Archiv des Verbrechens Band 1 - Danilo Sieren - E-Book

Archiv des Verbrechens Band 1 E-Book

Danilo Sieren

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Beschreibung

ARCHIV DES VERBRECHENS – BAND 1 DIE ERSTEN ZEHN FÄLLE** Zehn Fälle. Zehn Abgründe. Ein Ermittler, der niemals aufgibt. Im ersten Band der neuen Thrillerreihe Archiv des Verbrechens begleitet der Leser Kommissar Elias Falk, einen Ermittler, der ebenso scharfsinnig wie unnachgiebig ist – und zugleich ein Mann, den seine eigene Vergangenheit nicht loslässt. Berlin ist sein Revier: laut, düster, widersprüchlich. Hinter jeder Tür lauert ein Geheimnis, in jedem Schatten ein Echo der Wahrheit, die niemand hören will. Unterstützt wird Falk von Nora Stein, IT-Analystin mit messerscharfer Beobachtungsgabe und dem unvergleichlichen Talent, Muster dort zu entdecken, wo andere nur Chaos sehen. Gemeinsam bilden sie ein Team, das tiefer gräbt, weiter sieht und Fragen stellt, die niemand stellen möchte. Jeder Fall ist in sich abgeschlossen – und dennoch Teil eines größeren Mosaiks, das sich im Laufe der Reihe entfaltet.

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Seitenzahl: 492

Veröffentlichungsjahr: 2025

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ARCHIV DES

VERBRECHENS

Band 1

Die ersten zehn Fälle

Danilo Sieren

Copyright © 2024 Danilo Sieren

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Erste Auflage 2024

Württembergerstr. 44

44339 Dortmund, Deutschland

Für alle, die nach der Wahrheit suchen –

auch wenn sie unbequem ist.

Vorwort zur Serie Archiv des Verbrechens 5

Kapitel 1 6

Schwarzer Regen

6

Kapitel 2 33

Giftstrom

33

Kapitel 3 62

Schattenlinie

62

Kapitel 4 87

Splitter im Licht

87

Kapitel 5 121

Kein Licht für Lina

121

Kapitel 6 160

Die Bank des Schweigens

160

Kapitel 7 190

Die Gabe

190

Kapitel 8 213

Mandat des Schweigens

213

Kapitel 9 269

Kaufhaus 17

269

Kapitel 10 302

Schatten der Schuld

302

Kapitel 11 329

Impressum

329

Vorwort zur Serie Archiv des

Verbrechens

Verbrechen hinterlassen Spuren.

Manche sind sichtbar. Andere vergraben sich tief in Systemen, Beziehungen

und Erinnerungen.

Im Zentrum der Ermittlungen steht Falk, ein Kommissar im aktiven Dienst. Er kennt die Regeln – und weiß, wann man sie brechen muss. Mit scharfem Verstand und einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Ungerechtigkeit geht er Spuren nach, die andere längst aufgegeben haben.

Nora, seine Kollegin aus der IT-Analyse, ist die stille Kraft im Hintergrund. Sie sieht, was andere übersehen: digitale Muster, versteckte Verbindungen, die Sprache der Daten. Gemeinsam bilden sie ein Team, das sich nicht mit der Oberfläche zufriedengibt.

Jeder Band ist ein Archiv.

Jeder Fall ein Eintrag.

Und jede Wahrheit ein Risiko.

Kapitel 1

Schwarzer Regen

Der Regen fiel in dichten Schleiern auf die grauen Fassaden der Glitschiger

Straße. Berlin war noch nicht wach, aber auch nie wirklich im Schlaf. Die Stadt atmete schwer, als hätte sie zu viel gesehen, zu viel geschluckt, zu viel geschwiegen. Es war kurz nach fünf Uhr morgens, und Kommissar Elias Falk stand vor einem verlassenen Plattenbau, dessen Fenster wie blinde Augen in die Dunkelheit starrten.

Falk zog den Mantel enger um sich. Der Stoff war alt, das Futter ausgefranst, aber er trug ihn wie eine Rüstung. Die Kälte kroch ihm trotzdem unter die Haut. Er hatte schlecht geschlafen, wie immer. Albträume, die keine Bilder hatten, nur Gefühle. Schuld. Verlust. Leere.

Kommissar Falk? Eine junge Streifenpolizistin trat aus dem Schatten des Eingangs. Ihre Stimme war fest, aber die Augen verrieten Unsicherheit. Dritte Etage. Die Spurensicherung ist schon da.

Falk nickte wortlos und trat ein. Der Flur roch nach Moder und altem Rauch. Die Wände waren mit Graffiti bedeckt, manche kunstvoll, andere nur wütende Krakel. Die Treppen knarrten unter seinem Gewicht, als würde das Gebäude selbst gegen seine Anwesenheit protestieren.

Oben angekommen, erwartete ihn ein Raum, der aussah, als hätte die Zeit ihn vergessen. Abblätternde Tapeten, ein zerbrochener Stuhl, ein Fenster ohne Glas. Und auf dem Boden die Leiche.

Eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig. Blonde Haare, blasse Haut, die Augen weit geöffnet. Der Mund leicht verzogen, als hätte sie im letzten Moment etwas sagen wollen. Auf ihrer Brust lag ein Zettel, beschwert mit einem rostigen Schraubenschlüssel.

Falk kniete sich langsam hin. Der Zettel war vergilbt, die Schrift krakelig, aber lesbar.

Psalm 139, Vers 12: Auch die Finsternis ist nicht finster bei dir.

Er spürte, wie sich etwas in ihm regte nicht Angst, nicht Ekel. Etwas anderes. Etwas, das er seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Eine Ahnung. Ein Echo.

Keine Spuren von Gewalt, sagte die Gerichtsmedizinerin, die neben ihm stand. Keine Abwehrverletzungen. Keine Hinweise auf sexuelle Gewalt. Aber sie ist definitiv tot. Herzstillstand. Ursache unklar.

Falk stand auf und sah sich um. Der Raum war leer, aber nicht bedeutungslos. Jeder Kratzer an der Wand, jede Scherbe auf dem Boden konnte eine Geschichte erzählen. Er musste nur zuhören.

Wer hat sie gefunden?

Ein Obdachloser. Sucht hier manchmal Schutz vor dem Regen. Er hat sofort die Polizei gerufen.

Falk nickte. Name?

Er nennt sich ‚Kalle‘. Kein Nachname. Kein fester Wohnsitz.

Natürlich nicht. Berlin war voll von Geistern, die durch die Straßen zogen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Falk trat einen Schritt zurück und betrachtete die Leiche aus der Distanz. Die junge Frau lag da, als hätte sie sich hingelegt, um zu schlafen friedlich, beinahe zärtlich. Doch der Zettel auf ihrer Brust war wie ein Stachel in der Szene. Ein Bibelvers, mitten in Berlin, in einem heruntergekommenen Plattenbau. Es war kein Zufall. Es war eine Botschaft.

Hat jemand sie identifiziert?

Die Spurensicherungsbeamtin schüttelte den Kopf. Keine Papiere. Kein Handy. Keine Tasche. Wir prüfen gerade Fingerabdrücke.

Falk nickte. Er kannte diese Art von Fällen. Die Leiche war nicht einfach abgelegt worden sie war inszeniert. Der Raum war leer, aber nicht zufällig gewählt. Der Schraubenschlüssel, der den Zettel beschwerte, war alt, verrostet, aber sorgfältig platziert. Jemand hatte sich Zeit genommen.

Er trat ans Fenster. Draußen begann der Tag, langsam, widerwillig. Die Straßen glänzten nass, Autos zogen ihre Spuren durch die Pfützen. Berlin war wach, aber nicht lebendig.

Ich will alles über diesen Psalm wissen, sagte Falk leise. Wer ihn zitiert. Wo er auftaucht. Ob er in anderen Fällen verwendet wurde.

Verstanden, sagte die Beamtin und machte sich eine Notiz.

Falk verließ den Raum und stieg langsam die Treppen hinunter. Im Erdgeschoss wartete Kalle, der Obdachlose, der die Leiche gefunden hatte. Er saß auf einem umgedrehten Farbeimer, die Hände in den Taschen, der Blick leer.

Sie haben sie gefunden? fragte Falk und setzte sich neben ihn.

Kalle nickte. Ich wollte nur schlafen. Da oben ist’s trocken. Ich hab sie gesehen, bin gleich raus und hab die Bullen gerufen.

Haben Sie jemanden gesehen? Gehört? Irgendwas Ungewöhnliches?

Kalle schüttelte den Kopf. War ruhig. Wie immer. Nur der Regen.

Falk musterte ihn. Kalle war vielleicht verwahrlost, aber nicht verwirrt. Seine Augen waren klar, seine Antworten präzise. Kein typischer Zeuge, aber auch kein Spinner.

Haben Sie sie schon mal gesehen? Die Frau?

Nie. Aber sie sah nicht aus wie eine von hier.

Was meinen Sie damit?

Zu sauber. Zu still. Die hier schreien, wenn sie fallen.

Falk nickte langsam. Es war eine seltsame Bemerkung, aber sie hatte Gewicht. Die Frau war nicht von hier. Vielleicht war sie gar nicht aus Berlin.

Zurück im Präsidium war die Luft trocken und warm, aber nicht weniger schwer. Falk setzte sich an seinen Schreibtisch, der voll war mit alten Akten, halb geleerten Kaffeetassen und einem Foto, das er nie ganz weggeräumt hatte: seine Tochter, vor zehn Jahren, lachend, unbeschwert. Sie lebte jetzt in Hamburg, studierte Psychologie. Sie rief selten an.

Elias? Die Stimme seiner Kollegin, Kriminaloberkommissarin Nora Stein, riss ihn aus dem Gedanken. Sie war Anfang vierzig, klug, direkt, mit einem Blick, der mehr sah als Worte verrieten.

