Arbeit und Gerechtigkeit - Georg Grund-Groiss - E-Book

Arbeit und Gerechtigkeit E-Book

Georg Grund-Groiss

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Beschreibung

Das Phänomen der Arbeitslosigkeit im Sozialstaat wird in der Öffentlichkeit überwiegend politisch oder fachlichwissenschaftlich diskutiert. Philosophisch-praktisch, also bezüglich der Gerechtigkeit und der Handlungsmotive der betroffenen Menschen, kommt das Thema nur punktuell in den Blick. Georg Grund-Groiss, Leiter einer AMS-Geschäftsstelle, und Journalist Philipp Hacker-Walton betrachten aufgrund konkreter Erfahrungen von Menschen am Arbeitsamt grundsätzliche Fragen zum Thema Arbeit und Gerechtigkeit: Welche Arbeit ist zumutbar? Welche Umschulungen sind mit Fokus auf das Gemeinwohl "gerecht" – und was kann man Arbeitslosen gerechterweise abverlangen? Dabei fragen sie auch: Was würde Aristoteles wohl zu Hartz IV sagen? Würde Immanuel Kant die Zeitarbeit für moralisch zumutbar halten? Welche Lohnunterschiede hielte John Rawls für gerecht? Oder auch: Was können wir von der Bauhaus-Idee für eine gerechte Arbeitsgesellschaft der Zukunft lernen?

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Georg Grund-Groiss / Philipp Hacker-Walton

ARBEIT UNDGERECHTIGKEIT

Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Zeitarbeit & Co

Im vorliegenden Buch wird aus Gründen der Lesbarkeit nicht gegendert. Frauen und Männer werden gleichberechtigt angesprochen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Senta Wagner

Coverfoto: © shutterstock/Paladin12, © shutterstock/Sapunkele

ISBN 978-3-99100-268-0

eISBN 978-3-99100-269-7

Für Trixi, Sebastian und Benjamin

Georg Grund-Groiss

Für Oscar und Benjamin

Philipp Hacker-Walton

Inhalt

Einleitung

1 Aristoteles am Arbeitsamt

Gehört der Beruf zur Identität der Person? Berufsschutz in der Arbeitsvermittlung und was Aristoteles dazu sagen würde.

2 Allzeit bereit zur Zeitarbeit

Ist Zeitarbeit gerecht? Zumutbare Beschäftigungsformen und wie Immanuel Kant das sehen würde.

3 Gefangen im falschen Beruf

Welche Umschulungen dienen dem Gemeinwohl? Mikrokredite für Qualifizierung und was Aristoteles, Immanuel Kant, John Stuart Mill und John Rawls dazu meinen könnten.

4 Statusmangel für Mangelberufe

Was bestimmt den Wert der Berufe? Was die Bauhaus-Idee für die Arbeitsgesellschaft 4.0 bedeuten könnte.

5 Der Zauber der Bezahlung

Welche Lohnunterschiede sind gerecht? John Rawls leitet uns an, inwiefern das „Differenzprinzip“ verletzt und wo Ausgleich geboten ist.

6 Können und (nicht) wollen

Eine kleine Phänomenologie der Arbeitslosigkeit und was Thomas von Aquin von der Sozialschmarotzerdebatte halten würde.

7 (Un-)Geschützte Vermögen

Wieweit gehört uns das, was wir uns erarbeitet haben, wenn wir arbeitslos werden? Was Aristoteles, John Rawls und Avishai Margalit zu Hartz IV sagen würden.

8 Arbeitslosenzukunftsversicherung

Wann wird Arbeitslosigkeit von einer Ungerechtigkeit zu einem Unheil? Wie uns Judith N. Shklar den Weg zu bedingungsreduzierten Sozialleistungen weisen könnte.

