zu sitzen und ins Leere zu starren. Ab und zu trank sie einen Schluck, meistens Wasser aus dem Hahn, und noch viel seltener dachte sie daran, etwas zu essen. Da sie das Haus nicht verließ, bestanden ihre Mahlzeiten aus Salzstangen und Erdnüssen, von denen ihr schlecht wurde. Zwei oder dreimal klingelte das Telefon und einmal klingelte es an der Tür. Sie ignorierte alles.

Seit sie aus der Klinik entlassen worden war, hatte sie die verordneten Medikamente nicht mehr eingenommen. Sie lagen unberührt in der Tasche, die noch dort im Flur lag, wo sie sie beim Eintreffen in der Wohnung hatte fallen gelassen. Der Nebel, der sie die ganze Zeit umhüllt hatte, lichtete sich nach und nach. Ihre Gedanken wurden klarer, doch mit der Klarheit kam auch der Schmerz.

Am vierten Tag klingelte das Telefon, und der Therapeut, bei dem sie heute einen Termin gehabt hätte, sprach auf ihren Anrufbeantworter. Seine Klinge klang ruhig aber bestimmt. „Frau Becker, wenn Sie Ihren Termin nicht einhalten, muss ich es Ihrer Dienststelle melden. Bitte rufen Sie mich an.“

Kapitel 2

Zögernd stieg Jenny aus dem Auto und setzte seit Wochen den ersten Fuß auf den Boden des Polizeipräsidium an der Adickesallee. Eigentlich war es ihr in den letzten Tagen deutlich besser gegangen. Erst hier, im Innenhof des Gebäudes, in dem sich vermutlich Michael Biederkopf aufhielt, kamen ihre Probleme auf einen Schlag zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, bis sie das Gefühl hatte, er würde sich überschlagen. Langsam ging sie auf die Glastür zu, die ins Innere des Gebäudes führte. Sie schaffte es, bis sie die Hand hätte ausstrecken können, um den Türgriff zu berühren. Dann blieb sie wie gelähmt stehen.

Ein uniformierter Kollege drängte sich an ihr vorbei, hielt die Tür auf und sah sie fragend an. Nach einem Moment des Wartens zuckte er ärgerlich mit den Schultern und verschwand im Inneren.

Jenny machte einen Schritt rückwärts … dann noch einen … drehte sich um und rannte zurück zum Auto. Ihre Hand zitterte, als sie versuchte, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Beim zweiten Anlauf schaffte sie es, startete den Motor und fuhr kurz darauf mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Als sie ihre Wohnungstür aufsperrte, klingelte ihr Telefon. Sie drückte die Tür mit dem Ellbogen ins Schloss und meldete sich. „Ja?“

Ihr langjähriger Kollege Logo war am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang besorgt. „Hab ich da irgendwas verwechselt? Wolltest du nicht heute wieder anfangen?“

Jenny ließ sich auf ihre helle Ledercouch fallen. „Ich kann’s einfach nicht“, erklärte sie müde. „Ich war schon an der Tür vom Präsidium. Aber ich schaffe es nicht. Michael kann mir jederzeit über den Weg laufen. Und die ganzen Kollegen. Sicher lachen sie hinter meinem Rücken über mich. Ich will einfach niemanden sehen.“

Es blieb einen Moment still in der Leitung. „Ich verstehe dich. Aber es lacht niemand. Ich glaube, es weiß kaum jemand, was passiert ist. Irgendwann musst du dich allem stellen. Du kannst nicht nur zu Hause sitzen. “

„Ich muss gar nichts“, stellte Jenny mit einem Aufflackern ihres alten Temperamentes fest. „Ich komme nicht wieder. Nicht, bevor Biederkopf weg ist!“

„Aber was willst du jetzt machen?“, fragte Logo.

„Ich weiß es noch nicht. Vielleicht lasse ich mich irgendwohin versetzen. Erst mal nehme Ich Urlaub. Ich habe noch fast drei Wochen. Ich melde mich!“

Damit legte Jenny auf. Ein Gedanke war in ihr entstanden, den sie sofort weiterverfolgen wollte. Sie zog ihren Laptop heran und startete ihn. Zögerte kurz. Dann wählte sie sich ins Intranet und beantragte ihre Versetzung. Den Zielort ließ sie offen. Alles war ihr recht, nur hier wollte sie nicht bleiben.

