Aphorismen wie Leuchttürme - Puran Füchslin - E-Book

Aphorismen wie Leuchttürme E-Book

Puran Füchslin

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Beschreibung

Aphorismen wie Leuchttürme - Orientierungspunkte auf dem Ozean unserer Reise durch den Alltag. Liebe Leser, Wir stehen den 'grossen Themen' des Lebens oft sehr starr und statisch gegenüber, ausgerechnet dann, wenn wir, im persönlichen Leben ebenso wie in unseren kollektiven Verantwortungen beweglich, frisch und bereit sein müssten. Diese Mängel haben viele Auswirkungen, und so steht dieses Buch hier mitten in unserem Alltag - wir in Richterswil, einem Dorf der städtischen Agglomeration nahe bei Zürich. Vielleicht könnte sich ja auch unser Nachbardorf mit ähnlichen Inhalten schwertun... Wenn wir hier auf der einen Seite die wunderbaren Aphorismen von Mevlânâ Jelâl-ed-din Rûmi als Orientierungspunkt haben, Titel jedes Kapitels, so steht der Inhalt mitten in unserem Dorfalltag im Jahre 2023 - genau mit den Parametern, die uns beschäftigen, beunruhigen, fordern... Herzlich Puran Füchslin

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Liebe Freunde,

Mein Staunen über unser Leben hat mich nur für kurze Zeit einmal verlassen - doch jetzt, mit nun 73 Jahren, ist es so frisch zurückgekehrt, genau gleich wie als ich fünf, sechs Jahre alt war. Diese wunderbare Faszination nahm ihren Anfang bei Belotti, ich weiss es noch so genau - wir nannten ihn 'Goldzahn'; er war der erste Mensch, bei dem ich wirklich zutiefst staunte, das hatte ich noch nie gesehen. Belotti war Maurer, er arbeitete beim Spelgatti - und war immer zusammen mit einem Kollegen, beides hoch geschätzte 'muratori' aus Bergamo. Die beiden teilten eine gemeinsame Biografie und waren gute Freunde.

Dieser Goldzahn konnte sich in den Pausen seiner Arbeit in einer uns völlig fremden Sprache glänzend unterhalten, bei Wurst und Brot und einem Bier (ich rieche den Duft noch heute) - und wir standen dabei, staunten und verstanden kein einziges Wort - das war ein enormer Mangel, den ich mit allem, was mir zur Verfügung stand, überwinden wollte, wir legten uns ein erstes, selbst geschriebenes Wörterbuch an - mit fünf - daran hat sich bis heute nichts geändert.

Diese Sehnsucht war ein Leuchtturm an der alexandrinischen Küste, so weit weg - und doch Motor, jeden Tag, jede Nacht, von neuem. Sie hat mich, metaphorisch gesprochen, um die ganze Welt geführt, physisch beinahe um die ganze Welt.

Und so nehme ich Euch hier mit, liebe Freunde, wenn Ihr mögt - ein Aphorismus leitet jeden Abschnitt dieses Buches ein - und daran hängen wir dann unsere kleinen und grossen Geschichten, oder Erkenntnisse, oder Analysen, oder was immer....

Das Schönste, was ein Buch erreichen kann - es kann uns helfen, festgefahrene Meinungen und Haltungen einfach hinter uns zu lassen, aus Freude an der Bewegung. Das Buch, ein Brief an jene Zukunft, die noch nicht geschrieben ist, neu, anders als ich sie mir selber vorstellen kann!

* * *

Die 'Leuchttürme' entstanden vor mehr als 800 Jahren - ein 'Ausländer' schuf sie, Produkt einer ganz besonderen Alchemie - ich hatte ein Jahr an ihrer Herausgabe auf Deutsch gearbeitet und nannte sie 'Goldgräberworte'.

