Archiv des Verbrechens Band 5 - Danilo Sieren - E-Book

Archiv des Verbrechens Band 5 E-Book

Danilo Sieren

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Beschreibung

ARCHIV DES VERBRECHENS – BAND 5 LETZTE WAHRHEIT DAS FINALE** Ein entfesselter Killer. Ein Ermittlerduo am Abgrund. Und eine Stadt, die den Atem anhält. Im fünften und finalen Band der Reihe Archiv des Verbrechens gerät Dresden in den dunkelsten Albtraum seiner jüngsten Geschichte. Ein brutaler Doppelmörder bricht aus der JVA aus – präzise, kalt und mit einer Geduld, die jeden Schritt kalkuliert. Was folgt, ist kein gewöhnlicher Gefängnisausbruch, sondern der Auftakt zu einer gnadenlosen Jagd, die sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt frisst. Hauptkommissar Jens Thomsen und die analytisch brillante Lara Bergmann stehen vor ihrem gefährlichsten Gegner: Ein Mann ohne Reue, ohne Empathie – aber mit einem Plan, der Jahre gereift ist. Jeder Tatort ist eine Botschaft. Jede Leiche ein Puzzleteil. Jede Stunde bringt neue Opfer. Und als die Gewalt eskaliert, erkennen die Ermittler, dass sie nicht nur einen Mörder jagen. Sie jagen einen Mann, der sie längst studiert hat. Während Dresden im Ausnahmezustand versinkt und das Land gebannt zusieht, entwickelt sich ein perfides Katz-und-Maus-Spiel. Marko Stein – kalt, methodisch und tödlich – kennt jede Routine der Ermittler, jede Schwäche, jede Emotion. Sein Ziel: absolute Kontrolle. Sein Werkzeug: Angst. Doch Thomsen und Bergmann geben nicht auf. Sie graben tief in die Vergangenheit des Killers – und stoßen auf ein Netz aus Gewalt, psychischer Zerstörung und latenter Intelligenz. Ein Muster, das nur eine einzige Wahrheit zulässt: Dieser Fall endet nicht mit einer Festnahme. Er endet mit einem Krieg. Als die Jagd in einer verlassenen Fabrik eskaliert und Leben auf dem Spiel stehen, kämpfen die Ermittler nicht mehr für die Stadt – sondern um ihre eigenen Seelen. Der Showdown ist explosiv, emotional und erschütternd bis zur letzten Seite. Und selbst danach bleibt die Frage offen: Kann man einen Schatten wirklich einsperren?

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Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2025

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ARCHIV DES

VERBRECHENS

Band 5

Letzte Wahrheit

DAS FINALE

Danilo Sieren

1

Copyright © 2024 Danilo Sieren

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Erste Auflage 2024

Württembergerstr. 44

44339 Dortmund, Deutschland

2

Am Ende bleibt nur die Wahrheit –

und die Frage, ob wir bereit sind,

sie zu ertragen.

3

Vorwort 6

Kapitel 1 7

Schatten über Dresden

7

Kapitel 2 38

Perfekte Kontrolle

38

Kapitel 3 61

Zwischen Akten und Atemzügen

61

Kapitel 4 115

Tödliche Tiefen

115

Kapitel 5 145

Blutiges Pflaster der Speicherstadt

145

Kapitel 6 161

Nachhall der Gewalt

161

Kapitel 7 178

Tödliche Loyalität

178

Kapitel 8 202

Stille Zeche

202

Kapitel 9 225

Spiel der Kontrolle

225

Kapitel 10 264

Endspiel am See

264

Kapitel 11 286

Impressum

286

4

5

Vorwort

Zur Serie Archiv des Verbrechens

Verbrechen hinterlassen Spuren.

Manche sind sichtbar. Andere vergraben sich tief in Systemen, Beziehungen

und Erinnerungen.

Im Zentrum der Ermittlungen steht ein Kommissar im aktiven Dienst. Er kennt die Regeln und weiß, wann man sie brechen muss. Mit scharfem Verstand und einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Ungerechtigkeit geht er Spuren nach, die andere längst aufgegeben haben.

Und seine Kollegin aus der IT-Analyse, ist die stille Kraft im Hintergrund. Sie sieht, was andere übersehen: digitale Muster, versteckte Verbindungen, die Sprache der Daten. Gemeinsam bilden sie ein Team, das sich nicht mit der Oberfläche zufriedengibt.

Jeder Band ist ein Archiv.

Jeder Fall ein Eintrag.

Und jede Wahrheit ein Risiko.

6

Kapitel 1

Schatten über Dresden

Die Nacht über Dresden lag wie ein drückender Mantel aus Dunkelheit und

Schwüle. Der Sommer hatte sich aufgeheizt, und nun stand ein Gewitter über der Stadt, das seit Stunden nicht losbrechen wollte. Ein fernes Grollen rollte über die Elbwiesen, als die Lichter der Justizvollzugsanstalt Dresden-Klotzsche matt durch die feuchte Luft schimmerten.

Drinnen, hinter hohen Mauern und Stacheldraht, lag eine Welt aus Beton, Eisen und ständiger Anspannung. Wärter patrouillierten durch die langen, kahlen Gänge, während in den Zellen die Männer unruhig schliefen oder wach auf ihre Decken starrten. Unter ihnen: Martin Kessler. Dreißig Jahre alt. Verurteilt zu lebenslanger Haft wegen zweifachen Mordes. Ein Name, der in den Polizeiakten rot markiert war, ein Gesicht, das sich in die Erinnerung jedes Ermittlers eingebrannt hatte.

Seine Zelle, Nummer 314, wirkte unscheinbar. Ein Bett, ein Tisch, eine Toilette, eine kleine Luke im Türblatt. Doch in dieser Nacht hatte sich aus dem unscheinbaren Raum eine Werkstatt der Vorbereitung verwandelt. Wochenlang hatte Kessler geplant, jeden Schritt kalkuliert, jeden Handgriff geübt. Geduld war seine größte Waffe. Er sprach wenig, zeigte kaum Regung, aber in seinen Augen lag die starre Kälte eines Mannes, der keine Grenzen kannte.

Um kurz nach zwei Uhr begann sein Plan. Der diensthabende Aufseher, ein älterer Beamter, routiniert, doch müde vom Nachtdienst, öffnete die Luke in der Zellentür, um den Kontrollgang abzuschließen. In dem kurzen Moment, als er sich vorbeugte, schnellte Kessler vor. Mit einer improvisierten Waffe einer Zahnbürste, in deren Griff er Rasierklingen eingeschmolzen hatte stach er zu. Der Laut, der den

7

Wärter entfuhr, war kaum mehr als ein ersticktes Keuchen, dann spritzte dunkles Blut gegen die graue Zellenwand.

Kessler hielt ihn fest, bis der Körper schlaff wurde, dann zog er ihn in die Zelle, entkleidete ihn teilweise und schlüpfte in die Uniform. Minuten später bewegte er sich mit ruhigen Schritten durch den Gang, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Niemand achtete auf ihn. Niemand stellte Fragen. In der Zentrale hatte man gerade mit einer Fehlfunktion der Überwachungskameras zu kämpfen ein Defekt, den Kessler über Wochen vorbereitet hatte, indem er über Mittelsmänner kleine technische Sabotagen anregen ließ.

Die Flucht führte ihn durch den Versorgungstrakt, hinunter in den Keller, wo Rohre knarrten, und Neonlicht flackerte. Dort gab es einen vergessenen Wartungstunnel, den er bei einem Arbeitseinsatz entdeckt hatte. Er hatte sich den Plan in Gedanken eingeprägt, jeden Winkel, jede Biegung. Der Tunnel führte hinaus zu einem alten Nebengebäude, dessen Tür nur mit einem rostigen Schloss gesichert war. Ein kurzer Schlag mit dem beschafften Schraubenschlüssel und das Schloss sprang.

Als draußen die Sirenen ansprangen, war Kessler bereits verschwunden. Im Schatten des Gewitters lief er durch den Wald, barfuß, die Uniformbluse voller Blut, das Gesicht starr wie Stein. Regen setzte ein, prasselte kalt auf die Blätter, doch er spürte nichts. Jeder Schritt war kalkuliert, jeder Atemzug bewusst. Er war nicht auf der Flucht er war auf der Jagd.

