Das halbe Grundeinkommen - Georg Grund-Groiss - E-Book

Das halbe Grundeinkommen E-Book

Georg Grund-Groiss

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Beschreibung

Mit der neuen coronabedingten Massenarbeitslosigkeit hat ein tektonisches Beben die ethischen Grundfesten unserer Arbeitsgesellschaft erschüttert. Wenn wir weiter am Modell der Erwerbsarbeit als einem quasi religiösen gesellschaftlichen Leitbild festhalten, zerstören wir Zigtausende Existenzen, nicht nur ökonomisch, sondern auch im Hinblick auf die sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung. In der Arbeitsmarktpolitik ist es an der Zeit, sich vom Prinzip des "Förderns und Forderns" zu verabschieden und sich der Idee eines partiellen bedingungslosen Grundeinkommens zu widmen. Die Autoren zeigen, wie dieses "halbe Grundeinkommen" in die bestehenden Institutionen eingebettet werden kann und welche geradezu revolutionären Auswirkungen das im Sinne einer guten Gesellschaft hätte. Wir können den Weg einer grundlegenden Reform unserer Arbeitsgesellschaft beschreiten, ohne unsere tief verwurzelten Gerechtigkeitsvorstellungen auszuhebeln. In Interviews mit Erwerbslosen und Beschäftigten wird deutlich, wie man am Arbeitsethos als einer Kardinaltugend festhalten und trotzdem viele Menschen in ihrem Arbeitsleben freier und glücklicher machen kann.

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Georg Grund-Groiss / Philipp Hacker-Walton

DAS

HALBE

GRUND

EIN

KOMMEN

Der erste Schritt zu einer gerechterenArbeitsgesellschaft

Im vorliegenden Buch wird aus Gründen der Lesbarkeit nicht gegendert. Frauen und Männer werden gleichberechtigt angesprochen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2021

© 2021 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Lucia Marjanovic

ISBN 978-3-99100-319-9

eISBN 978-3-99100-320-5

Für meine Mutter Irmtraud undmeine Schwiegermutter Inge

Georg Grund-Groiss

Für Benjamin, Oscar und Emily

Philipp Hacker-Walton

Inhalt

Einleitung

Abschnitt 1

Menschenwürdige Arbeitslosigkeit

Systemkrise – jetzt aber wirklich

Erfahrungsbericht 1

„Wenn ich das zehn Jahre lang mache, dann gehe ich ein.“

Mangelberufe trotz Heimwerkerstolz

Erfahrungsbericht 2

„Auch das ist eine Art von Druck: Etwas aus meinem Leben machen zu müssen.“

Eine gute Zukunft für die Babyboomer

Erfahrungsbericht 3

„Was ist schon endgültig? Das, was man mit 14 lernt, sicher nicht.“

Ein kurzer Ausflug in die Ideenwelt moderner Arbeitsämter

Erfahrungsbericht 4

„Als Politikwissenschafter hinter dem Bus-Lenkrad – und glücklich(er) dabei.“

Abschied vom Fördern und Fordern

Internationale Ideen zum Grundeinkommen

Abschnitt 2

Menschenwürdige Arbeit

Der Wert der Arbeit kommt aus der Gerechtigkeit

Erfahrungsbericht 5

„Mehr Chancen und ein Polster, um etwas auszuprobieren, das wäre gut.“

Die Verähnlichung von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit

Erfahrungsbericht 6

„Um die Menschen soll es sich drehen, nicht um Zahlen und Geld.“

Abschied vom Ideal der Erwerbsarbeit

Erfahrungsbericht 7

„Bei uns bist du kein Historiker mehr – sondern der Lehrbub.“

Abschnitt 3

Das halbe Grundeinkommen im Gerechtigkeitscheck

Gerechtigkeitsdimension „JUST 1“ – Nützlichkeit und Finanzierung

Gerechtigkeitsdimension „JUST 2“ – Freiheit und Würde

Gerechtigkeitsdimension „JUST 3“ – Werte und Tugenden

Schluss

Postskriptum Fiktiver Erfahrungsbericht

Leben mit dem halben Grundeinkommen

Amtliche Aussendung zur Arbeitsmarktlage Ende Mai 2031

Einleitung

Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ist der zweite Schritt. Der erste Schritt auf unserer Reise zu einer gerechteren Arbeitsgesellschaft ist die Einführung eines halben Grundeinkommens. Vor dem Abmarsch muss aber noch die moralische Arbeitsmarktreform in den Rucksack, deren Verwirklichung, von der Öffentlichkeit noch unbemerkt, bereits begonnen hat.1