Es ist jedoch der Autor, Mevlânâ Jelâl-ed-din Rûm-î, der uns das Wunder der lebendigen Sprache gebracht hat - die Goldschmiede in der Altstadt Konyas in Anatolien gaben ihm den Rhythmus vor. Der nahe Vulkan machte mit seiner Gegenwart den Menschen bewusst, welche Kraft in ihm schlummerte und brodelte - er machte sie wach genug, Ausschau halten zu wollen nach Leuchttürmen - wie diesen hier - ihr Leben war nicht so viel anders als die Zeit, in der wir heute leben....

Jedes Kapitel dieses Buches wird also einen Zeitsprung bringen, über 800 Jahre hinweg - Ausgangspunkt ist der Aphorismus, und er wird uns viel Licht spenden, unser eigenes Leben heute wie ein Kaleidoskop betrachten zu können - mit vielen Facetten, manchmal altbekannt, manchmal völlig neu in der Perspektive - sehen können, was uns fehlt, was wir vielleicht verloren haben, was uns bereichert.

Eine Betrachtung dazu: War mir der Mangel, von dem ich oben sprach, bewusst, damals? Mit fünf Jahren haben wir ja noch nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten, die uns auch die Schatten bewusst machen könnten.

Doch ich glaube schon, ja, der Mangel war mir bewusst, in einer vielleicht 'embryonalen Form', würde ich heute beschreiben. Natürlich zeigte es sich nicht in der heutigen Sprachform, viel spontaner, in Neugier, etwas im Inneren, das nach aussen gehen wollte, offenbar - wir leben ja einfach nur, mit fünf....

Doch offenbar waren da zwei, drei Menschen, die erkannten dies, damals schon - besser als ich es konnte. Ihnen gehört meine tiefe Dankbarkeit ganz besonders, Hüter unserer Talente.

Richterswil, im Herbst 2023

Puran Füchslin

Inhaltsverzeichnis

Geduld mag bitter sein...

Hallo Weise(r), wenn Du wahre Kunst erreichen willst...

Ein scharfes Schwert...

Ein Schneider macht das Kleid in der Grösse...

Ein Kind hat Angst vor dem Skalpell...

Die Essenz aller Wissenschaft ist die Antwort...

Werde stark ohne Gewalt, und werde sanft...

Wenn ein Vogel sich auf einen Berg setzt...

Du findest Weinberge, Gärten und grüne Felder...

Auch wenn Du Vernunft walten lassen kannst...

Wenn der Essig saurer wird...

Säe Samen der Güte, wann immer Du kannst...

Wenn Du einen leeren Krug in die Nähe stellst...

Ein intelligenter Mensch kann nicht alles sagen...

Wie kann das grüne Gras lächeln...

Weder Haselnüsse noch Walnüsse zeigen Dir...

Wenn uns unsere Mängel bewusst werden...

Wenn Du den Schmied nicht kennst...

Geh und besuche Deine Freunde regelmässig...

Ein Papagei plappert nach...

Wo Not ist, da geht das Heilen hin.

Der Grund, weshalb die Rose so gut riecht...

Der Schlaf und der Augenblick des Erwachens

Eine Wand sagt zum Nagel: Warum verletzt Du mich?

Auch wenn Dein Mantel alt ist...

Wir Menschen sind aus einem Stoff geschaffen

Geduld mag bitter sein, doch sie bringt süsse Früchte ...

Es gibt einen Grund, weshalb ich unser Buch hier mit diesem Aphorismus beginnen will - ich versuche zu beschreiben:

In einer besonderen Zeit meines Lebens arbeitete ich mit Anny Burger zusammen, und was ich von und mit ihr lernte war die eigentliche 'Grundprüfung' meines ganzen Lebens - wir arbeiteten im Jugendcafé in der Altstadt Zürichs, wir waren da nicht nur für Jugendliche, die Ursprung des Konzeptes waren, sondern für alle 'Gestrandeten Zürichs'; sie tauchten früher oder später bei uns auf, für die einen waren wir einfach ein 'Café, das günstig war', für andere Anker und einziger Zufluchtsort in einem Leben, das in ihren Augen nur von Katastrophe zu Katastrophe dahinsegelte - stets mit ihrem inneren Alarmknopf, vor allem, was ihnen begegnete.