Dresden ahnte noch nicht, dass die Stadt in dieser Nacht ihren Frieden verloren hatte.

Das erste Licht des Tages kroch über die Elbwiesen, färbte den Himmel in fahle Streifen aus Grau und blassem Blau. Doch für Dresden brachte dieser Morgen keine Ruhe, sondern Panik. Sirenen heulten in der Ferne, Polizeiwagen rasten durch die Straßen, und die Radiosender unterbrachen ihr Programm mit einer Eilmeldung:

8

„Gefängnisausbruch in Dresden-Klotzsche. Martin Kessler, dreißig Jahre alt, zweifacher Mörder, gilt als hochgefährlich. Die Bevölkerung wird gebeten, in den Häusern zu bleiben und verdächtige Beobachtungen sofort der Polizei zu melden.“

Vor dem Gefängnis drängten sich bereits Reporter, Kameras klickten, Mikrofone reckten sich den Beamten entgegen, die hektisch Absperrgitter aufstellten. Der Geruch von nassem Asphalt hing in der Luft, vermischt mit der elektrischen Spannung eines Morgens, an dem niemand wusste, was passieren würde.

Hauptkommissar Jens Thomsen trat aus seinem Wagen, eine Zigarette zwischen den Lippen. Sein Gesicht war kantig, markant, gezeichnet von Jahren im Dienst. Unter den Augen lagen tiefe Schatten, die man nicht allein mit Müdigkeit erklären konnte. Er war ein Mann, den man auf den ersten Blick für mürrisch hielt, doch wer ihn kannte, wusste, dass hinter der rauen Schale ein scharfer Verstand arbeitete.

Neben ihm stieg Kommissarin Lara Bergmann aus. Dreißig, schlank, mit klaren Zügen und einer Energie, die selbst in dieser gedrückten Atmosphäre spürbar war. Sie war erst seit wenigen Monaten aus Leipzig nach Dresden versetzt worden. Für viele Kollegen noch die „Neue“, aber bereits jetzt jemand, den man ernst nahm. Ihre Akten waren makellos, ihre Erfolgsquote hoch. Sie hatte ein Talent, das Unausgesprochene zu hören, das Verborgene zu sehen.

„Kessler“, murmelte Thomsen, als er die Zigarette anzündete. „Verdammt, warum musste es der sein?“

Bergmann sah ihn an, während sie sich die Jacke enger um die Schultern zog. „Weil Männer wie er nie in Mauern bleiben. Früher oder später finden sie einen Weg.“ „Früher, später spielt keine Rolle. Wir müssen ihn finden, bevor er Blut vergießt.“

Sie gingen durch die Absperrung, vorbei an uniformierten Kollegen, die mit Funkgeräten kommunizierten. Drinnen herrschte Chaos. Wärter redeten durcheinander, Notfallpläne wurden aus den Schränken gezogen, Karten ausgebreitet. In der Zentrale, ein Raum voller Monitore, flackerten die Bilder der Überwachungskameras. Doch die entscheidenden Minuten fehlten schwarze Bildschirme, Störungen.

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„Er hat das vorbereitet“, stellte Bergmann fest, als sie die Aufnahmen durchsah. „Das ist kein spontaner Ausbruch. Jemand hat die Kameras manipuliert.“ „Oder er selbst“, brummte Thomsen. „Kessler ist kein Idiot. Der hat Geduld. Drei Jahre hat er gewartet, bis er eine Lücke fand.“

Der Gefängnisdirektor, ein Mann in zu engem Anzug, trat zu ihnen. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, die Hände zitterten leicht. „Wir… wir haben sofort Alarm ausgelöst, aber… es war zu spät. Er war einfach weg.“

„Einfach weg?“ Thomsen zog die Augenbraue hoch. „Ein Mann wie Kessler verschwindet nicht einfach. Irgendwer hat geschlafen.“

„Wir prüfen alle Schichten. Aber Sie müssen verstehen. „Ich muss gar nichts verstehen“, unterbrach ihn Thomsen. „Ich muss diesen Bastard finden, bevor er sein nächstes Opfer auswählt.“

Bergmann legte ihm die Hand auf den Arm, eine kleine Geste, um ihn zu bremsen. „Wir brauchen Fakten. Welche Kontakte hatte Kessler im Gefängnis? Besuche? Briefe? Jemand, der ihm geholfen haben könnte?“ Der Direktor nickte hastig. „Ich lasse die Akten sofort bringen.“

Sie gingen hinaus in den Hof, wo noch immer Regen in Pfützen tropfte. Überall Blaulichter, Stimmen, das Knacken von Funkgeräten. Für einen Moment blieb Thomsen stehen, zog tief an seiner Zigarette und blies den Rauch in die nasse Luft.

„Weißt du, Lara“, sagte er leise, „ich habe seine Akte gelesen, damals, als er geschnappt wurde. Zwei Frauen, beide kaum dreißig, grausam ermordet. Er hat ihnen nicht nur das Leben genommen er hat gespielt, bis zum letzten Moment. Wir haben nie herausgefunden, wie viele es wirklich waren. Und jetzt ist er frei.“ Bergmanns Blick war hart. „Dann ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass niemand mehr stirbt.“

Eine Sirene heulte auf. Ein Streifenwagen raste aus dem Tor, gefolgt von zwei weiteren. Ein Funkspruch knisterte über das Radio im Hof: „Mögliche Sichtung an der Straßenbahnhaltestelle in Kaditz. Verdächtiger Mann, blutverschmierte Kleidung.“

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Thomsen warf die Zigarette in die Pfütze. „Los geht’s.“

Der Wagen jagte durch die noch leeren Straßen Dresdens, vorbei an den Elbwiesen, an grauen Plattenbauten, an Straßenzügen, die im Regen glänzten. Bergmann saß auf dem Beifahrersitz, das Funkgerät in der Hand. Sie hörte die Meldungen, die durcheinander hereinkamen: Sichtungen, Panikmeldungen, falsche Alarme.

„Wenn er wirklich in Kaditz war, ist er längst weiter“, sagte sie. „Vielleicht“, erwiderte Thomsen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Aber Männer wie Kessler sind berechenbar in ihrer Unberechenbarkeit. Sie hinterlassen Spuren, selbst wenn sie keine wollen.“

Als sie die Haltestelle erreichten, war die Szene bereits gesichert. Zwei Streifenwagen blockierten den Platz, uniformierte Beamte befragten eine Frau, die zitternd unter einem Regenschirm stand.

„Da! Er stand genau da, am Automaten!“, rief sie, als sie die Ermittler sah. „Blut an der Kleidung, er sah mich an, so… so kalt. Dann ist er in die Richtung gelaufen.“ „Welche Richtung?“ fragte Bergmann ruhig.

Die Frau zeigte mit dem Finger auf eine Seitenstraße.

Sie folgten der Spur, begleitet von zwei Beamten. Der Regen hatte die Pflastersteine dunkel gefärbt, die Luft war schwer und feucht. Ein paar Tropfen rotes Blut zeichneten sich schwach auf dem Gehweg ab, dann verschwanden sie im Rinnstein.

„Frisch“, stellte Bergmann fest, als sie sich über eine Spur beugte. „Aber nicht frisch genug“, knurrte Thomsen. „Er hat Vorsprung.“

Sie liefen weiter, durch enge Gassen, vorbei an geschlossenen Läden und einer verlassenen Tankstelle. Alles wirkte gespenstisch still. Nur das entfernte Donnern des Gewitters und das Tropfen des Regens waren zu hören.

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Dann, plötzlich, ein Schrei. Kurz, gellend, verstummte sofort wieder. Die Ermittler zogen ihre Waffen, rannten um die nächste Ecke und fanden nur eine aufgerissene Mülltonne, daneben eine Katze, die fauchend in die Dunkelheit verschwand.

Bergmann atmete tief aus. „Er spielt mit uns, Jens. Auch wenn er nicht hier war er weiß, wie wir denken. Er führt uns an der Nase herum.“ Thomsen sah in die Dunkelheit. „Dann drehen wir den Spieß um.“

Die Sonne stieg langsam über die Dächer, doch Dresden war ein belagerter Ort geworden. Überall Polizeikontrollen, Straßensperren, Durchsuchungen. Menschen eilten hastig zur Arbeit, sahen sich nervös um, als könnte aus jeder Ecke ein Schatten hervortreten.

