Zwischen Oliven und Blut - Danilo Sieren - E-Book

Zwischen Oliven und Blut E-Book

Danilo Sieren

0,0

Beschreibung

Zwischen Olive und Blut Unter der glühenden Sonne der Toskana liegen nicht nur Olivenhaine – sondern auch jahrzehntelange Geheimnisse, Schuld und eine Liebe, die alles verändern wird. Lucia Bellini kehrt nach drei Jahren in Rom in ihr Heimatdorf San Vito zurück. Sie sehnt sich nach Ruhe, nach Familie – und nach Antworten auf die Fragen, die niemand aussprechen will. Doch ihr Vater plant bereits ihre Zukunft: eine politisch perfekte Verbindung, ein Leben im goldenen Käfig. Bis sie ihm begegnet. Marco Moretti, Sohn eines Mannes, dessen Tod die Familien in einen erbitterten Krieg gestürzt hat. Ein Mann, der alles verkörpert, was für Lucia verboten ist – und doch fühlt sie sich zu ihm hingezogen wie zum ersten warmen Sommerwind. Als sie sich in einer verlassenen Kapelle wiedersehen, entfacht zwischen ihnen ein Funke, der alles bedroht, was ihre Familien aufgebaut haben. Doch Marco trägt ein Geheimnis: Die Wahrheit über den mysteriösen Tod seines Onkels, ein gefälschtes Testament – und den Verdacht, dass Lucias Vater darin verwickelt sein könnte. Während die Schatten der Vergangenheit erwachen und die alten Wunden wieder aufbrechen, müssen Lucia und Marco sich entscheiden: Liebe oder Blut. Wahrheit oder Schweigen. Freiheit oder Loyalität.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 910

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZWISCHEN OLIVEN UND BLUT

ZWISCHEN

OLIVEN

&

BLUT

⚘❧⚘

Eine verbotene Liebe

in der Toskana

❦❦❦

DANILO SIEREN

»Unter der toskanischen Sonne

wachsen die tiefsten Geheimnisse.«

INHALTSVERZEICHNIS

~ ◆ ~

KAPITEL 1 9

Die Rückkehr 9

KAPITEL 2 18

Schatten der Vergangenheit 18

KAPITEL 3 27

Erste Begegnung 27

KAPITEL 4 39

Verbotene Sehnsucht 39

KAPITEL 5 50

Die Familienfehde 50

KAPITEL 6 60

Heimliche Treffen 60

KAPITEL 7 67

Der Zwangsverlobte 67

KAPITEL 8 76

Entdeckung 76

KAPITEL 9 83

Der Sturm bricht los 83

KAPITEL 10 92

Familie vs. Liebe 92

KAPITEL 11 99

Das verlorene Tagebuch 99

KAPITEL 12 106

Nächtliche Ermittlungen 106

KAPITEL 13 113

Gefahr und Hoffnung 113

KAPITEL 14 121

Epilog: Fünf Jahre später 121

KAPITEL 15 128

Der Brief im Stein 128

KAPITEL 16 136

Die Schatten der Glocke 136

KAPITEL 17 147

Worte, die nie gesprochen wurden 147

KAPITEL 18 157

Fäden der Vergangenheit 157

KAPITEL 19 168

Die Beichte 168

KAPITEL 20 178

Die Nacht der Wahrheit 178

KAPITEL 21 188

Die Kapelle erwacht 188

KAPITEL 22 196

Die Entscheidung 196

KAPITEL 23 202

Das Schweigen der Väter 202

KAPITEL 24 213

Spiegel der Schuld 213

KAPITEL 25 230

Die Rückkehr 230

KAPITEL 26 239

Epilog, Wenn die Schatten flüstern 239

KAPITEL 27 250

Die vergilbte Seite 250

KAPITEL 28 268

Die Stimme der Vergangenheit 268

KAPITEL 29 278

Zwischen den Zeilen 278

KAPITEL 30 289

Die Reise nach San Vito 289

KAPITEL 31 301

Rosa schweigt 301

KAPITEL 32 311

Giovanni bricht auf 311

KAPITEL 33 321

Das Haus am Fluss 321

KAPITEL 34 331

Don Matteo erinnert sich 331

KAPITEL 35 342

Die Wahrheit im Archiv 342

KAPITEL 36 352

Der letzte Brief 352

KAPITEL 37 361

Die Entscheidung 361

KAPITEL 38 371

Der Tag der Beichte 371

KAPITEL 39 382

Epilog: Die neue Geschichte 382

KAPITEL 40 391

Das Grab unter den Zypressen 391

KAPITEL 41 397

Die verschwundene Frau 397

KAPITEL 42 406

Die Sakristei 406

KAPITEL 43 417

Die Jahre in Neapel 417

KAPITEL 44 425

Die verbotene Liebe 425

KAPITEL 45 433

Die Rückkehr 433

KAPITEL 46 442

Das Schweigen der Kirche 442

KAPITEL 47 452

Die Tochter, die nichts wusste 452

KAPITEL 48 463

Marco liest 463

KAPITEL 49 473

Die Wahrheit im Schatten 473

KAPITEL 50 480

Die Entscheidung 480

KAPITEL 51 488

Der Tag der Erinnerung 488

KAPITEL 52 497

Epilog: Die Zypresse bleibt 497

KAPITEL 53 507

Der letzte Sommer 507

KAPITEL 54 519

Das Testament 519

KAPITEL 55 531

Die Schuld der Lebenden 531

KAPITEL 56 540

Die Stimme des Priesters 540

KAPITEL 57 550

Der Brief an Marco 550

KAPITEL 58 562

Die Nacht der Oliven 562

KAPITEL 59 575

Das Fest der Schatten 575

KAPITEL 60 588

Die Entscheidung 588

KAPITEL 61 600

Die Reise nach Rom 600

KAPITEL 62 612

Die Rückkehr 612

KAPITEL 63 619

Die letzte Beichte 619

KAPITEL 64 627

Der Tag der Wahrheit 627

KAPITEL 65 635

Epilog: Wenn die Oliven schweigen 635

KAPITEL 66 640

Impressum 640

KAPITEL 1

Die Rückkehr

~ ◆ ~

Das goldene Licht der toskanischen Morgensonne brach sich in tausend Kristallen am Tau, der wie winzige Diamanten auf den silbrig-grünen Olivenblättern ruhte. Lucia Bellini atmete tief ein und spürte, wie sich ihre Lungen mit der warmen, nach Lavendel und wildem Rosmarin duftenden Luft füllten. Drei Jahre war sie fort gewesen – drei Jahre in Rom, zwischen staubigen Bibliotheken und antiken Steinen, zwischen Vorlesungen und Prüfungen, zwischen dem Lärm der Großstadt und der Sehnsucht nach dieser Stille.

Jetzt stand sie wieder hier, auf der Veranda des Familienanwesens, und fühlte sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Heimat.

Das Dorf San Vito lag vor ihr ausgebreitet wie ein Gemälde aus vergangenen Zeiten. Die honigfarbenen Steinhäuser schmiegten sich an den sanften Hang, ihre roten Ziegeldächer leuchteten im Morgenlicht wie glühende Kohlen. Schmale, gepflasterte Gassen schlängelten sich zwischen den Häusern hindurch, gesäumt von Oleanderbüschen und wildem Jasmin, dessen süßer Duft die warme Luft erfüllte. In der Ferne erhob sich die barocke Silhouette der Kirche Santa Maria della Vittoria, deren Glockenturm stolz über das Dorf wachte wie ein steinerner Wächter.

Doch zwischen den Olivenhainen der Familie Bellini und den terrassierten Hängen, wo andere Familien ihre Träume in die fruchtbare Erde gepflanzt hatten, lag ein unsichtbarer Graben. Ein Graben, der tiefer war als alle Wurzeln, die in diesem Boden wuchsen, und älter als die ältesten Olivenbäume, die seit Jahrhunderten hier standen.

„Lucia, mia cara, kommst du zum Frühstück?"

Die warme Stimme ihrer Großmutter Rosa unterbrach ihre Gedanken. Lucia wandte sich um und sah die kleine, rundliche Frau in der Tür stehen, die Hände voller Mehl von der morgendlichen Backstunde. Nonna Rosa war wie ein Fels in der Brandung der Familie – immer da, immer liebevoll, immer mit einem Lächeln, das die Sorgenfalten in ihrem wettergegerbten Gesicht verschwinden ließ.

„Ich komme gleich, Nonna", antwortete Lucia und warf einen letzten Blick über das Tal. Irgendwo dort drüben, hinter den Zypressen und Pinien, lag das Land der Morettis. Allein der Gedanke an diesen Namen ließ eine Kälte durch ihre Adern fließen, obwohl die Sonne bereits warm auf ihre Haut schien.

Die Küche erfüllte der Duft von frisch gebackenem Brot und starkem Espresso. An dem großen, rustikalen Holztisch, der schon Generationen von Bellinis Halt gegeben hatte, saß ihr Vater Giuseppe und studierte mit gerunzelter Stirn die lokale Zeitung. Sein ergrautes Haar war bereits akkurat nach hinten gekämmt, obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte, und seine dunklen Augen – die gleichen, die Lucia geerbt hatte – blickten ernst und nachdenklich.

„Buongiorno, Papa", sagte Lucia leise und küsste ihn auf beide Wangen, wie es die Tradition verlangte.

Giuseppe blickte auf und sein Gesicht erhellte sich bei ihrem Anblick. „Mia bella figlia", murmelte er und strich ihr sanft über die Wange. „Wie schön es ist, dich wieder zu Hause zu haben. Rom hat dir gut getan – du siehst aus wie eine richtige Signora."