Natürlich war es eine enorm fordernde Zeit, damals war ich so um die dreissig - es war die Zeit des AJZ und dem Platzspitz voller Heroin. Ich war sehr froh, dass Anny Burger mir die Voraussetzungen zu unserer Arbeit auf eine Weise klar beschreiben konnte, dass wir nach unserer ersten Viertelstunde zusammen nie mehr, für den ganzen Rest unseres Lebens, zurückkehren mussten zu diesem Ausgangspunkt. Da war Vertrauen, Sicherheit.

So war in unserem Leben immer eine Vorwärtsbewegung, natürlich wurde sie immer wieder auf die Probe gestellt, an jedem einzelnen Tag. Oft standen wir vor Entscheidungen, die sehr viel Tragweite hatten - nicht für uns, unseren eigenen Arbeits- und Lebensrahmen, doch für jene, die uns ihr Vertrauen geschenkt hatten und immer wieder zu uns kamen, um Rat oder Unterstützung zu suchen.

Unser Alltagsleben hatte ja auch etwas Paradoxes, zumindest schien es von aussen so: Während durch das Leben unserer Gäste meistens Stürme aller Art tobten, die einen ausgelöst von aussen, mit Behördenentscheiden, die von ihnen Dinge forderten, denen sie sich einfach machtlos ausgeliefert fühlten - Mangel an Einsicht, Mangel an Wissen, Mangel an Überblick, für sich selber oder die fordernde Behörde - so erwarteten sie von uns Stabilität, Zuverlässigkeit, Verständnis, Ausgewogenheit, fähig, Sichtweisen aus verschiedenen Blickwinkeln zu einem Gefühl zusammenzubringen: 'Wir sind uns sicher, die Leute im Juca lassen uns nie im Stich' - Gassensprache benutzt selten solche Worte.

* * *

Anny Burger und ich waren ja nicht einfach 'fertige' Menschen, alles andere als das. Unser eigenes Ideal, den Gästen diese Form von Sicherheit geben zu wollen, stand auf einer ganz anderen Ebene jeden Tag auf einem Prüfstand, den die Gäste nur ganz selten, fragmentarisch, überhaupt wahrnehmen konnten - die Verantwortung dafür lag ausschliesslich bei uns beiden - weder Leitender Ausschuss oben oder Polizisten unten, mit ihrem Bedürfnis und Vorgaben nach Kontrollrazzien hatten Einblick darin.

So sassen wir, nachdem die Gäste um 23.00h das Café verliessen (es öffnete jeweils um 16.00h), unzählige Male noch zusammen danach, manchmal bis drei Uhr morgens - und loteten gemeinsam aus, wie unser Ideal in Länge, Breite, Höhe und Tiefe so stabil bleiben konnte, dass es selbstverständlich wurde.

Es war bei weitem der wertvollste Aspekt unserer gemeinsamen Arbeit, und es bewegt mich jedes Mal sehr, wenn ich mich daran erinnere - Anny Burger hatte eine befreite Herzlichkeit in ihrem eigenen Leben geschaffen, die klar, durchdacht und durchgearbeitet war, in allen Aspekten unseres Lebens. Und dass ich daran teilhaben konnte und mich selber daran 'schleifen' lernen konnte, war einfach unbezahlbar, es strahlt auf alle Ebenen aus - Freiheit, gezähmt in Verantwortung ist wohl die beste Beschreibung dafür.

Geduld mag bitter sein - immer und immer wieder standen wir in dieser Situation: Not drängte, so oft im Leben auf der 'Gasse', die Not bei unseren Gästen, ob von aussen oder von innen, war immer auf den heutigen Tag bezogen - die meisten hätten sich eine Kontinuität über eine Woche, einen Monat, oder sogar über ein Jahr hinweg nicht einmal vorstellen können - solche Konzepte lagen weit jenseits ihrer persönlichen Lebenserfahrung.

Umso zentraler war unsere gemeinsame Fähigkeit, Geduld zu haben, ausgereifte Überlegungen und Gefühle als Gegenpol setzen zu können für die 'himmelhoch-zutiefst erschüttert' - Wirklichkeit im Denken und Fühlen unserer Gäste, jeden einzelnen Tag.