Im Polizeipräsidium wurde ein Sonderstab eingerichtet. Karten von Dresden hingen an den Wänden, markiert mit Stecknadeln, die mögliche Sichtungen anzeigten. Telefone klingelten ununterbrochen. Die Medien drängten auf Informationen, Politiker verlangten schnelle Ergebnisse.

Thomsen und Bergmann saßen vor den Akten, die man ihnen gebracht hatte. Kesslers Gefängnisaufzeichnungen. Besuchslisten. Briefe. Kontakte.

„Keine Familie, keine Freunde“, murmelte Bergmann. „Aber ein paar Namen tauchen immer wieder auf. Leute aus der Dresdner Unterwelt. Ein alter Waffenhändler, ein Dealer, ein Zuhälter.“

Thomsen nickte langsam. „Dann wissen wir, wo wir anfangen müssen.“

Er klappte die Akte zu, stand auf und zog seine Jacke an. „Wenn Kessler frei ist, sucht er nicht nur ein Versteck. Er sucht alte Rechnungen. Und irgendjemand in dieser Stadt steht ganz oben auf seiner Liste.“

Im Besprechungsraum des Polizeipräsidiums herrschte eine drückende Stille. Auf dem Tisch lagen die Akten wie ein dunkler Berg aus Papier, daneben Fotos: blasse

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Gesichter, Leichenaufnahmen, Tatorte. Kesslers Handschrift war überall dieselbe kalt, präzise, grausam.

Hauptkommissar Jens Thomsen lehnte sich im Stuhl zurück, die Stirn in Falten gelegt, während er ein vergilbtes Foto betrachtete. Es zeigte eine Frau, etwa Ende zwanzig, das Gesicht eingefroren in einem Moment panischer Angst. Das war Kesslers erstes bekanntes Opfer. Thomsen erinnerte sich an den Tag, als er damals am Tatort stand: eine leerstehende Fabrikhalle am Rande von Dresden, Betonwände voller Graffiti, eine Leiche, die wie eine weggeworfene Puppe in der Ecke lag.

„Wenn man ihn einmal gesehen hat, vergisst man ihn nie“, murmelte Thomsen. Lara Bergmann sah ihn an, die Hände verschränkt, die Augen scharf. „Und genau deshalb müssen wir verstehen, wie er denkt. Nur dann können wir ihn stoppen.“

Sie zog einen Stapel Briefe hervor. „Hier. Das hat er im Gefängnis geschrieben. Keine offenen Drohungen, aber unterschwellige Botschaften. Rätselhafte Sätze wie ‚Die Stadt vergisst nicht, was sie mir genommen hat‘ oder ‚Alte Schulden fordern ihren Preis‘.“

„Klingt nach einem Mann, der seine Rachepläne längst geschrieben hat“, sagte Thomsen.

Bergmann nickte. „Ich will tiefer. Seine Kindheit, seine Jugend. Alles, was ihn geformt hat.“

„Das ist kein Psychologie-Seminar, Lara“, knurrte Thomsen. „Der Typ ist ein Mörder. Punkt.“

„Nein“, entgegnete sie leise, „er ist ein Muster. Und Muster lassen sich lesen.“

Sommer 1995, ein kleines Dorf irgendwo in Sachsen. Martin Kessler war zehn Jahre alt, ein schmächtiger Junge mit stechenden Augen. Sein Vater, ein grobschlächtiger Bauarbeiter, trank von morgens bis abends. Die Mutter war still, eine graue Gestalt, die alles ertrug, ohne je zu widersprechen.

Martin wuchs in einem Haus auf, das nach Bier, kaltem Rauch und Schimmel roch. Wenn der Vater wütend war, griff er zum Gürtel. Die Striemen auf dem Rücken

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des Jungen waren Narben, die niemand sah. In der Schule sprach er kaum, hielt sich abseits, beobachtete. Seine Lehrer beschrieben ihn als „still, aber seltsam“.

Eines Nachmittags fand man hinter der Scheune des Kessler-Hauses den toten Körper einer Katze. Die Nachbarn tuschelten, doch niemand konnte etwas beweisen. Martin stand dabei, die Hände in den Taschen, und sah mit unbewegtem Gesicht auf das kleine Tier. Später würde man in psychiatrischen Gutachten genau diesen Moment zitieren: die erste bekannte Spur seiner Grausamkeit.

Bergmann blätterte durch die Akten. „Er war schon als Kind auffällig. Tierquälerei, Aggressionen, völlige Gefühllosigkeit. Später Einbrüche, kleinere Diebstähle. Immer kalt, immer berechnend.“

Thomsen rieb sich die Schläfen. „Und niemand hat etwas unternommen.“ „Man hat’s versucht“, erwiderte sie. „Jugendamt, Sozialarbeiter, Heime. Aber Kessler war immer einen Schritt voraus. Charmant, wenn er es sein musste, schweigsam, wenn er nichts preisgeben wollte.“

Sie legte ein weiteres Foto auf den Tisch ein Klassenfoto aus den frühen 2000ern. Dutzende Jugendliche lächelten in die Kamera. Nur einer nicht: Martin Kessler. Sein Blick war starr, fast feindselig.

„Ich habe schon viele Täter gesehen“, sagte Bergmann leise. „Aber bei ihm… da ist etwas anderes. Keine Impulstat, keine Kurzschlusshandlung. Er ist methodisch. Für ihn ist Töten ein Prozess, ein Ritual.“

Thomsen zog an seiner Zigarette, obwohl es im Raum eigentlich verboten war. „Dann wird er wieder zuschlagen. Und bald.“

Herbst 2012. Martin Kessler war 17, ein Jugendlicher ohne Perspektive, aber mit einer gefährlichen Fantasie. In einer heruntergekommenen Halle am Stadtrand traf er ein Mädchen aus der Schule, das ihn eigentlich nur trösten wollte. Sie lachte über etwas Belangloses, und in diesem Moment spürte er etwas, das er nicht benennen konnte: Wut, Macht, Lust.

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Er packte sie, stieß sie zu Boden, drückte seine Hände um ihren Hals. Die Sekunden dehnten sich, ihr Strampeln wurde schwächer, bis sie still lag. Danach saß er minutenlang neben ihr, atmete ruhig, fast zufrieden. Es war, als hätte er etwas entdeckt, das in ihm schon immer geschlummert hatte.

Die Polizei schrieb den Fall als Unfall ab ein Sturz, ein tragischer Zwischenfall. Niemand ahnte, dass Dresden in diesem Moment seinen ersten Serienmörder geboren hatte.

Bergmann beugte sich über die Karte von Dresden, die an der Wand hing. „Er wird zurückgehen. Zu den Orten, die für ihn wichtig waren. Orte, die seine Identität prägen.“

„Wie die alte Fabrikhalle“, bestätigte Thomsen.

„Oder die Straßen, in denen er seine ersten Opfer gefunden hat.“

Ein Funkruf unterbrach ihre Überlegungen. „Leiche am Elbufer gefunden. Männlich, etwa vierzig Jahre alt. Kehle durchtrennt. Spuren deuten auf Fesselung hin.“

Thomsen und Bergmann wechselten einen Blick. Keine Worte waren nötig. Beide wussten: Kessler hatte sein erstes Zeichen gesetzt.

Im Gefängnis war Kessler ein Phantom. Still, beobachtend, selten in Konflikte verwickelt. Manche Mitgefangene fürchteten ihn, andere respektierten ihn. Er brauchte keine Bande, keine Freunde. Er war ein Einzelgänger und dennoch schien er immer alles über jeden zu wissen.

Seine Zelle war karg, doch in den Ritzen des Bettes fand man nach seiner Flucht kleine Kritzeleien: Figuren ohne Gesichter, Striche, die sich zu wirren Netzen verbanden. Manche Beamte sagten später, es sehe aus wie ein Plan, andere hielten es für sinnlose Kritzeleien. Doch wer genauer hinsah, erkannte darin die Karte von Dresden schemenhaft, aber erkennbar.

15

„Er hat das vorbereitet“, sagte Bergmann, als sie die Fotos der Kritzeleien betrachtete.

