Arbeitsgeschichten - Klaus Obermeyer - E-Book

Arbeitsgeschichten E-Book

Klaus Obermeyer

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Beschreibung

Sprache und Narrative sind Brücken zwischen Körper und Welt. Unsere Arbeitserfahrungen vermitteln wir in Erzählungen und Dialogen. Berater:innen können an diesen Erzählmotiven anknüpfen, Geschichten weitererzählen, Metaphern nutzen und ihre Klient:innen ermächtigen, Narrative neu zu arrangieren und Ressourcen freizusetzen. Klaus Obermeyer vermittelt die inhärente Kraft der Narrative, die in Arbeitserzählungen und Organisationstheorien enthalten sind und beschreibt Denkmodelle und Methoden narrativer Beratung. In einem ausführlichen Praxisbeispiel wird illustriert, wie Beratung als poetischer Prozess gemeinsamer Autor:innenschaft funktionieren kann. Ein Beratungszugang, der auf die kreative Kraft von Sprache, Narrativen und Metaphern sowie auf deren ästhetische Dimension baut.

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BERATEN IN DER ARBEITSWELT

Herausgegeben von Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis

Klaus Obermeyer

Arbeitsgeschichten

Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen und einer Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: virinaflora/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-607XISBN 978-3-647-99374-4

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

1 Die Bedeutung des Narrativen: Erzählungen als Ausgangs- und Endpunkt arbeitsbezogener Beratung

Erzählen als kommunikatives Handeln

Narrative Spuren in Psychoanalyse, systemischer Beratung und Gestaltpsychologie

Kapitelüberblick

2 Baustoffe von Erzählungen

Geschichte – Erzählung – Narrativ

Historisierte Erfahrung

Erzählungen als machtvolle Interventionen

Sprachfunktionen zwischen Konkretion und Abstraktion

Strukturmerkmale von Geschichten

Unmittelbarkeit versus Deutung von Erzählungen

Ein heißes Eisen: Zwischen Kreativität und Fake News

Einführung in das Fallbeispiel

3 Überall Metaphern: Erzählungen über Arbeit als Gewebe von übertragenen Bedeutungen

Grundstruktur von Metaphern – Hervorheben und Verbergen

Leitfragen zur Metaphernanalyse

Dichterisch sprechen

Metaphorische Spuren im Fallbeispiel

4 Brückenqualitäten: Sprache und Narrative als Medien zwischen Körper und Welt

Brückenqualitäten der Sprache

Erste Brückenqualität: Der synästhetische Charakter der Sprache

Zweite Brückenqualität: Die Handlungs- und Bewegungssuggestionen der Sprache

Dritte Brückenqualität: Die Machtvermitteltheit der Sprache

Konsequenzen für die Beratung

Einige leibliche Aspekte der Erzählungen im Fallbeispiel

5 Organisationen sind Erzählungen: Narrative Organisationstheorie

Narrative Bausteine der Organisation

Geschichte der Organisationstheorie als Wandel zentraler Organisationsmetaphern

Organisationskulturelle Aspekte im Fallbeispiel

6 Plotstrukturen: Archetypische Erzählmuster über Arbeitserfahrungen

Archetypische Plotstrukturen

Wiederkehrende Plotstrukturen in Supervision und Coaching

Wandel der Plotstruktur im Fallbeispiel

7 Schöne Geschichten: Ästhetik als Gütekriterium von Beratung

Merkmale ästhetischer Erfahrung

Die Zunft der Berater*innen. Unterschiedliche Schulen – unterschiedliche Ästhetiken

Nebenwirkungen der ästhetischen Faszination

Ästhetik der Erzählungen im Fallbeispiel

8 Gemeinsam erzählen: Zur Vielstimmigkeit der Erzählsituation

Polyphonie als Strukturprinzip der Sprache

Erzählungen sind soziale Ereignisse

Vielstimmigkeit im Fallbeispiel

9 Verschiebung und Neuerzählung: Das Beratungssystem als poetische Werkstatt

Poetische Praxis der Berater*innen

Berater*innenhaltung zwischen Zögern und Entschiedenheit

Hoffnung erfinden und weitertragen

Poesie der Neuerzählung im Fallbeispiel

Literatur

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe wendet sich an erfahrene Berater*innen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleg*innen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforscher*innen im Blick, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mitgestalten wollen.