Anny Burger hatte gemeinsam mit den Gassenjugendlichen die Basis gelegt für dieses Juca, in intensiven Dialogen, sie forderte von ihnen Klarheit, Schlussfolgerungen, die sie von ihnen brauchte, um dann umwandeln zu können - Basis im Juca - in konkrete Angebote, Rahmenbedingungen, erarbeitet auch gemeinsam mit dem Sozialamt und dem damaligen Polizeivorstand Frick - riesig, was Anny da geschaffen hatte.

Natürlich fragte ich sie auch: 'Hast Du ein 'Grundrezept', dass so etwas überhaupt möglich wird?' Ihre Augen funkelten, sie freute sich über meine Frage. 'Ja natürlich'. Sie freute sich auch, Spannung erzeugen zu können, freudige Spannung der Erwartung:

'Wenn ich vor wichtigen Entscheidungen stehe, so wende ich die 'Drei-Tage-Regel' an - sie hat sich verblüffend bewährt:

- Am ersten Tag nehme ich alle Argumente zusammen, die mein Ziel, mein Projekt, meine Absicht unterstützen, alle Aspekte, ich schreibe sie mir auf, Dialoge, rechtlicher Rahmen, finanzieller Rahmen, Voraussetzungen zum Gelingen. Die trage ich mit mir, nur positive Aspekte - und dann gehe ich schlafen...

- Am zweiten Tag schaue ich alle Hindernisse an, alle negativen Aspekte, die eigenen zuerst, dann jene der anderen. Ich trage sie genauso mit mir - und dann gehe ich wieder schlafen...

- Der dritte Tag hat dann jeweils den Weg geöffnet, jedes Mal.'

* * *

Hallo Weise(r), wenn Du wahre Kunst erreichen willst, helfe allen anderen, sie zu erreichen ...

...'Und dann gehe ich schlafen'... mit einem wissenden Augenzwinkern, natürlich - wir wussten beide, was dies beinhaltete.

Nun, liebe Freunde, dies hier ist für mich eines der grössten Wunder, die ich im Verlaufe meines Lebens angetroffen habe - und wiederum ist da eine Verbindung zu diesem 'Ausländer', wie ihn die türkischen Mitbewohner nannten - ich zitiere ihn gern noch einmal. Unser Aphorismus oben bezieht sich nicht 'nur' auf Kunst, sondern ist Schlüssel zu all den Dingen, von denen wir zwar wissen, sie aber nicht als für uns erreichbar betrachten - statt 'Kunst' könnten wir auch 'Musikalität' sagen.

Wie viele Menschen kennt Ihr, die von sich selber sagen: 'Ich bin halt nicht musikalisch!', und dies sogar auch noch glauben? In meinen Augen sowieso viel zu viele, eine solche Aussage macht mich oft zutiefst traurig.

Hier wieder der kleine Sprung zu unserem ...'dann gehe ich schlafen'... und gerne zitiere ich wieder Rûm-î:

Nachts befreist du unseren Geist

vom Körper und seinen Fesseln

und machst ihn wieder rein und klar

wie eine unbeschriebene Tafel.

Kein König weiss mehr von seiner Majestät,

kein Gefangener weiss mehr von seiner Beschränktheit...

Was beschreibt Mevlânâ da? Etwas höchst Wissenschaftliches, nicht nur, aber auch. Er beschreibt das Phänomen 'Schlaf', wie wir es nur selten bewusst wahrnehmen - dem möchte ich hier gerne etwas nachgehen, willkommen, wenn Ihr dabei sein wollt!

Unsere Seele, eingepackt in unseren Körper und unser Gemüt, könnte dieses Gefängnis gar nicht ertragen, so ohne jeden Pause dazwischen, viel zu schwer, schwerfällig, gewichtig, einengend.