Thomsen nickte. „Das hier ist kein Flüchtling. Das hier ist ein Jäger.“

Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren. Streifen durchkämmten die Neustadt, Spezialeinheiten wurden an Bahnhöfen und Autobahnauffahrten postiert. Doch Kessler blieb unsichtbar. Keine Kamera, kein Zeuge, kein greifbarer Beweis. Nur die Leiche am Elbufer, ein Obdachloser, anonym, austauschbar. Aber die Handschrift war eindeutig.

Thomsen saß am Fenster des Präsidiums, sah hinaus auf die regennassen Straßen Dresdens. In seinem Kopf hämmerte die Frage: Warum jetzt? Warum dieser Mann? Was wollte Kessler damit sagen?

Bergmann trat zu ihm, reichte ihm einen Kaffee. „Weil er anfangen will“, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Das war nur der Auftakt.“

Das Dröhnen der Presselastwagen war noch in weiter Ferne, aber schon spürte man die Vibrationen im Asphalt, als Kommissar Lukas Berger und seine Kollegin Jana Winter die kleine Straße am Rand von Dresden erreichten. Die Blaulichter tauchten die Fassaden der unscheinbaren Plattenbauten in ein flackerndes Blau-Weiß, während die Anwohner hinter halbgeschlossenen Gardinen neugierig hinausspähten.

Vor ihnen stand ein fünfstöckiges Mehrfamilienhaus, dessen Eingangstür von uniformierten Beamten blockiert wurde. Absperrband flatterte im Wind, das Flattern klang wie ein unheilvolles Flüstern. Berger zog seinen Mantel enger um sich, obwohl es nicht die Kälte war, die ihn frösteln ließ, sondern das, was er drinnen erwartete.

„Opfer ist männlich, Mitte vierzig, Nachbar hat die Schreie gehört und die Polizei gerufen“, erklärte ein junger Streifenbeamter und führte die beiden Ermittler ins Innere. Der Geruch traf sie sofort eine Mischung aus Eisen, Schweiß und etwas Süßlichem, das sie beide nur zu gut kannten: frisches Blut.

16

Die Wohnungstür im dritten Stock war aufgebrochen, das Schloss hing in Fetzen. Jana Winter kniete sich sofort neben die Tür, tastete mit behandschuhten Fingern die Spuren ab. „Rohe Gewalt. Kein Werkzeug, nur pure Kraft.“

„Das passt“, murmelte Berger. Seine Miene war hart, doch in seinen Augen lag ein Schatten. Er erinnerte sich an die letzten Akten, die er gelesen hatte. Es war kein gewöhnlicher Fall, das spürte er schon jetzt.

Im Wohnzimmer lag der Tote. Das Bild war grotesk: Der Mann war auf einen Stuhl gefesselt gewesen, doch die Seile waren zerschnitten, die Hände voller Striemen. Sein Gesicht war zu einer Maske aus Schmerz und Blut geformt, die Augen weit aufgerissen. Tiefe Schnittwunden zogen sich über Brust und Arme, aber es war der Hals, der das Schlimmste verriet, fast durchtrennt, als hätte jemand einen grausamen, unvollendeten Schnitt gesetzt.

„Verdammt …“, flüsterte Jana und stand auf. „Das ist keine spontane Tat. Der hat sich Zeit genommen. Das ist Inszenierung.“

Berger trat näher, ließ den Blick über die Szenerie schweifen. Neben dem Toten lag ein zerknülltes Stück Papier, blutverschmiert. Er bückte sich, griff vorsichtig mit der Pinzette danach. Drei Worte waren erkennbar: „Ich bin frei.“

„Er ist raus“, sagte Berger tonlos. „Genau das, wovor wir gewarnt wurden.“

Die junge Ermittlerin sah ihn fragend an. „Du meinst …?“

„Ja. Es gibt nicht viele, die so arbeiten. Brutal, planvoll und mit einer Botschaft. Das ist Marko Stein. Dreißig Jahre alt, verurteilter Mörder. Vor zwei Tagen aus der JVA Torgau entkommen.“

Jana schwieg einen Moment. Sie hatte die Berichte gelesen, aber die Realität, dieses Schlachtfeld, war eine andere Dimension.

„Dann ist das hier nur der Anfang“, sagte sie schließlich leise.

17

Berger nickte, seine Kiefermuskeln arbeiteten. „Und wir müssen schneller sein als er. Sonst liegen bald noch mehr Leichen in Dresden.“

Die Spurensicherung war längst dabei, die Wohnung wie ein makabres Puzzle zu zerlegen. Überall klickten Kameras, weiße Overalls bewegten sich durch die Zimmer wie lautlose Geister. Ein beißender Geruch von Desinfektionsmittel vermischte sich mit dem metallischen Aroma des Blutes.

Dr. Rainer Köstler, der Gerichtsmediziner, richtete sich über dem Opfer auf, das er gerade begutachtet hatte. Sein Gesicht war so blass wie das Neonlicht, das durch die offene Küchentür flackerte.

„Schnittverletzungen, multiple. Todesursache wahrscheinlich Verbluten, aber die Anordnung deutet auf Folter hin. Der Täter hat den Mann gequält, systematisch, bevor er ihm die Kehle aufgeschlitzt hat.“

„Wie lange hat er gelebt?“, fragte Jana, die inzwischen Notizen in ihr kleines Lederbuch kritzelte.

„Schwer zu sagen, aber der Zustand der Wunden spricht für Stunden. Das Opfer muss bei Bewusstsein gewesen sein.“

Berger schloss kurz die Augen. Er kannte diese Handschrift. Marko Stein genoss das Leid. Er war keiner dieser Mörder, die im Affekt handelten. Nein, Stein arbeitete mit einem Plan und er brauchte Zuschauer, wenn auch nur das Opfer selbst, um seine Macht zu zelebrieren.

Ein Spurensicherer kam mit einem Plastiksäckchen. „Handy des Opfers. Lag zerstört im Badezimmer. Jemand hat es mit voller Wucht gegen die Fliesen geworfen.“

„Gibt es noch Datenreste?“, fragte Berger.

„Wir bringen es ins Labor. Vielleicht haben wir Glück.“

18

Jana stand am Fenster. „Keine Einbruchspuren am Balkon, also muss er durchs Treppenhaus gekommen sein. Aber niemand hat ihn gesehen?“

„Doch“, meldete sich eine junge Kollegin. „Die Nachbarin im zweiten Stock hat ausgesagt, sie habe schwere Schritte gehört, mitten in der Nacht. Aber sie hatte Angst, die Tür zu öffnen.“

„Gut, dann reden wir mit ihr.“

Im zweiten Stock stand Frau Renner, eine Frau Ende sechzig, zitternd im Flur, eine Wolldecke um die Schultern. Ihre Augen waren rot von Tränen und Schlaflosigkeit.

„Ich habe ihn gehört“, flüsterte sie. „Ein Mann, groß, schwer. Er ging langsam die Treppen hoch, als würde er die Zeit genießen. Es war kurz nach Mitternacht. Dann … dann hörte ich Schreie. Schreckliche Schreie.“

„Haben Sie etwas gesehen?“, fragte Jana sanft.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein … nur gehört. Aber … es war, als würde er lachen.“

Ein kalter Schauder lief den Ermittlern über den Rücken.

Marko Stein, drei Jahre zuvor

Ein Kellerraum, feucht und dunkel. Ein einzelnes Licht flackerte an der Decke, beleuchtete eine alte Matratze, auf der ein junger Mann gefesselt lag. Marko Stein stand daneben, seine Augen glitzerten im Dämmerlicht. Er sprach leise, fast freundlich, während er das Messer in der Hand drehte.

„Weißt du, was das Problem der Menschen ist?“, fragte er. „Sie glauben, Schmerz sei etwas, das man vermeiden muss. Aber Schmerz … Schmerz ist Wahrheit.“

19

Der Gefangene wimmerte, Tränen liefen über sein Gesicht. Stein kniete sich neben ihn, legte das Messer sanft auf die Haut, als würde er nur prüfen, wie scharf es war.

„Ich werde dir zeigen, wie ehrlich Schmerz sein kann.“

Der Schrei, der folgte, hallte in Stein nach wie eine Melodie, die er nie vergaß.