Einen Telefonanruf musste sie noch machen. Sie wählte die Nummer ihres Vorgesetzten und bat darum, ihren Resturlaub nehmen zu können. Widerwillig gestattete er es ihr.

Müde ließ sie den Hörer sinken. Vermutlich hatte sie eben den letzten Rest Vertrauensvorschuss, den er ihr noch entgegengebracht hatte, verspielt. Und wie gut sie das verstand. Alle hatten sich darauf verlassen, dass sie heute zurückkommen und ihre Arbeit wieder aufnehmen würde. Aber sie hatte es nicht geschafft, und außerdem wollte sie es nicht. Für Logo und Sascha tat es ihr leid. Andererseits war es Zeit, dass sie auf eigenen Füßen standen. Logo war längst weit genug, seine eigene Abteilung zu leiten, und Sascha würde ebenso seinen Weg gehen. Auch ohne sie.

Aber was sollte sie jetzt machen?

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie sah auf das Display. „Lars? Alles in Ordnung?“

Ihr ehemaliger Kollege und mittlerweile guter Freund lebte die meiste Zeit in Thailand. Sie schrieben sich zwar öfters, telefonierten aber im Gegensatz dazu selten.

„Ich bin hier, in Deutschland“, sagte er aufgekratzt. „Ich wollte dich überraschen. Hast du Lust, dich heute Abend mit mir zu treffen? Deinen Staatsanwalt kannst du ja mitbringen!“

Der altbekannte Schmerz durchzuckte sie, doch sie hatte gelernt, ihn beiseitezuschieben, in irgendein Eck ihres Unterbewusstseins, wo er keinen akuten Schaden anrichten konnte.

„Gerne, aber ich komme alleine!“, antwortete sie knapp. „Wann und wo?“

„Im Gemalte in der Schweizer Straße. Um 19 Uhr. Michael kommt später dazu.“

„Michael Danner ist auch in Deutschland? Dein ehemaliger Mörder? Den wollte ich schon immer kennenlernen.“

Lars lachte. „Also, bis dann!“

Vor einigen Monaten war Lars’ beste Freundin ermordet worden. Der Frachtpilot Michael Danner war ihr Hauptverdächtiger gewesen, ganz besonders, nachdem er in Thailand seinen Tod vorgetäuscht hatte. Lars war ihm nachgereist und hatte sich seine Bekanntschaft erschlichen. Letztendlich war Danner jedoch gar nicht der Täter gewesen, sondern nur vor Unterhaltszahlungen geflohen. Lars und er waren gute Freunde geworden, und Lars hatte sich sogar in Thailand ein Haus gekauft und lebte dort einen Großteil des Jahres.

Nach zehn Minuten Kreisen um den Schweizer Platz und die angrenzenden Straßen hatte Jenny aufgegeben und in der Tiefgarage in der Nähe des Südbahnhofes geparkt. Atemlos drängte sie sich um kurz nach sieben durch die voll besetzen Tische im Gemalten Haus, einer alteingesessenen Apfelweinkneipe, die zu gleichen Teilen von Touristen und Einheimischen besucht wurde.

Endlich sah sie, wie Lars von einem Tisch im hintersten Eck winkte. Sie umarmte ihn und quetschte sich auf die Bank ihm gegenüber. Abwesend nickte sie den restlichen Gästen am Tisch zu.

„Sauer?“, blaffte ein Kellner sie von der Seite an und hatte das volle Glas schon halb aus dem Ständer gehoben. Sie verzog das Gesicht. „Na gut.“

„Es gibt hier inzwischen auch Bier!“, erklärte Lars mit einem belustigten Blick auf ihr Geripptes. „Ich weiß doch, wie gerne du Äppler trinkst.“

„Sie verzog das Gesicht. „Soll ja Medizin sein laut meines Kollegen, Kommissar Rauscher. Hat er mir schon tausend Mal erklärt, geglaubt habe ich es ihm noch nie. Dann müsste es ihn ja auf Rezept geben! Aber ich hatte Angst, dass der Kellner mir das Glas über den Kopf schüttet, wenn ich ein Bier bestelle.“ Sie schaute sich um. „Der treibt sich eigentlich auch immer hier rum.“

„Wer?“

„Na, Rauscher. Heute scheint er ausnahmsweise nicht hier zu sein.“ Sie stießen an.