Dafür wurde für uns der Schlaf eingerichtet. Kein Mensch könnte je sich selber, die eigenen Gedanken und Gefühle, diesen Mix, den wir 'unser Leben' nennen, ohne Pause ertragen - die gleichen Routinen, die immer wiederkehrenden Gedanken, Gefühle, Wellen.... ein Krampf ohne Ende, kennt Ihr das?

Wenn da nicht der Schlaf wäre...

Im Schlaf lösen sich all unsere 'Muster' auf, sie sind einfach nicht mehr da - und die Seele entschlüpft jede Nacht und reist in Windeseile; sie weiss, wo Gesundheit, Erneuerung, Erleichterung, Befreiung stattfindet, auf allen Ebenen, weit weg von dem, was unser Alltag ist. Seid wachsam, liebe Freunde, was genau geschieht, wenn Ihr am Einschlafen seid! Seid achtsam, wie Ihr das Einschlafen vorbereitet!

Und dann seid ebenso wachsam, wenn Ihr Euch am Morgen aus dem Schlummerland wieder zu dem, was wir 'Leben' nennen, zurückfindet! Achtsam, wie Ihr das Aufwachen vorbereitet!

* * *

Gestern Abend war ich noch unten im Dorf, da war die Einladung der Richterswiler Fontänen-Gesellschaft für die jährliche Schiffsrundfahrt vor der Generalversammlung - und zuvor noch die überraschende Meldung auf dem Handy: Tina Turner ist gestorben, simply the Best - einfach so entschlüpft, gute Reise!

Da kam mir das praktische Beispiel in den Sinn zu dem, was ich oben beschreiben wollte. Wir tun genau das Gleiche wie unser Laptop, wenn wir ihn nach getaner Arbeit schliessen - es ist ja eher so, dass die Menschen, die den Computer erfanden, sich zuerst genau mit dem befassen, was wir tun, um es dann umsetzen zu können in 'Erfindung'.

Was geschieht, wenn ich 'Herunterfahren' anklicke? Der Computer sammelt die offenen Dateien und Apps ein, räumt sie auf, schliesst eine nach der anderen, danach schliesst er sein eigenes Wissen über sich selbst, und irgendwann löscht das kleine Lichtlein über dem 'Aus'-Knopf, er schläft nun tief und fest.

Und dann, beim Neustart, der umgekehrte Prozess: Mit dem ersten Impuls kommt genau das, was wir tun, wenn wir am Morgen zu erwachen beginnen - das Bewusstsein kommt zurück, Fragment um Fragment, setzt sich neu zusammen: 'Wer bin ich? Was ist für ein Tag? Was ist die heutige Aufgabe? Habe ich alles beisammen, was ich brauche, Arme, Beine, geputzte Zähne, Gedanken, Gefühle, meine Fähigkeit, zu erkennen und zu gewichten?' - die Grundelemente unseres 'Ich-Seins'.

Erst dann beginnen wir, 'Programm-Apps' zu öffnen, Duschen, Rasieren, (Senioren: Medikamente nicht vergessen), Frühstück vorbereiten, Zeitung lesen, und irgendwann den Laptop öffnen, mit Arbeiten beginnen...

Was unterscheidet den Schlafzustand vom Wachzustand? Nur eines: es fliesst kein Strom vom Plus zum Minus - da ist kein Wille.

* * *

Und wieder liegt all unser Erkennen bei unserer Achtsamkeit - da ist es sowieso, ob wir es wahrnehmen oder nicht... Nehmen wir wahr, dass sich zwischen all diese Fragmente etwas Neues geschoben hat, jeden Morgen? Etwas, das gestern noch nicht da war, das vielleicht noch nie da war, so, in unserem Leben?

Dies meint Mevlânâ - und Leonard Cohen bezieht sich darauf in einem seiner Lieder: 'there's a crack in everything, that is where the light comes in' - da ist ein Riss, ein Spalt, ein Sprung in allem, und da kommt das Licht herein - das Licht der Erneuerung.