9 Gerechtigkeitscheck

Schlussbemerkungen

Literaturempfehlungen

Einleitung

„Unter den Dingen, die uns heute bewegen, scheint es nicht viele zu geben, die nicht auf eine sehr genaue Weise mit der Gerechtigkeit zu tun haben.“ Das schrieb der deutsche Soziologe und Philosoph Josef Pieper im Jahr 1953 in seinem Büchlein Über die Gerechtigkeit. Wenn wir heute Umschau halten, drängt sich der gleiche Befund auf, nur dass die „Dinge“, die uns bewegen, andere sind als nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, als die Menschenrechte selbst fast tödlich versehrt waren.

Die massenhafte Flucht- und Wirtschaftsmigration, an der sich Pflichtethik (dem Mitmenschen in Not helfen zu müssen) und Verantwortungsethik (Sorge tragen zu müssen, dass nicht zerstörerische Unordnung importiert wird) in endloser Dialektik abarbeiten, nimmt hier momentan unweigerlich den ersten Rang ein. Die globale Verteilungsungerechtigkeit, die sich immer heftiger an der absurden Konzentration des Wohlstands auf ein paar Hundert Millionen Menschen entzündet – mit ein paar Individuen, die überhaupt große Anteile des gesamten Weltvermögens in ihrer Verfügung halten –, nimmt wohl den zweiten Rang ein.

Grundlegender als alle anderen Fragen des gerechten Verhaltens der Menschen scheint die ökologische Herausforderung zu sein: Gleicht der „Umgang des Menschen mit dem Planeten (tatsächlich) einem Katastrophenfilm, in dem rivalisierende Mafiagruppen sich an Bord eines Flugzeugs in 12.000 Meter Höhe ein Feuergefecht mit großkalibrigen Waffen liefern“?1 Oder auf den Ausgang hin gefragt: Gelingt es der Menschheit doch noch, die Biosphäre durch Zurückhaltung unter Zuhilfenahme der hinzugekommenen Technosphäre so weit zu schonen, dass nicht bald gleichsam „alles“ im sozialen und natürlichen Gefüge aus dem Ruder läuft?

In dem vorliegenden Buch gehen wir es bescheidener an und wenden uns dem Phänomen der Arbeitslosigkeit zu. Denn auch die Arbeitslosigkeit ist eine schwelende Wunde für die Idee der Gerechtigkeit, weil Arbeit für die überwiegende Mehrheit der Menschen die Nabelschnur zur Teilhabe an der Welt ist. Selbst die Arbeitslosigkeit im modernen Sozialstaat ist für viele Betroffene eine veritable persönliche Katastrophe. Zugleich ist sie ein prädestiniertes Exerzierfeld für das gesellschaftliche Ringen um soziale Gerechtigkeit.

Aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt deuten darauf hin, dass mehr arbeitslosen Menschen, die staatliche Leistungen beziehen, mehr abverlangt werden muss, als das bislang der Fall ist. Wer heute im Hinblick auf das faktische Stellenangebot zu wählerisch ist, läuft Gefahr, länger oder dauerhaft von der Teilhabe am Erwerbsleben ausgeschlossen zu bleiben. Wer als Arbeitsloser nicht bereit oder in der Lage ist, Eigenverantwortung zu übernehmen, zum Beispiel für eine neue berufliche Ausbildung, bleibt länger vom Sozialsystem abhängig, als das für seine Selbstachtung gut sein kann.

Der Ruf nach mehr Härte und Strenge in der Arbeitsmarktpolitik ist jedoch kontraproduktiv, wenn er tief verankerte Grundsätze sozialer Gerechtigkeit missachtet. Ein Hauptanliegen dieses Buches ist es, den Blick dafür zu öffnen, dass Gerechtigkeit vielschichtig ist und nicht nur eine moralische Dimension hat. Auf bestimmte Weise ist sie auch zweckmäßig im wirtschaftlichen Sinne, denn die Dimension der Nützlichkeit gehört seit jeher zu ihr wie das Streiten um die richtigen Werte und Tugenden. So verstanden ist Gerechtigkeit ein wesentlicher Faktor im Immunsystem eines Gemeinwesens.