Lars erzählte ihr von seinem neuen Leben in Thailand, und Jenny ließ sich dankbar von ihrem Kummer ablenken. Er verbrachte viel Zeit mit Michael Danner. Beide tauchten regelmäßig zusammen und unternahmen auch sonst einiges miteinander. Lars jobbte ab und zu als Tauchlehrer und bot den Touristenhotels seine Dienste als Detektiv an. Selten ging es bei seinen Aufträgen um mehr als am Strand gestohlene Handys oder abgängige Ehemänner, die zu viel Zeit bei den thailändischen Masseurinnen zubrachten. Doch es reichte ihm als Beschäftigung und das Geld brauchte er sowieso nicht. Jenny fiel auf, dass Lars Ruhe gefunden zu haben schien. Sein Blick war nicht mehr gehetzt, wie er es seit dem Tod seiner Frau so oft gewesen war, und er wirkte allgemein deutlich entspannter.

„Michael ist hier, weil er klar Schiff machen will“, erklärte er auf ihre Nachfrage. „Er hat sich mit seiner Frau arrangiert und mit seinen Kindern ausgesprochen. Sie alle bekommen genug Geld, um zufrieden zu sein. Ebenso das Finanzamt und jeder andere, der noch Forderungen an ihn hatte. Er wird wohl eine Strafe bekommen, aber nicht ins Gefängnis müssen. Unter Auflagen darf er sogar zurück nach Thailand, bis sein Prozess stattfindet.“

„So ist es sicher für alle das Beste. Immer auf der Flucht … Und sicher hängt er an seinen Kindern.“

„Natürlich. Er ist in den Hunsrück gefahren, um sich um den Verkauf seiner Wohnung zu kümmern. Seine Ehefrau hat sie leer geräumt und neu vermietet, aber der Mieter zieht schon wieder aus, weil ihm die Gegend zu abgelegen ist. Sicher wird es auch nicht einfach, die Wohnung zu verkaufen, so mitten im Nirgendwo.“

In Jennys Ohren hörte sich diese Beschreibung momentan gerade zu idyllisch an. Mitten im Nirgendwo würde sie Biederkopf bestimmt nicht über den Weg laufen. Aber sie konnte nicht einfach abhauen. Irgendwann musste sie wieder arbeiten. „Wo liegt die Wohnung genau?“, fragte sie beiläufig.

„In einem winzigen Örtchen in der Nähe von St. Goar am Rhein. Aber jetzt sag mal. Wie geht es dir denn? Und deinem Staatsanwalt!“

Da war sie, die Frage, die sie befürchtet hatte und die ihr Herz eiskalt werden ließ. Ihre Hände wurden in Sekundenbruchteilen feucht und klamm, und sie suchte nach Worten, als ein Schatten über sie fiel.

„Hallo Michael“, sagte Lars und rutschte weiter in die Bank hinein. „Jenny – Michael. Michael – Jenny.“

Erleichtert reichte sie dem hageren Mann, dessen Gesicht sie bereits von Fotos kannte, die Hand. „Hallo. Freut mich. In gewisser Weise kenne ich dich ja schon. Ein bisschen zumindest.“

Verlegen nickte er. „Ja, ich weiß. Ich habe dir eine Menge Arbeit gemacht. Lars hat mir erzählt, mit wie vielen Leuten du hast sprechen müssen. Sogar mit dieser Nervensäge, mit der ich in der Schule war.“

„Ach vergiss es! Suchen wir etwas zu essen aus? Ich hab echt Hunger.“

Da sich niemand entscheiden konnte, bestellten sie eine Frankfurter Platte für drei Personen und blickten nur wenige Minuten darauf über einen Berg Rippchen, Haxen, Blut- und Leberwurst nebst Kraut und Püree. Eine Zeit lang herrschte gefräßige Stille.

Als sich der Berg Essen deutlich verkleinert hatte, tupfte Jenny sich den Mund mit einer Serviette ab und sah den Piloten an.

„Was ist jetzt mit deiner Wohnung?“, fragte sie.

„Sie war eigentlich gut vermietet“, erklärte er und zerteilte seinen Haspel. „Jetzt ist der Mieter aber kurzfristig versetzt worden und hat mich um Aufhebung des Mietvertrages gebeten.“

„Und, hast du zugestimmt?“, fragte Lars.