Die Planungsarbeiten für diese Reise haben durch die Corona-Krise eine unerwartete Beschleunigung erfahren und gleichen plötzlich eher der hastigen Vorbereitung einer Flucht: Mit der neuen Massenarbeitslosigkeit hat ein tektonisches Beben die ethischen Grundfesten unserer Arbeitsgesellschaft erschüttert, nachdem Strukturwandel und Digitalisierung, maulwurfsgleich, das Erdreich darunter schon an vielen Stellen ausgehöhlt hatten. Niemand kann mehr mit Gewissheit sagen, ob nicht bereits das ganze Haus einzustürzen droht.

Die Corona-Krise ist ohne Zweifel eine „Leben und Bewusstsein tief zerklüftende Wende und Grenze … mit deren Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.“2 Vor „Corona“ regierte jedenfalls noch das „Fördern und Fordern“ in nahezu ungetrübter Herrlichkeit. Diese schmale Formel prägte drei Jahrzehnte lang unser Verständnis von Gerechtigkeit in Wirtschaft und Staat und faszinierte nicht nur die leitenden Beamten der Sozialbehörden und die Interessenvertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern weite Teile der Bevölkerungen in allen reichen demokratischen Nationen. In dieser Formel schienen die guten und die bösen Engel unserer Seelen glücklich erkannt und versöhnt. Das alte Prinzip von „Geben und Nehmen“, gefühlt so uralt wie die Evolution selbst und gleichzeitig so jung wie die Vorstellung einer solidarischen Hochleistungsgesellschaft3, hatte nicht nur seinen griffigen Ausdruck, sondern auch seine mächtige technokratische Praxis in den Institutionen gefunden.

Auch philosophisch betrachtet schien alles plausibel: Wenn der Staat tatsächlich „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“4 in ihrer jeweiligen geschichtlichen Form ist, dann durften fast zwei Generationen mit dem „Fördern und Fordern“ einen sittlichen Höhepunkt erleben, indem sie Idealismus und Realitätssinn im Hinblick auf die moralische Vertrauenswürdigkeit des Menschen integriert fanden. Eine recht lange Zeit schien nichts verständlicher und vernünftiger als dieses Prinzip, das unter dem leuchtenden Banner der Chancengerechtigkeit zu segeln behauptete. Jetzt, mit Corona, wissen wir: Ein geschichtlicher Endpunkt war auch das meritokratische „Fördern und Fordern“ nicht. Schon allein, weil nicht mehr so recht klar ist, was genau noch von den Arbeitslosen gefordert werden kann und darf, wenn die Arbeitsplatzlücke immer tiefer klafft.

Abschied vom „Fördern und Fordern“

Standen im Jahr 2019 den knapp 900.000 von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen in Österreich noch 521.000 beim staatlichen Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldete offene Stellen gegenüber,5 so macht die abwechselnd aufbrandende und dann wieder schwelende Corona-Krise dieser noch halbwegs funktionalen Balance auf längere Sicht den Garaus.

Denn es ist nur mehr wenig sinnvoll, weiterhin davon auszugehen, die staatliche Stellenvermittlung mit ihren gesetzlichen Pflichten für Arbeitslose sei gerecht, wenn nur mehr der kleinere Teil der Betroffenen überhaupt Stellenangebote bekommen kann. Schon davor war das störrisch hohe Ausmaß der strukturellen Arbeitslosigkeit ein schmerzlicher Pfahl im Fleische einer sich partout optimistisch gebenden, gebetsmühlenartig auf Qualifizierung6 setzenden Arbeitsmarktpolitik. Dass die bekannten Asymmetrien und Diskrepanzen am Arbeitsmarkt weiterhin dialektisch-produktiv sind, scheint nur mehr für den kleineren Teil der Arbeitslosen plausibel und gültig.7