Was bedeutet dies nun, wenn wir darüber nachdenken? Es bedeutet, dass unser Leben jeden Morgen einfach neu anfängt, nichts vorgegeben, nichts festgelegt, 'Morning has broken, like the first morning' - Yusuf.... Erst danach beginnen wir unsere Routinen einzusetzen, um wieder herzustellen, was wir am Tag zuvor verlassen hatten - wir setzen das, was wir unsere Persönlichkeit nennen, jeden Morgen von neuem zusammen, wie ein Puzzle.

Es braucht etwas Übung, erkennen zu können, welche alten Puzzleteile wir gar nicht mehr finden, und welche neuen wir wo einpassen können; manchmal finden wir für das Neue gar keine Lücke mehr im Gesamtbild, wo es hineinpassen könnte - wir grenzen uns dann oft vor uns selber aus. Und wenn wir verliebt sind? Da schüttelt es manchmal alle fünftausend Teile so durcheinander, dass wir nur am Ordnen sind und uns sicher an die drei wichtigsten Termine unseres heutigen Tages nicht einmal erinnern!

Einfach nur - lebendiges Leben! Wie wunderbar! Wenn wir solches Verständnis zum Grundton unseres Lebens machen können, was für ein Segen kommt da! Zum Beispiel:

'Wenn wir verstehen, brauchen wir nicht mehr zu urteilen'.

Es liegt nicht in unserem Bereich, entscheiden zu können, was Sinn macht oder nicht. Dies liegt ausserhalb unseres Einflussbereiches. So müssen wir uns darauf beschränken, Sinn finden und Sinn erkennen zu können - auch in Dingen, die uns völlig gegen den Strich gehen.

In einer Arbeit für unser Dorf habe ich einen Begriff gesucht, der nicht in alte Schubladen passt - schliesslich schälte er sich heraus: 'Symbiosen der Not'. Mit Katja hatte ich eine Begegnung im Kreis 4 in Zürich besprochen - die Wohngemeinschaft eines Sohnes mit seiner 93-jährigen Mutter - der Sohn seinerseits ist etwa 55 und seine Neurodermitis bringt ihn dazu, sich oft zu kratzen. Er hatte gerade die Aufforderungen erhalten, sich eine neue Wohnung zu suchen - da die beiden für die alte Wohnung im Lochergut die Kriterien nicht mehr erfüllten.

Erkennt Ihr den Sinn dieses Begriffes: 'Symbiose der Not'? Er soll einfach ohne Urteil so angeschaut werden, 'Arbeitstitel' - wir haben noch nicht genügend Kriterien, solche Symbiosen noch nicht ernsthaft genug betrachtet und studiert...

Das Übliche ist, dass sich da ein Apparat in Bewegung setzt, der ist meistens bedrohlich für eine solche Symbiose; und wenn etwas bricht darin, löst dies eine lange Kette von Folgen aus, alle decken mit ihrem Bedürfnis nach 'Lösungen' den inneren Sinn einer solchen Symbiose zu - unwiederbringlich, sehr oft.

Wäre da nicht der Schlaf....

* * *

Liebe Freunde, manchmal werden meine Gefühle und Gedanken während des Schreibens zähflüssig, und ich denke mir dann: 'Soll ich so weit weg vom Alltag Dinge beschreiben?'

Dann mache ich mich auf, ins Dorf, schaue beim Skenderbeg vorbei, kaufe Tagi und NZZ, mache mich wieder auf, den Berg hoch bis zur Burghalde - heute noch ein kleiner Einkauf beim Spar. Und wer steht da draussen, etwas gedankenverloren? Die liebe Sybille, ihrerseits wohl nahe bei 90, mein Hallo holt sie aus tiefen Gedanken... Wie geht's? 'Nun ist es nur noch ein Abwarten', gibt sie zur Antwort, 'mein Mann ist teilnahmslos geworden mit seinem Alzheimer, isst kaum noch, scheint genug zu haben'. Ich kenne Sybille gut, frage nach: 'Aber Deine Gegenwart spürt er schon?'