„Ja, ich bin nun mal ein netter Kerl!“ Er grinste. „Er lässt die nagelneuen Möbel da, und ich werde die Wohnung als Ferienwohnung möbliert vermieten. So kommt auch regelmäßig Geld rein. Ich muss mir nur noch jemanden im Ort suchen, der sich kümmert.“

„Viel Auswahl hast du da aber nicht“, gab Lars zu bedenken. Mit einem Seitenblick zu Jenny erklärte er: „Der Ort hat nur um die hundertdreißig Einwohner.“

„Idyllisch“, seufzte Jenny. In ihr stieg ein Gedanke hoch, den sie aber zunächst für sich behielt.

Das Gespräch plätscherte vor sich hin, bis auf der Platte nur noch Reste von Sauerkraut und Knochen lagen. Sie bestellten jeder ein Mispelchen zur Verdauung, und Jenny fühlte sich seit Wochen zum ersten Mal entspannt. „Wie lange bleibt ihr noch in Deutschland?“, fragte sie und hob ihr Glas.

„Noch eine Woche“, erklärte Lars. „Dann geht’s wieder zurück an den Strand. Komm mich doch mal besuchen. Ich habe genug Platz. Du müsstest nur den Flug bezahlen. Deinen Staatsanwalt bringst du natürlich mit!“

Auf einmal war alles wieder da. Der Schmerz, die Enttäuschung, die Verständnislosigkeit. Wie gerne wäre sie mit Biederkopf nach Thailand gereist, hätte mit ihm am Strand gelegen, wäre mit ihm im warmen Wasser geschwommen, vielleicht sogar getaucht.

„Jenny?“ Lars’ Stimme holte sie aus ihrer Versunkenheit. „Alles in Ordnung?“

„Ja sicher. Ich glaube, ich muss jetzt nach Hause. Ich muss morgen früh raus.“

„Lass stecken“, sagte Lars, als sie ihre Brieftasche zückte.

Eine halbe Stunde später war sie zu Hause. Sie zog sich etwas Bequemes an, goss sich ein Wasser ein und fuhr ihren Laptop hoch. Dann googelte sie Badenhard, den kleinen Ort, in dem sich Michael Danners Wohnung befand.

Er lag im Rhein Hunsrück-Kreis, fast am Rhein und etwa dreißig Kilometer südlich von Koblenz. Sie starrte einen langen Moment auf die Karte. Rheinland Pfalz, ein anderes Bundesland. Eine Versetzung klappte normalerweise nur, wenn umgekehrt ein Beamter mit entsprechender Ausbildung nach Hessen wechseln wollte. Die Chance war immerhin groß. Viele zog es in die Großstadt Frankfurt, in die vermeintliche Hauptstadt des Verbrechens, und die Warteschlange war meist lang. Aber wollte sie wirklich weg aus Frankfurt? Ja, entschied sie. Immerhin würde sie dort in Rheinland Pfalz sicher niemandem aus ihrem jetzigen Leben begegnen, auf jeden Fall nicht Michael.

Entschlossen wählte sie sich ins Polizeinetz ein und suchte die Tauschbörse. Biete RLP, suche Hessen. Wasserschutzpolizei. Okay, das passte nicht. Bereitschaftspolizei. Auch nicht.

Nach zehn Minuten Suche wurde sie fündig. Ein Hauptkommissar aus Koblenz, der bisher in der Mordkommission gearbeitet hatte, wollte aus privaten Gründen nach Frankfurt versetzt werden. Besser ging nicht. Zufall oder Schicksal? Sie überlegte nicht lange und schrieb ihn an.

Mit dem befriedigenden Gefühl, ihr Leben in die Hand genommen zu haben, klappte sie kurz darauf den Laptop zu und ging schlafen. Das erste Mal seit Biederkopfs Eröffnung schlief sie mehr als vier Stunden am Stück und erwachte um halb sieben halbwegs ausgeschlafen.

Gegen halb neun war die Antwort des Kollegen da. Ja, er war noch interessiert und wollte so schnell wie möglich wechseln. Seine Frau könnte in Frankfurt die kleine Buchhandlung ihrer Eltern übernehmen. Beide erwarteten ihr erstes Kind und er wollte unbedingt in ihrer Nähe arbeiten.