Berger starrte in die Dunkelheit der Wohnung. Er wusste, dass Stein nicht einfach nur geflohen war. Der Mann hatte einen Plan. Jedes Opfer war eine Botschaft, und dieser Mord war die erste Zeile einer Geschichte, die noch viele Kapitel haben würde.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, murmelte Berger. „Er wird wieder zuschlagen. Bald.“

Der Morgen graute über Dresden, doch die Stadt war alles andere als friedlich. Zeitungen warfen mit Schlagzeilen um sich, Radios meldeten im Minutentakt neue Gerüchte. „Brutaler Mörder aus JVA entflohen hat er wieder zugeschlagen?“ Der Name Marko Stein wurde geflüstert wie ein Fluch.

Im Polizeipräsidium herrschte Ausnahmezustand. An der Wand des großen Einsatzraumes hingen Fotos: Tatorte, Gefängnisakte, Gesichter von Opfern. In der Mitte prangte ein Bild von Stein, aufgenommen vor drei Jahren. Ein Mann mit kurzgeschorenen Haaren, markanten Wangenknochen, einem Blick, der leer wirkte und doch wie glühende Kohlen in die Kamera brannte.

„Wir müssen die Stadt beruhigen, bevor Panik ausbricht“, sagte Einsatzleiter Hofmann, ein gedrungener Mann mit grauem Schnauzer. „Aber wichtiger ist: Wir müssen Stein stoppen. Sofort.“

Jana Winter stand mit verschränkten Armen vor der Tafel. „Wir brauchen ein Profil. Er handelt nicht ziellos. Er will gesehen werden, er will Spuren hinterlassen. Aber er lässt nur das durchblicken, was er uns zeigen will.“

20

Berger trat hinzu. „Stein ist kein gewöhnlicher Killer. Er will Kontrolle. Über seine Opfer, über uns. Jedes Verbrechen ist ein Spiegel, in den er uns zwingt zu sehen.“

Die Stille im Raum war bedrückend. Schließlich meldete sich ein junger Beamter. „Die JVA hat inzwischen die Überwachungsvideos ausgewertet. Stein nutzte den Sturm letzte Woche. Während eines Gewitters fiel die Außenbeleuchtung kurzzeitig aus. Er hat einen Wärter überwältigt, dessen Schlüssel gestohlen und ist durch den Versorgungstrakt entkommen. Niemand bemerkte es sofort. Es war … perfekt geplant.“

Berger nickte nur. Er wusste, dass Stein während der Haft nie aufgegeben hatte. Seine Gedanken waren keine Gefängnismauern, sondern Waffen.

Rückblende JVA Torgau, Zelle 312

Stein saß auf der schmalen Pritsche, die Hände ineinander verschränkt. Er sprach nicht viel mit den anderen Häftlingen, doch er beobachtete alles. Jeden Wachwechsel, jedes Geräusch der Schlüssel, das Klirren der Stahltüren.

Ein Mithäftling, ein bulliger Mann mit Tätowierungen am Hals, hatte einmal versucht, ihn zu provozieren. Stein hatte nur gelächelt, wortlos, bis der andere von selbst zurückwich. Denn Stein war nicht impulsiv. Er war wie ein Raubtier im Käfig ruhig, bis der richtige Moment kam.

An den Nächten, in denen der Regen gegen die Gitter prasselte, malte er sich den Ausbruch aus. Nicht in Fantasien, sondern in exakten Schritten. Wer wo stand. Welche Schraube an welcher Tür fehlte. Wie lang der Weg durch die Versorgungstunnel war. Er kannte die JVA irgendwann besser als die Architekten, die sie gebaut hatten.

Und dann kam die Nacht des Gewitters. Das Dröhnen des Donners übertönte den Schrei des Wärters, den er mit einem gezielten Schlag zum Schweigen brachte. Blut

21

auf seiner Hand, Schlüsselbund im Griff, Herzschlag ruhig wie eine Maschine. Stein verschwand in der Dunkelheit, und niemand hielt ihn auf.

Zurück in Dresden, Gegenwart

„Wir haben es mit einem Mann zu tun, der Jahre Zeit hatte, diesen Moment zu planen“, sagte Berger im Besprechungsraum. „Jede Minute, die vergeht, spielt ihm in die Hände. Er wird töten, nicht, weil er muss, sondern weil er es will.“

Jana warf einen Blick auf die Karten an der Wand. „Wir müssen seine Vergangenheit durchkämmen. Familie, alte Bekannte, frühere Opfer. Er sucht Muster. Vielleicht auch Orte, die für ihn Bedeutung haben.“

Hofmann schnaubte. „Dann los. Ich will alles Bewegungsprofile, Bekannte, jede Verbindung. Und bereiten Sie eine Presseerklärung vor. Dresden darf nicht in Panik verfallen.“

Doch während draußen die Stadt erwachte, saß Marko Stein bereits in einem verlassenen Industriegebäude am Stadtrand. Seine Hände spielten mit einem Stück Draht, das er kunstvoll zu einer Schlinge bog. Seine Augen funkelten im Zwielicht.

„Sie wissen noch nicht, dass ich längst mitten unter ihnen bin“, murmelte er. „Das ist erst der Anfang.“

Das Polizeipräsidium roch nach kaltem Kaffee und Papierstapeln, die sich gefährlich auf den Schreibtischen türmten. Berger stützte sich über die Akten, die sie in der Nacht zusammengetragen hatten. Es war drei Uhr morgens, und trotzdem war das Büro voller Stimmen, Telefone klingelten im Sekundentakt.

„Stein ist kein gewöhnlicher Killer“, erklärte die Profilerin, die sie aus Leipzig hinzugezogen hatten. Dr. Miriam Keller, eine schlanke Frau mit strengem Blick, stand vor einer Wand voller Fotos. „Er ist hochgradig intelligent. Seine Grausamkeit ist nicht impulsiv, sondern ritualisiert. Seine Opfer sind Spiegelbilder seiner eigenen Machtfantasien.“

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„Und was heißt das praktisch?“, fragte Jana, die ungeduldig mit dem Stift auf den Tisch klopfte.

„Dass wir es nicht mit einem Mann auf der Flucht zu tun haben. Er rennt nicht er jagt. Jede Begegnung ist geplant, jedes Opfer ausgewählt. Er will uns vorführen.“

Berger rieb sich die Schläfen. „Wir müssen wissen, wen er als Nächstes wählt.“

Dr. Keller nickte. „Dafür müssen wir tiefer in seine Vergangenheit. Dort liegt der Schlüssel.“

Marko Stein, Kindheit, 10 Jahre alt

Ein grauer Plattenbau in Dresden-Gorbitz. Im vierten Stock schrie ein Mann, während Teller gegen die Wand flogen. Der kleine Marko kauerte im Kinderzimmer, die Hände über die Ohren gepresst. Doch er weinte nicht. Er hörte genau hin. Jeder Schlag, jedes Stöhnen seiner Mutter brannte sich in sein Gedächtnis wie ein Muster.

Später, als der Vater betrunken auf dem Sofa lag, schlich Marko in die Küche. Eine Ratte, die sich in der Mülltüte verfangen hatte, zappelte noch. Marko nahm ein Messer, betrachtete die zuckenden Glieder. Er spürte nichts keine Angst, kein Mitleid. Nur eine eigenartige Ruhe, als er die Klinge ansetzte. Der Schrei der Ratte war sein erstes Geheimnis, sein erstes Gefühl von Kontrolle.

Stein saß auf einer umgestürzten Holzkiste in der verlassenen Halle. Vor ihm lagen Zeitungsausschnitte über seine Taten. Er sammelte sie nicht, um sich zu rühmen, sondern um die Angst in den Schlagzeilen zu spüren. Dresden war in Aufruhr und er war der Dirigent.

Auf dem Tisch neben ihm lag ein Zettel mit einem Namen: Thomas Richter. Ein ehemaliger Sozialarbeiter, der vor Jahren versucht hatte, ihn im Heim „auf die richtige Bahn“ zu bringen. Für Stein war er nichts als ein Symbol von Demütigung, ein Mann, der ihm sagte, was richtig und falsch sei.

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Stein lächelte kalt. „Du bist der Nächste, Thomas. Zeit, die Vergangenheit geradezurücken.“

Er griff nach dem Draht, den er kunstvoll zu einer Schlinge geformt hatte, und überprüfte die Stabilität. Präzision war alles.