Der Ursprung aller Gerechtigkeitsvorstellungen liegt darin, dass der Mensch dem Menschen das zukommen lässt, was ihm als das Seine jeweils zusteht. Daraus ergibt sich für den gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitslosen der Auftrag, dass sowohl die Betreuung als auch die finanziellen Leistungen möglichst exakt auf die Person und ihre jeweilige Lage abgestimmt werden müssen.

Seit rund zehn Jahren steigt in Österreich2 die Beschäftigung bei einem gleichzeitigen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Selbst unter den Bedingungen der Hochkonjunktur wie in den letzten zwei Jahren können die Arbeitslosen am Beschäftigungswachstum nur zu knapp einem Drittel teilhaben. In Deutschland ist zwar die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit erweist sich jedoch als störrisch hoch und die Gesamtzahl der Grundsicherungsbezieher verändert sich wenig.

Die „schöpferische Zerstörung“ im Wirtschaftsprozess, die sich heute für die Arbeitskräfte vor allem als unablässiges Hinaufschrauben der Qualifikationserfordernisse in vielen Berufen offenbart, droht diejenigen, die weniger Begabung und Übung im Können und Wollen an den Tag legen, dauerhaft zu isolieren. Der Fachkräftemangel wird zur kollektiven Irritation, weil ihn viele beklagen und zugleich die Abwertung der manuellen Arbeit unaufhaltsam zu sein scheint.

Die großen regionalen Ungleichgewichte bei der Arbeitslosigkeit – in Österreich zum Beispiel konzentrieren sich 40 % der Arbeitslosigkeit auf Wien, mehr als 80 % aller gemeldeten offenen Stellen finden sich jedoch außerhalb von Wien – zeigen nicht nur die unzureichende Mobilität der Arbeitskräfte, sondern weiten die Frage der Zumutbarkeit von Arbeit auf die Frage der Zumutbarkeit eines staatlich eingeforderten Wohnortwechsels aus.

Die Migration führt auch am Arbeitsmarkt zunehmend zu Erschütterungen: Die Konkurrenz von zukunftshungrigen Arbeitskräften aus den neuen, ärmeren EU-Nachbarstaaten, oft ganz profan motiviert vom Kaufkraftvorteil des Grenzgängertums, lässt viele Einheimische und früher Zugezogene gedemütigt und arbeitslos zurück. Dazu kommt, dass Flucht, Migration und Familiennachzug zu einer Zunahme des (zunächst) unqualifizierten Arbeitskräfteangebots führen, mit der Folge von Funktionsstörungen am Arbeitsmarkt und Legitimitätsverlusten im Sozialsystem.

Schon schüren die unzureichende Teilhabe der Arbeitslosen am Beschäftigungsaufbau und der hohe Sockel an Langzeitarbeitslosen in breiten Teilen der Bevölkerung tiefe Zweifel am Arbeits- und Ausbildungsethos vieler Leistungsbezieher. Die ideologische Debatte darüber spielt sich zwischen zwei Polen ab: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die arbeitslosen Menschen keinesfalls (noch) mehr zumuten wollen und die Ursachen für die Probleme am Arbeitsmarkt letztlich in einem ungerechten Wirtschaftssystem oder in bedauernswerten persönlichen und sozialen Schicksalen verorten. Auf der anderen Seite stehen jene, die ihre Verachtung für die „unwilligen“ Arbeitslosen – insbesondere aus den unteren Schichten und aus Migrantenmilieus – kaum mehr verbergen wollen und ohne Unterlass mehr Kontrolle und rigidere Regeln fordern.