Zehn Minuten später schickte Jenny die offizielle Anfrage ab.

Stand ein Tauschpartner zur Verfügung, konnte nur aus gravierenden Gründen eine Versetzung abgelehnt werden. Jenny ging also davon aus, dass sie bald in Koblenz arbeiten würde. Sie würde Logo und Sascha vermissen. Trotzdem schien die Entscheidung ihr richtig und löste ein Gefühl der Erleichterung bei ihr aus.

Sie rief Lars an und ließ sich die Nummer Michael Danners geben. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln und war überrascht, als sie ihren Namen sagte.

„Ich rufe wegen deiner Wohnung an“, erklärte sie. „Ich würde sie gerne für eine gewisse Zeit mieten.“ Sie erzählte ihm von ihrer geplanten Versetzung.

„Natürlich kannst du die Wohnung gerne mieten“, antwortete er verwundert. „Aber das kommt so plötzlich. Gestern hast du gar nicht erzählt, dass du dich versetzen lässt.“

„Du hast mich erst auf die Idee gebracht“, gab sie zu. „Und es war Zufall, dass sich der ideale Tauschpartner gefunden hat. Ich weiß auch noch nicht, wie es auf Dauer weitergehen wird. Deshalb dachte ich an deine Ferienwohnung. Was willst du denn dafür haben?“

„Ich weiß nicht. Du willst sie nur für den Anfang? Als Ferienwohnung soll sie zweihundert die Woche kosten, dauerhaft natürlich deutlich weniger, momentan dreihundertfünfzig kalt pro Monat.“

Für Frankfurter Verhältnisse war das extrem günstig. Jenny zögerte. „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht.“

„Ich geb sie dir für dreihundertfünfzig und wenn du dir was anderes suchst oder wieder zurückkommst, ist das auch okay.“

„Das ist klasse! Vielen Dank!“

„Ich hab nicht vergessen, dass du dabei geholfen hast, mich zu entlasten“, sagte er. „Sag Bescheid, wenn du die Zusage hast, dann bringe ich dir den Vertrag und den Schlüssel.“

Kapitel 3

Bereits eine Woche später war es soweit. Der Koblenzer Kollege hatte einen Dringlichkeitsantrag gestellt, und Jennys Chef hatte widerwillig zugestimmt, nachdem sie ihm kategorisch erklärt hatte, so oder so auf keinen Fall in die Frankfurter Dienststelle zurückzukehren.

Den Wagen bis unters Dach mit Kartons und Tüten vollgepackt, fuhr sie auf der A61 Richtung Koblenz. An der Abfahrt Pfalzfeld verließ sie die Autobahn und folgte einer Landstraße bis zur Abzweigung nach Badenhard. Der kleine Ort erstreckte sich hauptsächlich entlang der Hauptstraße, die weiter nach Birkheim führte und dann in einem Bogen zurück zur Landstraße. Mit viel Verkehr war hier nicht zu rechnen. Sie hielt im Ort an und beugte sich vor, um auf die Straßenschilder zu schauen. Der Heckenweg ging hier, wo die Hauptstraße einen Knick nach rechts machte, geradeaus ab. Er war nicht geteert und ihr Toyota protestierte ächzend, als sie in den schlaglochübersäten Feldweg fuhr.

Das Haus war das dritte auf der linken Seite. Dahinter sah Jenny einen Zaun, über den sich grauweiße wollige Köpfe neugierig reckten, als sie auf einem der beiden Stellplätze einparkte.

Alles war dunkel. Die Mieter – oder waren es Eigentümer? – der Wohnung im Erdgeschoss schienen nicht zu Hause zu sein. Jenny stieg aus und sah sich um. Ein kalter Wind blies und brachte den Geruch nach Schafen und Wald mit sich. Still war es hier … obwohl … jetzt, wo sie einen Moment lauschte, hörte sie das Rauschen der Bäume im Wind, Vogelgezwitscher und ab und zu das Blöken eines Schafes. Nur der Verkehrslärm fehlte.

Sie fröstelte, schnappte sich zwei große Taschen aus dem Auto und brachte sie zur Haustür. Der zweite Schlüssel passte und sie betrat ein enges holzgetäfeltes Treppenhaus. Rechts schien eine Tür in den Keller zu führen, geradeaus ein paar Stufen hinauf war die Tür zur Erdgeschosswohnung. Jenny schleppte ihre Taschen die Treppe in den ersten Stock hinauf und schloss feierlich die Tür zu ihrem neuen Zuhause auf Zeit auf.