Lucia lächelte, aber in ihrem Herzen nagte bereits die Vorahnung dessen, was kommen würde. Sie kannte ihren Vater zu gut, um nicht die Spannung in seinen Schultern zu bemerken, das leichte Zucken um seine Augen, das immer dann auftrat, wenn er schwierige Gespräche führen musste.

Nonna Rosa stellte einen dampfenden Teller mit Cornetti vor sie hin, die noch warm waren und nach Butter und süßer Marmelade dufteten. „Iss, bambina", sagte sie liebevoll. „Du bist viel zu dünn geworden in dieser großen Stadt."

„Nonna, ich bin fünfundzwanzig, keine bambina mehr", protestierte Lucia lachend, aber sie biss trotzdem dankbar in das fluffige Gebäck. Der Geschmack von Kindheit und Sicherheit explodierte auf ihrer Zunge – die gleiche Marmelade aus den eigenen Feigen, die Rosa jeden Sommer kochte, die gleiche Art, die Cornetti zu formen, die ihre Urgroßmutter schon beherrscht hatte.

„Für mich wirst du immer meine kleine Lucia bleiben", entgegnete Rosa mit einem liebevollen Lächeln und setzte sich neben sie. „Erzähl uns von Rom. Von deinen Studien. Warst du glücklich dort?"

Lucia zögerte einen Moment. War sie glücklich gewesen? Rom hatte ihr die Freiheit geschenkt, die sie sich immer gewünscht hatte – die Freiheit zu denken, zu träumen, zu werden, wer sie sein wollte, ohne die Last der Familiengeschichte auf ihren Schultern. Sie hatte antike Kulturen studiert, in staubigen Archiven nach vergessenen Geschichten gesucht, hatte Freunde aus aller Welt gefunden und war zum ersten Mal in ihrem Leben einfach nur Lucia gewesen – nicht die Tochter des Giuseppe Bellini, nicht die Erbin eines jahrhundertealten Weinguts, nicht das Mädchen, das die Ehre der Familie zu wahren hatte.

„Es war... aufregend", sagte sie schließlich. „Die Universität, die Menschen, all das Wissen. Ich habe so viel gelernt, nicht nur über Geschichte, sondern auch über mich selbst."

Giuseppe räusperte sich und faltete die Zeitung zusammen. Das Geräusch hallte in der plötzlichen Stille der Küche wider wie ein Donnergrollen vor einem Sturm.

„Das ist schön zu hören, cara mia", sagte er, aber seine Stimme klang angespannt. „Bildung ist wichtig für eine Frau. Aber jetzt bist du wieder zu Hause, und es ist Zeit, über deine Zukunft zu sprechen. Über unsere Zukunft."

Lucia spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Das war es also. Der Grund, warum ihr Vater sie so dringlich nach Hause gebeten hatte, warum seine Briefe in den letzten Monaten immer häufiger und nachdrücklicher geworden waren.

„Papa", begann sie vorsichtig, „ich dachte, wir hätten darüber schon gesprochen. Ich möchte meine Doktorarbeit schreiben, vielleicht sogar eine Karriere als Archäologin verfolgen. Es gibt so viele antike Stätten in Italien, die noch nicht vollständig erforscht sind..."

„Lucia." Giuseppes Stimme war sanft, aber bestimmt. „Du bist eine Bellini. Unser Name, unser Erbe, unsere Tradition – das alles ruht auf deinen Schultern. Du bist mein einziges Kind, mia cara. Wer soll das alles weiterführen, wenn nicht du?"

„Aber Papa, die Zeiten haben sich geändert. Frauen können mehr sein als nur..."

„Mehr als was? Mehr als die Hüterin eines Erbes, das Jahrhunderte alt ist? Mehr als die Mutter der nächsten Generation?" Giuseppes Augen blitzten auf, aber nicht vor Zorn, sondern vor Leidenschaft. „Lucia, ich spreche nicht davon, dich in ein Gefängnis zu sperren. Ich spreche davon, dir die Krone zu geben, die dir von Geburt an zusteht."

Nonna Rosa legte ihre faltige Hand auf Lucias Arm. „Bambina", sagte sie leise, „hör ihm zu. Es geht um mehr als nur um Tradition."

Giuseppe stand auf und trat ans Fenster, von wo aus man über die Weinberge bis hin zu den fernen Hügeln blicken konnte. „Kennst du die Familie Conti aus Florenz?", fragte er, ohne sich umzudrehen.

Lucia schüttelte den Kopf, obwohl sie eine dunkle Vorahnung beschlich.

„Alessandro Conti ist ein guter Mann", fuhr Giuseppe fort. „Intelligent, gebildet, aus einer angesehenen Familie. Sein Vater besitzt einige der besten Weinberge in der Toskana. Alessandro selbst hat in Paris Weinbau studiert und bringt moderne Methoden mit traditionellen Werten in Einklang."

Die Worte trafen Lucia wie Schläge. „Papa, nein. Bitte sag mir nicht, dass du..."

„Ich habe ihn eingeladen, uns nächste Woche zu besuchen", sagte Giuseppe und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war eine Maske aus Entschlossenheit und väterlicher Sorge. „Es ist nur ein Besuch, Lucia. Lern ihn kennen. Gib ihm eine Chance."

„Eine Chance wozu? Mich zu heiraten?" Lucia sprang auf, ihr Stuhl schrappte laut über die Steinfliesen. „Papa, das ist das 21. Jahrhundert! Du kannst nicht einfach meine Zukunft planen, als wäre ich eine Schachfigur!"

„Ich plane nicht deine Zukunft", erwiderte Giuseppe ruhig. „Ich sichere sie ab. Lucia, die Welt da draußen ist hart und unberechenbar. Hier, in San Vito, bei uns, bist du sicher. Du wirst geliebt und beschützt, und unsere Familie wird weiterbestehen."

„Und was ist mit dem, was ich will? Mit meinen Träumen?"

Giuseppe seufzte tief und sah plötzlich älter aus, als er war. Die Linien in seinem Gesicht wirkten tiefer, seine Schultern schwerer belastet. „Träume sind schön, mia cara. Aber das Leben... das Leben erfordert manchmal Opfer."

Lucia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Nicht vor Wut, sondern vor Enttäuschung. Sie hatte gehofft, dass ihr Vater sie verstehen würde, dass er sehen würde, wie sehr sie sich in den drei Jahren in Rom verändert hatte. Stattdessen fand sie sich in den gleichen Ketten wieder, die sie als junges Mädchen bereits gespürt hatte.

„Und wenn ich nein sage?", flüsterte sie.

Giuseppe trat zu ihr und nahm ihre Hände in seine großen, rauen Hände eines Mannes, der sein Leben lang auf dem Land gearbeitet hatte. „Dann hoffe ich, dass du es dir noch einmal überlegst. Alessandro ist ein guter Mann, Lucia. Und diese Familie..." Er machte eine Pause und sein Blick verdüsterte sich. „Diese Familie braucht Stabilität. Wir haben Feinde, cara mia. Feinde, die nur darauf warten, dass wir schwach werden."

Bei dem Wort „Feinde" fiel ein Schatten über sein Gesicht, und Lucia wusste instinktiv, von wem er sprach. Die Morettis. Immer kehrte alles zu ihnen zurück, zu diesem alten Hass, der wie ein Gift durch die Adern des Dorfes floss.

„Was ist damals wirklich passiert, Papa?", fragte sie leise. „Mit den Morettis. Mit... mit Antonio."

Giuseppe ließ ihre Hände los, als hätte er sich verbrannt. Sein Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske. „Das gehört der Vergangenheit an, Lucia. Und dort soll es auch bleiben."

„Aber Papa..."

„Genug!" Seine Stimme war scharf wie eine Peitsche, aber sofort wurde sie wieder weicher. „Es tut mir leid, cara mia. Aber über manche Dinge spricht man nicht. Punkt."

Nonna Rosa erhob sich langsam von ihrem Stuhl, ihre Gelenke knackten leise. „Lucia, bambina", sagte sie sanft, „komm mit mir in den Garten. Die Rosen müssen geschnitten werden, und du hast es schon immer geliebt, mir dabei zu helfen."

Lucia folgte ihrer Großmutter nach draußen, dankbar für die Flucht aus der angespannten Atmosphäre der Küche. Der Garten war eine Oase der Ruhe – ein sorgfältig gepflegtes Paradies aus Rosenbeeten, Lavendelbüschen und einem alten Feigenbaum, unter dem sie als Kind unzählige Stunden verbracht hatte.

„Nonna", sagte Lucia, während sie Rosa dabei half, die verwelkten Blüten von einem Rosenstock zu entfernen, „kennst du die Wahrheit? Über damals?"

Rosa hielt in ihrer Arbeit inne und blickte über die Gartenmauer hinweg, dorthin, wo in der Ferne die Hügel lagen, auf denen die Moretti-Familie ihr Land hatte. „Die Wahrheit, bambina, ist wie diese Rosen. Sie hat viele Schichten, und manchmal sind die äußeren Blütenblätter verwelkt und hässlich, aber darunter schlägt noch immer ein schönes Herz."

„Das ist keine Antwort."

Rosa lächelte traurig. „Es ist die einzige Antwort, die ich dir geben kann, mia cara. Manche Wunden sind zu tief, um sie wieder aufzureißen. Aber ich will dir eines sagen – lass dich nicht von der Vergangenheit gefangen nehmen. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben, auf deine eigenen Entscheidungen."