„Wir haben erste Anhaltspunkte“, meldete Jana. „Stein hatte als Jugendlicher mehrere Aufenthalte in Heimen und Betreuungseinrichtungen. Besonders auffällig: das Heim in Pirna, wo er mehrfach auffällig wurde. Damals betreut von einem gewissen Thomas Richter.“

Berger hob den Kopf. „Genau das ist sein nächstes Ziel.“

„Oder einer von mehreren“, warf Dr. Keller ein. „Wir dürfen nicht vergessen: Stein lebt von Symbolen. Er sucht Menschen, die ihn geprägt haben und die er bestrafen will.“

Ein Telefon klingelte schrill. Ein junger Beamter nahm ab, sein Gesicht verlor in Sekunden jede Farbe. „Wir haben eine Meldung … Thomas Richter ist verschwunden. Seine Wohnungstür stand offen, Kampfspuren überall. Er ist weg.“

Ein eisiges Schweigen breitete sich im Raum aus. Berger spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Sie waren zu spät.

Die Halle war dunkel, nur ein einzelnes Bauflutlicht brannte in der Ecke und warf harte Schatten auf den Boden. Thomas Richter hing gefesselt an einem Rohr, die Arme über dem Kopf, der Körper bereits von Schlägen gezeichnet. Sein Atem kam stoßweise, Schweiß tropfte von seiner Stirn.

Marko Stein trat langsam vor ihn, die Schritte hallten wie Schläge auf Metall. In seiner Hand funkelte der Draht, den er in eine perfekte Schlinge gelegt hatte.

„Erinnerst du dich an mich, Thomas?“, fragte er leise, fast zärtlich. „Du warst derjenige, der dachte, er könne mich retten. Deine Worte, deine Regeln, dein verdammtes Gerede von Chancen.“

24

Richter röchelte. „Marko … ich wollte dir helfen …“

Ein Lächeln huschte über Steins Gesicht. „Hilfe? Nein. Du wolltest mich brechen. Du wolltest mich zwingen, jemand zu sein, der ich nie war. Aber weißt du was? Ich bin jetzt frei. Frei von euch allen.“

Er zog den Draht straff, ließ ihn kurz an Richters Hals gleiten, nur ein Hauch, um die Angst in den Augen zu sehen. Dann trat er zurück. „Noch nicht. Ich will, dass du spürst, was ich spüre. Kontrolle. Macht.“

Richter schrie, doch es war ein Schrei, der in der Halle verhallte, niemand außer Stein hörte ihn.

Berger und Jana stürmten aus dem Präsidium, ihre Wagen heulten durch die Straßen. Die Spur war frisch: ein Zeuge hatte in der Nacht einen Mann gesehen, der Richter in ein altes Industriegebiet schleppte.

„Das passt“, knurrte Berger. „Stein sucht Orte, die keiner mehr beachtet. Abgerissene Hallen, tote Winkel. Dort kann er spielen.“

„Aber wir sind spät dran“, erwiderte Jana und hielt sich am Armaturenbrett fest, als Berger die Kurve nahm. „Jede Minute bedeutet …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Beide wussten, was er bedeutete.

Am Einsatzort angekommen, empfing sie der Geruch von Öl und Staub. Das alte Industriegebiet lag wie ein Friedhof aus Beton vor ihnen. Polizeieinheiten sicherten das Areal, schwer bewaffnet, nervös.

„Keine Bewegung drinnen“, meldete ein Beamter. „Aber wir haben Spuren Blutstropfen am Eingang.“

Berger packte seine Taschenlampe. „Dann los.“

Stein stand über Richter, der inzwischen kraftlos an den Seilen hing. Seine Augen flackerten, doch er war noch bei Bewusstsein. Stein beugte sich vor, sein Atem streifte die Haut des Mannes.

25

„Du bist nur das erste Kapitel, Thomas. Die Stadt wird lernen, meinen Namen zu flüstern. Und sie werden erkennen, dass niemand sie retten kann.“

Dann zog er die Schlinge fest. Das Geräusch, das folgte, war leise, aber endgültig. Richter zuckte, dann hing er still.

Stein trat zurück, atmete tief ein. Das Gefühl von Macht rauschte durch seine Adern. Doch er wusste die Polizei war schon unterwegs. Und genau das wollte er.

Er hinterließ den leblosen Körper wie ein makabres Kunstwerk, das Bauflutlicht als Scheinwerfer. An der Wand sprühte er mit roter Farbe zwei Worte: „Sucht mich.“

Dann verschwand er durch einen Nebenausgang, lautlos wie ein Schatten.

Berger riss die Hallentür auf, Jana dicht hinter ihm. Ihre Lampen schnitten durch die Dunkelheit und blieben am Bild hängen.

Richter. Tot. Die Schlinge noch am Hals, das Gesicht zu einer grotesken Maske des Schmerzes erstarrt.

„Verdammt!“, schrie Jana, schlug mit der Faust gegen die Wand.

Berger trat näher, sein Blick auf die roten Buchstaben an der Wand: „Sucht mich.“

Die Botschaft war klar. Stein hatte ihnen nicht nur ein Opfer hinterlassen, sondern eine Einladung. Ein Spiel.

Berger spürte, wie sein Puls raste. „Er will uns jagen. Aber diesmal drehen wir den Spieß um.“

Dresden schlief nicht mehr. Oder besser: die Stadt traute sich nicht, zu schlafen. Die Schlagzeilen jagten sich wie unaufhörliche Blitze über Bildschirme, Radiomeldungen dröhnten in allen Wohnungen: „Flüchtiger Mörder unterwegs Polizei jagt Stein“.

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Berger starrte auf die Karte von Dresden, die vor ihm auf dem Tisch lag. Rote Stecknadeln markierten Tatorte, gelbe markierten potenzielle Verstecke. Neben ihm wühlte Jana in den Akten, ihr Gesicht blass, die Augen gerötet von Schlaflosigkeit.

„Er spielt mit uns“, sagte Berger. „Jede Spur, jeder Hinweis, jede Leiche es ist kein Zufall. Er will, dass wir rennen, dass wir Fehler machen.“

„Und wir werden Fehler machen“, erwiderte Jana leise. „Wenn er so schlau ist, wie wir glauben, wissen wir längst, dass wir kommen. Er führt uns wie Schachfiguren über das Brett.“

Marko Stein beobachtete die Polizeibewegungen durch eine kleine Kamera, die er auf dem Dach eines verlassenen Lagerhauses installiert hatte. Die Streifenwagen flitzten durch die Straßen, die Lichter tanzten wie Glühwürmchen in der Nacht. Er lächelte.

Jede Minute, die sie verbrachten, seine Spuren zu verfolgen, festigte seine Macht. Stein war nicht nur brutal; er war strategisch. Er wusste, dass die Angst der Ermittler ihm genauso diente wie jede seiner Taten.

Er griff nach dem Notizbuch, in dem die Namen seiner nächsten Opfer standen. Jeder Schritt war geplant, jeder Ort ausgewählt. Und noch bevor er zu seinem nächsten Opfer ging, bereitete er schon die Fallen für die Jagd auf ihn vor.

„Sie werden mich jagen, und ich werde ihre Angst genießen“, murmelte er. „Aber ich werde nicht gefasst. Nie.“

Die Ermittler hetzten durch die Straßen der Altstadt, Spuren analysierend, Zeugen befragend. Jeder Hinweis, der auf Stein hinwies, endete in einem Labyrinth aus Sackgassen und falschen Spuren.

„Er manipuliert uns“, sagte Berger, während er einen leeren Lagerraum inspizierte. „Jede Kamera, jeder Zeuge alles geplant. Er weiß, dass wir ihm folgen. Deshalb verändert er alles, bevor wir ankommen.“

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Jana stand neben ihm, die Stirn in Falten. „Es ist, als würde er uns herausfordern. Aber wir müssen einen Fehler machen und ihn erkennen.“

Die Minuten dehnten sich zu Stunden, die Stadt wirkte wie ein Labyrinth aus Schatten und Angst. Jeder Schritt konnte Stein einen Vorteil verschaffen, jeder falsche Impuls ein Opfer kosten.