Ein heller quadratischer Flur empfing sie, von dem Türen in Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad abgingen. Mehr Räume gab es nicht. Michael Danner hatte die Wohnung nach der Trennung von seiner Frau als Übergang und günstigen Ausgangspunkt zum Flughafen Hahn genutzt.

Erfreut sah Jenny die helle Einbauküche, und auch das Wohnzimmer war in hellen, freundlichen Farben gehalten. Im Schlafzimmer stand ein schmales unbezogenes Bett. Enttäuscht stellte sie fest, dass die Wohnung keinen Balkon hatte. Vielleicht konnte man sich hinter das Haus in den Garten setzen.

Nach und nach trug sie alles hinein. Dann schaltete sie den Kühlschrank ein und erstellte eine Einkaufsliste.

Die Zeiten, wo der Weg zum Supermarkt nur fünf Minuten dauerte, waren vorbei. Der nächste Großmarkt war in Emmelshausen, etwa 15 Kilometer entfernt. Dort befand sich jedoch, wie sie recherchiert hatte, alles Notwendige. Läden, Ärzte, ein Kulturzentrum und alles, was man sonst so brauchte. In Badenhard selbst gab es immerhin einen Metzger, einen Familienbetrieb, der jedoch laut Michael Danner für seine Qualität und seine günstigen Preise weit über die Gegend hinaus berühmt war.

Ihr Blick fiel auf die Heizung. In Frankfurt war es leidlich warm gewesen, hier im Hunsrück schien es an diesem bewölkten Tag deutlich kühler. Sie drehte den Thermostat auf 23 Grad. Dann begann sie mit dem Auspacken.

Eine Stunde später hatte sie alles verstaut und das Bett mit der mitgebrachten Bettwäsche bezogen. Mittlerweile war es angenehm warm und Jenny schaute sich zufrieden um.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon nach sechzehn Uhr war. Sie hatte Hunger … Es war Zeit zum Einkaufen.

Sie fuhr zurück zur A61 und folgte ihr einige Kilometer bis zur nächsten Ausfahrt. Wenige Minuten später fuhr sie einen Hügel hinab nach Emmelshausen hinein. Neugierig sah sie nach rechts und links. Ein Optiker, ein Friseur, ein Schmuckgeschäft, sogar einen Bioladen gab es. An einem Kreisel sah sie rechts das Logo eines Supermarktes und bog ab. Der Parkplatz war halb leer und auch im Laden herrschte ein eher gemütlicher Betrieb. Nach weiteren zehn Minuten war ihr Einkaufswagen brechend voll. Im letzten Moment stopfte sie noch eine Flasche Rosé dazu. Dann stellte sie sich an der Kasse an. Nur ein weiterer Kunde war vor ihr. Als sie an der Reihe war, begrüßte die Kassiererin sie mit einem freundlichen Lächeln. Irritiert lächelte Jenny zurück. Sie kam sich vor wie im Urlaub. So entspannt hatte sie in Frankfurt selten einkaufen können.

Als sie nach Badenhard hinein fuhr, war dort deutlich mehr Leben als früher am Tag. Man merkte, dass hier viele Pendler wohnten, die langsam aus Mainz oder Koblenz zurückkamen. Es parkten mehr Autos in den Einfahrten und an der Straße, und hier und da war jemand im Garten zugange.

Sie fühlte, dass einige Blicke ihr folgten, als sie in den Heckenweg abbog. Vor dem Haus stand ein Mann mittleren Alters an der Schafweide und reparierte etwas am Zaun.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er, als sie einen Einkaufsbeutel nach dem anderen aus dem Auto hob.

„Nett von Ihnen, aber es geht schon. Ich gehe einfach mehrmals.“

„Ich kann doch mit anfassen, warten Sie.“ Mit Leichtigkeit nahm er vier Tüten und deutete mit ihnen aufs Haus. Jenny blieb nichts anderes übrig, als die beiden anderen zu greifen und voranzugehen.

„Wohnen Sie jetzt hier?“, fragte er auf halbem Weg die Treppe hinauf.