Theoretische wie konzeptuelle Basics und auch aktuelle Trends werden sowohl pointiert und kompakt als auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens genauso wie theoretische und konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leser*innen die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen, als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- und Lehrbuchartikeln möglich ist.

Die Autor*innen der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersten Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich als methoden- und schulenübergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene angeregt wird.

Wir laden Sie als Leser*innen dazu ein, sich von der Themenauswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeitsalltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen.

Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis

1

Die Bedeutung des Narrativen: Erzählungen als Ausgangs- und Endpunkt arbeitsbezogener Beratung

»Das ist typisch für Narrative. Sie greifen signifikante Elemente aus dem riesigen Wahrnehmungsfeld menschlicher Wirklichkeit heraus und stellen sie in eine Abfolge, die irgendeine Logik hat. Und das kann heilsam sein. Es bringt Ordnung in die Welt.« Siri Hustvedt (2019, S. 196)

An der Quelle von Beratungsprozessen stehen Erzählungen. Klient*innen erzählen ihren Berater*innen ihre Sicht der Dinge. Und auch im Ausklang der Beratungsprozesse wird erzählt. Dann oft die Geschichte des Beratungsprozesses selbst. Gegenstand dieser bilanzierenden Erzählungen ist dann meist, welche Verwandlung die ursprüngliche Problemerzählung im Verlauf der Zusammenarbeit in der Beratung erfahren hat.

Probleme treten unter anderem dadurch ins Bewusstsein, dass unser Erzählfluss stockt. Wir können uns auf das, was uns widerfährt, keinen rechten Reim mehr machen, sind möglicherweise sprachlos. Jede Unsicherheit, wie zu handeln sei, geht in der geschwisterlichen Verwobenheit von Handeln und Sprechen mit einer Hemmung der Rede einher. Wie quälend dies sein kann, hat Hugo von Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos an einen Freund so treffend ausgedrückt: »Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen. […] Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend ein Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze« (Hofmannsthal, 2001, S. 38 f.). Hofmannsthals Lord Chandos leuchtet auch aus, wie einsam und zornig eine solche Sprachhemmung stimmen kann. Und er ahnt, dass das Versiegen der Sprache auf Grenzerfahrungen hinweist, in denen Erklärungs- und Sprachmuster, die uns bisher hilfreich waren, nicht mehr treffend erscheinen: »Es gelang mir nicht mehr, sie [die Menschen und ihre Handlungen, K.O.] mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheiten zu erfassen« (S. 47).

Oft schildern uns Ratsuchende ihre Erfahrungen, ohne schon über eine Erzählung zu verfügen. Der unterbrochene oder fragmentierte Bericht korrespondiert in aller Regel mit einer Unterbrechung des Handlungsflusses. Und umgekehrt: Sobald eine Erzählung über die krisenhafte, unaufgelöste Situation entsteht, die einen stimmigen Ausgang verheißt, steigen die Chancen für neue Handlungsfähigkeit.

Erzählen als kommunikatives Handeln

Beratung ist zunächst eine Form des kommunikativen Handelns. Es wird – vor allem sprachbasiert – miteinander kommuniziert, um Antworten auf Fragen und einen Zugewinn an Handlungssicherheit zu erzielen.