Die Arbeitslosigkeit wird in der Öffentlichkeit vorwiegend ideologisch oder ökonomisch interpretiert. Philosophisch-praktisch, also im Hinblick auf grundlegende Fragen der Gerechtigkeit, die sich in den konkreten Erfahrungen und in den Handlungsmotiven der betroffenen Menschen widerspiegeln, kommt das Thema kaum in den Blick.

Wir, Georg Grund-Groiss, Leiter einer Regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice in Österreich und gelernter Philosoph, und Philipp Hacker-Walton, Journalist und Buchautor, haben uns genau das vorgenommen und befassen uns anhand von fiktiven, aber typischen Fallgeschichten auf ungewohnte Weise mit dem Phänomen der Arbeitslosigkeit.

Wir fragen unter anderem: Würde Aristoteles es für gerecht halten, wenn Langzeitarbeitslose auf offene Stellen außerhalb ihres angestammten Berufsbereichs vermittelt würden?

Was würde Immanuel Kant meinen, wenn ein Mensch verzweifelt ist, weil er sich im falschen Beruf eingesperrt fühlt und um die Förderung einer Umschulung ansucht? Hat die Allgemeinheit vor dem Hintergrund des kategorischen Imperativs die Pflicht zu helfen?

Wäre der amerikanische Philosoph John Rawls einverstanden, wenn Arbeitslose in Jobs vermittelt würden, in denen sie nur mehr halb so viel verdienten wie zuvor? Was würde er zur schlechten Entlohnung von angeblich moralisch hoch angesehenen Berufen wie der Krankenpflege sagen? Würde er sein berühmtes Differenzprinzip verletzt sehen?

Diese spekulativen Erkundigungen bei anerkannten Philosophen, ob sie denn unser System der Betreuung und Vermittlung von arbeitslosen Menschen für gerecht hielten, laufen – in gängiger philosophischer Terminologie – auf die Frage hinaus: Wie utilitaristisch darf ein System der Arbeitsmarktpolitik in einer demokratischen Gesellschaft sein und wie liberal und individuell anwendbar muss es sein?

Zumindest ein Aspekt der Thematik ist von direkter politischer Brisanz, weil in Deutschland Hartz IV seit der Einführung im Jahr 2005 für viele ein wunder Punkt im Gerechtigkeitsempfinden ist und weil in Österreich für das Jahr 2019 von der Regierung eine Reform der Arbeitslosenversicherung geplant ist, die ebenfalls markant in die moralische Ordnung eingreifen wird.

Wir nehmen das zum Anlass, anhand der konkreten Erfahrungen mit den Menschen am Arbeitsamt nicht ins Parteilich-Politische, sondern ins Grundsätzliche zu gehen und den Rat von bedeutenden Philosophen einzuholen. Damit wollen wir einen fundierten Debattenbeitrag liefern für alle, die sich zum Thema Arbeitsmarkt Gedanken machen. Die Leser sollen sich zumindest gut gewappnet fühlen für Diskussionen, ob sie nun am Stammtisch oder im TV-Studio stattfinden.

Die große Frage der Zukunft der Arbeitswelt, mit der sich heute unter den Schlagworten von Digitalisierung und Globalisierung viele Autoren befassen, die in aller Regel keine Scheu haben, gleich ganz groß zu spekulieren, wird am Ende des Buches eher pragmatisch behandelt: Bevor die Arbeitslosigkeit von einer Ungerechtigkeit zu einem epochalen Unheil wird, dem man mit den herkömmlichen Mitteln von Wirtschaft und Staat nicht mehr beikommt, ist ein Konsens darüber anzustreben, mit welchen Indikatoren wir überhaupt feststellen können, wann es so weit ist. Wir müssen jedenfalls gerüstet sein, den Weg für eine „anständige“ Arbeitsgesellschaft der Zukunft zu beschreiten, wenn sich die Epoche der Dominanz der Erwerbsarbeit ihrem Ende zuneigt.