Fingerabdrücke sind durch, sagte sie. Die Tote heißt Clara Jansen. 26 Jahre alt. Keine Vorstrafen. Gebürtig aus Leipzig. Zuletzt wohnhaft in Friedrichshain.

Beruf?

Kunststudentin. Hat in einer Galerie gearbeitet. Keine bekannten Feinde. Keine bekannten Freunde, ehrlich gesagt.

Falk runzelte die Stirn. Und der Psalm?

Wird oft in Trauerreden zitiert. Aber es gibt eine Verbindung zu einem alten Fall. 1998, ein Mord in Dresden. Ähnliche Inszenierung. Gleicher Vers.

Falks Magen zog sich zusammen. 1998 war das Jahr, in dem er zum ersten Mal in Berlin gearbeitet hatte. Das Jahr, in dem seine Frau ihn verlassen hatte. Das Jahr, in dem er fast alles verloren hatte.

Hol mir alles zu diesem Fall, sagte er. Und such nach weiteren Bibelzitaten in alten Akten. Ich will wissen, ob wir es mit einem Serienmörder zu tun haben.

Nora nickte. Und was machst du?

Falk sah aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber die Stadt war noch grau.

Ich fahre zu Clara Jansens Wohnung. Vielleicht spricht sie dort noch.

Die Wohnung lag in einem Altbau in Friedrichshain, dritte Etage, Hinterhaus. Falk stieg die Treppen langsam hinauf, vorbei an Briefkästen mit abgeblätterten Namen und Klingelschildern, die niemand mehr benutzte. Der Hausflur roch nach kaltem Kaffee und abgestandenem Leben.

Die Tür zu Claras Wohnung war bereits geöffnet, die Spurensicherung vor Ort. Falk trat ein und wurde von Stille empfangen nicht der gewöhnlichen, sondern jener, die sich wie ein Schleier über alles legt, wenn etwas fehlt.

Die Wohnung war klein, aber ordentlich. Bücherregale, ein alter Plattenspieler, ein Sofa mit Decke, die noch die Form eines Körpers zu haben schien. An den Wänden hingen Fotografien schwarz-weiß, melancholisch, fast leer. Gesichter, die halb im Schatten lagen, Straßenszenen bei Nacht, ein einzelner Baum im Nebel.

Sie hat allein gelebt, sagte eine Beamtin. Keine Hinweise auf Mitbewohner. Keine Anzeichen von Einbruch.

Falk trat an den Schreibtisch. Dort lag ein Skizzenbuch, aufgeschlagen. Die Seiten waren voll mit Zeichnungen Hände, Augen, zerbrochene Uhren, ein Gesicht ohne Mund. Und immer wieder: ein dunkler Tunnel, der sich ins Nichts zu öffnen schien.

Sie war keine gewöhnliche Kunststudentin, murmelte Falk. Sie hat gesehen, was andere nicht sehen wollen.

In der Küche stand eine Tasse, halb voll mit kaltem Tee. Daneben ein Zettel, handgeschrieben:

Ich habe ihn gesehen. Er war da. Aber niemand glaubt mir.

Falks Herz schlug schneller. Der Satz war nicht datiert, nicht unterschrieben. Aber er war echt. Und er war eine Warnung.

Was ist mit dem Laptop? fragte er.

Passwortgeschützt. IT ist dran.

Falk nickte. Er trat ans Fenster und sah hinaus auf den Innenhof. Ein Fahrrad lag umgekippt, ein Ball lag reglos im Gras. Alles schien verlassen, aber nichts war tot.

Sie hat gewusst, dass etwas kommt, sagte er leise. Und sie hat versucht, es zu sagen.

Zurück im Präsidium war die Stimmung gedrückt. Nora Stein wartete bereits mit neuen Informationen.

Der Fall von 1998 der mit dem Psalm wurde nie aufgeklärt. Das Opfer war ein Mann, 34, Lehrer. Auch er wurde in einem leerstehenden Gebäude gefunden. Auch er hatte einen Zettel mit Psalm 139, Vers 12.

Verbindung zu Clara? fragte Falk.

Keine offensichtliche. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Beide hatten Kontakt zu einem Mann namens David Riemann. Damals war er Religionslehrer. Heute ist er… verschwunden.

Falks Blick verfinsterte sich. Der Name war ihm nicht fremd. Riemann war vor Jahren schon einmal in einem Fall aufgetaucht aber nie angeklagt worden.

Findet ihn, sagte Falk. Lebend oder tot. Ich will wissen, was er weiß.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, aber Falks Gedanken wurden nicht leiser. Er saß in seinem Büro, das Licht gedämpft, die Geräusche der Stadt wie ein ferner Strom. Vor ihm lag das Foto von Clara Jansen, das die Spurensicherung gemacht hatte. Ihre Augen blickten direkt in die Kamera offen, aber nicht leer. Als hätte sie etwas gewusst. Etwas, das sie nicht sagen konnte.

Falk nahm einen Stift und schrieb auf einen Notizzettel:

Psalm 139, Vers 12.

Clara Jansen.

David Riemann.

Tunnel.

Gesicht ohne Mund.

Er starrte auf die Worte, als wären sie ein Rätsel, das sich selbst nicht lösen wollte.

Dann stand er auf, zog seinen Mantel an und trat hinaus in die Nacht. Der Regen hatte wieder begonnen. Und Berlin war bereit, ihm neue Geheimnisse zu zeigen.

Der Geruch von Formalin hing schwer in der Luft, als Falk die Pathologie betrat. Die Neonröhren warfen ein kaltes Licht auf die metallenen Tische, auf denen die Toten lagen wie unbeantwortete Fragen. Dr. Miriam Kessler, die Gerichtsmedizinerin, stand bereits bereit. Ihre Handschuhe glänzten, ihr Blick war ruhig, analytisch wie immer.

Clara Jansen, begann sie, ohne Umschweife. Todeszeitpunkt: zwischen 2:00 und 3:00 Uhr morgens. Keine äußeren Verletzungen. Keine Spuren von Gewalt. Aber…

Falk hob eine Augenbraue. Aber?

Ich habe etwas gefunden. Unter der Haut, am linken Unterarm. Eine kleine Narbe, kaum sichtbar. Darunter ein Mikrochip.

Falk trat näher. Ein Implantat?

Ja. Kein medizinisches. Kein handelsübliches. Ich habe ihn ausgelesen. Die Daten sind verschlüsselt, aber es gibt eine Seriennummer. Und ein Name: ‚Projekt Eremia‘.

Falk starrte auf den winzigen Chip, der nun in einer Petrischale lag. Er sah harmlos aus. Wie ein Splitter aus einer anderen Welt.

Was ist das für ein Projekt? fragte er.

Ich weiß es nicht. Aber es ist nicht registriert. Kein offizielles Forschungsprogramm. Kein medizinischer Hintergrund. Es ist… privat.

Falks Gedanken rasten. Clara Jansen war keine gewöhnliche Studentin. Sie war Teil von etwas, das sich unter der Oberfläche bewegte. Etwas, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.

Und der Psalm? fragte er.

Kessler nickte. Ich habe ihn mir angesehen. Psalm 139 ist ein Text über göttliche Allgegenwart. Über das Licht in der Dunkelheit. Aber Vers 12 ist besonders. Er spricht davon, dass selbst die Finsternis nicht finster ist, bei Gott.

Oder bei jemandem, der sich für Gott hält, murmelte Falk.

Zurück im Präsidium war die Stimmung angespannt. Nora Stein hatte neue Informationen.

David Riemann ist seit fünf Jahren offiziell verschwunden. Kein Wohnsitz, keine Kontobewegungen, keine digitalen Spuren. Aber…

Aber?

Ich habe einen Hinweis gefunden. Eine alte E-Mail-Adresse, die mit dem Projekt ‚Eremia‘ verknüpft ist. Und sie wurde vor drei Tagen aktiviert von einem Rechner in Berlin-Mitte.

Falks Herz schlug schneller. Kannst du den Standort eingrenzen?

Schon dabei. Aber es ist ein gesichertes Netzwerk. Militärisch verschlüsselt.

Dann brauchen wir jemanden, der sich damit auskennt.

Nora sah ihn an. Ich kenne da jemanden. Aber du wirst ihn nicht mögen.

Falk seufzte. Wer?

Dein Bruder.

Stille. Falk trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber die Stadt war nicht heller geworden. Sein Bruder, Julian Falk, war ein brillanter Informatiker und ein verurteilter Hacker. Sie hatten seit Jahren nicht gesprochen. Zu viel war passiert. Zu viel war nicht gesagt worden.

Ruf ihn an, sagte Falk schließlich. Sag ihm, es geht um Leben und Tod.

Später, in einem Café in Kreuzberg, saß Falk seinem Bruder gegenüber. Julian war dünner geworden, die Haare länger, die Augen müde. Aber der Verstand der war noch da. Scharf wie eh und je.

‚Projekt Eremia‘, sagte Julian und tippte auf seinem Laptop. Das ist kein Zufall. Der Name stammt aus dem Hebräischen. Eremia Einsamkeit. Oder: Gott hat verlassen.

Falk runzelte die Stirn. Was soll das heißen?

Es ist ein Codename. Für ein Experiment. Ich habe vor Jahren davon gehört. Eine Gruppe, die mit Bewusstseinsmanipulation gearbeitet hat. Psychologische Kontrolle. Überwachung. Sie haben Menschen markiert mit Chips. Wie Clara.

Wer steckt dahinter?

Julian sah ihn an. Ich weiß es nicht. Aber wenn du diesen Fall weiterverfolgst, Elias… dann wirst du Dinge sehen, die du nicht mehr vergessen kannst.

Falk lehnte sich zurück. Die Stadt draußen war laut, aber in ihm war es still. Clara Jansen war nicht nur ein Opfer. Sie war ein Schlüssel. Und jemand wollte verhindern, dass das Schloss geöffnet wurde.