Der Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit von Erzählungen in der Beratung mag trivial erscheinen. Dennoch finde ich es bemerkenswert, dass die Praktiker*innen der Beratung, aber auch die Beratungswissenschaften, in der Vergangenheit kein sehr inniges Verhältnis zu Erzähltheorie und Linguistik gepflegt haben. Dafür mag es einige naheliegende Gründe geben. Die hybride theoretische Grundlegung der arbeitsbezogenen Beratung, die schon über ihre zentralen Fundamente aus Soziologie, Psychologie, Ökonomie und Philosophie kaum Überblick bewahren kann. Vielleicht auch die zunehmende Daten- und Outputorientierung der Arbeitswelt, in der es womöglich nur noch wenig Raum für den Reiz des Erzählens gibt (vgl. Malunat, 2020). Vor allem aber scheint es mir herausfordernd, mit den Mitteln der Sprache über die Sprache selbst nachzudenken. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Und bei diesem Versuch sind wir schreibend oder denkend ständig mit der schmerzlichen Kluft zwischen Sprache und Wirklichkeit konfrontiert. Die Sprache und die Erzählungen sind eben einerseits unverzichtbar und offenbaren doch im selben Atemzug, wie schemenhaft, flüchtig und auslassend sie sind.

Dieses Büchlein will vor allem Appetit machen. Appetit auf die reichhaltigen Ressourcen, die sich in Erzählungen über Arbeitserfahrungen für die Beratung offenbaren können. Narrative Beratung wird dabei keinesfalls als geschlossenes Beratungskonzept verstanden. Sensibilität für Inhalt, Form und Kontext von Erzählungen eröffnet Verstehens- und Interventionszugänge neben vielen anderen, die – so meine Hoffnung – für Berater*innen unterschiedlicher theoretischer Herkunft anregend sein können. Es geht nicht darum, einen neuen Beratungsansatz zu propagieren. Die Suchbewegung folgt der Frage, wie die in den erzählten Geschichten aufscheinenden Informationen als diagnostische Ressourcen und zur Gestaltung von Interventionen genutzt werden können.

Mein eigenes Interesse an dieser Frage beruht auf der schlichten Erfahrung, dass ich in vielen Beratungen mit meinen Klient*innen einfach nur spreche. Das ganze Arsenal an Aufstellungs-, Visualisierungs- und Systematisierungsmethoden bleibt – manchmal mit schlechtem Gewissen – ungenutzt. Was mich dann tröstet, sind die gelegentlich eindrucksvolle Kraft der Worte und der Nutzen, den Klient*innen aus veränderten Beschreibungen ihrer Wirklichkeiten ziehen können.

Bemerkenswert erscheint mir auch, dass teilweise trotz Methodeneinsatz eine Lähmung bestehen bleibt, wenn es Klient*in und Berater*in nicht gelingt, eine zukunftseröffnende und gangbar anmutende Neubeschreibung der Lage zu entwerfen. Auch die Resultate, die aus dem Einsatz von Methoden und Tools erwachsen, müssen ja in der Regel in gesprochene Worte und handlungsleitende Zukunftsentwürfe, also in Geschichten über das, was geschehen könnte, übersetzt werden.

Das offene Ohr für die Erzählungen der Ratsuchenden ist chancenreich, da sie besonders nah ans Handeln gebaut sind. Die Berichte der Ratsuchenden werden zur Erzählung, indem sie dramatische, szenische Elemente einbinden. Dies lässt kleine Filme und Szenen vor unserem inneren Auge entstehen, die eine bestimmte Weiterführung, einen bestimmten Ausgang nahelegen und uns unwillkürlich in mögliche Zukünfte tragen. Dieser erzählerische Aspekt der Problemberichte in der Beratung steht im Zentrum dieses Buches. Das Interesse richtet sich dabei weniger auf die Interpretation von Erzählungen, sondern vielmehr auf deren handlungsleitende Wirkung und Veränderbarkeit.1

Narrative Spuren in Psychoanalyse, systemischer Beratung und Gestaltpsychologie

Beratung kommt – zumindest seitens der Ratsuchenden – nicht ohne Erzählungen aus. Deshalb spielen diese auch in allen Traditionslinien von Beratung eine Rolle. Mehr oder weniger explizit und prominent. Das Psychodrama Jacob Levy Morenos beispielsweise ist mit seinem Fokus auf die Inszenierung durch und durch narrativ, ohne dies in der Theoriebildung besonders hervorzuheben. Schauen wir also – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf einige Denklinien in der Beratungsgeschichte, in denen Erzählungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Psychoanalyse und Narration