Sollte es tatsächlich so kommen, dass in einer roboterdominierten Gesellschaft die Existenz vieler nicht mehr durch Arbeit, sondern nur mehr durch ein Grundeinkommen gesichert werden kann, lässt sich mit allergrößtem Ernst fragen, ob der Philosoph Peter Sloterdijk recht behalten wird, wenn er meint: „Der tiefste Traum Europas ist die Arbeitslosigkeit, die aus dem Wohlstand entspringt.“3

Oder ob sich unsere träge Menschennatur noch eine längere Zeit an Thomas Mann hält, der in seinem Roman Der Zauberberg sicher war, dass die Arbeit das Absolutum der Zeit ist, das Prinzip, vor dem man besteht oder nicht besteht, und insofern von unzweifelhafter, geradezu religiöser Natur?4

1Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert. Berlin 2017, S. 37.

2Wir gehen zunächst immer von den österreichischen Verhältnissen aus. Aufgrund der engen (geschichtlichen, strukturellen und systematischen) Verwandtschaft von Arbeitsmarkt und Sozialsystemen ist eine gute Übertragbarkeit auf Deutschland und die Schweiz gegeben. Wenn zusätzliche Perspektiven und Erkenntnisse erwartbar sind, wird eigens auf Deutschland oder die Schweiz Bezug genommen.

3Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert. Berlin 2017, S. 133.

4Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt 2015, S. 57.

1

Aristoteles am Arbeitsamt

Gehört der Beruf zur Identität der Person? Berufsschutz in der Arbeitsvermittlung und was Aristoteles dazu sagen würde.

Walter K., 56, geschieden, Vater von zwei erwachsenen Töchtern, die beide akademische Abschlüsse erworben haben und im Beruf erfolgreich sind, war zuletzt als Gebietsleiter des technischen Vertriebs eines großen internationalen Medizintechnikkonzerns tätig. Zuletzt bedeutet allerdings: bis vor sechs Jahren. Walter K. ist langzeitarbeitslos.

Es sagt von sich, er könne mit Fug und Recht behaupten, dass er die Methode der Laparoskopie – also die Technik des Operierens ohne Aufschneiden, per Inspektion durch kleine Löcher in der Bauchdecke – nach Europa gebracht habe. Er habe in zahllosen Operationssälen Europas viel mit Ärzten, Primaren, Professoren zusammengearbeitet. Was die Anwendung der speziellen technischen Instrumente anbelangt, die er vertrieben und deren Einsatz er angeleitet habe, fühle er sich den honorigen Medizinern überlegen. Auch sein medizinisches Wissen im Bereich der Weichteilchirurgie würde dem eines durchschnittlichen Oberarztes wohl kaum nachstehen.

Wie kommt es, dass jemand mit derlei Expertise seinen Job verliert? Walter K. sagt, er sei vor sechs Jahren im Zuge einer Umstrukturierung wegrationalisiert worden. Es habe zwar persönliche Querelen mit einem neuen Chef gegeben, aber letztlich wäre es eine Umstrukturierung gewesen, die ihn seine Karriere gekostet habe. Was er keinesfalls wolle, sei, in einem anderen Beruf zu arbeiten. Die Medizin sei sein Leben. Und eines möchte er auf keinen Fall: das Leben eines anderen führen.

Viele Arbeitslose sind Philosophen. Nicht nach ihrer Ausbildung, sondern aufgrund ihrer Situation. Sie hinterfragen die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, deren Anwendung sie am eigenen Leib und an der eigenen Seele erleben.