Die Nacht war still, aber nicht ruhig. Falk saß in seinem Wagen, geparkt am Spreeufer, und starrte auf das dunkle Wasser. Es war fast zwei Uhr morgens. Die Stadt schlief, aber er konnte es nicht. Die Worte seines Bruders hallten in ihm nach: Du wirst Dinge sehen, die du nicht mehr vergessen kannst.

Projekt Eremia. Ein Mikrochip unter der Haut. Ein Bibelvers auf einer Leiche. Und jetzt: David Riemann, der verschwundene Religionslehrer, der in zwei Mordfällen auftauchte wie ein Schatten, der nie ganz verschwand.

Falk griff zum Handy und rief Nora Stein an.

Ich hoffe, du hast gute Nachrichten, sagte er, als sie abnahm.

Kommt drauf an, wie du sie interpretierst, antwortete sie. Ich habe Riemanns alten Kollegen erreicht. Ein Pfarrer, mittlerweile pensioniert. Er sagt, Riemann habe sich in den letzten Jahren verändert. Wurde… fanatisch. Sprach von göttlicher Reinigung, von der Dunkelheit in den Menschen.

Klingt nach einem Mann, der glaubt, er sei Gott.

Oder nach einem Mann, der jemanden kennt, der sich dafürhält.

Falk schwieg. Dann sagte er: Ich will mit dem Pfarrer sprechen. Heute.

Am nächsten Morgen war der Himmel über Berlin bleiern. Falk fuhr nach Zehlendorf, zu einem kleinen Pfarrhaus, das zwischen zwei alten Linden lag. Der Pfarrer, Johannes Keller, war ein Mann mit ruhiger Stimme und müden Augen.

David war ein brillanter Denker, sagte er, während sie Tee tranken. Aber er hatte eine dunkle Seite. Er glaubte, dass manche Menschen von Geburt an verdorben seien. Dass man sie markieren müsse. Beobachten. Reinigen.

Markieren? Wie mit einem Chip?

Keller nickte langsam. Er sprach von einem Projekt. Ich hielt es für eine Metapher. Aber vielleicht war es mehr.

Hat er je von Clara Jansen gesprochen?

Nein. Aber er sprach oft von einer Frau, die ihn verraten habe. Eine Studentin. Vielleicht war es Clara.

Falk spürte, wie sich die Puzzleteile bewegten. Riemann war nicht nur ein verschwundener Lehrer. Er war ein Mann mit einer Mission. Und Clara war vielleicht sein Ziel oder sein Werkzeug.

Glauben Sie, er ist noch in Berlin? fragte Falk.

Keller sah ihn lange an. Wenn er glaubt, dass seine Arbeit noch nicht beendet, ist dann ja.

Zurück im Präsidium wartete Nora mit neuen Informationen.

Ich habe den Chip analysieren lassen, sagte sie. Er sendet ein Signal. Schwach, aber konstant. Und wir haben eine Quelle gefunden ein altes Lagerhaus in Marzahn.

Falks Blick verfinsterte sich. Dann fahren wir hin.

Das Lagerhaus war verlassen, zumindest offiziell. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, das Tor rostig. Aber als Falk und Nora es betraten, war klar: Hier war jemand. Vor kurzem.

Im Inneren roch es nach Staub und Metall. Regale voller alter Geräte, Kabel, Monitore. Und in der Mitte: ein Stuhl. Mit Gurten. Daneben ein Tisch mit medizinischem Besteck. Und an der Wand Fotos. Von Clara. Von anderen. Männer, Frauen, Kinder. Alle mit einem schwarzen Punkt auf der Stirn.

Das ist kein Lagerhaus, sagte Nora leise. Das ist ein Labor.

Falk trat näher. Auf dem Tisch lag ein Notizbuch. Handschriftlich. Die erste Seite:

Projekt Eremia. Phase III. Die Reinigung beginnt.

Er blätterte weiter. Namen, Daten, Orte. Und dann sein eigener Name.

Elias Falk. Beobachtet seit 2003. Potenziell geeignet.

Falk starrte auf die Worte. Die Luft wurde schwer. Die Welt schien sich zu verengen.

Du bist Teil davon, sagte Nora. Seit Jahren.

Falk schloss die Augen. Die Vergangenheit war kein Schatten. Sie war ein Netz. Und er hing mittendrin.

Der Regen hatte aufgehört, aber die Stadt war nicht heller geworden. Falk stand am Fenster seines Büros, die Stirn gegen das kalte Glas gelehnt. Die Worte aus dem Notizbuch hallten in ihm nach: Elias Falk. Beobachtet seit 2003. Potenziell geeignet. Er hatte geglaubt, der Fall sei ein Mord. Jetzt wusste er: Es war ein Spiegel.

Elias? Nora Stein trat ein, ihre Stimme leiser als sonst. Es gibt eine neue Leiche.

Falk drehte sich langsam um. Wo?

Wedding. In einem leerstehenden Schulgebäude. Gleiche Inszenierung. Zettel mit Psalm 139, Vers 12. Und… ein Chip.

Falks Magen zog sich zusammen. Wer ist es?

Ein Mann. Mitte dreißig. Name: Tobias Reimann.

Falk blinzelte. Verwandt mit David Riemann?

Bruder. Jüngerer.

Die Welt schien sich zu verengen. Die Fäden zogen sich zusammen, und Falk stand mitten im Netz.

Der Tatort war ein altes Schulgebäude, dessen Flure nach Staub und Erinnerung rochen. Die Leiche lag in einem Klassenzimmer, auf einem umgestürzten Lehrerpult. Der Zettel war sorgfältig platziert, der Chip bereits gesichert.

Er wurde nicht gefoltert, sagte Kessler, die Gerichtsmedizinerin. Aber er war sediert. Dann Herzstillstand. Keine äußeren Spuren.

Falk trat näher. Tobias Reimann sah friedlich aus. Zu friedlich. Als hätte er sich hingelegt, um zu sterben. Oder als hätte jemand ihn dazu gebracht.

Was wissen wir über ihn? fragte Falk.

War Journalist. Hat zuletzt an einer Recherche gearbeitet über verschwundene Personen in Berlin. Schwerpunkt: medizinische Experimente.

Falks Herz schlug schneller. Hat er mit Clara gesprochen?

Unklar. Aber sie haben sich gekannt. Beide waren auf einer Veranstaltung vor zwei Monaten ein Vortrag über Ethik in der Forschung.

Falk trat ans Fenster. Draußen zogen Wolken über die Dächer, schwer und grau. Berlin war eine Stadt voller Geschichten und manche wollten nicht erzählt werden.

Zurück im Präsidium saß Falk vor einer Wand voller Fotos. Clara Jansen. Tobias Reimann. David Riemann. Der Lagerraum. Der Stuhl. Die Chips. Die Psalmen. Er verband die Bilder mit roten Fäden, wie ein Jäger, der ein Muster sucht. Und langsam begann es sich zu zeigen.

Sie sind Teil eines Experiments, sagte er leise. Ein Projekt, das Menschen auswählt. Beobachtet. Testet.

Und du bist mittendrin, sagte Nora. Warum?

Falk schwieg. Dann griff er in die Schublade seines Schreibtischs und holte ein altes Foto hervor. Ein Mann, jung, mit Brille, lächelnd. David Riemann. Ich habe ihn 2003 vernommen. In einem Fall, der nie aufgeklärt wurde. Eine Frau war verschwunden. Er war der letzte, der sie gesehen hatte. Und? Er sagte, sie sei ‚erleuchtet‘ worden. Dass sie nun Teil von etwas Größerem sei.

Nora sah ihn lange an. Du hast ihn gehen lassen.

Ich hatte keine Beweise. Nur Worte.

Später, allein in seiner Wohnung, saß Falk auf dem Sofa und starrte auf die Decke. Die Stadt draußen war laut, aber in ihm war es still. Er griff zum Laptop und öffnete eine Datei, die Julian ihm geschickt hatte. Verschlüsselte Daten aus dem Chip.

Er tippte das Passwort ein, das Julian ihm genannt hatte: Eremia03.

Die Datei öffnete sich. Und was er sah, ließ ihn erstarren.

Testsubjekt 47: Clara Jansen.

Status: Beobachtung abgeschlossen.

Ergebnis: Ungeeignet.

Maßnahme: Entfernung.

Falks Hände zitterten. Die Morde waren keine Zufälle. Sie waren Entscheidungen. Und jemand traf sie mit System.

Dann sah er die nächste Zeile.

Testsubjekt 48: Elias Falk.

Status: Aktiv.

Ergebnis: Noch offen.

Die Straßen von Marzahn lagen still unter einem bleigrauen Himmel. Falk fuhr langsam durch die Plattenbausiedlung, vorbei an Spielplätzen, die niemand mehr benutzte, und Fenstern, hinter denen das Leben flackerte wie eine schwache Glühbirne. Er hatte einen Namen: Gregor Lenz. Früher IT-Techniker, heute abgetaucht. Angeblich hatte er mit Riemann gearbeitet in einem Projekt, das nie offiziell existierte.

Die Adresse war ein Kellerraum unter einem ehemaligen Copyshop. Nora hatte ihn über einen Informanten aufgetrieben. Falk stieg aus, trat durch die rostige Tür und folgte dem muffigen Gang bis zu einer Metalltür. Er klopfte zweimal.

Stille.

Dann ein Kratzen. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Mann mit eingefallenen Wangen und nervösen Augen blickte heraus.

Falk?

Ja.

Du bist spät.

Der Raum war klein, vollgestopft mit alten Monitoren, Kabeln, Festplatten. Gregor Lenz setzte sich auf einen Drehstuhl, zündete sich eine Zigarette an und sprach, ohne Falk anzusehen.

Du suchst Riemann. Das tun viele. Aber keiner findet ihn.

Ich suche Antworten. Über das Projekt. Über Clara Jansen. Über Tobias Reimann.