Die Suche nach Anhaltspunkten für narrative Zugänge in der Geschichte der Psychoanalyse führt rasch zu Alfred Lorenzer. Mit seinem Konzept des »szenischen Verstehens« hat er früh einen Prototyp der Verwobenheit von Sprache, Handlung und Veränderung beschrieben. Er hat damit ein Konzept geprägt, das auch im Feld der arbeitsbezogenen Beratung sehr einflussreich war. Die Arbeit mithilfe des »szenischen Verstehens« lebt davon, eine im Hier und Jetzt der Beratungssituation entstandene »Szene« auf eine Weise zu beschreiben, die den Beteiligten den inneren Zusammenhang der Hier- und Jetzt-Situation des Beratungsgeschehens mit der in der Beratung thematisierten Da- und Dort-Situation im realen Leben der Ratsuchenden augenscheinlich nachvollziehbar macht. Die Szene – im Sinne Lorenzers – unterscheidet sich von der bloßen Situation durch ihren »dramatischen« (1973, S. 174) und damit erzählbaren Charakter. Sie ist Überschneidungszone bewusster Lebenspraxis und unbewusster Dynamik. Die Beschreibung der Szene will das Erleben der Beteiligten in ein gemeinsames »Sprachspiel« (S. 203) zusammenführen und die Spiegelung und Reinszenierung der Probleme der Ratsuchenden im Handlungsdialog der Beratungssituation erhellen. Lorenzer hat betont, dass szenisches Verstehen nicht den Gesetzen der Logik folgt (S. 89). Ziel ist vielmehr ein eher metaphorischatmosphärisches »Evidenzerleben« (S. 105). Evidenz erwächst aus dem leiblich stimmigen Integrationserleben unterschiedlicher Bewusstseins- und Wahrnehmungsebenen. Die Szene spricht dabei selten für sich allein. Sie muss auf eine bestimmte Weise beschrieben und erzählt werden, die ein Aha-Erlebnis auszulösen vermag. Lorenzer war überzeugt, dass die (Wieder-)Herstellung der Erzählfähigkeit heilsames Potenzial hat. Seine Psychoanalyse fokussierte darauf, aus den Leidenswegen der »Sprachzerstörung« eine »Rekonstruktion« (S. 105) verloren gegangener Narrationen zu unternehmen und damit auch eine Erzählfähigkeit zu erarbeiten, die Orientierung und Gestaltungskraft ermöglicht.

Der italienische Psychoanalytiker Antonino Ferro (2009, 2012) verfolgt ein psychotherapeutisches Konzept, das direkt mit der Erzählkunst in Verbindung steht. Ferro versteht »unter Narration jenes Vorgehen des Analytikers während der Therapie, bei dem er ganz und gar dialogisch und ohne besondere, durch Deutungen gesetzte Zäsuren gemeinsam mit dem Patienten ›einen Sinn konstruiert‹. Es ist, als würden Analytiker und Patient zusammen ein Theaterstück entwerfen, dessen Handlungsstränge sich aufeinander beziehen, sich in ihrer Komplexität steigern und sich entwickeln. Dies geschieht bisweilen in einer Art und Weise, die keiner der beiden an der Narration Beteiligten vorhersehen und für möglich halten konnte. Denn keiner von beiden ist im Besitz einer vorab feststehenden Wahrheit. Bei dieser Vorgehensweise tritt eine ko-narrative Transformation oder sogar eine transformative Ko-Narration an die Stelle der Deutung« (2009, S. 10). Besonders liegt Ferro am Herzen, dass Berater*innen den Ratsuchenden ihre eigenen Geschichten, Deutungen und Projektionen nicht mit Macht überstülpen. Er betont den Aspekt des Sich-aufeinander- Einschwingens, den Prozess des Miteinander-Verwebens zweier oder mehrerer Narrative zu einer neuen Gestalt. In Ferros Worten: »Vorausgesetzt wird hier […], dass die Geschichten nicht zur Bestätigung der Theorien des Analytikers dienen, sondern zur narrativen Transformation […] in Übereinstimmung mit der Geschichte und der Innenwelt des Patienten« (2009, S. 25 f.). Beratungsprozesse in ihrer Gänze, aber auch jedes einzelne Treffen im Rahmen von Beratung versteht er als »offenes Werk« (2012, S. 75), in dem sich – ausgehend von den Berichten der Klient*innen oder dem Material aus zurückliegenden Sitzungen – »mögliche Welten« (2012, S. 91) in einem gemeinsamen Suchprozess von Klient*innen und Berater*innen assoziativ entfalten. Dazu braucht es neben dem bewussten Verstand vor allem auch eine Qualität von »Traumdenken im Wachen« (2012, S. 84), um impliziten, verborgenen, vermiedenen, der »Narkotisierung« (2012, S. 93) unterworfenen Entwicklungspfaden des Erzählens eine Chance zu geben.