Da kommt ihre Antwort mit Schwung, unmittelbar: 'Ja, wir haben uns ja versprochen, füreinander da zu sein, im Guten wie im Schwierigen. Ich gehe ihn jeden Tag besuchen im Wisli, seit ein paar Jahren nun, die Pflegefrauen haben ja nicht einfach rund um die Uhr Zeit. Ich habe im Krieg meinen Vater früh verloren, er auch, und so gehören wir zusammen, nun schon so viele Jahre.'

Versteht Ihr, wovon ich spreche, liebe Freunde? Jede Nacht ein 'crack', ein Riss, ein Bruch, ein Spalt - und da fliesst alles Mitgefühl herein, das Sybille braucht für ihre Aufgabe - es versiegt nie, kann gar nicht versiegen, eine Überfülle von wunderbarem Menschsein, es muss sich nicht einmal befragen.

Keine Sekunde haben Gedanken an sich selber, an eigene Wün-sche oder Sorgen, Platz im Leben von Sybille. Leben mit dem Vertrauen eines Kindes - mit Mut, unsere vergrabene Unschuld wieder zu finden. Die Pizza vom Spar hat ganz wunderbar geschmeckt!

* * *

Anspruchsvoll wird es, wenn wir Verantwortung tragen in Funktionen, für eine Gemeinde, oder ein weites Arbeitsfeld, das unterschiedliche Felder bewirtschaftet...

Ein scharfes Schwert kann weiche Seide nicht zerschneiden...

Nun, liebe Freunde, heute ist Pfingstsonntag - da liegt ein besonderes Gefühl der Reife in der Luft, reifes Gras, das pastellfarbig zu blühen begonnen hat, Reife in der Atmosphäre, sehr dicht und bedeutungsvoll - und viel Zeit, jedes Wort, jeden Satz, den ich bisher geschrieben habe, nochmals anzuschauen, dem Gefühl nachzuspüren, ob 'es sich richtig anfühlt' - die Schrift, die Abschnitte, die Wortwahl - Leben, wie ich es mir immer gewünscht habe.

Wollen wir etwas diese Symbiosen studieren, was ist ihr Ursprung, sind ihre Geheimnisse, was macht sie zu einer 'Symbiose der Not'? Es ist eine Form des aktiven Abwartens, nach Pfingsten wird sich die Reife des Jahres zeigen, noch sind keine Früchte sichtbar, doch das Unkraut ist ebenso wie alle Pflanzen, die wir als nützlich betrachten, mit gleicher Kraft gewachsen - Sonne, Regen und Wind - so dass die Gemeinde nun auch regelmässig den 'Häckseldienst' organisieren muss.

Typisch auch für diese Zeit bis zur Sommersonnenwende: Die Beweglichkeit, Frische, Erneuerungskraft der ersten drei Monate im Jahr haben sich erschöpft, sind in der 'Dichte der Welt' zu Unbeweglichkeit geworden, Teil des Jahresprozesses... und wir müssen ertragen lernen, eine scheinbar sinnlose Form der Geduld, einfach ertragen, An-Ort-treten, Vertrauen auf etwas, das mit aller Sonne und Sommerlicht verborgen bleibt, besonders in dieser hellen Zeit des Jahres.

Worauf ich hinweisen will, heisst auf Arabisch: Sabur - Batin, nichts, was ich kenne, könnte dies genauer beschreiben - dahinter steht ein uraltes Wissen, dreimal raten, woher! Wenn wir dies einem Kind beschreiben müssten, könnten wir vielleicht folgende Worte wählen:

'Weisst Du, lieber Lukas, wir Menschen funken immer in etwas hinein, was die Natur so ganz aus sich heraus schafft, in ihrer eigenen Bedeutung, in ihrem eigenen Rhythmus - und dann kommen. wir Menschen und versuchen, irgendetwas zu beeinflussen; wir ziehen an Grashalmen, dass sie schneller wachsen sollen, wir reissen einer Fliege die Flügel aus, um herauszufinden, was sie dann tut, zu Fuss, ob sie auch damit zurecht kommt.