„Fürs erste“, erklärte sie.

„Ferien?“ Er wartete, bis sie die Tür aufschloss.

„Hier hinein bitte“, sie deutete auf die Küche. „Nein, ich bin nach Koblenz versetzt worden. Ich komme aus Frankfurt.“

Er stellte die Taschen auf den Küchentisch und streckte die Hand aus. „Willi … Willi Huber. Ich wohne schräg gegenüber. In dem gelben Haus. Mir gehören die Schafe.“

„Sehr erfreut“, antwortete Jenny und schüttelte die dargebotene Hand. „Dann …“

„Schönen Abend noch! Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns!“

Er wandte sich zum Gehen und Jenny begleitete ihn zur Tür. „Und danke!“

Er brummte etwas Unverständliches.

„Ach …“, fing Jenny an.

Er blieb stehen und sah sie fragend an. „Die Mieter unter mir …“

„Die sind nur ab und zu am Wochenende hier. Keine Ahnung, ob sie diese Woche kommen.“ Sein Unterton besagte, dass das Verhältnis zu ihnen nicht das Wärmste war.

„Nochmal danke!“, sagte Jenny, und er verschwand die Treppe hinunter.

Jenny räumte alles in die Schränke. Dann kochte sie sich einen Teller Spaghetti mit Öl und Knoblauch und trank ein Glas Rosé dazu.

Den Fernseher hatte sie noch in Frankfurt und so nahm sie sich ein Buch und las, bis ihr die Augen zufielen.

Später lag sie im Bett und konnte nicht schlafen. Irgendwo bellte ein Hund, und ein Schaf blökte schläfrig.

Wind kam auf, und ein merkwürdiges Surren war kurze Zeit zu hören. Irgendwann dämmerte sie weg. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Bilder ihres Traumes, in dem Michael vor ihr weglief und sie versuchte, ihm zu folgen, flackerten noch einige Momente durch ihren Kopf. Was hatte sie geweckt? Da … jetzt hörte sie es wieder. Ein lautes quietschendes Pfeifen, wie es sich angehört hatte, wenn sie als Kinder Grashalme zwischen die Finger geklemmt und dagegen geblasen hatten. Es wiederholte sich, kam näher und entfernte sich wieder. Was konnte das sein?

Sie erhob sich und tappte auf nackten Füßen ans Fenster. Vorsichtig schob sie die Gardine zur Seite. Links sah sie die Schafe, die zusammen gedrängt am Zaun standen. Doch da gegenüber war irgendetwas. Sie beugte sich weiter vor. Eine braune Gestalt war dort, nur undeutlich zu erkennen. Jetzt bewegte sie sich, ein weißer Fleck blitzte auf, als das Reh davon sprang. Ein zweites tauchte auf und hastete hinterher.

Kopfschüttelnd ging Jenny zurück ins Bett. Sie lächelte. Rehe direkt vor dem Haus. Es war, als wäre Frankfurt und alles, was damit in Verbindung stand, plötzlich ganz weit weg. Kurze Zeit später schlief sie tief und traumlos.

Das restliche Wochenende verbrachte sie mit zwei weiteren Fahrten nach Frankfurt. Endlich hatte sie alles im Auto, was sie mitnehmen wollte. Sie warf einen letzten Blick in alle Zimmer und kontrollierte, dass sämtliche Elektrogeräte, die zurückblieben, ausgestöpselt waren. Dann stellte sie die Heizung auf eine Temperatur, die gewährleisten würde, dass nichts einfror. Ihre Nachbarin, der sie die Schlüssel zurückgegeben hatte, würde ab und zu nach dem Rechten sehen. Jenny würde die Wohnung zunächst behalten und möglicherweise irgendwann vermieten. Die Mieten in Frankfurt hatten astronomische Höhen erreicht, und es würde bei der herrschenden Wohnungsknappheit nicht schwer sein, Mieter zu finden.

Es war eine merkwürdige Empfindung, als sie schließlich auf die A66 Richtung Mainz einbog. Als würde sie mit etwas abschließen und gleichzeitig einem Neuanfang entgegensehen. Sie kostete das Gefühl einen Moment aus wie einen neuen Geschmack auf der Zunge. Ja, es gefiel ihr definitiv.