„Aber Papa..."

„Dein Papa liebt dich mehr als sein eigenes Leben", unterbrach Rosa sie sanft. „Manchmal drückt sich Liebe in Sorge aus, und Sorge macht uns blind für das, was wirklich richtig ist. Gib ihm Zeit, Lucia. Und gib dir selbst auch Zeit."

Sie arbeiteten eine Weile schweigend weiter, umgeben von dem süßen Duft der Rosen und dem leisen Summen der Bienen, die von Blüte zu Blüte tanzten. Die Sonne kletterte höher am Himmel und verwandelte die Landschaft in ein Meer aus Gold und Grün. In der Ferne läuteten die Glocken von Santa Maria die Mittagsstunde ein, ein melodischer Klang, der über das ganze Tal hallte.

„Lucia", sagte Rosa schließlich, „heute Abend ist Markt im Dorf. Warum gehst du nicht hin? Es wird dir gut tun, wieder unter Menschen zu sein, und vielleicht triffst du auch ein paar alte Freunde."

Lucia nickte. Die Aussicht, dem Haus zu entkommen und die Menschen wiederzusehen, mit denen sie aufgewachsen war, schien ihr plötzlich wie ein Rettungsanker. „Das ist eine gute Idee, Nonna."

„Aber sei vorsichtig", fügte Rosa hinzu, und in ihrer Stimme schwang eine Warnung mit, die Lucia nicht ganz verstand. „San Vito mag ein kleines Dorf sein, aber es hat große Geheimnisse. Und manchmal ist es besser, schlafende Hunde nicht zu wecken."

Als der Abend kam und die ersten Sterne am dunkelblauen Himmel erwachten, machte sich Lucia auf den Weg ins Dorf. Sie hatte sich für ein einfaches blaues Kleid entschieden, das ihre dunklen Augen betonte, und ihre langen, schwarzen Haare zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Ein paar Strähnen umrahmten ihr Gesicht und verliehen ihr eine natürliche Eleganz, die sie selbst kaum bemerkte.

Der Marktplatz von San Vito war erfüllt von Leben und Lachen. Bunte Lichter waren zwischen den Bäumen gespannt, und die Luft war erfüllt von den verlockenden Düften nach gegrilltem Fleisch, frischen Tomaten und warmem Brot. Die Dorfbewohner flanierten zwischen den Ständen umher, kauften ein, plauderten und genossen die laue Abendluft.

„Lucia! Madonna mia, bist du das wirklich?"

Eine vertraute Stimme ließ sie herumfahren. Maria Santangelo, ihre beste Freundin aus Kindertagen, kam auf sie zugelaufen, die Arme weit ausgebreitet. Sie hatte sich kaum verändert – noch immer die gleichen lebhaften braunen Augen, das gleiche herzliche Lachen, nur ihre Figur war etwas fülliger geworden.

„Maria!" Lucia fiel ihr um den Hals, und für einen Moment fühlte sie sich wieder wie das Mädchen, das sie einmal gewesen war. „Wie schön, dich zu sehen!"

„Drei Jahre!", rief Maria und hielt sie auf Armeslänge, um sie zu betrachten. „Drei Jahre, und nicht ein einziger Besuch! Du siehst fantastisch aus, cara. Rom hat dir wirklich gut getan."

Sie verbrachten die nächste Stunde damit, sich über alles zu unterhalten – über Marias Hochzeit mit dem Bäcker des Dorfes, über ihre zwei kleinen Kinder, über Lucias Leben in Rom. Doch als das Gespräch sich den lokalen Neuigkeiten zuwandte, bemerkte Lucia eine seltsame Spannung in Marias Verhalten.

„Maria", sagte sie schließlich, „ist alles in Ordnung? Du wirkst so... angespannt."

Maria blickte nervös um sich, als würde sie befürchten, belauscht zu werden. „Lucia", flüsterte sie dann, „es gibt Dinge, die sich verändert haben, seit du weg warst. Dinge, über die wir nicht sprechen sollten."

„Was für Dinge?"

„Die... die Situation zwischen den Familien ist noch schlimmer geworden. Dein Vater und Salvatore Moretti sprechen kein Wort miteinander, nicht einmal im Notfall. Und Marco..."

„Marco?"

„Marco Moretti. Antonios Neffe. Er ist aus Amerika zurückgekommen, vor etwa einem Jahr. Er leitet jetzt die Olivenölproduktion der Familie." Maria senkte die Stimme noch weiter. „Sie sagen, er ist noch zorniger als sein Vater, was die ganze Geschichte angeht. Und er ist..." Sie stockte.

„Er ist was?"

„Nun, er ist... sehr attraktiv geworden. Aber Lucia, tu dir selbst einen Gefallen und halte dich von ihm fern. Die Morettis sind Gift für unsere Familie. Das weißt du."

Lucia nickte mechanisch, aber ihre Gedanken wirbelten. Sie hatte von Marco gehört – er war nur ein Jahr älter als sie und war als Teenager nach Amerika geschickt worden, um dort zur Schule zu gehen. Warum war er zurückgekommen? Und warum warnte Maria sie so eindringlich vor ihm?

„Lucia", sagte Maria und griff nach ihrer Hand, „versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst. Diese alte Fehde... sie hat schon zu viel Schmerz verursacht. Lass dich nicht hineingezogen."

„Ich verspreche es", murmelte Lucia, aber ihre Worte klangen hohl, selbst in ihren eigenen Ohren.

Als sie später an diesem Abend durch die stillen Gassen des Dorfes nach Hause wanderte, konnte sie Marias Worte nicht aus ihrem Kopf bekommen. Marco Moretti. Der Name hallte in ihren Gedanken wider wie ein Echo in einer leeren Kirche. Sie erinnerte sich vage an einen groß gewachsenen Jungen mit dunklen Augen und einem trotzigen Lächeln, der manchmal durch die Straßen von San Vito gelaufen war, immer allein, immer mit diesem Schatten des Verbotenen um sich.

Die Nacht war mild und sternenklar, und als sie den Hügel zu ihrem Elternhaus hinaufstieg, blieb sie einen Moment stehen und blickte zurück auf das Dorf. Von hier oben sah San Vito aus wie eine Märchenszenerie – die warmen Lichter in den Fenstern, die Silhouette der Kirche gegen den Nachthimmel, die Olivenhaine, die sich wie ein silbernes Meer bis zum Horizont erstreckten.

Irgendwo dort draußen, in der Dunkelheit, lag das Land der Morettis. Und irgendwo dort war Marco.

Lucia schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Gedanken vertreiben. Was spielte es für eine Rolle? Sie würde Alessandro Conti kennenlernen, wie ihr Vater es wollte. Sie würde eine vernünftige Entscheidung treffen, eine Entscheidung, die ihrer Familie und ihrer Zukunft zugute kam.

Aber als sie in ihr Zimmer trat und sich ans Fenster stellte, das Richtung Norden zeigte, dorthin, wo die Moretti-Hügel lagen, spürte sie ein seltsames Ziehen in ihrem Herzen. Als ob das Schicksal selbst sie in eine Richtung lenkte, die sie nicht verstehen konnte.

In der Ferne heulte ein Hund, ein einsamer, melancholischer Klang, der durch die Nacht hallte. Lucia fröstelte, obwohl die Luft warm war, und zog die Vorhänge zu.

Morgen würde ein neuer Tag sein. Ein Tag, der ihr Leben für immer verändern würde, auch wenn sie es noch nicht wusste.

Das Schicksal hatte bereits begonnen, seine Fäden zu spinnen.

KAPITEL 2

Schatten der Vergangenheit

~ ◆ ~

Die ersten Strahlen der Morgensonne brachen durch die dichten Äste der jahrhundertealten Olivenbäume und malten ein Mosaik aus Licht und Schatten auf die rote Erde. Marco Moretti stand zwischen den knorrigen Stämmen, die Hände voller Erde, und spürte die vertraute Verbindung zu diesem Land, die so tief in seinem Blut verwurzelt war wie die Wurzeln der Bäume um ihn herum.

Acht Jahre war er fort gewesen. Acht Jahre in Kalifornien, wo er Landwirtschaft und moderne Olivenölproduktion studiert hatte, wo er gelernt hatte, Tradition mit Innovation zu verbinden, wo er versucht hatte, den Schatten seiner Familiengeschichte zu entkommen. Doch das Land hatte ihn zurückgerufen – dieses Land, das nach Generationen von Schweiß und Tränen seiner Vorfahren duftete, das seine Geschichte in jedem Felsen, jedem Baum, jedem Sonnenstrahl erzählte.

Er bückte sich und ließ eine Handvoll der reichen, dunklen Erde durch seine Finger rieseln. Seine Hände waren kräftig und von der Arbeit gezeichnet, die Fingernägel dunkel von der Erde, die sich unter ihnen gesammelt hatte. Das waren nicht die Hände eines Mannes, der acht Jahre in amerikanischen Vorlesungssälen verbracht hatte, sondern die Hände seines Großvaters, seines Vaters, aller Moretti-Männer vor ihm – Hände, die das Land liebten und das Land liebte sie zurück.

"Marco!"

Die Stimme seines Vaters Salvatore hallte durch die Olivenhaine. Marco richtete sich auf, wischte seine Hände an der Arbeitskleidung ab und wandte sich in Richtung des Familienanwesens. Salvatore Moretti stand am Rand des Hains, eine imposante Gestalt gegen den Morgenhimmel. Obwohl er bereits Mitte fünfzig war, strahlte er noch immer die Kraft und Entschlossenheit aus, die ihn zum respektierten Familienoberhaupt gemacht hatte. Sein dunkles Haar war an den Schläfen grau geworden, seine Augen – die gleichen tiefen, braunen Augen, die Marco geerbt hatte – blickten ernst und müde.