In der psychoanalytischen Tradition erwächst das Interesse an der Erzählung vor allem aus deren Überbrückungspotenzial zwischen unbewusstem Prozess und dem Hier und Jetzt der Beratung. Erzählungen sind der Schlüssel zum Unbewussten. Des Weiteren wird der Aspekt der Zusammenarbeit zwischen Berater*in und Ratsuchenden akzentuiert. Ratsuchende und Beratende arbeiten ko-kreativ am narrativen Material und stiften damit ein gemeinsames Drittes.

Narrative systemische Beratung

In den 1990er-Jahren war insbesondere unter Vertreter*innen der systemischen Therapie und Beratung vermehrt von narrativer Beratung die Rede (vgl. Boeckhorst, 1994; Hoffmann, 1996). Auslöser dafür waren unter anderem die Arbeiten von Michael White und David Epston (White u. Epston, 1990; White, 2010), die weniger an beobachtbarem Verhalten als an kollektiven Ideen und Erzählungen interessiert waren. Auch Probleme der Ratsuchenden wurden als Resultat der in ihrem Selbstbild und ihren Lebenskontexten wirksamen Erzählungen verstanden. Folgerichtig arbeiteten Epston und White viel mit Briefen an ihre Klient*innen und anderen schriftlichen Interventionen. Steve de Shazers (2017, 2018) lösungsorientierte Beratung – die sich unter anderem auf Derridas sprachphilosophisch begründeten Ansatz der Dekonstruktion stützt – hat einen narrativen Kern. Hier steht eine Transformation von Problem- in Lösungssprache im Fokus. De Shazer war sich deshalb sicher, dass er das Problem der Klientin nicht kennen muss, um mit ihr im sprachsensiblen Dialog Lösungsschritte erarbeiten zu können.2

Im Bereich der arbeitsbezogenen Beratung verfolgt Thomas Müller (2017, 2022; Erlach u. Müller, 2020) einen explizit narrativen Ansatz vor systemisch inspiriertem Hintergrund. Hier finden sich vielfältige methodische Anregungen für die Arbeit an und mit Narrationen in Coaching und Organisationsentwicklung.

In der systemischen Tradition ist immer wieder explizit von »narrativer Therapie« bzw. »narrativer Praxis« die Rede (vgl. Jakob, Borcsa, Olthof u. von Schlippe 2022)3. Theoretisch stützt sich dieser Diskurs einerseits auf das Denken des »sozialen Konstruktionismus« (vgl. Gergen u. Gergen, 2009), bei White und Epston aber auch ganz maßgeblich auf die Arbeiten von Michel Foucault (2012) und dessen Kritik an der Machtgebundenheit gesellschaftlicher Diskurse. Narrative Arbeit verfolgt in dieser Tradition vor allem das Ziel, unterworfenen und ausgegrenzten Stimmen Gehör zu verschaffen, um damit Erstarrung zu überwinden und Bewegungsräume zu vergrößern.