Lenz blies den Rauch aus. Clara war zu neugierig. Tobias war zu laut. Beide haben geglaubt, sie könnten das System verstehen. Aber das System versteht dich zuerst.

Falk blieb ruhig. Was ist Projekt Eremia?

Ein Versuch. Menschen zu beobachten. Ihre Entscheidungen zu analysieren. Ihre Moral zu testen. Riemann war der Kopf. Aber er war nicht allein.

Wer noch?

Ein Kreis. Keine Namen. Nur Nummern. Sie wählen aus. Sie markieren. Und wenn du nicht passt, wirst du entfernt.

Falk spürte, wie sich die Luft verdichtete. Warum bin ich auf der Liste?

Lenz sah ihn zum ersten Mal direkt an. Weil du nicht korrumpierbar bist. Und das macht dich gefährlich.

Zurück im Präsidium war Nora bereits dabei, die Daten aus dem Lagerhaus zu analysieren. Sie hatte etwas gefunden: eine Liste mit Namen. Alle mit Chips. Alle mit Psalm Zitaten. Und alle sind tot.

Es sind zwölf, sagte sie. Clara war die Letzte. Tobias war Nummer elf.

Und ich? fragte Falk.

Du bist Nummer dreizehn.

Stille.

Was bedeutet das.

Dass du der Letzte bist. Oder der Erste.

Am Abend saß Falk in seiner Wohnung, das Licht gedämpft, die Stadt draußen wie ein ferner Strom. Er öffnete eine Flasche Rotwein, trank einen Schluck, und griff zum Notizbuch. Er schrieb:

Projekt Eremia.

12 Tote.

Psalm 139.

Riemann.

Ich.

Dann stand er auf, zog seinen Mantel an und trat hinaus in die Nacht. Er wusste, dass er nicht mehr nur ermittelte.

Er war Teil eines Spiels.

Und er würde es beenden, bevor es ihn beendete.

Der Morgen war klar, aber kalt. Falk saß in seinem Büro, die Finger um eine Tasse Kaffee geschlossen, die längst kalt geworden war. Vor ihm lag das Notizbuch aus dem Lagerhaus, daneben die Liste der zwölf Opfer. Und sein eigener Name Nummer 13.

Elias? Nora trat ein, mit einem Ausdruck, den Falk selten bei ihr sah: Unsicherheit.

Was ist los? fragte er.

Ich habe etwas gefunden. In den alten Personalakten der Berliner Schulbehörde. David Riemann war nicht nur Lehrer. Er war auch Teil eines internen Forschungsprojekts 2002 bis 2004. Thema: ‚Verhaltensanalyse bei Jugendlichen mit Trauma Erfahrung‘.

Falk runzelte die Stirn. Und?

Du warst damals Teil einer Fallstudie. Als Ermittler. Du hast mit Jugendlichen gearbeitet, die in Heimen lebten. Einer von ihnen war… Julian.

Stille.

Falk stand langsam auf. Mein Bruder?

Ja. Und Riemann war der Projektleiter.

Die Welt schien sich zu verengen. Falk trat ans Fenster. Die Stadt draußen war laut, aber in ihm war es still.

Julian hat nie darüber gesprochen, sagte er leise. Ich wusste nicht, dass Riemann ihn kannte.

Vielleicht wusste Julian es selbst nicht.

Später, in Julians Wohnung, saßen die Brüder sich gegenüber. Der Raum war voll mit Technik, aber die Stimmung war leer.

Du warst Teil eines Projekts, sagte Falk. Damals. In der Schule. Riemann hat dich beobachtet.

Julian sah ihn lange an. Dann nickte. Ich erinnere mich an Gespräche. Tests. Aber ich dachte, das sei normal. Ich war… kaputt damals.

Du warst nie kaputt, sagte Falk. Du warst allein.

Julian schwieg. Dann holte er eine alte Kiste hervor. Darin: Fotos, Briefe, Dokumente. Und ein Bild, das Falk erstarren ließ.

Es zeigte Riemann jung, lächelnd neben einem Jungen. Julian. Und im Hintergrund: Falk selbst.

Er hatte das Bild nie gesehen. Oder nie sehen wollen.

Du warst Teil davon, sagte Julian. Von Anfang an.

Zurück im Präsidium analysierte Nora die Daten aus dem Chip von Tobias Reimann. Sie hatte etwas gefunden: eine Adresse. Ein altes Archivgebäude in Tempelhof, offiziell stillgelegt.

Willst du allein hin? fragte sie.

Falk nickte. Ich muss.

Das Archiv war ein Betonklotz, umgeben von verwildertem Gras und rostigen Zäunen. Falk trat ein, die Taschenlampe in der Hand, die Waffe griffbereit. Der Flur war dunkel, die Luft abgestanden.

Im Keller fand er einen Raum, der aussah wie ein Büro. Alte Akten, vergilbte Ordner, ein Computer, der noch Strom hatte.

Er setzte sich, schaltete ihn ein und fand eine Datei: Subjekt 13 Falk, Elias

Er öffnete sie.

Subjekt zeigt hohe Resilienz, ausgeprägte moralische Integrität, geringe Manipulierbarkeit.

Empfehlung: Beobachtung fortsetzen.

Risiko: Hoch.

Potenzial: Führungsfigur.

Falk starrte auf den Bildschirm. Er war nicht nur Ziel. Er war Teil eines Plans. Und der Plan war noch nicht beendet. Das Archivgebäude in Tempelhof war still, als Falk am nächsten Morgen zurückkehrte. Diesmal hatte er eine Genehmigung und einen Namen: Dr. Beate Krüger, Archivarin mit Spezialgebiet Psychologische Forschung in der DDR.

Sie war eine kleine Frau mit scharfen Augen und einem Gedächtnis wie ein Tresor.

Sie suchen nach Projekt Eremia? fragte sie, kaum dass Falk sich vorgestellt hatte. Ich suche nach seinem Ursprung.

Krüger nickte langsam. Dann müssen wir zurück. Sehr weit zurück.

Sie führte ihn in einen fensterlosen Raum, in dem die Luft nach Papier und Staub roch. Auf einem Tisch lagen mehrere Akten, alle mit dem Vermerk Verschlusssache Ministerium für Staatssicherheit.

Krüger öffnete die erste Mappe.

Projekt Eremia wurde 1984 unter dem Decknamen ‚Programm 47‘ gestartet. Ziel: psychologische Kontrolle durch gezielte Traumatisierung und Beobachtung. Man wollte herausfinden, wie weit man Menschen manipulieren kann, ohne dass sie es merken.

Falk blätterte durch die Seiten. Diagramme, Berichte, Protokolle. Und Riemann?

War damals Student. Psychologie. Er wurde rekrutiert als Beobachter. Später wurde er zum Leiter eines Teilprojekts in Leipzig.

Falks Finger blieben auf einem Foto liegen. Es zeigte Riemann jung, ernst neben einem Mann in Uniform.

Wer ist das?

Krüger zögerte. Oberstleutnant Karl-Heinz Merten. Der eigentliche Kopf hinter dem Projekt. Nach der Wende untergetaucht. Nie offiziell angeklagt.

Und heute?

Unklar. Aber es gibt Hinweise, dass er in Berlin lebt. Unter falschem Namen.

Zurück im Präsidium war Nora bereits dabei, Mertens Spur zu verfolgen. Sie hatte etwas gefunden: eine Adresse in Lichtenberg, auf den Namen Klaus Hennig. Passt zum Profil. Keine digitalen Spuren. Barzahlungen. Alte Kontakte.

Falk fuhr sofort los.

Das Haus war ein grauer Bau aus den 60ern, mit einem Innenhof voller abgestellter Fahrräder und Mülltonnen. Falk klingelte. Keine Antwort. Er trat zurück, sah sich um und bemerkte die Kamera über der Tür. Jemand beobachtete ihn.

Er trat zur Seite, zog sein Handy und rief Nora an.

Ich brauche einen Durchsuchungsbeschluss. Und Verstärkung.

Schon unterwegs.

Zwei Stunden später betraten sie die Wohnung. Sie war sauber, fast steril. Bücherregale voller Fachliteratur, ein Schreibtisch mit einem alten PC, und an der Wand ein Foto.

Riemann. Merten. Und ein dritter Mann: Falks Vater.

Falk erstarrte.

Das ist unmöglich, sagte er leise.

Nora trat näher. Kennst du ihn?

Das ist mein Vater. Er starb 1991. Ich dachte, er war nur Beamter.

Vielleicht war er mehr.

In einem Schrank fanden sie eine Mappe mit dem Titel Subjekt 13 Langzeitbeobachtung.

Darin: Berichte über Falks Kindheit, seine Ausbildung, seine ersten Fälle. Jede Entscheidung, jede Schwäche, jede Stärke dokumentiert.

Du warst nie nur Ermittler, sagte Nora. Du warst Versuchsperson.

Falk schloss die Augen. Die Vergangenheit war kein Schatten. Sie war ein System.

Und er war darin aufgewachsen. Der Umschlag lag auf Falks Schreibtisch, als er am Morgen das Büro betrat. Kein Absender, keine Briefmarke. Nur sein Name handgeschrieben, in einer Schrift, die er nicht kannte, aber sofort spürte.

Er öffnete ihn langsam, vorsichtig, als wäre das Papier selbst eine Falle. Innen: ein einzelnes Blatt. Dünn, vergilbt. Und ein Text, der ihn fröstelte.

Du bist nicht der Erste, Elias. Aber du bist der Letzte, der noch glaubt, dass Wahrheit etwas mit Licht zu tun hat.

Die Dunkelheit kennt dich besser.

Psalm 139, Vers 12.

Falk starrte auf die Zeilen. Keine Drohung. Kein direkter Angriff. Aber eine Botschaft persönlich, präzise, kalkuliert.

Er beobachtet mich, sagte Falk leise. Er kennt meine Gedanken.