So verwundert es dann doch nicht, dass das „Fördern und Fordern“ stillschweigend in Abdankung begriffen ist. Was in Österreich als „AMS-Algorithmus“ zur Bewertung der Arbeitsmarktchancen von Betroffenen heftig und kontrovers diskutiert wurde, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der erste ernsthafte, zur besseren Legitimation wissenschaftlich maskierte Versuch, viele sehr arbeitsmarktferne langzeitarbeitslose Menschen von der Vermittlungspflicht zu befreien. Politisch und rechtlich ist der Versuch noch heftig umkämpft8 und die Kriterien für einen bedingungsreduzierten Arbeitslosengeldbezug wurden wieder verwirrt und einer zwar nicht beliebigen, aber doch strategisch unreflektierten behördlichen Praxis überlassen. Aber das ist nur ein Aufschub.

Auf den ersten Blick paradox scheint, dass sich auch die politische Linke an die Ideologie der gegenwärtigen Arbeitsmarktpolitik klammert, die – einerseits – planwirtschaftlich vorgeht, um – andererseits – neoliberale Zielsetzungen zu erfüllen. Wie ihr Gegenüber schwärmt „die Linke“ weiter von der effizienten Steuerung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik mittels „Balanced Score Card“ und „Management by Objectives“.9 Sie setzt, wie ihr Gegenüber, mittlerweile sogar auf eigene „Erhebungsdienste“ der Arbeitsmarktbehörde zur Verhinderung des Missbrauchs des Arbeitslosengeldes10 und versteift sich unbeirrbar auf die Idee, dass der Strukturwandel bloß ein temporäres Auseinanderklaffen von Qualifikationen und Qualifikationsanforderungen sei, das man mit Lehrstellenförderung und staatlichen Kursprogrammen eines Tages wieder gütlich korrigiert haben wird. Oder sie zeigt sich, anders als ihr politisches Gegenüber, fasziniert von der Idee einer staatlichen Jobgarantie für alle Langzeitarbeitslosen, selbst wenn nicht klar ist, wie man einen demütigenden Bürokratismus bei der Zuweisung individuell passender Jobs und die Stigmatisierung der auf diese Weise „Geretteten“ hintanhalten könnte.11

„Welfare to workfare“, die Welt-Version unseres „Förderns und Forderns“, löst, lange nach Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder, immer noch bei Progressiven wie bei Konservativen prickelnde Gefühle aus, die aber in beide Richtungen schon ins Leere gehen.

Wir bedauern das nahende Ende des Förderns und Forderns nicht und wollen zeigen, wie sich vor allem das „Fordern“ befreiend und fruchtbar von der institutionellen auf die persönliche Ebene verlagern kann, wenn bedingungslose Elemente in die Systeme der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit Eingang finden. Einen groß angelegten Feldversuch dazu gab es erst kürzlich: Nach dem ersten Lockdown am Beginn der Corona-Krise, exakt vom 16. März bis 18. Mai 2020, mussten Arbeitslose in Österreich per ministerieller Verordnung keine Sanktionen befürchten, wenn sie ein Stellenangebot ablehnten. Diese Erfahrung legt nahe, dass die Arbeitswilligkeit keinen Schaden nimmt, wenn der staatliche Zwang wegfällt. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, denn die Bereitschaft, offene Stellen auch außerhalb des angestammten Berufsbereichs anzunehmen, erlebte in der Corona-Krise geradezu Höhenflüge.12

Es ließ sich aber auch ein Phänomen beobachten, das für eine etwaige Systemreform zu denken gibt: Als die Regierung Anfang Juli bekannt gab, dass alle Personen, die zwischen Mai und August 2020 insgesamt zumindest 60 Tage arbeitslos waren, im September eine Einmalzahlung von 450 Euro erhalten, wirkte das fast so, als hätte jemand dem Rad der Arbeitsvermittlung in die Speichen gegriffen.13

Götterdämmerung der Erwerbsarbeit und die Einführung eines halben Grundeinkommens

Wenn wir weiter am Modell der Erwerbsarbeit als einem quasi religiösen14 gesellschaftlichen Leitbild festhalten, zerstören wir auf Dauer Zigtausende Existenzen. Das tun wir in letzter Konsequenz nicht nur ökonomisch, sondern auch im Hinblick auf die Selbstachtung vieler, weil wir ihnen die sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung entziehen. Ist die Erwerbsarbeit erst totalisiert, wird die Erwerbslosigkeit zum Gar-Nichts.