"Vieni qui, figlio mio", rief Salvatore und winkte ihn heran. "Wir müssen reden."

Marco folgte seinem Vater zum Haupthaus, einem rustikalen Steingebäude, das sich harmonisch in die Landschaft einfügte. Im Gegensatz zu der imposanten Villa der Bellinis war das Moretti-Anwesen bescheidener, aber nicht weniger stolz. Die Mauern erzählten von Generationen harter Arbeit, von Menschen, die mit ihren Händen ihr Glück geschmiedet hatten, nicht durch Vererbung oder politische Verbindungen.

Die Küche war das Herz des Hauses, erfüllt von den Düften nach frischem Kaffee und warmem Brot. Elena Moretti, Marcos Mutter, stand am Herd und rührte in einem großen Topf mit Polenta. Sie war eine schöne Frau Mitte vierzig, deren sanfte Züge von der Sonne und der Zeit gezeichnet waren, aber deren Augen noch immer das Feuer ihrer Jugend bewahrten. Als sie Marco sah, lächelte sie, aber auch in ihrem Lächeln lag ein Schatten von Sorge.

"Buongiorno, amore mio", sagte sie und strich ihm liebevoll über die Wange. "Du warst schon wieder vor Sonnenaufgang draußen. Du arbeitest zu viel."

"Das Land wartet nicht, Mama", antwortete Marco und küsste sie auf beide Wangen. "Und die neue Presse muss heute installiert werden. Wenn wir diese Saison das beste Olivenöl der Region produzieren wollen, dann müssen wir perfekt vorbereitet sein."

Salvatore setzte sich an den großen Holztisch und deutete Marco an, das Gleiche zu tun. "Setzen Sie uns, figlio. Es gibt Dinge, die wir besprechen müssen."

Marco nahm Platz und spürte sofort die Spannung, die in der Luft lag. Seine Eltern wechselten einen Blick – einen dieser stummen Austausche, die nur Paare beherrschen, die ihr Leben miteinander geteilt haben.

"Marco", begann Salvatore langsam, "gestern Abend war Giuseppe Bellinis Tochter auf dem Markt. Sie ist aus Rom zurückgekehrt."

Der Name Bellini ließ Marco innerlich zusammenzucken, aber er hielt sein Gesicht ausdruckslos. "Und was geht mich das an, Papa?"

"Du erinnerst dich an sie, nicht wahr? An Lucia?"

Marco erinnerte sich. Vage, wie an einen fernen Traum. Ein Mädchen mit großen, dunklen Augen und langen schwarzen Haaren, das manchmal durch die Straßen von San Vito gelaufen war. Ein Mädchen, das zu einer Welt gehörte, die für ihn verboten war. Er hatte sie ein paar Mal gesehen, bevor er nach Amerika geschickt worden war – immer aus der Ferne, immer getrennt durch die unsichtbaren Mauern, die ihre Familien umgaben.

"Ich erinnere mich", sagte er neutral.

Elena stellte drei Tassen dampfenden Espresso auf den Tisch und setzte sich zu ihnen. "Sie ist zu einer schönen Frau geworden", sagte sie leise. "Maria Santangelo hat erzählt, dass sie Archäologie studiert hat. Eine intelligente Frau."

"Mama", warnte Salvatore, aber Elena ignorierte ihn.

"Ich sage nur, was ich gehört habe", fuhr sie fort. "Und ich denke, es ist Zeit, dass diese alten Wunden endlich heilen. Zu viel Hass, zu viel Schmerz. Für was? Für ein Stück Land? Für Stolz?"

"Es geht nicht um Stolz!", explodierte Salvatore, seine Stimme hallte durch die Küche. "Es geht um Gerechtigkeit! Es geht um Antonio!"

Bei der Erwähnung seines Onkels spannte sich jeder Muskel in Marcos Körper an. Antonio Moretti – der Name, der wie ein Schatten über seiner Kindheit gelegen hatte, der Grund für die nächtlichen Tränen seiner Mutter, für die verbitterten Schweigeminuten seines Vaters, für die Feindseligkeit, die zwischen den Familien schwelte wie glühende Kohlen unter der Asche.

"Erzähl mir noch einmal, was passiert ist", sagte Marco leise. "Erzähl mir die ganze Geschichte."

Salvatore seufzte tief und strich sich über das Gesicht. "Du warst noch ein Kind, Marco. Fünfzehn Jahre alt. Du warst zu jung, um alles zu verstehen."

"Ich bin jetzt dreiundzwanzig", antwortete Marco. "Ich bin alt genug, die Wahrheit zu erfahren."

Salvatore blickte zu Elena, die fast unmerklich nickte. Dann begann er zu sprechen, seine Stimme rau vor unterdrückten Emotionen.

"Antonio war mein jüngerer Bruder. Nur zwei Jahre jünger, aber so voller Leben, so voller Träume. Er war derjenige mit den Ideen, mit der Vision. Ich war immer der Praktische, aber Antonio... Antonio konnte träumen."

Marco hatte die Geschichte schon hundertmal gehört, aber jedes Mal entdeckte er neue Nuancen, neue Schmerzen in der Stimme seines Vaters.

"Die Bellinis und wir, wir waren damals Geschäftspartner", fuhr Salvatore fort. "Kannst du dir das vorstellen? Unsere Familien, vereint. Giuseppe und ich, wir waren Freunde. Nicht nur Geschäftspartner, sondern wirkliche Freunde. Unsere Kinder sollten zusammen aufwachsen, vielleicht sogar..." Er stockte.

"Was, Papa?"

"Es gab Gespräche. Über eine mögliche Verbindung zwischen unseren Familien. Giuseppe hatte eine kleine Tochter, du warst ein junger Mann. Aber das war nur Gerede, Träume für die Zukunft."

Elena griff nach Salvators Hand. "Erzähl ihm von dem Geschäft", sagte sie sanft.

"Wir hatten gemeinsam in ein großes Stück Land investiert", erzählte Salvatore weiter. "Fünfzig Hektar bester Olivenhaine, direkt am Hang oberhalb des Dorfes. Das Land der alten Famiglia Rossi, die keine Erben hatten. Es war Antonios Idee gewesen – er hatte eine Vision von der modernsten Olivenölproduktion in ganz Italien. Biologisch, nachhaltig, aber mit den besten traditionellen Methoden kombiniert."

Marco lehnte sich vor. "Was ist schief gelaufen?"

"Antonio begann, seltsame Dinge zu bemerken. Unstimmigkeiten in den Büchern, verdächtige Transaktionen. Er hatte den Verdacht, dass jemand das Geschäft als Geldwäscheanlage benutzte. Jemand mit politischen Verbindungen, jemand Mächtiges."

"Wer?"

Salvatore zögerte. "Wir waren nie sicher. Aber Antonio hatte Verdacht gegen Don Massimo Torretti, den Bürgermeister. Der Mann hatte Finger in vielen schmutzigen Geschäften."

"Und dann?"

"Antonio wollte zur Polizei gehen. Ich bat ihn, vorsichtig zu sein, erst mehr Beweise zu sammeln. Aber er war ungeduldig, voller Gerechtigkeitssinn. Er sagte, er würde Giuseppe zuerst konfrontieren, herausfinden, was er wusste."

Salvators Stimme brach leicht. "Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe."

Elena griff nach einem Taschentuch und wischte sich über die Augen. Auch nach fünfundzwanzig Jahren war der Schmerz noch immer frisch.

"Sie fanden ihn am nächsten Morgen", flüsterte Salvatore. "Am Fuß der Klippen, nahe den Bellini-Weinbergen. Giuseppe behauptete, Antonio sei betrunken gewesen, sei gestürzt. Aber mein Bruder war Abstinenzler, Marco. Er trank keinen Tropfen Alkohol."

"Was sagte die Polizei?"

"Die Polizei?" Salvatore lachte bitter. "Die Polizei war in Torrettis Tasche. Sie erklärten es zu einem Unfall. Keine Untersuchung, keine Fragen. Und dann..." Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. "Dann kam das Testament."

"Welches Testament?"

"Plötzlich tauchte ein Testament auf, das keiner von uns je gesehen hatte. Antonio hinterließ angeblich seinen gesamten Anteil an dem Land den Bellinis. Fünfundzwanzig Hektar, die unserer Familie hätten gehören sollen."

Marco spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. "Das Testament war gefälscht."

"Natürlich war es das! Aber beweisen konnten wir es nicht. Giuseppe behauptete, Antonio hätte es ihm kurz vor seinem Tod gegeben, als Zeichen der Freundschaft und Dankbarkeit für ihre Partnerschaft."

"Und ihr habt das einfach akzeptiert?"

Salvators Augen blitzten gefährlich. "Akzeptiert? Ich wollte kämpfen! Ich wollte Giuseppe zur Rede stellen, zur Polizei gehen, einen Anwalt einschalten. Aber deine Mutter..." Er blickte zu Elena. "Sie war schwanger mit deiner kleinen Schwester Gianna. Sie hatte Angst. Angst vor Torretti, vor dem, was passieren könnte, wenn wir zu viele Fragen stellten."