Aus diesem Grund beschützt der Schöpfer seine Natur mit 'Batin'; das heisst, Er beschäftigt uns mit Bagatellen, Belanglosigkeiten, oder eben, mit einem erschöpften statischen Zustand, er bindet uns die Augen zu damit - unsere Blindheit verleitet uns, Regeln aufzustellen, damit dieser erschöpfte, statische Zustand keine Bewegung ermöglicht. An solche Tagen finden Generalversammlungen statt, Gemeindeversammlungen...

Warum? Weil ganz im Verborgenen, ohne dass wir es erkennen könnten, bereitet der Schöpfer die Veränderung, die Erneuerung vor, und er zeigt uns erst in einem halben Jahr ein paar kleine Einblicke darin, wenn die Erde wieder mit Schnee bedeckt ist und alle auf das Christkind warten...'

So würde ich Sabur - Batin einem Kind beschreiben. All dies ist Grundwissen unseres Lebens - einfach, jedes Kind versteht sofort!

Manchmal wundere ich mich, dass ich nun wieder hier im Dorf meiner eigenen Jugend lebe, nach fünfzig Jahren an völlig anderen Orten, in ganz anderen Umständen und Verantwortungen. Und dann kommt es mir vor, wie wenn meine alten Schulkollegen noch nie etwas davon gehört hätten, auch wenn sie es ja selber mit jedem neuen Jahreszyklus selber erleben, mitempfinden.

Doch bewusst verstehen und gemeinsamen Nutzen davon zu haben, so weit sind wir heute, Pfingstsonntag, noch nicht ganz.

* * *

Und so schreibe ich weiter am Buch, langsam, in Portionen, mit ruhigem Rhythmus...

Es scheint so, wie wenn mit all den Dingen, die ich erlebt habe, ein Element dazukäme in unserem Dorf, das sowohl irritierend als auch belebend wirkt, das eine schliesst das andere nicht aus. Um es genauer zu beschreiben:

Unsere Jugendzeit hier im Dorf Richterswil begann ja für uns alle ganz ähnlich, im gleichen Jahr geboren, mit unseren Eltern, die ihrerseits ihre ganz individuellen Biographien tragen - und wir teilten zehn, mit drei Schulkollegen gar dreizehn Jahre - gleiche Lehrer, gleiche Stoffe, gleiches Umfeld. Doch bei mir schien dieses Gefühl des Mangels - siehe Belotti-Goldzahn - anders ausgeprägt zu sein, tiefer irgendwie, drängender, offensichtlich - warum? Nun, liebe Freunde, mein Inneres weiss wohl, doch nicht in Worten.

Und daraus ergaben sich dann Weggabelungen, Entscheide, die sich nun in ihrer ganzen Tragweite zeigen - 60 Jahre später - das ist ganz wunderbar, so etwas erleben zu können. Was ich beschreibe wird nur dann sichtbar, wenn wir unsere Lebenwege miteinander vergleichen, eine 'Längsrichtung' des Betrachtens einnehmen - eben, weil wir wissen, ohne Worte.

Doch dies ist ja nicht unsere tägliche Sicht auf die Dinge, es ist eine Optik der Reflektion, der langen Linie entlang - äussern tut sich jeweils eher die Querlinie - Du stehst da, ich stehe da, wer hat die Oberhand, das Sagen, und wer nicht?

Wir alle kennen dies ja, aus unserer tagtäglichen Erfahrung, so viele Male erlebt, so viele Male uns daran gerieben, so viele Male entweder steckengeblieben, oder dazugelernt - wir entwickeln mit den vielen Jahren auch eine Art 'Metasprache', die zwar diese Konfliktherde wahrnimmt, sie jedoch gar nicht ansprechen muss - das gemeinsame Verständnis als Brücke, das sich über Konflikte erheben kann - das ist, was Anny Burger und mich zu wirklich guten Freunden machte.

Mit genügend Übung wird diese 'begleitende Achtsamkeit' selbstverständlich, und wir können Zustände von Menschen leicht aus ihrer Sprache ablesen, wir können heraushören:

wenn sie sich selber als Menschen aufgegeben haben.

wenn sie sich an einer Verletzung reiben.

wenn sie steckengeblieben sind in ihrem eigenen Weltbild.