Marko Stein saß wieder in der Erinnerung, zehn Jahre alt, allein in der Dunkelheit seines Zimmers. Das Geräusch der Schläge seines Vaters hallte in seinem Kopf wider, seine Mutter weinte leise im Hintergrund. Es war der Moment, in dem er erkannte, dass Macht die einzige Währung war, die zählte.

Er spürte die Angst der Opfer, die Kontrolle über sie das war sein Reich, seine Ordnung. Jeder Schlag, jede Träne, jedes Flüstern war ein Teil des Spiels, das er jetzt perfektioniert hatte.

Und nun, Jahrzehnte später, war die Stadt seine Bühne, die Ermittler seine Figuren, und er der unsichtbare Dirigent eines Albtraums.

In einer Seitenstraße der Neustadt bewegte sich eine Gestalt vorsichtig durch den Nebel. Ein Polizist bemerkte den Schatten, doch zu spät. Stein trat aus der Dunkelheit, nicht sichtbar, nur durch die Reflektion der Straßenlaterne. Die Luft spannte sich, als er die Falle, die er vorbereitet hatte, auslöste: eine Reihe umgestürzter Mülltonnen, die das Team kurzzeitig blockierten.

„Er testet uns“, keuchte Berger, während sie die Tonnen beiseiteschoben. „Er will sehen, wie wir reagieren. Jeder Schritt, den wir tun, wird beobachtet.“

Jana nickte, die Hände am Funkgerät. „Wir dürfen uns nicht hetzen lassen. Nicht heute. Nicht von ihm.“

Doch irgendwo im Schatten grinste Marko Stein. Das Spiel hatte gerade erst begonnen. Und die Jagd würde länger, tödlicher und dunkler werden, als die Ermittler es sich je vorgestellt hatten.

28

Die Nacht legte sich wie ein bleierner Mantel über Dresden. Straßenlaternen flimmerten im Regen, spiegelten sich in den Pfützen. Die Stadt wirkte verlassen, doch überall waren Augen, die suchten, hörten, spürten.

Marko Stein bewegte sich mit der Präzision eines Raubtiers durch ein verlassenes Lagerhaus im Süden der Stadt. Neben ihm lag das neue Opfer: Anna Vogel, eine junge Frau, deren Name auf einer Liste notiert war, die er vor Monaten begonnen hatte. Sie war Mitarbeiterin eines Heims, das Stein in seiner Jugend besucht hatte eine Verbindung zur Vergangenheit, die er noch lange nicht vergessen hatte.

Anna war gefesselt, ihr Gesicht von Panik gezeichnet, die Hände zitterten, als sie seine Schritte hörte. Stein sprach nicht. Er beobachtete, wie sie kämpfte, wie ihr Atem flach wurde. Für ihn war jedes Zittern, jedes Flüstern ein Instrument, das seine Macht spiegelte.

Er ließ sie in einem Winkel sitzen, ausgeleuchtet vom schwachen Licht der alten Neonröhre. Dann zog er die Kamera hervor, die er installiert hatte, um die Bewegungen der Polizei zu überwachen. Sie würden kommen. Sie mussten kommen.

Berger und Jana hatten alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Polizeihubschrauber summten über der Neustadt, Hundestaffeln durchkämmten verlassene Industriegebiete. Jeder Hinweis wurde minutiös verfolgt.

„Er ist klüger als wir“, keuchte Jana, während sie auf die Karte starrte. „Jede Leiche, jede Spur, jedes Opfer er plant das. Wir hetzen nur hinterher.“

Berger knirschte mit den Zähnen. „Wir müssen ihn vorhersehen, bevor er zuschlägt. Ich will wissen, was er denkt, bevor wir reagieren.“

Dr. Keller, die Profilerin, lehnte sich über die Karte, zeigte auf bestimmte Punkte: „Er wird sich auf Orte konzentrieren, die emotional aufgeladen sind. Alte Heime, Schulen, Plätze, an denen er geformt wurde. Wenn wir diese Orte absichern, können wir ihn eingrenzen.“

29

Doch Berger wusste: selbst, wenn sie jeden Ort absicherten, würde Stein immer einen Schritt voraus sein. Das war sein Spiel, und sie waren seine Figuren.

Dresden, Stein zehn Jahre alt. Die kleine Wohnung roch nach Schimmel und Alkohol. Marko saß auf dem Boden, die Augen auf die Ratte gerichtet, die sich in den Müllsäcken verfangen hatte. Er beobachtete, wartete, analysierte. Dann setzte er das Messer an. Kein Zucken, keine Emotion nur Kontrolle. Die erste Lektion, die er sich selbst beibrachte: Macht über Leben und Tod ist absolute Freiheit.

Später, im Heim, lachte er nie, weinte nie. Er hörte zu, beobachtete, lernte die Menschen kennen, als wären sie Figuren in einem Spiel, das nur er verstand. Jede Demütigung, jeder Schlag, jede Strafe wurde Teil eines Plans, denn niemand ahnte ein Plan, der Jahre später Dresden in Atem halten würde.

Stein hörte das Knacken von Reifen auf nassem Asphalt, die schwachen Lichter von Streifenwagen in der Ferne. Er lächelte. Die Polizei kam. Genau wie erwartet.

Er bewegte Anna vorsichtig an einen sicheren Platz, zog dann die letzte Schlinge hervor. Für ihn war es Kunst. Für sie war es Terror.

Plötzlich flackerte das Licht im Lagerhaus ein Hubschrauber über ihnen, die Motoren dröhnten in den Hallen wieder. Hunde bellten, Stimmen schrien. Stein blieb still, ein Schatten zwischen Licht und Dunkelheit.

„Sie sind zu spät“, flüsterte er zu Anna, „aber sie werden alles versuchen. Und ich werde alles sehen.“

Die Polizei stürmte von der Vorderseite, Berger in der ersten Reihe, Jana dicht hinter ihm. Sie fanden zuerst die Spuren: zerbrochene Neonröhren, Blutspuren, Fesseln aber keine Stein.

Stein bewegte sich wie ein Geist durch den hinteren Ausgang. Das Spiel hatte begonnen. Die Jagd war eröffnet, und diesmal würde es kein Entkommen geben für ihn oder für sie.

30

Berger knallte gegen eine Metalltür, sein Herz raste, Adrenalin pumpte durch die Adern. „Er ist hier! Irgendwo! Ich finde ihn!“

Jana atmete schwer, der Regen peitschte ihr ins Gesicht. „Er testet uns … er will sehen, wie wir reagieren.“

In der Ferne sahen sie einen Schatten verschwinden, lautlos, doch seine Präsenz war spürbar. Stein hinterließ eine Botschaft an der Wand: „Folgt mir, wenn ihr könnt.“

Und mit jedem Herzschlag wurde klar: Dresden war jetzt sein Spielplatz, und die Ermittler waren gezwungen, mitzuspielen.

Der Regen peitschte durch die Straßen Dresdens, ließ das Kopfsteinpflaster glänzen wie schwarzes Glas. Blaulichter zerschnitten die Dunkelheit, Sirenen heulten, Hunde bellten. Berger presste das Lenkrad seines Wagens, das Adrenalin brannte in seinen Adern. Jana saß neben ihm, die Hände fest um den Funkgriff geklammert.

„Er ist hier! Irgendwo!“, keuchte sie.

„Er ist immer einen Schritt voraus“, murmelte Berger. „Aber diesmal kriegen wir ihn.“

Sie jagten durch verlassene Hinterhöfe, verfallene Lagerhallen, Straßen, die niemand außer Stein kannte. Jeder Schatten konnte ihn verbergen. Jeder Schritt konnte eine Falle sein.

Marko Stein beobachtete aus einem Hochregallagerhaus die Straßen. Die Polizei bewegte sich genauso, wie er es erwartet hatte. Er hatte die Spuren gelegt, Fährten geschickt manipuliert. Seine Augen glitzerten, als er die Bewegungen der Ermittler verfolgte.

„Sie glauben, sie jagen mich. Aber sie folgen nur meinem Rhythmus“, flüsterte er. „Und jeder Fehler kostet sie Zeit … oder Leben.“

Er griff nach einem Seil, das er für den letzten Akt vorbereitet hatte. Alles war geplant jeder Schrei, jedes Geräusch, jede Sekunde seines Spiels.