Elena erhob ihre Stimme zum ersten Mal. "Ich hatte nicht nur Angst um mich", sagte sie bestimmt. "Ich hatte Angst um dich, Marco. Du warst noch ein Kind. Und Gianna..., wenn mir etwas passiert wäre..."

"Also habt ihr geschwiegen", sagte Marco, und in seiner Stimme lag keine Anklage, sondern Verständnis.

"Wir schwiegen", bestätigte Salvatore. "Und schickten dich nach Amerika, damit du in Sicherheit warst. Damit du eine Chance auf ein besseres Leben hattest, fern von diesem ganzen Schmutz."

"Aber ich bin zurückgekommen."

"Ja", sagte Salvatore und lächelte traurig. "Du bist zurückgekommen. Und ich bin stolz auf dich, figlio mio. Du bist stärker geworden, klüger. Du hast die Ausbildung, die Antonio sich immer gewünscht hätte. Du kannst seinen Traum verwirklichen."

Marco stand auf und trat ans Fenster. Von hier aus konnte er die Hügel sehen, wo das umstrittene Land lag – jetzt Bellini-Eigentum, gepflegt und kultiviert, ein konstanter Stachel in der Seite seiner Familie.

"Was ist mit Torretti passiert?", fragte er.

"Noch immer Bürgermeister", antwortete Salvatore bitter. "Noch immer mächtig, noch immer korrupt. Aber vorsichtiger geworden über die Jahre."

"Und Giuseppe Bellini?"

"Wurde reich und mächtiger. Seine Weine gehören zu den besten der Region. Das Land, das Antonio gehört hätte, bringt ihm jedes Jahr Millionen ein."

Marco drehte sich um und sah seine Eltern an – zwei Menschen, die ihr Leben lang unter dem Gewicht dieser Ungerechtigkeit gelebt hatten, die ihre Träume begraben und ihre Wut hinuntergeschluckt hatten, um ihre Familie zu schützen.

"Aber was ist mit der Tochter?", fragte Elena plötzlich. "Mit Lucia? Sie war damals nur ein Kind. Sie trägt keine Schuld für das, was ihr Vater getan hat."

Salvatore funkelte sie an. "Sie ist eine Bellini. Das Blut ihres Vaters fließt in ihren Adern."

"Das ist nicht fair, Salvatore", widersprach Elena. "Du klingst wie diese alten Männer, die Vendetta predigen. Wie können wir ein unschuldiges Mädchen für die Sünden ihres Vaters verantwortlich machen?"

"Ein unschuldiges Mädchen?" Salvatore lachte bitter. "Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, Elena. Sie ist keine Bambina mehr. Und sie wird den Namen Bellini weiterführen, das Vermögen erben, das mit dem Blut meines Bruders erkauft wurde."

Marco hörte die Diskussion seiner Eltern, aber seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an das Mädchen, das er kaum kannte, aber dessen Namen trotzdem eine seltsame Macht über ihn zu haben schien. Lucia Bellini. Wie mochte sie jetzt aussehen? Wie dachte sie über die alte Fehde? Wusste sie die Wahrheit über das, was passiert war?

"Marco", sagte Salvatore plötzlich, "du bist sehr still. Was denkst du?"

Marco drehte sich vom Fenster weg und sah seine Eltern an. "Ich denke, dass fünfundzwanzig Jahre zu lange sind, um im Schatten der Vergangenheit zu leben", sagte er langsam. "Ich denke, es ist Zeit, die Wahrheit ans Licht zu bringen."

"Und wie willst du das machen?", fragte Elena.

"Ich weiß es noch nicht", gab Marco zu. "Aber Antonio verdient Gerechtigkeit. Unsere Familie verdient Gerechtigkeit. Und wenn die Bellinis unschuldig sind an seinem Tod, dann verdienen auch sie es, die Wahrheit zu erfahren."

Salvatore runzelte die Stirn. "Sei vorsichtig, Marco. Diese Menschen sind nicht unsere Freunde. Giuseppe Bellini hat meinen Bruder verraten. Er würde auch dich verraten, wenn es ihm nützen würde."

„Vielleicht“ sagte Marco. "Aber vielleicht ist es auch Zeit herauszufinden, wer wirklich der Feind ist."

Er küsste seine Mutter auf die Wange und drückte seinem Vater die Hand. "Ich muss zurück zu den Olivenbäumen. Die neue Presse wird heute geliefert."

Als er das Haus verließ und zurück zu den Hügeln wanderte, dachte Marco über das Gespräch nach. Sein ganzes Leben lang hatte er mit dem Gewicht dieser Geschichte gelebt, hatte den Schmerz seiner Familie gespürt, ohne die volle Wahrheit zu kennen. Jetzt, da er erwachsen war, fühlte er sich verpflichtet, Antworten zu finden.

Aber da war noch etwas anderes, etwas, das er seinen Eltern nicht gestehen konnte. Seit seiner Rückkehr nach San Vito hatte er oft an Lucia Bellini gedacht. Nicht als Feindin, nicht als Symbol der Familie, die seine Familie verraten hatte, sondern als Frau. Er hatte Geschichten über sie gehört – über ihre Intelligenz, ihre Schönheit, ihre Träume von einer Karriere als Archäologin. Trotz allem, was zwischen ihren Familien stand, war er neugierig auf sie.

Vielleicht war es die Zeit in Amerika gewesen, die ihn gelehrt hatte, dass Menschen mehr waren als ihre Familiennamen. Vielleicht war es einfach die natürliche Neugier eines Mannes auf eine schöne Frau. Oder vielleicht spürte er instinktiv, dass in Lucia Bellini der Schlüssel zur Wahrheit lag.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, und die Hitze des Tages begann sich aufzubauen. Marco arbeitete den ganzen Vormittag in den Olivenhainen, seine Gedanken jedoch wanderten immer wieder zu der Frau, die er nur aus der Ferne kannte.

Als er am späten Nachmittag eine Pause einlegte und im Schatten eines alten Olivenbaums saß, traf er eine Entscheidung. Er würde einen Weg finden, Lucia Bellini zu begegnen. Nicht als Feind, nicht als Vertreter seiner Familie, sondern als Mann, der Antworten suchte.

Das Schicksal, dachte er, während er über die Hügel blickte, die zu den Bellini-Ländereien führten, hatte manchmal einen seltsamen Sinn für Ironie. Vielleicht war es kein Zufall, dass Lucia gerade jetzt nach Hause zurückgekehrt war, gerade jetzt, wo auch er bereit war, der Vergangenheit ins Gesicht zu blicken.

Die Schatten der Olivenbäume wurden länger, und irgendwo in der Ferne läuteten die Glocken von San Vito das Ende des Arbeitstages ein. Marco erhob sich, klopfte den Staub von seiner Kleidung und machte sich auf den Weg nach Hause.

Morgen würde er einen Plan machen. Morgen würde er den ersten Schritt auf einem Weg gehen, der sein Leben für immer verändern würde. Er wusste nur noch nicht, dass das Schicksal bereits seine eigenen Pläne schmiedete, und dass die Frau, an die er dachte, in genau diesem Moment ebenfalls an ihn dachte.

In der Ferne, jenseits der Hügel und Olivenhaine, jenseits der unsichtbaren Grenzen zwischen den Familien, saß Lucia Bellini an ihrem Fenster und blickte in die Nacht hinaus, ohne zu wissen, dass sie in die gleiche Richtung schaute wie der Mann, dessen Namen sie nicht einmal laut auszusprechen wagte.

Das alte italienische Sprichwort besagte, dass das Herz seine eigenen Wege geht, unabhängig von dem, was der Verstand befiehlt. In dieser Nacht, unter dem gleichen Sternenhimmel, begannen zwei Herzen, im gleichen Rhythmus zu schlagen, ohne dass ihre Besitzer es ahnten.

Die Geschichte von Antonio Moretti war noch nicht zu Ende erzählt. Und vielleicht, dachte Marco, während er in sein Zimmer trat und das Fenster öffnete, das ebenfalls nach Süden zeigte, würde diese Geschichte ein Ende finden, das niemand erwartet hatte.

In der Ferne heulte wieder dieser einsame Hund, und sein Klang schien die Sehnsucht selbst zu verkörpern – die Sehnsucht nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach etwas, das weder Marco noch Lucia noch benennen konnten, das aber bereits begonnen hatte, ihre Herzen zu erfüllen.

KAPITEL 3

Erste Begegnung

~ ◆ ~

Der Duft von geröstetem Knoblauch und frischen Kräutern lag wie ein Schleier über dem Dorfplatz von San Vito. Es war der Tag des Heiligen Vitalis, des Schutzpatrons des Dorfes, und die jährliche Festa war in vollem Gange. Bunte Fahnen flatterten zwischen den jahrhundertealten Steingebäuden, und überall drängten sich Menschen in ihrer besten Kleidung, lachten, aßen und feierten das Leben, wie es nur Italiener konnten.

Lucia stand am Rand der Piazza und beobachtete das Treiben mit gemischten Gefühlen. Sie trug ein fließendes Kleid in einem warmen Terracotta-Ton, dass ihre gebräunte Haut zum Leuchten brachte und ihre dunklen Augen noch geheimnisvoller wirken ließ. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, von dem einzelne Locken sanft um ihr Gesicht fielen. Sie sah aus wie eine Göttin aus einem Renaissance-Gemälde, elegant und unnahbar, aber ihre Augen verrieten die Unruhe, die in ihrem Herzen tobte.