Nora trat ein, sah den Brief, las ihn. Das ist kein Zufall. Das ist ein Spiel.

Und ich bin der Einsatz.

Die Spurensicherung konnte keine Fingerabdrücke sichern. Der Umschlag war mit Handschuhen behandelt worden, der Brief auf einem alten Drucker gedruckt. Keine DNA, keine Fasern.

Aber ein Detail fiel auf: Das Papier war aus einer Serie, die nur in einem bestimmten Copyshop in Kreuzberg verkauft wurde, einem, der vor zwei Wochen einen Einbruch gemeldet hatte.

Falk fuhr sofort hin.

Der Besitzer, ein älterer Mann mit zittrigen Händen, erinnerte sich an einen Kunden, der anders war.

Er sprach nicht viel. Trug einen Mantel, obwohl es warm war. Und er hatte… Augen, die nicht blinzelten.

Hat er etwas hinterlassen?

Nur einen USB-Stick. Ich wollte ihn nicht anfassen. Ich habe ihn hier.

Zurück im Präsidium öffnete Falk den Stick auf einem isolierten Rechner. Darauf: ein Video.

Schwarzweiß. Körnig. Eine Kamera zeigt einen Raum leer, bis auf einen Stuhl. Dann tritt ein Mann ins Bild. Gesicht halb verdeckt, Stimme verzerrt.

Elias Falk. Du bist nah. Aber du siehst nicht.

Clara hat gesehen. Tobias hat gesprochen.

Du wirst entscheiden.

Wer lebt. Wer stirbt.

Das Video endet abrupt.

Falks Hände zittern. Der Täter spielt ein Spiel und er kennt die Regeln besser als jeder andere.

Am Abend sitzt Falk allein in seiner Wohnung. Die Stadt draußen ist laut, aber in ihm ist es still.

Er nimmt das Foto seines Vaters, betrachtet es lange. Dann greift er zum Telefon und ruft Julian.

Ich brauche dich, sagt er. Nicht als Hacker. Als Bruder.

Was ist los?

Ich glaube, unser Vater war Teil von etwas, das nie aufgehört hat.

Stille am anderen Ende. Dann müssen wir es beenden, sagt Julian.

Die Nachricht kam am frühen Abend. Ein anonymer Hinweis, übermittelt per verschlüsselter Mail an Nora Stein:

Wenn Falk bereit ist, die Wahrheit zu sehen, soll er kommen. U-Bahnhof Siemensstraße. Tunnel 3. 23:00 Uhr.

Keine Unterschrift. Keine weiteren Angaben. Aber die Botschaft war klar: Der Täter wollte ein Treffen. Und er wollte Falk allein.

Das ist eine Falle, sagte Nora.

Natürlich, antwortete Falk. Aber ich gehe trotzdem.

Der U-Bahnhof Siemensstraße war still, als Falk ihn betrat. Die letzte Bahn war längst abgefahren, die Rolltreppen standen still. Er trug dunkle Kleidung, eine Taschenlampe, seine Dienstwaffe und das Notizbuch, das ihn seit Tagen begleitete.

Tunnel 3 war ein Wartungsschacht, offiziell gesperrt. Falk öffnete das Gitter mit einem alten Schlüssel, den er sich aus dem Archiv besorgt hatte. Die Luft war feucht, der Boden glitschig.

Er stieg hinab.

Die Dunkelheit war absolut. Nur der Lichtkegel seiner Lampe durchbrach die Schwärze. Die Wände waren mit Graffiti bedeckt, manche frisch, manche alt. Schritte hallten. Seine eigenen. Oder nicht?

Dann sah er ihn.

Ein Mann stand am Ende des Tunnels. Groß, schlank, das Gesicht halb im Schatten.

David Riemann, sagte Falk.

Der Mann nickte. Du bist gekommen. Das war der letzte Test.

Was ist das hier? Ein Spiel? Ein Experiment?

Beides. Und du hast bestanden.

Falk trat näher, die Waffe gesenkt, aber bereit.

Du hast Clara getötet. Tobias. Die anderen.

Nein, sagte Riemann ruhig. Ich habe sie ausgewählt. Aber ich habe nicht getötet. Das tut das System.

Welches System?

Das, dass du dein Leben lang verteidigt hast. Polizei. Staat. Ordnung. Aber unter der Oberfläche da lebt etwas anderes. Etwas, das entscheidet, wer wertvoll ist. Und wer nicht.

Falk spürte, wie sich die Luft verdichtete.

Und ich? Bin ich wertvoll?

Riemann lächelte. Du bist gefährlich. Weil du glaubst, dass Wahrheit wichtiger ist als Kontrolle.

Dann sag mir die Wahrheit.

Riemann trat zur Seite. Hinter ihm: ein Monitor, angeschlossen an ein altes Terminal. Darauf: eine Datei.

Subjekt 13 Abschlussbericht.

Falk las.

Subjekt hat alle Phasen durchlaufen.

Widerstand hoch.

Moral stabil.

Empfehlung: Eliminierung nicht möglich.

Integration erforderlich.

Was heißt das? fragte Falk.

Du bist nicht zu brechen. Also wirst du Teil davon.

Falk hob die Waffe. Ich werde gar nichts.

Riemann lächelte. Dann musst du mich töten. Aber das ändert nichts. Ich bin nur ein Teil. Das System lebt weiter.

Stille.

Dann ein Geräusch hinter Falk. Schritte. Nora. Und zwei Beamte.

Wir haben ihn, sagte sie. Er ist nicht allein. Aber er ist der Anfang.

Falk ließ die Waffe sinken. Dann bringen wir das System zum Einsturz.

Der Verhörraum war still. David Riemann saß aufrecht, die Hände gefaltet, der Blick ruhig. Kein Zittern, keine Reue. Nur Gewissheit.

Falk stand ihm gegenüber, das Licht war hart, die Luft trocken.

Sie haben Menschen getötet, sagte Falk.

Ich habe Menschen beobachtet, antwortete Riemann. Das Töten war eine Konsequenz. Nicht meine Entscheidung.

Aber Sie wussten, was passieren würde.

Natürlich. Das war Teil des Experiments.

Falk trat näher. Und ich? War ich auch nur ein Versuch?

Riemann lächelte. Sie waren der Kontrollwert. Der Mann, der nicht bricht. Der Mann, der glaubt.

Glaubt an was?

An Wahrheit. An Gerechtigkeit. An Ordnung. Sie sind der Beweis, dass das System funktioniert oder dass es versagt.

Stille.

Dann sagte Falk: Das System versagt, wenn es Menschen wie Sie hervorbringt.

Die Ermittlungen zogen sich über Wochen. Das Netzwerk hinter Projekt Eremia war komplex, verschachtelt, geschützt durch alte Kontakte und neue Verschlüsselungen.

Nora Stein arbeitete Tag und Nacht, Julian hackte sich durch Server, die nie hätten existieren dürfen.

Am Ende standen zwölf Namen auf einer Liste Wissenschaftler, Beamte, Unternehmer. Alle Teil des Kreises.

Drei wurden verhaftet. Zwei begingen Selbstmord. Die anderen verschwanden.

Falk wusste: Das war keine vollständige Gerechtigkeit. Aber es war ein Anfang.

Ein Monat später saß Falk in einem Café in Prenzlauer Berg. Die Sonne schien, zum ersten Mal seit Wochen.

Er hatte Urlaub genommen. Zum ersten Mal seit Jahren. Vor ihm lag ein Buch kein Bericht, kein Protokoll. Ein Roman. Er las langsam, mit Bedacht.

Dann setzte sich jemand zu ihm. Nora.

Du siehst müde aus, sagte sie.

Ich bin müde.

Aber du hast es geschafft.

Falk nickte. Ich habe überlebt. Das ist nicht dasselbe.

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte sie: Was wirst du tun?

Ich weiß es nicht. Vielleicht schreiben. Vielleicht gehen. Vielleicht nur atmen.

Am Abend ging Falk durch die Straßen Berlins. Die Stadt war laut, lebendig, widersprüchlich.

Er dachte an Clara Jansen. An Tobias Reimann. An seinen Vater. Und an sich selbst. Er war kein Held. Kein Retter.

Aber er war ein Mann, der nicht gebrochen wurde. Und das war genug.

ENDE

Kapitel 2

Giftstrom

Der Körper lag halb unter einer Parkbank, als Kommissar Elias Falk gegen

fünf Uhr morgens den Görlitzer Park betrat. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber Berlin war bereits wach .mit seinen Geräuschen, seinen Gerüchen, seinen Geheimnissen. Der Wind trug den Geruch von feuchtem Laub und kaltem Beton durch die Bäume, während die ersten Jogger in der Ferne ihre Runden zogen, ohne zu ahnen, was sich in der Dunkelheit abgespielt hatte.

Männlich, etwa zwanzig, sagte die Streifenbeamtin, die ihn am Tatort empfing. Keine Ausweispapiere. Keine sichtbaren Verletzungen. Aber die Augen…

Falk kniete sich hin. Der Junge hatte die Augen weit geöffnet, die Pupillen geweitet, das Gesicht eingefroren in einem Ausdruck zwischen Ekstase und Entsetzen.

Er hat etwas gesehen, murmelte Falk. Etwas, das ihn überfordert hat.

Die Spurensicherung war bereits dabei, den Bereich zu sichern. Falk trat zurück, ließ den Blick schweifen. Keine Spritzen. Kein Pulver. Aber in der Jackentasche des Toten: ein kleiner, silberner Behälter. Versiegelt. Ohne Etikett.

Was ist das? Fragte Falk.

Keine Ahnung, sagte die Beamtin. Aber es sieht aus wie etwas, das man nicht im Drogeriemarkt bekommt.

Falk nahm den Behälter vorsichtig an sich. Er war kalt, glatt, industriell gefertigt. Kein Logo, keine Seriennummer. Nur ein winziger QR-Code, kaum sichtbar.