31

Die Ermittler stürmten eine verlassene Lagerhalle. Überall waren Hindernisse, Mülltonnen, Schutt. Der Raum war groß, dunkel, durchbrochen von flackernden Neonröhren. Dann hörten sie Schritte lautlos, fast wie ein Atemzug.

„Da! Hinter der Kiste!“ rief Jana.

Berger zog die Waffe, doch Stein war bereits verschwunden. Nur ein Tropfen Blut auf dem Boden wies ihnen die Richtung. Dann ein Geräusch: eine Kette, die über den Beton schleifte.

Plötzlich sprang Stein aus dem Schatten. Ein kurzer, schneller Kampf entbrannte. Berger und Stein prallten aufeinander, Schläge, Tritte, jede Bewegung tödlich kalkuliert. Stein wollte Kontrolle, wollte sehen, wie Angst die Ermittler lähmte. Berger kämpfte nicht nur um sich selbst, sondern um jede Minute, die ihm die Chance gab, weitere Opfer zu verhindern.

Anna, noch immer gefesselt, beobachtete das Chaos. Jeder Schlag, jeder Schritt von Stein war ein Tanz auf Messers Schneide. Berger sah sie, schoss Stein von sich weg, die Halle erbebte vom Gewicht der Verfolgung.

Stein zog sich zurück, lächelte, als ob er die ganze Szenerie orchestrierte. „Fast … fast habt ihr es“, flüsterte er. „Aber das Spiel ist noch nicht vorbei.“

Er schoss ein Metallstück von der Galerie herab, ein perfektes Hindernis. Berger taumelte, Jana stürzte, doch sie rafften sich auf. Adrenalin pulsierte in jedem Muskel.

Stein stand, die Hände noch schmutzig von Anna, das Gesicht maskiert von Licht und Schatten. „Ihr glaubt, ihr könnt mich stoppen? Ihr habt keine Ahnung, wer ihr jagt.“

Berger keuchte. „Wir stoppen dich, Marko. Heute.“

„Heute?“ Stein lachte, leise, kalt. „Heute oder morgen … ist egal. Die Stadt wird meine Geschichte erzählen.“

32

Doch in dem Moment, in dem er eine weitere Bewegung machte, hörte er den Hubschrauber über sich, Hunde bellen, die Verstärkung. Er wusste: sein Spiel war gefährlich geworden. Nicht mehr nur eine Machtprobe echte Jagd.

Stein sprang auf einen Lastwagen, der zum Ausgang des Lagerhauses gerollt wurde, Anna in einer improvisierten Schleuse neben sich. Berger rannte hinterher, Jana zog sie selbständig aus der Gefahrenzone. Sekunden später explodierte ein Metallstück, das Stein ausgelöst hatte, hinter ihnen Staub, Lärm, Funken.

Stein rannte, die Dunkelheit verschluckte ihn. Doch Berger hatte ihn im Blick, den Puls auf Anschlag. „Diesmal kriegen wir ihn“, keuchte er, während Jana Anna in Sicherheit brachte.

Der Regen prasselte, die Stadt vibrierte im Echo des Chaos. Stein war entkommen noch. Doch die Ermittler hatten einen entscheidenden Vorteil gewonnen: sie kannten nun seine Methode, seinen Rhythmus.

Das Spiel war vorbei aber der Krieg hatte gerade erst begonnen.

Dresden war eine Stadt im Ausnahmezustand. Sirenen heulten unaufhörlich, Straßen waren gesperrt, die Menschen drängten sich in Sicherheit. Berger und Jana hatten sich kaum gesetzt, als der nächste Hinweis eintraf: Stein hatte sich in ein altes Fabrikgelände im Norden der Stadt bewegt.

„Er kennt die Stadt wie seine Westentasche“, sagte Jana, die Karte vor sich aufgespannt, Finger über die Wege fahrend. „Jeder Ausgang, jeder Hinterhof … er hat sie alle getestet.“

„Dann müssen wir ihn einschließen“, knurrte Berger. „Keine Ausgänge mehr, keine Chance auf Entkommen.“

Marko Stein bewegte sich wie ein Phantom durch die verfallenen Hallen. Jede Bewegung war exakt kalkuliert, jeder Schritt auf den Betonplatten bewusst gesetzt. Er hatte eine Schleuse vorbereitet, einen Tunnel, der die Polizei in eine Sackgasse führen würde.

33

Doch etwas war anders. Berger und Jana hatten seine Muster erkannt. Sie bewegten sich synchron, fast wie er, aber mit einem Ziel: ihn einzugrenzen.

Stein spürte die Spannung in der Luft. Er liebte Angst, Kontrolle, Macht, doch jetzt war sie gegen ihn gerichtet. Für einen Moment blitzte Unsicherheit auf. Nur für einen Moment.

Berger trat in die letzte Halle, Jana dicht hinter ihm. Stein stand auf der anderen Seite, das Licht spiegelte sich in seinen Augen.

„Marko Stein“, rief Berger. „Es ist vorbei!“

Stein lachte, tief, kalt. „Es ist nie vorbei. Ihr habt mir nur erlaubt, ein wenig zu spielen. Aber das Ende …“ Er hielt inne, zog einen Gegenstand aus der Jacke. „…, dass kommt erst jetzt.“

Es war ein improvisierter Sprengsatz, auf Sekunden programmiert. Adrenalin schoss durch Berger und Janas Körper. Sekunden, um zu handeln, Sekunden, um zu reagieren.

Berger erkannte die Absicht, stürmte vor, stieß Stein zur Seite, genau im Moment, als der Zünder klickte. Eine Explosion erschütterte die Halle, Rauch, Staub, Lärm.

Stein taumelte, die Explosion hatte ihm den Atem geraubt, doch er stand wieder auf, wütend, verzweifelt. Berger packte ihn, die Hände um seinen Hals, die Kraft, die aus Jahren Erfahrung kam, bündelte sich in einem Griff.

„Es ist vorbei!“, schrie Berger, während Stein wild um sich trat.

Anna Vogel, aus der vorherigen Entführung gerettet, schrie aus der Ecke der Halle. Jana half ihr auf die Füße, beide blickten auf die Szene wie auf ein sich überschlagendes Gewitter.

Stein versuchte, sich zu befreien, doch die Polizei hatte Verstärkung gebracht. Hunde, Beamte, jede Flanke abgesichert. Er war umzingelt.

34

Und dann endlich ließ er sich fallen, erschöpft, besiegt, seine Augen funkelten noch einmal voller Hass, aber die Kontrolle war weg.

Die Stadt begann langsam zu realisieren, dass der Albtraum vorbei war. Stein wurde in Handschellen gelegt, abgeführt, die Medien blitzten auf: „Marko Stein gefasst Ende der Mordserie“.

Berger und Jana standen im Regen, die Adrenalinschübe noch in den Adern. Sie hatten überlebt, das Opfer war gerettet, aber die Bilder, die Schreie, die Angst sie würden sie nie vergessen.

Dr. Keller kam hinzu, nickte beiden zu. „Ihr habt ihn gestellt. Nicht nur wegen der Taktik, sondern wegen eurer Entschlossenheit. Dresden hat euch zu verdanken, dass das Spiel vorbei ist.“

Berger nickte, starrte in die Dunkelheit der Stadt, die immer noch tropfte vom Regen. „Er hat uns alles abverlangt. Alles.“

Jana legte eine Hand auf seine Schulter. „Und wir haben es geschafft. Das reicht.“

Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Pfützen, alles schien ruhig aber im Unterbewusstsein blieb die Spannung, die Angst, die Erinnerung an Marko Stein. Ein Schatten, der für immer in den Gassen Dresdens zurückblieb.

Die Sonne ging langsam über Dresden auf, tauchte die Stadt in blasses Licht, das kaum die Spuren der Nacht verbarg. Blut, Schutt, Schreie sie waren verschwunden, doch die Erinnerungen blieben.

Berger stand am Ufer der Elbe, die Hände in den Taschen, die Gedanken schwer. Der Regen hatte die Straßen gewaschen, aber nicht die Bilder in seinem Kopf. Anna Vogel, Thomas Richter, die Explosion im Lagerhaus, das Spiel, das Stein inszeniert hatte alles war wie ein Film, den er nicht abschalten konnte.

35

Jana trat neben ihn, nasses Haar klebte am Gesicht, Augen müde, doch wachsam. „Es ist vorbei“, sagte sie leise.