Drei Tage waren vergangen, seit ihr Vater ihr von Alessandro Conti erzählt hatte. Drei Tage, in denen sie kaum geschlafen hatte, in denen sie zwischen Rebellion und Resignation hin- und hergerissen gewesen war. Alessandro würde morgen ankommen, und Giuseppe hatte bereits ein großes Abendessen für die ganze Familie und einige wichtige Dorfbewohner geplant. Es sollte eine Art informelle Verlobungsfeier werden, auch wenn die eigentliche Verlobung noch nicht stattgefunden hatte.

"Lucia, mia cara!"

Eine vertraute Stimme ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Signora Benedetta, die Frau des örtlichen Apothekers, kam auf sie zu, die Arme weit ausgebreitet. Sie war eine rundliche Frau in den Sechzigern, mit freundlichen Augen und einer Stimme, die so laut war, dass das halbe Dorf sie hören konnte.

"Signora Benedetta", lächelte Lucia und ließ sich umarmen. "Wie schön, Sie zu sehen."

"Madonna mia, wie erwachsen du geworden bist! Und wie schön!" Benedetta hielt sie auf Armeslänge und musterte sie von Kopf bis Fuß. "Rom hat dir wirklich gut getan. Du siehst aus wie eine echte Signora."

"Danke", murmelte Lucia und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wusste, dass die ganze Dorfgemeinschaft über ihre Zukunft spekulierte, dass jeder Blick, jedes Wort, jede Geste analysiert und interpretiert wurde.

"Und ich höre, du bekommst morgen Besuch?", fuhr Benedetta mit einem wissenden Lächeln fort. "Einen sehr wichtigen Besuch aus Florenz?"

Lucia seufzte innerlich. In einem Dorf wie San Vito gab es keine Geheimnisse. "Ja", sagte sie neutral. "Ein Freund der Familie."

"Ach, ein Freund!" Benedetta lächelte noch breiter. "Wie nett. Und ich bin sicher, er ist ein sehr... spezieller Freund?"

Bevor Lucia antworten konnte, ertönten plötzlich die Glocken der Kirche, und die Menschenmenge begann sich in Richtung Santa Maria della Vittoria zu bewegen. Es war Zeit für die traditionelle Prozession zu Ehren des Heiligen Vitalis.

"Komm, bambina", sagte Benedetta und hakte sich bei Lucia unter. "Wir wollen doch nicht die Prozession verpassen. Dein Vater ist heute einer der Träger der Heiligenstatue, nicht wahr?"

Lucia nickte und ließ sich von der Menge mitziehen. Die Prozession war einer der Höhepunkte des Festes, ein jahrhundertealtes Ritual, das alle Bewohner von San Vito vereinte. Alle Bewohner? Lucia blickte über die Menge und bemerkte mit einem Stich im Herzen, dass sie keine Mitglieder der Familie Moretti sehen konnte. Auch sie gehörten zu diesem Dorf, auch sie verehrten den Heiligen Vitalis, aber die alte Fehde hielt sie fern von den gemeinsamen Feiern.

Die Kirche Santa Maria della Vittoria war ein Juwel der Barockarchitektur, ihre Fassade strahlte golden in der Nachmittagssonne. Die schweren Holztüren standen weit offen, und der Duft von Weihrauch und brennenden Kerzen strömte heraus. Im Inneren war es kühl und dämmrig, die hohen Gewölbe waren von tanzenden Schatten erfüllt, die die flackernden Kerzen an den Wände warfen.

Lucia fand einen Platz in einer der hinteren Bänke und beobachtete, wie sich die Kirche füllte. Fast das ganze Dorf war gekommen, gekleidet in ihre besten Anzüge und Kleider, die Gesichter ernst und andächtig. Padre Francesco, der alte Priester, stand vor dem Altar und bereitete sich auf die Zeremonie vor. Seine Stimme, tief und resonant, begann die lateinischen Gebete zu intonieren, die Lucia aus ihrer Kindheit kannte.

Als die Zeit für die Prozession kam, hoben sechs Männer des Dorfes die schwere Statue des Heiligen Vitalis auf ihre Schultern. Giuseppe Bellini war einer von ihnen, sein Gesicht konzentriert und stolz. Die Statue war ein Kunstwerk aus vergoldetem Holz und echten Edelsteinen, ein Schatz, der seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Die Prozession bewegte sich langsam aus der Kirche hinaus, angeführt von Padre Francesco in seinem weißen Gewand. Die Dorfbewohner folgten, manche beteten leise, andere sangen die alten Hymnen. Lucia ging mit der Menge, ließ sich von der feierlichen Atmosphäre tragen, aber ihre Gedanken schweiften ab.

Sie dachte an ihre Kindheit, an die Zeiten, als diese Feste noch magisch und wundervoll gewesen waren, als sie sich noch nicht der komplexen Familiengeschichte bewusst gewesen war, die ihr Leben bestimmte. Sie dachte an ihre Freundinnen in Rom, die frei waren, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre eigenen Wege zu gehen. Sie dachte an Alessandro Conti, den Mann, den sie noch nie gesehen hatte, der aber trotzdem über ihre Zukunft entscheiden sollte.

Die Prozession führte durch die engen Gassen des Dorfes, vorbei an den alten Steinhäusern mit ihren blumengeschmückten Balkonen, vorbei an den kleinen Geschäften und Cafés, wo die Besitzer in ihren Türrahmen standen und respektvoll ihre Hüte abnahmen. Schließlich erreichte sie den zentralen Platz, wo ein improvisierter Altar aufgebaut worden war.

Padre Francesco hielt eine kurze Ansprache über die Bedeutung des Heiligen Vitalis, über Gemeinschaft und Zusammenhalt, über die Wichtigkeit, alte Traditionen zu bewahren, aber auch offen für Neues zu sein. Seine Worte schienen direkt zu Lucia zu sprechen, und sie fragte sich, ob er von ihrer Situation wusste.

Nach der Zeremonie zerstreute sich die Menge wieder über den Platz. Die Stände öffneten ihre Türen, Musik ertönte, und das eigentliche Fest begann. Lucia fühlte sich plötzlich von all den Menschen und dem Lärm überwältigt. Sie brauchte Ruhe, Zeit zum Nachdenken.

Ohne jemandem etwas zu sagen, schlüpfte sie aus der Menge und machte sich auf den Weg zum Rand des Dorfes. Dort, wo die letzten Häuser in die Olivenhaine übergingen, stand eine kleine, alte Kapelle, die dem Heiligen Antonio geweiht war. Sie war schon lange nicht mehr in Gebrauch, aber Lucia hatte sie als Kind oft besucht, wenn sie einen ruhigen Platz zum Nachdenken brauchte.

Der Weg zur Kapelle führte durch einen schmalen Pfad zwischen Olivenbäumen und wilden Rosenbüschen. Die Luft war erfüllt vom Duft der Rosen und dem summen der Bienen, die von Blüte zu Blüte tanzten. Je weiter sie sich vom Dorf entfernte, desto stiller wurde es, bis nur noch das leise Rauschen des Windes in den Blättern und das ferne Echo der Festmusik zu hören waren.

Die Kapelle war klein und schlicht, aus dem gleichen honigfarbenen Stein gebaut wie die anderen alten Gebäude des Dorfes. Ihr Dach war teilweise eingestürzt, und Efeu rankte sich an den Mauern hoch, aber sie strahlte trotzdem eine friedliche, zeitlose Schönheit aus. Die schwere Holztür stand halb offen, als würde sie Besucher einladen.

Lucia zögerte einen Moment, dann trat sie ein. Das Innere der Kapelle war dämmrig und kühl, erfüllt von einem Gefühl der Stille, das tiefer ging als nur die Abwesenheit von Geräuschen. Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen, die durch die kleinen, bunten Glasfenster fielen. Ein einfacher Steinalta stand an der Stirnseite, darauf eine kleine, verwitterte Statue des Heiligen Antonio.

Lucia setzte sich auf eine der wenigen noch intakten Holzbänke und atmete tief durch. Hier, in dieser vergessenen kleinen Kapelle, fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr wirklich in Frieden. Hier konnte sie einfach nur Lucia sein, nicht die Tochter von Giuseppe Bellini, nicht die zukünftige Frau von Alessandro Conti, sondern einfach nur eine junge Frau mit Träumen und Hoffnungen und Ängsten.

Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Was wollte sie wirklich? Ein Leben der Sicherheit und Tradition, wie ihr Vater es sich für sie wünschte? Oder die Unsicherheit und Freiheit einer Karriere, die sie sich selbst aufgebaut hatte? War es möglich, beides zu haben?

Ein leises Geräusch ließ sie die Augen öffnen. Schritte auf dem Steinboden, langsam und vorsichtig. Jemand anderes war in die Kapelle gekommen.

"Scusi", sagte eine tiefe, männliche Stimme. "Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Ich wollte nicht stören."

Lucia drehte sich um und erstarrte. In der Tür stand ein Mann, der ihr den Atem raubt. Er war groß und breitschultrig, mit der athletischen Figur eines Mannes, der körperlich arbeitete. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, seine dunklen Haare leicht zerzaust, als wäre er gerade von der Arbeit in den Feldern gekommen. Aber es waren seine Augen, die sie fesselten – tiefe, braune Augen, die eine Intensität ausstrahlten, die sie bis ins Mark traf.

"Nein, Sie stören nicht", sagte sie leise, obwohl ihr Herz wie wild zu klopfen begonnen hatte. Es gab etwas an diesem Mann, etwas Vertrautes und gleichzeitig völlig Fremdes.