Bullshit-Jobs; die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse; schneisenartige Jobverluste durch Strukturwandel samt Automatisierung; die kaltschnäuzige Verachtung und Unterbezahlung sogenannter einfacher Arbeit; der heuchlerische Umgang mit „systemrelevanten“ und „moralisch hochwertigen“, aber nur leidlich bezahlten Jobs; das schizophrene Verhältnis zum Handwerk;15 die systematische Geringschätzung der Nichterwerbsarbeit in Verbindung mit regelmäßigen politischen Lobhudeleien für das Ehrenamt – für uns sind all das Zeichen, dass die Sonne der klassischen Erwerbsarbeit mit ihrem Versprechen von Dienstverhältnis, Sozialversicherung, Mitversicherung, Konsum- und Statusteilhabe ihren Zenit überschritten hat.

Allerdings: Die meisten der Literaten, die als Konsequenz daraus umstandslos die Forderung nach einem vollwertigen bedingungslosen Grundeinkommen aus dem Ärmel schütteln, tun dies auch, weil sie offenbar viele Spielarten der Erwerbsarbeit, vor allem die manuelle und die einfache Arbeit, insgeheim verachten. Sie können sich offenbar nicht vorstellen, dass die Arbeit in Großbäckereien oder an der Supermarktkassa irgendein Sinnversprechen bereithält.16 Welcher Snobismus und welche Ignoranz gegenüber dem Facettenreichtum der Bedeutung von Arbeit.

Darin liegt ein Grund, aber bei Weitem nicht der wichtigste, warum wir die nötige Generalreform der Arbeitsgesellschaft nicht gleich mit großem intellektuellem Pomp und einem vollwertigen bedingungslosen Grundeinkommen in die Scheune fahren wollen.

Wir verzichten auf die große Pose und plädieren dafür, mit einem halben Grundeinkommen zu starten.17 Mit ihm können wir uns der Universalität (jeder soll es bekommen) und der Bedingungslosigkeit eines Grundeinkommens sukzessive annähern und viel freier mit dem unvermeidlichen Gegenhalt umgehen, der sofort die Finanzierbarkeit und die politische Akzeptanz infrage stellt. Nach der Einführungsphase soll das halbe Grundeinkommen in der Höhe von 500 Euro grundsätzlich jeder Person ab 18 Jahren zustehen. Für Personen mit einem Einkommen von mehr als 5.000 Euro pro Monat erhöht das Grundeinkommen die steuerliche Bemessungsgrundlage für darüber liegende Einkommensteile. Gut- und Sehrgutverdiener würden also – nach den aktuellen Regelungen in Österreich – das Grundeinkommen zur Hälfte bis zu max. 55 Prozent wieder an die Allgemeinheit zurückgeben.

Was uns aber viel wichtiger ist: Ein halbes Grundeinkommen ist Gerechtigkeit im Komparativ. Es fügt sich der geistigen Tatsache, dass es Gerechtigkeit immer nur im Komparativ gibt, dass immer nur mehr Gerechtigkeit, nie aber die Gerechtigkeit zu haben ist. Insofern ist die Einführung eines halben Grundeinkommens nicht nur pragmatisch richtiger, sondern auch ideell wahrer als die Einführung eines ganzen Grundeinkommens.

Aber auch der Start mit einem halben Grundeinkommen wäre schon in vielerlei Hinsicht revolutionär. Wir werden zeigen, wie die Einbettung eines halben Grundeinkommens in die bisherigen Institutionen, z. B. in die Arbeitslosenversicherung oder in das System der Kollektivverträge, gelingen kann und welche grundstürzenden Veränderungen das auslöst.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen im Ausmaß von 500 Euro monatlich zielt klarerweise nicht primär auf Armutsbekämpfung; dafür muss, was den Staat betrifft, bis auf Weiteres vor allem die Sozialhilfe zuständig bleiben.