Wilhelm Salbers Gestaltpsychologie

Unter den Wegbereiter*innen eines narrativen Zugangs zur Beratung soll der Psychologe Wilhelm Salber (1928–2016) erwähnt werden, der das psychische Geschehen – in Anlehnung an die Gestaltpsychologie – insgesamt als Formbildungs- und Formveränderungsprozess konzipiert hat (vgl. Salber, 2009). Anders als in der psychoanalytischen und systemischen Tradition, die vor allem an den Inhalten von Erzählungen interessiert sind, wird in Salbers Denken der Form und Struktur einer Erzählung besonderes Augenmerk geschenkt – vielleicht eine der ersten explizit ästhetisch inspirierten Denkfiguren im Feld der Beratung: »Seelisches hängt miteinander nicht nach logischen Regeln, sondern nach Gesetzen von Ganzheit, Gestaltung, Formbildung zusammen. Man könnte überspitzt sagen, im Seelischen herrschten ›ästhetische Gesetze‹« (S. 49). Salber war überzeugt, dass wir erzählbare Geschichten bilden müssen, wenn wir uns selbst und andere verstehen oder weiterentwickeln wollen. Somit sah er auch die Psychologie in der Pflicht, ihren Gegenstand in Erzählformen zu begreifen. Was psychisch der Fall ist, kann in seinem Verständnis in Handlungseinheiten erfasst werden (z. B. ich verdränge etwas), die dann dynamisch verschiedene Metamorphosen durchlaufen (z. B. durch eine Erfahrung wird das Verdrängte ans Licht gebracht). Das Schöpferische dieser Metamorphosen erwächst aus den – wiederum in Sprache gefassten – verwandelten Bedeutungen, die wir den seelischen Phänomenen zuschreiben. Psychische Prozesse sind also als dynamische Veränderungen auf der Zeitlinie beschreibbar, in Salbers Worten als Prozess der »Historisierung«, der das psychische Erleben in einer Struktur auf der Zeitlinie zusammenhält und uns vor Erfahrungen der Defragmentierung schützt: »Die kompletten Geschehensformen werden gegliedert in der Historisierung seelischer Folgen und Weiterführungen, durch Erfahren von Gelingen und Misslingen, durch Verspüren von Vorankommen, Steckenbleiben, durch Hoffnung und Bewährung. Diese Momente beziehen sich als Verwandlungen in einer Historisierung aufeinander. Das bedeutet: Die Entwicklung der seelischen Formenbildung will selbst eine Geschichte werden mit Ausgangslage, Entfaltung, Steigerung, Höhepunkten und Niederlagen« (S. 196, Hervorhebung im Original). Salbers Arbeit fand in der akademischen Psychologie wenig Resonanz. In der Praxis wurde sie allerdings lebhaft rezipiert. Vor allem in der Werbewirtschaft, in der es ja bekanntlich darum geht, Geschichten zu erfinden, die zu etwas führen.

Kapitelüberblick

Die folgenden Kapitel widmen sich jeweils einem ausgewählten Blickwinkel auf Erzählungen, der mir für Beratung in der Arbeitswelt vielversprechend erscheint. Angesichts der Komplexität der Hintergründe wird dabei bestenfalls an Eisbergspitzen gekratzt. Mögen die wenigen freigeschabten Kristalle das Interesse der Leser*innen an dem wecken, was unter Wasser verborgen bleibt.

Nach dieser Einführung gehe ich in Kapitel 2 der Frage nach, aus welchen Zutaten Erzählungen gemacht sind. Dabei geht es einerseits um grundlegende Funktionen der Sprache, dem allgemeinsten Rohstoff von Erzählungen. Andererseits werden Strukturmerkmale von Erzählungen als Textsorte skizziert. In Kapitel 3 wird auf die allgegenwärtige metaphorische Struktur unserer Sprache fokussiert. Es folgt der These, dass Metaphern in der Sprache und in Erzählungen nicht Ausnahme, sondern Regel sind. Metaphern haben die Kraft selbsterfüllender Prophezeiungen. Sie können dazu beitragen, Probleme aufrechtzuerhalten. Eine Orientierung auf eine gedeihlichere Zukunft wird durch einen Wandel der in den Erzählungen benutzten Metaphern wahrscheinlicher. Das 4. Kapitel widmet sich der engen Verbindung von Körper und Sprache und deren Potenzialen für Beratung. Das Verhältnis von Körper und Sprache ist wechselseitig verwoben. Veränderte Körperzustände legen veränderte Erzählungen nahe und umgekehrt. Kapitel 5