Er trat näher, und das Licht, das durch die bunten Fenster fiel, spielte auf seinem Gesicht. Lucia konnte sehen, dass er etwa in ihrem Alter war, vielleicht ein paar Jahre älter. Seine Züge waren markant und männlich, mit einer geraden Nase und einem entschlossenen Kinn. An seinen Händen klebte noch Erde, und seine Kleidung verriet, dass er auf dem Land arbeitete.

"Ich kenne Sie", sagte er langsam, und seine Stimme hatte einen leichten Akzent, der nicht ganz italienisch klang. "Sie sind... Sie sind aus dem Dorf, nicht wahr?"

"Ja", antwortete Lucia, und ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren. "Ich bin... ich bin hier aufgewachsen."

Er nickte und trat noch einen Schritt näher. "Es ist schön hier, nicht wahr? Friedlich. Ein Ort, an dem man nachdenken kann."

"Ja", stimmte sie zu. "Ich komme hierher, wenn ich..." Sie stockte. Warum erzählte sie einem Fremden von ihren Problemen?

"Wenn Sie der Welt entfliehen wollen?", vollendete er sanft, und in seinem Lächeln lag ein Verständnis, das sie überraschte.

Lucia nickte, unfähig zu sprechen. Es war, als könnte dieser Mann in ihre Seele blicken, als verstünde er genau, was sie fühlte, ohne dass sie es aussprechen musste.

"Ich heiße Marco", sagte er und streckte seine Hand aus.

"Lucia", antwortete sie automatisch und ergriff seine Hand. Der Kontakt war wie ein elektrischer Schlag, der durch ihren ganzen Körper fuhr. Seine Hand war warm und stark, die Haut rau von der Arbeit, aber sein Griff war sanft.

Marco. Der Name hallte in ihrem Kopf wider, und plötzlich fiel der Groschen. Marco. Marco Moretti. Der Mann, vor dem Maria sie gewarnt hatte, der Neffe des toten Antonio, der Sohn ihres Familienfeindes.

Sie hätte ihre Hand zurückziehen sollen, hätte gehen sollen, hätte schreien sollen. Stattdessen blieb sie wie erstarrt stehen und sah in seine Augen, die sie mit einer Intensität anblickten, die sie noch nie zuvor erlebt hatte.

"Lucia", wiederholte er ihren Namen, als würde er ihn kosten. "Lucia Bellini."

Es war keine Frage. Er wusste, wer sie war. Trotzdem hielt er ihre Hand fest, trotzdem sah er sie an, als wäre sie die schönste Frau der Welt.

"Sie wissen, wer ich bin", flüsterte sie.

"Ja", sagte er einfach. "Und Sie wissen, wer ich bin."

"Ja."

Sie standen sich gegenüber in der stillen Kapelle, ihre Hände noch immer ineinander verschlungen, und zwischen ihnen knisterte eine Spannung, die nichts mit Feindschaft zu tun hatte. Es war etwas anderes, etwas Gefährlicheres, etwas Wundervolleres.

"Wir sollten nicht hier sein", sagte Lucia schließlich, aber sie machte keine Anstalten zu gehen.

"Nein", stimmte Marco zu. "Wir sollten nicht."

Aber keiner von ihnen bewegte sich. Die Zeit schien stillzustehen in dieser kleinen, vergessenen Kapelle, wo die Schatten länger wurden und die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte.

"Warum sind Sie hier?", fragte Lucia leise.

Marco zögerte einen Moment, dann antwortete er ehrlich. "Ich wollte dem Fest entgehen. Meine Familie... wir sind dort nicht willkommen."

"Das ist nicht wahr", widersprach Lucia impulsiv. "San Vito ist Ihr Zuhause genauso wie meines."

"Ist es das?" Marco lächelte traurig. "Manchmal bin ich mir nicht sicher. Manchmal fühle es sich an, als wäre ich ein Fremder in meinem eigenen Dorf."

Lucia spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. In seiner Stimme lag ein Schmerz, den sie zu gut verstand. "Ich kenne dieses Gefühl", gestand sie.

"Wirklich?" Er sah sie überrascht an. "Aber Sie sind eine Bellini. Sie gehören hierher."

"Gehöre ich das?", fragte Lucia und lachte bitter. "Manchmal frage ich mich, ob ich irgendwo hingehöre. Ich bin zu modern für meine Familie, zu traditionell für die Außenwelt. Ich stehe zwischen allen Stühlen."

Marco studierte ihr Gesicht, und sie konnte sehen, wie sich sein Ausdruck veränderte. Die anfängliche Vorsicht wich einem wachsenden Verständnis, einer Verbindung, die beide überraschte.

"Erzählen Sie mir von Rom", sagte er plötzlich. "Wie war es dort?"

"Wie wissen Sie von Rom?"

"In einem Dorf wie San Vito gibt es keine Geheimnisse", antwortete er mit einem schiefen Lächeln. "Jeder weiß, dass Giuseppe Bellinis Tochter in der großen Stadt studiert hat."

Lucia setzte sich wieder auf die Bank, und nach einem Moment der Zögerung setzte sich Marco neben sie. Der Abstand zwischen ihnen war respektvoll, aber sie konnte seine Wärme spüren, konnte den Duft von Olivenöl und Erde und etwas undefinierbarem Männlichem riechen, der ihn umgab.

"Rom war... befreiend", sagte sie schließlich. "Dort konnte ich sein, wer ich wirklich bin, nicht wer meine Familie möchte, dass ich bin."

"Und wer sind Sie wirklich?"

Die Frage war so direkt, so intim, dass Lucia einen Moment lang nicht antworten konnte. Niemand hatte sie das jemals gefragt. Niemand hatte sich dafür interessiert, wer sie jenseits ihrer Rolle als Tochter, als Erbin, als zukünftige Ehefrau war.

"Ich bin jemand, der die Vergangenheit liebt", sagte sie schließlich. "Jemand, der in alten Steinen Geschichten lesen kann, der glaubt, dass wir nur dann verstehen können, wer wir sind, wenn wir verstehen, woher wir kommen."

Marco nickte langsam. "Archäologie."

"Sie wissen auch davon?"

"Ich höre zu, wenn die Menschen reden", sagte er einfach. "Und Sie... Sie sind ein interessantes Gesprächsthema."

Lucia errötete. "Was sagen die Leute denn über mich?"

"Dass Sie schön sind. Dass Sie intelligent sind. Dass Sie zu gut für einen einfachen Mann aus San Vito sind."

"Das ist nicht wahr", protestierte Lucia heftig. "Ich bin nicht besser als jeder andere hier."

"Nein?", fragte Marco und sah sie mit einem intensiven Blick an. "Sie haben die Welt gesehen, haben studiert, haben Träume jenseits dieser Hügel. Das macht Sie sehr besonders."

"Und was ist mit Ihnen?", fragte Lucia zurück. "Ich habe gehört, dass Sie in Amerika waren. Das macht Sie genauso besonders."

Marco lachte, aber es klang nicht fröhlich. "Acht Jahre in Kalifornien. Acht Jahre, in denen ich versucht habe, zu vergessen, wer ich bin, woher ich komme. Aber das Land ruft einen zurück, nicht wahr? Die Wurzeln sind zu tief."

"Warum sind Sie zurückgekommen?"

Marco war lange still, und Lucia dachte schon, er würde nicht antworten. Dann sagte er leise: "Wegen der Wahrheit. Es gibt Dinge, die nicht begraben bleiben sollten. Geheimnisse, die ans Licht müssen."

Lucia spürte eine Kälte trotz der warmen Luft. "Welche Geheimnisse?"

Marco drehte sich zu ihr um, und in seinen Augen lag ein Schmerz, der so tief war, dass es ihr den Atem nahm. "Ihr Onkel Antonio", flüsterte sie, bevor er antworten konnte.

Er nickte langsam. "Sie wissen davon."

"Ich weiß, dass er gestorben ist. Ich weiß, dass es... Probleme zwischen unseren Familien gegeben hat. Aber die Details..." Sie schüttelte den Kopf. "Niemand spricht darüber."

"Vielleicht ist es besser so", sagte Marco bitter. "Vielleicht sind manche Wahrheiten zu schmerzhaft."

"Nein", sagte Lucia mit einer Entschiedenheit, die sie selbst überraschte. "Geheimnisse vergiften alles. Sie verwandeln sich in Gerüchte, in Hass, in Angst. Die Wahrheit mag schmerzhaft sein, aber sie ist ehrlich."

Marco sah sie lange an, und sie konnte sehen, wie er mit sich kämpfte. "Möchten Sie wirklich die Wahrheit hören?", fragte er schließlich.

"Ja."

Er erzählte ihr alles. Von Antonios Verdacht gegen Don Massimo, von den merkwürdigen Transaktionen, von dem gefälschten Testament, von der Polizei, die weggeschaut hatte. Seine Stimme war ruhig und kontrolliert, aber Lucia konnte die Wut und den Schmerz hören, die darunter brodelten.

Als er fertig war, war Lucia blass geworden. "Mein Gott", flüsterte sie. "Mein Vater... wusste er davon?"

"Das ist die Frage, die mich nachts wach hält", antwortete Marco. "War er ein Mitwisser oder ein weiteres Opfer?"

Lucia dachte an ihren Vater, an den Mann, der sie aufgezogen hatte, der sie liebte, der nur das Beste für sie wollte. War er fähig zu einem solchen Verrat? Oder war er selbst nur ein Spielball in einem größeren, schmutzigeren Spiel gewesen?

"Ich kann es nicht glauben", sagte sie schließlich. "Mein Vater ist ein ehrlicher Mann."