Abends legte sie ihre Kleidung für den nächsten Tag bereit. Es sollte ihr erster auf der neuen Dienststelle sein. Obwohl sie seit vielen Jahren ihre eigene Abteilung geleitet hatte, würde sie hier zunächst an zweiter Position unter einem gewissen Andreas Sobottki arbeiten. Eine leitende Stelle war nicht frei, hatte man ihr bedauernd mitgeteilt. Ihre Bezüge blieben dadurch jedoch unverändert.

Jenny war es einerlei. Ihr Ehrgeiz war mit dem Moment, als Biederkopf ihr seine Absicht, sich zu trennen, mitteilte, gestorben. Sie würde machen, was ihr gesagt wurde und damit zufrieden sein.

Auf einer Karte, die sie an der Tankstelle gekauft hatte, verschaffte sie sich einen Überblick über Koblenz und seine Stadtteile und sah nach, wie sie zum Polizeipräsidium kommen würde.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen stand sie früh auf, um ja nicht zu spät zu ihrem ersten Tag auf der neuen Arbeitsstelle zu kommen. Die A61 war voll, und die Karawane aus Lastwagen mit überwiegend osteuropäischen Kennzeichen und PKW, die häufig gelbe Nummernschilder hatten und Wohnwagen hinter sich, schob sich mit kaum mehr als Tempo achtzig Richtung Koblenz. Richtig schlimm wurde es jedoch, als sie in die Stadt fuhr. Die Straßenführung war auch mit Navi kaum zu durchschauen, und mehrmals musste sie wenden, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Entnervt fuhr sie kurz vor acht in die Tiefgarage der Dienststelle.

Als sie endlich den richtigen Raum gefunden hatte, war es bereits fünf nach. Sie klopfte an die Tür ihres neuen Abteilungsleiters und wartete. Nichts. Nach ein paar Sekunden klopfte sie noch einmal.

„Morgen. Sie sind sicher die Neue aus Frankfurt?“ Die Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. „Nana, ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Ein älterer Mann mit Bauchansatz und zurückweichendem Haar stand vor ihr, zwei Pappbecher, aus denen es verführerisch nach Kaffee duftete, in der Hand. Er reichte ihr den Ellbogen und wies damit, nachdem sie ihn andeutungsweise geschüttelt hatte, auf die Tür.

Jenny öffnete und ließ ihn vorgehen. Er streckte ihr einen der Becher entgegen. „Für Sie. Dachte, Sie könnten was Warmes vertragen. Ohne Kaffee komme ich morgens gar nicht in die Gänge.“

Jenny nahm den Kaffee und stellte sich endlich vor. „Danke, Jenny Becker, das geht mir genauso! Also mit dem Kaffee. Sie sind …?“

Sie schüttelten sich die Hände. „Sobottki. Herzlich willkommen. Setzen Sie sich doch.“

Er wies auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch, der schon bessere Jahre gesehen hatte, und ließ sich selbst mit einem Ächzen dahinter nieder. Jenny setzte sich und sah sich im Büro ihres Vorgesetzten um. Ihr Blick fiel auf eine Kaffeemaschine, die auf einer Anrichte neben dem Schreibtisch stand. Sobottki folgte ihrem Blick. „Kaputt. Ich muss endlich eine neue besorgen. Aber Sie wissen ja, wie das ist.“

Das wusste Jenny eigentlich nicht, eine Kaffeemaschine hätte sie sofort ersetzt, aber sie verstand, was er ihr sagen wollte.

„Also nochmal herzlich willkommen. Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich hier wohlfühlen. Ich hoffe, Sie werden den Großstadttrubel nicht vermissen.“

Er ließ es wie eine Frage klingen und Jenny antwortete pflichtgemäß. „Sicher nicht, Herr Sobottki. Außerdem ist Koblenz ja auch eine gar nicht so kleine Stadt. Sicher passiert hier genug. Und Frankfurt ist nicht so schlimm, wie immer behauptet wird.“

Er wiegte den Kopf. „Mit Tötungsdelikten und Kapitalverbrechen haben wir hier nur selten zu tun. Warum haben Sie sich denn versetzen lassen?“

Jenny hatte mit dieser Frage gerechnet, trotzdem brachte sie sie kurz aus dem Konzept. Ihr Zögern dauerte einen Moment zu lange, und Sobottki hob fragend eine Augenbraue. „Wenn Sie nicht …“