Viele Arbeitslose argumentieren philosophisch äußerst stichhaltig, wenn sie mit der Betreuung durch das Arbeitsamt5 nicht einverstanden sind. Sie argumentieren zum Beispiel mit Aristoteles „teleologisch“, wenn sie die Gerechtigkeit von Arbeitsvermittlungen außerhalb ihres angestammten Berufsbereichs in Zweifel ziehen, weil sie überzeugt sind, dass ihr Beruf zu ihrer Identität gehört. Denn für Aristoteles ist Gerechtigkeit eine Frage der Übereinstimmung: „Personen gerecht zu werden, bedeutet, ihnen die Aufgaben und die Anerkennung zu geben, die zu ihnen passen und die sie verdienen, und die sozialen Rollen, die ihrem Wesen entsprechen.“6

Die Idee der Gerechtigkeit selbst hat in ihrem Kern mit Übereinstimmung zu tun: „Sosehr aber auch, wenn Gerechtigkeit gedacht wird, eine schlechthin nicht zu bewältigende Vielfalt vor den Blick kommt – es ist dennoch ein Gedanke von äußerster Einfachheit, auf den diese Vielfalt sich zurückführt (…) Es ist der Gedanke, dass einem Jeden das Seine zu geben sei. Dass der Mensch dem Menschen das ihm Zustehende gebe – hierauf ist alle gerechte Ordnung in der Welt gegründet.“7 Wollen wir Rechte und Pflichten definieren, müssen wir uns nach Aristoteles zuallererst fragen, was das „Telos“, also der Zweck, das Ziel, das Wesen einer sozialen Praxis ist. Und wenn wir nach dem Telos einer sozialen Praxis fragen oder darüber streiten, müssen wir nach den Werten fragen, die darin gewürdigt und gefördert werden sollen.

Machen wir die Probe aufs Exempel:

•Was ist das Telos der öffentlichen Arbeitsvermittlung?

Die Arbeitslosigkeit durch das Zusammenführen von Arbeitskräften und offenen Stellen möglichst rasch zu beenden.

•Welche Werte sind dabei maßgeblich?

Die wirtschaftliche Wohlstandsproduktion (Wert 1) in der Weise bestmöglich zu unterstützen, dass die vermittelten Personen – ohne direkten Zwang, eine bestimmte Arbeit anzunehmen (Wert 2) – ihre beruflichen Kompetenzen bestmöglich entfalten können (Wert 3).

Dass Gerichte Recht sprechen und damit in gewisser Weise immer mit der Idee der Gerechtigkeit in Kontakt stehen, ist trivial. Weniger trivial ist, dass auch am Arbeitsamt Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gesellschaft in einem ihrer Schlüsselbereiche, der Arbeit, laufend verhandelt und entschieden werden.

Wir greifen daher für unsere Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit einen ersten Aspekt auf: Einem Jeden das Seine zu geben heißt, jedem die Arbeit zu vermitteln, in der er seine beruflichen Kompetenzen bestmöglich entfalten kann.

In Österreich sind pro Jahr rund eine Million Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen, gut ein Viertel der Erwerbsbevölkerung. Etwas mehr als die Hälfte verliert während der jeweiligen Arbeitslosigkeitsepisode den sogenannten Berufs- und Tätigkeitsschutz, weil die Betroffenen, so die gesetzliche Regelung hierzulande, länger als hundert Tage arbeitslos sind.

Das deutsche Sozialgesetzbuch, in dem die Regeln der Arbeitslosenversicherung definiert sind, räumt ausdrücklich keinen Berufsschutz ein, weiß aber, was die besonders umständliche Formulierung bezeugt, sehr genau um die Brisanz der Frage.8 In liberalen Demokratien wie Österreich, Deutschland und der Schweiz gehen wir davon aus, dass nach freier Berufswahl mündiger Bürger (wie immer „unfrei“ die biografischen Bedingungen dafür auch sein mögen) der Beruf zur Identität eines Menschen gehört. Und das gilt nicht nur in einem sozialrechtlichen Sinne: „Die moderne Identität wird in einem solchen Maße von der Wahl unserer Beschäftigung bestimmt, dass die dringlichste Frage, die wir neuen Bekannten stellen, nicht von ihnen wissen will, woher sie kommen oder wer ihre Eltern sind, sondern was sie tun