Wir betrachten das halbe Grundeinkommen ausdrücklich nicht als eine zusätzliche Sozialleistung. Wir sehen es als ein regelmäßig aus dem gesellschaftlichen Gesamtvermögen fließendes Privateigentum, mit dem man deutlich freier und kreativer leben und wirtschaften kann, ohne dass mit seiner Einführung unsere tief verankerten Vorstellungen von Gerechtigkeit ausgehebelt werden. Das ist für uns ein weiterer springender Punkt: Denn das Arbeitsethos als eine gesellschaftliche Kardinaltugend18 stammt aus der Kardinaltugend der „Tapferkeit“, die wir auch nach einer grundlegenden Reform der Arbeitsgesellschaft noch brauchen und hochhalten wollen.

Es würde uns auch nicht stören, wenn man das halbe Grundeinkommen in erster Betrachtung als das marktwirtschaftliche, die Eigenverantwortung und Kreativität zusätzlich anregende Grundeinkommen wahrnimmt. Man kann es sich gut in der liberalen, pluralistischen Demokratie vorstellen – und zwar nur dort. Ein vollwertiges bedingungsloses Grundeinkommen ist ein viel totaleres Kaliber und passt auch, vielleicht sogar besser, in eine totalere, unfreiere Gesellschaft irgendeiner „brave new world“19.

Nach seinem Grundaffekt kommt die Idee eines halben Grundeinkommens nicht aus der moralischen Bitterkeit der Kritik an einem mächtigen und ungerechten System, sondern aus der heiteren Extrovertiertheit bei der Weiterentwicklung von guten und weniger guten Systemelementen. Wir sind von der Bedeutung – ja von der Weisheit – der in Demokratie und Marktwirtschaft über Jahrzehnte gewachsenen Institutionen überzeugt. Das gilt insbesondere für die Arbeitslosenversicherung und die konventionelle Arbeitsmarktpolitik.

Nicht die große rhetorische Pose des Entwurfs einer Utopie ist also unsere Sache, sondern die sorgfältige Planung einer pragmatischen Reiseroute zu einer gerechteren Arbeitsgesellschaft. Wir sind überzeugt, dass viele Menschen bereit sind, diesen Weg zu gehen. Zwischen den einzelnen Kapiteln wollen wir in insgesamt sieben Erfahrungsberichten20 zeigen, wie Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen und Lebenswelten die Idee eines Grundeinkommens auf ihre ganz besondere Weise bewerten.

Wenn bei uns21, so auch in diesem Zusammenhang, von Gerechtigkeit die Rede ist, dann ist auch von Philosophen die Rede, mit denen wir und unsere Leser in Dialog treten wollen. Immer wieder kommen sie, ausdrücklich oder „im Hinterkopf“, zu Wort, indem wir zum Beispiel fragen:

Wäre der Ahnherr der Aufklärung und Pflichtethik Immanuel Kant damit einverstanden, dass wir vorgemerkte Arbeitslose von der Vermittlungspflicht weitgehend entbinden?

Was könnte Hannah Arendt, die sich in einem ihrer Hauptwerke ganz grundlegend mit dem Tätigsein des Menschen beschäftigt hat,22 dem Gedanken abgewinnen, dass sich in der digitalisierten Arbeitswelt die Erwerbsarbeit und die Nichterwerbsarbeit, ja sogar die Ausbildung und die Bildung, immer ähnlicher werden, was unter Umständen die gesellschaftlichen Bindungskräfte wieder stärken könnte?

Dürfen wir mit Bezug auf das Denken unseres Zeitgenossen Axel Honneth23, der einer der wichtigsten Denker der „Anerkennung“ als dem sozialsten und wechselseitigsten Grundbedürfnis des Menschen ist, damit rechnen, dass bald auch ehrenamtliche Arbeit oder Familienarbeit zu einer vollwertigen gesellschaftlichen Anerkennung des Individuums beitragen werden?