Lass ihn analysieren, sagte Falk. Und halt mir den Fundort sauber. Ich will keine Touristenfotos auf Instagram.

Die Beamtin nickte. Falk trat zurück, sah auf den Körper. Der Junge war nicht obdachlos. Die Kleidung war sauber, die Schuhe neu.

Er war hier nicht zum Schlafen, sagte Falk. Er war hier zum Sterben.

Im Institut für Rechtsmedizin war die Luft trocken und steril. Dr. Miriam Kessler, die Gerichtsmedizinerin, stand bereits bereit, als Falk eintraf. Sie war eine Frau mit ruhiger Stimme und scharfen Augen, die mehr gesehen hatten, als sie je erzählen würde.

Keine äußeren Verletzungen, sagte sie, während sie die Leiche untersuchte. Keine Hinweise auf Gewalt. Aber die Pupillen sind geweitet. Und die Herzmuskulatur zeigt Anzeichen einer toxischen Reaktion.

Drogen? Fragte Falk.

Ja. Aber nicht die üblichen. Ich habe eine Probe entnommen und ins Labor geschickt. Die Substanz ist hochrein. Keine bekannten Marker. Keine Straßensignaturen.

Falk runzelte die Stirn. Also kein Heroin, kein MDMA, kein Kokain?

Nichts davon. Es ist etwas Neues. Und es wirkt schnell. Der Junge war innerhalb von Minuten tot.

Falk trat näher. Der Körper war blass, aber nicht verwahrlost. Die Hände gepflegt, die Fingernägel sauber.

Er war kein Junkie, sagte Falk. Er war ein Konsument. Vielleicht zum ersten Mal.

Kessler nickte. Und das hat ihn umgebracht.

Zurück im Präsidium war die Stimmung gedrückt. Falk setzte sich an seinen Schreibtisch, der voll war mit alten Akten, halb geleerten Kaffeetassen und einem Foto, das er nie ganz weggeräumt hatte: seine Tochter, vor Jahren, lachend, unbeschwert. Sie lebte jetzt in Hamburg, studierte Psychologie. Sie rief selten an.

Elias? Nora Stein trat ein, seine Kollegin, klug, direkt, mit einem Blick, der mehr sah als Worte verrieten.

Ich habe die ersten Ergebnisse vom Labor. Die Substanz im Behälter ist synthetisch. Extrem potent. Und sie ist nicht registriert.

Was heißt das?

Sie ist neu. Kein Eintrag in der Datenbank. Kein medizinischer Verwendungszweck. Aber sie wirkt wie ein Opioid .nur schneller. Und tödlicher.

Falk lehnte sich zurück. Also haben wir eine neue Droge. Und sie ist auf dem Markt.

Ja. Und sie ist sauber. Das heißt: Sie kommt nicht aus einer Garage. Sondern aus einem Labor. Falk starrte auf den Bildschirm. Die Karte von Berlin war übersät mit roten Punkten .Orte, an denen in den letzten Wochen junge Menschen unter mysteriösen Umständen gestorben waren. Kreuzberg, Neukölln, Friedrichshain. Immer nachts. Immer ohne Zeugen. Immer mit derselben Substanz im Blut.

Das ist kein Zufall, sagte Nora. Das ist ein Muster.

Ein Testlauf, murmelte Falk. Jemand probiert ein Produkt aus. Und Berlin ist das Versuchslabor.

Sie sah ihn an. Du meinst: ein Pharmakonzern?

Oder ein Kartell mit Zugang zu einem Labor. Vielleicht sogar beides.

Falk stand auf, ging zum Fenster. Die Stadt lag unter einem grauen Himmel, der Regen hatte eingesetzt. Tropfen liefen über das Glas, als würde Berlin selbst weinen.

Wir müssen rausfinden, wer dahintersteckt, sagte er. Bevor die Leichen sich stapeln.

Die Spur führte zu einem Club in der Nähe der Warschauer Straße .Nebula, ein Ort, der offiziell nicht existierte, aber in bestimmten Kreisen als Epizentrum der neuen Szene galt. Falk und Nora betraten ihn gegen Mitternacht, als die Musik bereits pulsierte und die Luft nach Schweiß, Rauch und synthetischer Euphorie roch.

Siehst du das? Sagte Nora und deutete auf die Bar. Dort wurde nicht nur Alkohol ausgeschenkt. Kleine silberne Behälter wechselten diskret die Besitzer. Identisch mit dem Fund aus dem Park.

Falk trat näher, zeigte seinen Ausweis. Kriminalpolizei. Ich will wissen, was das ist.

Der Barkeeper, ein junger Mann mit tätowierten Armen und misstrauischem Blick, zuckte die Schultern. Ich verkauf nur, was man mir gibt.

Und wer gibt es dir?

Ein Typ. Kommt einmal die Woche. Barzahlung. Keine Namen.

Falk nahm einen Behälter an sich. Wenn du uns nicht hilfst, wird dieser Laden dichtgemacht. Und du landest wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht.

Der Barkeeper schluckte. Er nennt sich ‚Dr. Flux‘. Mehr weiß ich nicht.

Zurück im Präsidium durchsuchten Falk und Nora die Datenbanken. Dr. Fluxwar ein Phantom. Kein Eintrag. Kein Alias. Aber in den Foren der Szene tauchte der Name auf .immer wieder, verbunden mit Begriffen wie Erleuchtung, Grenzerfahrung, Giftstrom.

Das ist ein Markenname, sagte Nora. Die Droge heißt Giftstrom.

Falk las weiter. Erfahrungsberichte, euphorisch und verstörend zugleich. Ich habe Farben gehört.

Ich war außerhalb meines Körpers.

Ich habe Gott gesehen .und er war leer.

Das ist keine Partydroge, sagte Falk. Das ist ein Experiment mit der menschlichen Wahrnehmung.

Am nächsten Morgen traf Falk sich mit einem alten Kontakt: Karim, ein ehemaliger Dealer, der jetzt als Sozialarbeiter in Neukölln arbeitete. Sie saßen in einem Café, draußen regnete es noch immer.

Giftstrom? Sagte Karim. Hab ich gehört. Aber ich halt mich fern. Das Zeug ist nicht sauber.

Was heißt das?

Es verändert die Leute. Nicht nur körperlich. Psychisch. Ich hab einen Jungen gesehen, der nach einem Trip nicht mehr gesprochen hat. Sitzt jetzt in einer Klinik. Starrt nur noch an die Wand.

Falk nickte. Woher kommt es?

Niemand weiß es genau. Aber es gibt Gerüchte. Von einem Labor in Polen. Görlitz.

Falk spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Görlitz war nicht weit. Und es war ein Ort mit Geschichte .und mit Schatten.

Görlitz lag still, als Falk am frühen Abend ankam. Die Altstadt wirkte wie eingefroren in einer anderen Zeit .barocke Fassaden, Kopfsteinpflaster, enge Gassen. Doch hinter der historischen Kulisse brodelte etwas. Falk spürte es sofort: eine Spannung in der Luft, als würde die Stadt etwas verbergen.

Er hatte sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel genommen, dessen Besitzerin ihn mit neugierigen Augen musterte. Sie sind nicht von hier, sagte sie. Was führt Sie nach Görlitz?

Recherche, antwortete Falk knapp. Ich schreibe über neue Entwicklungen in der Pharmabranche.

Sie nickte langsam. Dann sind Sie hier richtig. Es gibt Gerüchte…

Was für Gerüchte?

Von einem Labor. Versteckt. Abseits der Stadt. Niemand weiß genau, wo. Aber manchmal sieht man Lieferwagen, nachts, ohne Kennzeichen.

Falk bedankte sich und ging. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, und die Schatten wurden länger.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg. Die Hinweise führten ihn zu einem alten Industriegebiet am Rand von Görlitz .verlassene Hallen, rostige Zäune, zerbrochene Fenster. Doch eine der Hallen war anders: frisch gestrichen, bewacht, mit Kameras an den Ecken.

Falk beobachtete aus der Ferne. Ein Lieferwagen fuhr vor, zwei Männer stiegen aus, trugen Kisten hinein. Keine Logos, keine Markierungen. Aber auf einer der Kisten war ein Symbol: ein stilisierter Blitz, eingekreist.

Giftstrom, murmelte Falk.

Er zog sich zurück, machte Fotos, notierte Kennzeichen. Zurück im Hotel schickte er alles an Nora. Minuten später kam ihre Antwort: Das Fahrzeug ist registriert auf eine Firma in Zürich. PharmaTech AG. Offiziell: Nahrungsergänzungsmittel. Inoffiziell: nichts zu finden.

Falk runzelte die Stirn. Also ein Tarnunternehmen.

Ja. Und es hat Verbindungen zu einem Institut in Berlin .privat finanziert, keine öffentliche Forschung.

Am Abend traf Falk sich mit einem Mann, den Karim ihm empfohlen hatte: Marek, ein polnischer Journalist, der über illegale Forschungseinrichtungen recherchierte. Sie saßen in einer Kneipe, das Licht war schummrig, die Gespräche gedämpft.

Giftstrom ist kein Zufall, sagte Marek. Es ist Teil eines Projekts. Codename: ‚Elysium‘. Ziel: Bewusstseinsmanipulation.

Was heißt das?

Die Droge verändert die Wahrnehmung. Aber nicht nur für den Konsumenten. Es gibt Hinweise, dass sie auch steuerbar ist .über Frequenzen, über Lichtimpulse.

Falk starrte ihn an. Sie meinen: Man kann Menschen fernsteuern?

Nicht direkt. Aber man kann sie beeinflussen. Ihre Entscheidungen. Ihre Ängste. Ihre Wünsche.

Falk spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog.

Und wer steckt dahinter?

Marek lächelte bitter. Ein Netzwerk. Finanziert von Investoren, die an der Zukunft des Menschen arbeiten. Nicht für ihn .,sondern über ihn.