„Vielleicht“ sagte Marco. "Ich hoffe es. Aber ehrliche Männer können sich in schmutzige Geschäfte verstricken lassen, wenn sie nicht aufpassen."

Sie saßen eine Weile schweigend da, beide verloren in ihren Gedanken. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Kapelle war in ein warmes, goldenes Dämmerlicht getaucht.

"Was werden Sie tun?", fragte Lucia schließlich.

"Ich weiß es nicht", gab Marco zu. "Ich wollte Antworten finden, aber je mehr ich erfahre, desto komplizierter wird alles."

"Und wenn Sie die Wahrheit finden? Was dann?"

Marco drehte sich zu ihr um, und in seinen Augen lag eine Intensität, die sie erschaudern ließ. "Dann werde ich dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht. Für Antonio. Für meine Familie. Für alle, die unter den Lügen gelitten haben."

Lucia nickte langsam. Sie verstand seinen Wunsch nach Gerechtigkeit, aber sie hatte Angst vor dem, was diese Wahrheit bedeuten könnte. Für ihre Familie. Für ihren Vater. Für sie selbst.

"Lucia", sagte Marco plötzlich, und seine Stimme war weicher geworden. "Es tut mir leid. Ich hätte Ihnen das nicht erzählen sollen. Das ist nicht Ihr Problem."

"Doch, das ist es", widersprach sie. "Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann ist es das Problem von uns allen. Die ganze Gemeinde leidet unter dieser Fehde."

Marco nickte, und plötzlich rückte er näher zu ihr. "Lucia", sagte er leise, "können ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?"

Sie nickte, obwohl ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann.

"Sind Sie glücklich? Mit dem Leben, das für Sie geplant ist?"

Die Frage traf sie wie ein Schlag. "Warum fragen Sie das?"

"Weil Sie nicht glücklich aussehen. Weil Sie hierhergekommen sind, um zu entfliehen. Weil ich in Ihren Augen die gleiche Unruhe sehe, die ich jeden Morgen in meinen eigenen Augen sehe."

Lucia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Niemand hatte sie das jemals gefragt. Niemand hatte sich dafür interessiert, ob sie glücklich war.

"Nein", flüsterte sie. "Ich bin nicht glücklich. Ich fühle mich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig."

Marco hob langsam seine Hand und strich sanft über ihre Wange. Seine Berührung war so zart, so voller Mitgefühl, dass Lucia fast aufgeschluchzt hätte.

"Das sollte nicht so sein", murmelte er. "Eine Frau wie Sie sollte frei sein, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre eigenen Träume zu leben."

"Aber ich bin eine Bellini", sagte Lucia, obwohl die Worte ihr schwer über die Lippen kamen. "Ich habe Pflichten, Verantwortungen..."

"Sie sind vor allem ein Mensch", unterbrach Marco sie sanft. "Mit dem Recht auf Glück."

Sie sahen sich in die Augen, und plötzlich war die Luft zwischen ihnen elektrisch geladen. Lucia konnte spüren, wie Marco näher rückte, konnte seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren. Ihre Lippen waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt.

"Das ist verrückt", flüsterte sie.

"Ja", stimmte Marco zu, aber er hörte nicht auf, sich ihr zu nähern. "Komplett verrückt."

"Wir können nicht..."

"Nein, können wir nicht."

Aber trotz ihrer Worte bewegten sie sich aufeinander zu, angezogen von einer Kraft, die stärker war als Vernunft, stärker als Familiengeschichte, stärker als alle Verbote und Traditionen.

Gerade als ihre Lippen sich berühren wollten, ertönte plötzlich eine Stimme von draußen.

"Lucia? Lucia, bist du da?"

Sie sprangen auseinander wie zwei Kinder, die beim Naschen erwischt worden waren. Lucia erkannte die Stimme ihres jüngeren Bruders Tommaso.

"Hier bin ich", rief sie mit zittriger Stimme und stand hastig auf.

Marco erhob sich ebenfalls, sein Gesicht war blass geworden. "Ich sollte gehen", murmelte er.

"Warten Sie", sagte Lucia impulsiv und griff nach seinem Arm. "Werden wir uns wiedersehen?"

Marco sah sie lange an, und in seinen Augen spiegelte sich der gleiche innere Kampf wider, den sie selbst fühlte. "Das sollten wir nicht", sagte er schließlich.

"Aber werden wir?"

Er seufzte tief. "Morgen Abend. Die alte Olivenpresse bei der verlassenen Mühle. Wenn Sie kommen wollen..."

"Lucia!" Tommasos Stimme war näher gekommen.

"Ich muss gehen", flüsterte Marco und bewegte sich zur Hintertür der Kapelle. "Denken Sie darüber nach, was ich Ihnen erzählt habe. Und denken Sie an morgen Abend."

Er verschwand in die Dämmerung, lautlos wie ein Schatten. Sekunden später betrat Tommaso die Kapelle.

"Da bist du ja!", sagte er erleichtert. "Papa macht sich Sorgen. Das Fest ist vorbei, und niemand wusste, wo du warst."

"Es tut mir leid", murmelte Lucia und folgte ihrem Bruder nach draußen. "Ich brauchte nur etwas Zeit für mich."

Während sie zurück zum Dorf gingen, kreisten ihre Gedanken um Marco Moretti. Um seine Berührung, um seine Worte, um die Art, wie er sie angesehen hatte. Sie wusste, dass sie nicht zu der verlassenen Mühle gehen sollte. Sie wusste, dass jede weitere Begegnung mit ihm gefährlich war.

Aber während sie durch die dunklen Gassen von San Vito ging, wusste sie bereits, dass sie hingehen würde. Morgen Abend würde sie zu der alten Olivenpresse gehen, trotz aller Vernunft, trotz aller Warnung, trotz allem, was auf dem Spiel stand.

Das Schicksal hatte sie in der Kapelle des Heiligen Antonio zusammengeführt, und jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Geschichte, die vor fünfundzwanzig Jahren mit Antonios Tod begonnen hatte, war dabei, ein neues Kapitel zu schreiben.

Und dieses Kapitel würde mit der verbotenen Liebe zwischen einer Bellini und einem Moretti beginnen.

KAPITEL 4

Verbotene Sehnsucht

~ ◆ ~

Lucia lag in ihrem Bett und starrte an die Decke, während die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Spalten der Jalousien fielen und goldene Streifen auf die weißen Wände malten. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Marcos Gesicht vor sich – seine intensiven braunen Augen, die Art, wie er sie angesehen hatte, als könnte er direkt in ihre Seele blicken, die sanfte Berührung seiner rauen Hand auf ihrer Wange.

Ihre Fingerspitzen wanderten zu der Stelle, wo er sie berührt hatte, und sie konnte noch immer die Wärme seiner Haut spüren. Es war verrückt. Sie kannte diesen Mann kaum, und doch fühlte sie sich zu ihm hingezogen wie ein Falter zum Licht. Ein gefährliches Licht, das sie verbrennen könnte.

Ein leises Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihren Gedanken.

"Lucia, mia cara?" Nonna Rosas warme Stimme drang durch das Holz. "Darf ich hereinkommen?"

"Natürlich, Nonna."

Rosa trat ein, ein Tablett mit dampfendem Espresso und frischen Cornetti in den Händen. Sie betrachtete ihre Enkelin mit den scharfen Augen einer Frau, die achtzig Jahre Leben hinter sich hatte und nicht leicht zu täuschen war.

"Du siehst müde aus, bambina", sagte sie und stellte das Tablett auf den Nachttisch. "Hast du schlecht geschlafen?"

Lucia setzte sich auf und nahm dankbar die warme Tasse entgegen. "Ich hatte viel zu durchdenken", gab sie zu.

Rosa setzte sich auf die Bettkante und musterte sie aufmerksam. "Etwas beschäftigt dich. Ich sehe es in deinen Augen. Die gleiche Unruhe, die deine Mutter hatte, wenn sie verliebt war."

"Nonna!" Lucia verschluckte sich fast an ihrem Kaffee.

"Was? Denkst du, ich bin zu alt, um so etwas zu erkennen?" Rosa lächelte verschmitzt. "Ich war auch einmal jung, weißt du. Und ich habe drei Töchter großgezogen. Ich kenne die Zeichen."

Lucia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. "Es ist nicht so einfach, Nonna."

"Die Liebe ist nie einfach, cara mia. Aber sie ist das Schönste, was das Leben zu bieten hat." Rosa griff nach Lucias Hand. "Erzähl mir davon."

Lucia zögerte. Konnte sie ihrer Großmutter die Wahrheit sagen? Konnte sie ihr erzählen, dass sie sich zu einem Moretti hingezogen fühlte, zu einem Mann aus der Familie, die ihr Vater als Feinde betrachtete?

"Es ist kompliziert", sagte sie schließlich.

"Die besten Dinge im Leben sind immer kompliziert", antwortete Rosa weise. "Einfach ist nur das Mittelmäßige."

Bevor Lucia antworten konnte, hörten sie Schritte im Flur und Giuseppes Stimme, die mit jemandem sprach. Rosa erhob sich und ging zum Fenster.

"Madonna mia", murmelte sie. "Es ist noch früh am Morgen, und schon kommen Besucher."

Lucia sprang aus dem Bett und trat neben ihre Großmutter. Unten im Hof parkte ein eleganter, silberner Sportwagen, und ein gut gekleideter Mann stieg gerade aus. Er war groß und schlank, mit perfekt gestyltem braunem Haar und einem Gesicht, das aussah, als gehörte es in ein Magazin für Herrenmoden.