Am Ende des Buches unterziehen wir die Idee eines halben Grundeinkommens einem philosophischen Gerechtigkeitscheck. Dabei stützen wir uns vor allem auf den Begriff der Gerechtigkeit, wie ihn der Harvard-Philosoph Michael J. Sandel entfaltet hat24. Das geschieht mit viel Realitätssinn und inspiriert zugleich, denn Sandel zufolge manifestiert sich Gerechtigkeit in drei wesentlichen Dimensionen: „Nützlichkeit“, „Freiheit und Würde“ sowie in „Werten und Tugenden“. Sandels Clou ist: Nicht allein Freiheit und Würde der einzelnen Person, sondern auch Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit unserer kollektiven Unternehmungen sind trotz aller moralischen Grenzen des Marktes Dimensionen der Gerechtigkeit. Entscheidend sind aber die dritte Dimension und der Appell: Denken wir immer wieder gemeinsam über Sinn und Zweck unserer sozialen Praktiken, unsere Institutionen und über die Werte nach, die das Gemeinwohl bestimmen sollen. Es geht dabei nicht um wahr oder falsch im Sinne der objektiven Wissenschaften oder um vollständige einvernehmliche Problemlösungen, sondern – gut aristotelisch – um die begründete Hoffnung, dass aus dem vernunftgeleiteten öffentlichen Dialog über das Sein ein kluges und doch weithin verbindliches Sollen entspringen kann.

Wir vertreten in unserem Philosophieren also so etwas wie einen pragmatischen „moralischen Realismus“25, weil wir überzeugt sind, dass es „von unseren Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen“ gibt, die objektiv bestehen und über die man trefflich streiten kann,26 über die man aber auch trefflich streiten muss, weil sie uns nicht allen auf die gleiche Weise und jedenfalls nicht als Tatsachen an sich zugänglich sind.

Und wir erwarten immer noch von der Philosophie, was Jürgen Habermas zuletzt – wieder einmal – auf den Punkt gebracht hat: „Sie (die Philosophie) darf von Haus aus nicht vor dem Komplexitätswachstum unserer Gesellschaft und unseres immer weitergehend spezialisierten Wissens von der Welt resignieren, wenn sie – wie Kant zu seiner Zeit – ihre Zeitgenossen nach wie vor mit Gründen dazu ermutigen will, von ihrer Vernunft einen autonomen Gebrauch zu machen und ihr gesellschaftliches Dasein praktisch zu gestalten.“27

So viel scheint uns gewiss: Die Idee eines halben Grundeinkommens wird sich ihren fixen Platz im öffentlichen Vernunftgebrauch erobern. Denn seine Einführung kann die Spielregeln der Arbeitsgesellschaft recht grundlegend und auf insgesamt vorteilhafte Weise verändern.

1Zu den ethischen Grundlagen und den fachlichen Eckpunkten einer moralischen Arbeitsmarktreform siehe Georg Grund-Groiss / Philipp Hacker-Walton: Arbeit und Gerechtigkeit. Wien 2019.

2Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 2015, S. 9.

3Ein Begriff in der politischen Arena der 2000er-Jahre, mit viel öffentlicher Resonanz gebraucht auch vom damaligen österreichischen SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer.

4G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257. Wir interpretieren Hegel so, dass sich der „objektive Geist“ in den Familien, Firmen, Organisationen, in den Vereinen und den Kirchen verwirklicht. Aber erst im Staat und seinen Institutionen kommt in paradigmatischer Form zum Ausdruck, was eine Gesellschaft zu ihrer Zeit jeweils für moralisch richtig hält. Der demokratische Rechts- und Wohlfahrtsstaat ist in dieser Hinsicht zweifellos bereits ein Ideal. Aber auch dieses Ideal ist geschichtlich, wird vom „Formwandel der sozialen Integration“ (Jürgen Habermas, siehe Fußnote 27) beeinflusst und muss daher zuweilen reformiert werden, insbesondere wenn es sich als bedroht erweist.

5Bei einem Einschaltgrad des AMS am gesamten Stellenmarkt von „bloß“ 42 Prozent.

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