Zurück in Berlin war Falk verändert. Die Stadt wirkte lauter, greller, fremder. Er ging durch den Görlitzer Park, sah die Bank, unter der der Junge gelegen hatte. Die Stelle war leer, aber die Erinnerung blieb.

Giftstrom ist nicht nur eine Droge, sagte er zu Nora. Es ist ein Werkzeug. Und wir stehen erst am Anfang.

Sie nickte. Dann sollten wir besser schnell sein. Bevor jemand den Stecker zieht.

Die Nacht war still, als Falk in seinem Büro saß und die Aufnahmen aus Görlitz erneut betrachtete. Die Halle, die Lieferwagen, das Symbol. Alles wirkte wie aus einem dystopischen Film .nur dass es real war. Die Droge war nicht nur ein Produkt, sie war ein System. Und irgendjemand hatte es entworfen mit einer Präzision, die beängstigend war.

Frequenz Null, murmelte Falk. Der Begriff war ihm in einem der Foren begegnet, versteckt in einem Kommentar, der sofort gelöscht worden war. Aber er hatte ihn gespeichert. Frequenz Null .der Zustand, in dem das Bewusstsein aufhört, sich selbst zu erkennen.

Er griff zum Telefon, rief Nora an. Ich brauche alles, was du über Frequenz Null findest. Technisch, medizinisch, philosophisch. Und ich will wissen, wer diesen Begriff zuerst benutzt hat.

Verstanden, sagte sie. Ich melde mich, sobald ich etwas habe.

Am nächsten Tag traf Falk sich mit einem Neurowissenschaftler, den er über einen alten Fall kannte: Dr. Adrian Voss, ein brillanter Kopf mit Hang zur Grenzwissenschaft. Sie saßen in einem Café am Spreeufer, die Sonne spiegelte sich im Wasser, aber Falks Gedanken waren dunkel.

Frequenz Null? Sagte Voss. Das ist kein medizinischer Begriff. Aber in der Theorie beschreibt er einen Zustand, in dem das Gehirn keine messbare Aktivität mehr zeigt .und dennoch funktioniert.

Wie soll das gehen?

Indem man die neuronale Kommunikation auf ein anderes Medium verlagert. Nicht elektrisch, sondern… resonant. Über Schwingungen, die außerhalb unseres Spektrums liegen.

Falk runzelte die Stirn. Also wie eine zweite Ebene des Bewusstseins?

Voss nickte. Genau. Und wenn Giftstrom diese Ebene aktiviert, dann reden wir nicht mehr über Drogen. Sondern über eine neue Form der Wahrnehmung.

Zurück im Präsidium hatte Nora Ergebnisse. Der Begriff ‚Frequenz Null‘ taucht zuerst in einem internen Papier auf .von einem Think Tank namens ‚Neuro Genesis‘. Sitz: Zürich. Finanzierung: privat. Zweck: Erforschung von Bewusstseinsmodulation.

Und wer steckt dahinter?

Ein Mann namens Lucien Marlowe. Biochemiker. Unternehmer. Und laut einem Artikel in der NZZ: Visionär mit Hang zur Transzendenz.

Falk starrte auf das Foto. Marlowe war Mitte fünfzig, silbernes Haar, stechender Blick. Ein Mann, der wusste, was er wollte .und wie er es bekam.

Ich will ihn sprechen, sagte Falk.

Das wird schwierig. Er lebt abgeschottet. Keine öffentlichen Termine. Keine Interviews.

Falk lächelte kalt. Dann müssen wir ihn aus der Reserve locken.

Falks Plan war einfach: Wenn Marlowe sich nicht zeigen wollte, musste er ihn provozieren. Er veröffentlichte einen anonymen Artikel in einem Berliner Online-Magazin .eine Mischung aus Fakten und gezielten Spekulationen. Titel: Giftstrom: Die Droge, die das Denken löscht. Darin: Hinweise auf Görlitz, auf Neuro Genesis, auf Frequenz Null. Und ein Name: Lucien Marlowe.

Die Reaktion kam schneller als erwartet. Zwei Tage später erhielt Falk eine Nachricht .verschlüsselt, ohne Absender. Nur ein Satz:

Sie haben Fragen. Ich habe Antworten. Treffen Sie mich. Dazu eine Adresse: ein leerstehendes Theater in Mitte, Mitternacht.

Das Theater war verfallen, die Fenster mit Brettern vernagelt, die Türen mit Graffiti bedeckt. Falk trat ein, die Dunkelheit verschluckte ihn. Nur ein einzelner Scheinwerfer war an, gerichtet auf die Bühne. Dort stand ein Mann .groß, elegant, mit silbernem Haar und einem Blick, der durch die Zeit zu sehen schien.

Kommissar Falk, sagte er. Ich bin Lucien Marlowe.

Falk trat näher. Sie wissen, warum ich hier bin.

Natürlich. Sie jagen ein Phantom. Aber Sie verstehen nicht, was es ist.

Giftstrom tötet Menschen.

Giftstrom öffnet Türen. Manche sind nicht bereit, hindurchzugehen.

Falk ballte die Fäuste. Sie spielen mit Leben.

Ich erforsche Möglichkeiten. Die Menschheit steht am Rand einer neuen Epoche. Bewusstsein ist formbar. Und Frequenz Null ist der Schlüssel.

Was ist Frequenz Null wirklich?

Marlowe lächelte. Der Moment, in dem das Ich sich auflöst. Und etwas Größeres übernimmt.

Falk verließ das Theater mit einem Gefühl, das zwischen Faszination und Abscheu schwankte. Marlowe war kein gewöhnlicher Wissenschaftler. Er war ein Visionär .oder ein Wahnsinniger. Vielleicht beides.

Zurück im Präsidium analysierte Nora die Gesprächsaufzeichnung. Er glaubt, dass er die Evolution beschleunigt. Dass er Menschen in etwas Neues verwandelt.

Und dafür nimmt er Tote in Kauf.

Ja. Aber er glaubt, dass sie notwendig sind. Kollateralschäden auf dem Weg zur Erleuchtung.

Falk sah sie an. Dann müssen wir ihn stoppen. Bevor er noch mehr Türen öffnet. Der Anruf kam um drei Uhr morgens. Falk war gerade eingeschlafen, als sein Handy vibrierte. Nora klang atemlos.

Marlowe ist tot.

Falk setzte sich auf. Was?

Erschossen. In seiner Villa in Grunewald. Zwei Schüsse, sauber ausgeführt. Keine Spuren. Keine Zeugen.

Falk war sofort hellwach. Das war ein Auftragsmord.

Ja. Und ich habe eine Spur. Die Kamera am Nachbarhaus hat ein Fahrzeug erfasst .schwarzer Audi, polnisches Kennzeichen. Registriert auf eine Firma, die mit der Mafia in Verbindung steht.

Falk zog sich an, fuhr los. Die Nacht war kalt, die Straßen leer. In seinem Kopf kreisten Gedanken wie Raubvögel. Marlowe war das Gesicht von Giftstrom .aber nicht der Kopf. Und jetzt war er ausgeschaltet.

Die Ermittlungen liefen heiß. Nora hatte eine Verbindung gefunden zwischen Neuro Genesis und einem Netzwerk osteuropäischer Investoren .diskrete Männer mit sauberen Bilanzen und blutigen Händen. Falk und sein Team durchsuchten Konten, Firmenregister, Chatprotokolle. Und sie fanden Namen: Dimitri Volkov, Mateusz Krawczyk, Leila Novak .alle mit Verbindungen zum Rotlichtmilieu, zu illegalen Labors, zu Geldwäsche.

Das ist größer als gedacht, sagte Nora. Das ist organisiert. International.

Falk nickte. Dann müssen wir Druck machen.

Die Razzia begann um Mitternacht. Ziel: ein Stripclub in der Nähe der Reeperbahn, offiziell ein Tanzlokal, inoffiziell ein Umschlagplatz für Giftstrom. Falk führte das Einsatzkommando an, gepanzerte Westen, gezogene Waffen, klare Befehle.

Zugriff!

Die Tür wurde aufgebrochen, das Licht flackerte, Schreie hallten durch die Gänge. Tänzerinnen rannten, Gäste warfen sich zu Boden. Falk stürmte durch den Flur, sah einen Mann fliehen .Krawczyk. Er rannte hinterher, durch den Hinterausgang, in die Gassen.

Die Verfolgungsjagd war chaotisch. Autos hupten, Passanten schrien, Falk hetzte durch die Nacht, bis ein Schuss fiel. Er spürte den Einschlag in der Seite, stolperte, fiel.

Im Krankenhaus war alles weiß. Die Wände, die Laken, das Licht. Falk lag still, angeschlossen an Monitore, mit einem Verband um den Oberkörper. Nora saß neben ihm, die Augen müde, aber wach.

Du hattest Glück, sagte sie. Der Schuss ging knapp am Herzen vorbei.

Falk versuchte zu sprechen, aber seine Stimme war rau. Krawczyk?

Entkommen. Aber wir haben Novak. Und sie redet.

Falk schloss die Augen. Die Jagd war nicht vorbei. Aber sie war blutiger geworden.

Die Tage im Krankenhaus vergingen langsam. Falk lag in einem Einzelzimmer mit Blick auf die Dächer Berlins, während die Stadt draußen weiter pulsierte .laut, unbarmherzig, unaufhaltsam. Die Kugel hatte seine linke Seite durchschlagen, knapp unterhalb der Rippen. Die Ärzte sagten, er habe Glück gehabt. Falk nannte es etwas anderes: eine zweite Chance.

Nora kam jeden Tag vorbei. Sie brachte Akten, Fotos, Kaffee in Thermobechern. Aber sie brachte auch etwas anderes: eine Unruhe, die sie nicht aussprach.

Was ist los? Fragte Falk eines Abends, als die Sonne sich golden über die Fenster legte.

Nora zögerte. Ich glaube, wir haben ein Leck.

Falk richtete sich auf. Der Schmerz war dumpf, aber er ignorierte ihn. Was für ein Leck?

Informationen sind nach außen gelangt. Zu früh, zu präzise. Jemand wusste von der Razzia, bevor wir losgelegt haben.

Falks Blick wurde hart. Intern?

Ja. Und ich habe einen Verdacht.

Der Name fiel leise, fast wie ein Fluch: Jens Riedel, Ermittler, seit zwölf Jahren im Dienst, unauffällig, korrekt. Aber in den letzten Wochen hatte er sich verändert .nervös, abwesend, zu oft zufällig an sensiblen Orten.

Ich habe seine Zugriffsprotokolle überprüft, sagte Nora. Er hat sich mehrfach in Daten eingeloggt, die nicht zu seinem Aufgabenbereich gehören.

Und was sagt er dazu?

Er sagt, er wollte sich ein Bild machen. Aber das Bild war zu detailliert.

Falk dachte nach. Riedel war kein Mann, der auffiel. Und genau das machte ihn gefährlich.

Wir müssen ihn beobachten, sagte Falk. Diskret. Und wir brauchen Beweise.

Die Genesung war zäh. Falk durfte das Krankenhaus nach zehn Tagen verlassen, aber nur unter Auflagen. Keine Einsätze, keine Verfolgungen, keine Razzien. Nur Büroarbeit. Er hasste es.

Zurück im Präsidium war alles wie vorher .und doch anders. Die Kollegen begrüßten ihn mit Schulterklopfen und vorsichtigen Blicken. Als wäre er ein Gespenst, das zurückgekehrt war.

Riedel war da. Er nickte Falk zu, freundlich, professionell. Aber in seinen Augen lag etwas .ein Schatten, ein Zögern.

Falk erwiderte den Blick. Gut, Sie zu sehen, Jens.

Ebenso, Chef. Schön, dass Sie wieder da sind.

Falk lächelte. Aber es war kein echtes Lächeln.

Falks Schritte hallten durch die Gänge des Präsidiums. Noch immer spürte er die Wunde bei jeder Bewegung, ein dumpfer Schmerz, der ihn daran erinnerte, wie nah er dem Tod gewesen war. Doch es war nicht der Schmerz, der ihn wachhielt .es war das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Etwas in den eigenen Reihen.

Jens Riedel arbeitete wie immer: pünktlich, korrekt, unauffällig. Aber Falk beobachtete ihn jetzt mit anderen Augen. Die Art, wie er Gespräche verließ, wenn Nora den Raum betrat. Wie er Akten schloss, sobald Falk näherkam. Wie er zu oft nichts gehört hatte, wenn etwas Wichtiges besprochen wurde.

Er weiß, dass wir ihn beobachten, sagte Nora leise, als sie sich in der Teeküche trafen.

Gut, antwortete Falk. Dann wird er nervös. Und wenn er nervös wird, macht er Fehler.

Die erste Spur kam durch einen Zufall. Ein interner Server war abgestürzt, und bei der Wiederherstellung tauchte ein Protokoll auf, das nicht hätte existieren dürfen: ein Datenpaket, verschlüsselt, mit Zugriff von Riedels Dienstrechner .gesendet an eine externe Adresse in Warschau.

Das ist kein Irrtum, sagte Nora. Das ist ein direkter Kontakt zur Organisation.

Falk nickte. Wir brauchen mehr. Einen Beweis, der ihn überführt. Und wir müssen ihn isolieren.

Sie entwickelten einen Plan. Falk würde eine fingierte Einsatzbesprechung ansetzen .ein angeblicher Zugriff auf ein Lagerhaus in Marzahn, in dem Giftstrom vermutet wurde. Nur wenige sollten davon wissen. Und Riedel würde dazugehören.

Die Falle war gestellt. Zwei Tage später, kurz vor Mitternacht, stand das Einsatzteam bereit .in einem leerstehenden Gebäude gegenüber dem angeblichen Zielobjekt. Falk saß im Wagen, beobachtete die Straße. Und dann kam er: ein Mann in dunkler Kleidung, mit einem Handy am Ohr, der sich dem Lagerhaus näherte.

Zugriff, sagte Falk ins Funkgerät.

Der Mann wurde gestellt. Kein Widerstand. Aber in seinem Handy: eine Nachricht, gesendet vor einer Stunde. Inhalt: genaue Details der Einsatzbesprechung. Absender: eine verschlüsselte Adresse, die auf Riedels Account zurückführte.

Riedel wurde am nächsten Morgen in seinem Büro festgenommen. Er sagte nichts. Kein Wort. Kein Protest. Nur ein Blick .leer, resigniert, als hätte er gewusst, dass es so enden würde.

Warum? Fragte Falk später, als sie ihm gegenübersaßen, getrennt durch eine Glasscheibe.

Riedel sah ihn an. Weil ich geglaubt habe, dass sie recht haben.

Wer?

Die, die Giftstrom entwickelt haben. Die, die glauben, dass der Mensch mehr sein kann. Ich wollte Teil davon sein.

Falk schwieg. Es war nicht Hass, den er empfand. Es war Trauer. Denn der Verrat kam nicht von einem Feind .,sondern von einem Kollegen. Die Tage nach Riedels Verhaftung waren still. Falk saß oft allein in seinem Büro, die Wunde heilte langsam, aber die Narben saßen tiefer. Nicht nur im Fleisch .,sondern im Vertrauen. Ein Kollege, ein Mitstreiter, ein Verräter. Es war nicht das erste Mal, dass Falk mit Korruption konfrontiert wurde. Aber diesmal war es anders. Riedel war nicht gekauft worden. Er war überzeugt gewesen. Von einer Idee. Von Giftstrom.

Er war kein Krimineller, sagte Falk leise zu Nora, als sie spätabends die letzten Akten durchgingen. Er war ein Gläubiger.

Nora sah ihn an. Und das macht es gefährlicher. Denn Ideen sterben nicht mit ihren Trägern.

Falk nickte. Die Organisation war nicht zerschlagen. Nur erschüttert. Und irgendwo da draußen arbeitete sie weiter .an Frequenz Null, an Bewusstseinskontrolle, an der nächsten Stufe.

Am nächsten Morgen brachte ein Kurier einen Umschlag. Kein Absender. Nur Falks Name, handgeschrieben. Innen: ein USB-Stick und ein Zettel. Für den, der fragt. Marlowe.

Falk schloss die Tür, steckte den Stick in seinen Rechner. Es war eine verschlüsselte Datei, mit einem einzigen Video. Marlowe, in einem weißen Raum, allein, die Kamera fest auf sein Gesicht gerichtet.

Wenn Sie das sehen, bin ich tot, begann er. Und das ist gut so. Denn ich war nie dafür gemacht, das Ende zu erleben. Nur den Anfang.

Er sprach ruhig, klar, fast sanft. Über Frequenz Null, über die Idee, das menschliche Bewusstsein zu entkoppeln von seiner biologischen Hülle. Über die Möglichkeit, Gedanken zu übertragen, nicht über Sprache .sondern über Resonanz. Wir haben es getestet. In Görlitz. In Berlin. Und es funktioniert. Aber es ist nicht stabil. Noch nicht.

Dann kam ein Name: Projekt Echo.

Echo ist die nächste Phase. Nicht nur Wahrnehmung. Steuerung. Und es beginnt in drei Wochen. In Hamburg.

Falk stoppte das Video. Sein Herz schlug schneller. Hamburg .die Stadt, in der seine Tochter lebte.

Er rief sie sofort an.

Alles okay bei dir? Fragte er, bemüht, ruhig zu klingen.

Ja, Papa. Warum?

Nur so. Ich wollte deine Stimme hören. Sie lachte. Du wirst weich. Vielleicht. Pass auf dich auf.

Immer. Er legte auf. Aber die Unruhe blieb. Wenn Projekt Echo in Hamburg starten sollte, war sie in Gefahr. Und er würde alles tun, um sie zu schützen.

Am Abend saß Falk allein in seiner Wohnung. Die Stadt rauschte draußen vorbei, aber in ihm war es still. Er dachte an Marlowe, an Riedel, an die Gesichter der Toten im Görlitzer Park. Und er wusste: Das war kein Fall mehr. Es war ein Krieg. Unsichtbar, lautlos, aber real. Er griff zum Telefon, rief Nora an. Wir fahren nach Hamburg. Morgen früh. Was haben wir dort?

Eine Spur. Und eine Tochter. Hamburg empfing Falk mit Regen. Der Himmel hing tief über der Stadt, die Elbe war grau und aufgewühlt, und die Straßen glänzten wie frisch poliert. Falk stand am Hauptbahnhof, die Schulter noch steif, der Blick wach. Neben ihm Nora, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Willkommen im Norden, sagte sie trocken.

Falk nickte. Hier beginnt es.

Sie hatten ein kleines Büro im Polizeipräsidium am Berliner Tor bezogen .diskret, abseits der offiziellen Ermittlungen. Falk wollte keine Aufmerksamkeit. Nicht jetzt. Nicht hier.

Die erste Spur kam aus Marlowes Video: ein Name, ein Ort, ein Datum. Projekt Echo. Speicherstadt. 3. September.

Die Speicherstadt war ein Labyrinth aus Backstein und Wasser. Zwischen den Kanälen und Lagerhäusern lag eine Adresse, die Falks Aufmerksamkeit weckte: Institut für Neuroästhetik, offiziell ein Zentrum für Wahrnehmungsforschung, inoffiziell ein Ort, an dem Marlowe mehrfach gesichtet worden war.

Sie betraten das Gebäude am frühen Nachmittag. Der Empfang war steril, die Wände weiß, die Luft kühl. Eine junge Frau begrüßte sie .Dr. Leona Weiss, Leiterin des Instituts, elegant, distanziert, mit einem Blick, der zu viel wusste.