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Ariana weiß nicht dass sie die Tochter der Königin der Wolkenfeen ist und dass sie einen Zwillingsbruder hat. Beide wurden in der Menschenwelt von verschiedenen Familien adoptiert, damit sie der Fluch eines furchtbaren Zauberers nicht treffen konnte. Nun verkörpert sie die ganze Hoffnung dieses Reiches. Wird es ihr gelingen mit den Zauberkräften, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, ihre Gemeinschaft zu retten? Denn das Feenreich ist voller Geheimnisse ...
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Die Hoffnung
Der Anruf
Das Mädchen aus dem Nichts
Der Zauberspiegel
Anne Katherines Geheimnis
Der Gärtner
Die Reise durch den Zauberspiegel
Manons Buch und ein unerwarteter Besuch
Das Mädchen in Weiß
Rechtsanwalt Bondieus Geburtstag
Der magische Brief
Der schwarz-weiße Alte
Die Reise zu zweit
Draußen vor dem Schloss
Die drei verfluchten Wege
Begegnung mit Prinz Cäsar
Was Manon erlebte
Der Wächter des Goldblätterwaldes
Die geheime Tür
Eminara
Wie Denjoüs sich an der Nase herumführen ließ
Der Kampf
Elfinas Glanz
Es war zwei Uhr morgens. Die Sterne standen am Himmel. Anne Katherine kam von ihrem Kollegenabend zurück. Sie hatte Glück und konnte ihr Auto vor dem Eingang ihrer Nachbarn parken. Plötzlich bemerkte sie eine schemenhafte Gestalt vor dem Wagen. Als sie die Augen zusammenkniff, war ihr erster Gedanke ihre Tochter. Doch sie sagte sich: „Das kann gar nicht sein, Ariana liegt doch in ihrem Bett! Was sollte ein kleines Mädchen ihres Alters auch um diese Uhrzeit draußen machen?“
Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Mond und Sterne erleuchteten die Umgebung und vergrößerten Anne Katherines Sichtfeld. Sie versuchte die Gestalt zu erkennen, wandte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass ja ihre Nachbarn, die Van Buillers, auf ihre Tochter aufpassten, wenn sie abends unterwegs war. Am Tag kümmerte sich die Babysitterin um Ariana.
Als sie bei den Van Buillers läutete, merkte sie verblüfft, dass es wirklich Ariana war, die vor ihr stand.
„Mama!“, rief sie.
Anne Katherine erbebte vor Angst. Sie griff nach der Taschenlampe, die sie immer in der Handtasche bei sich trug, und starrte in die Augen ihrer Tochter, als wolle sie die Farbe ihrer großen dunkelgrünen Augen erkennen. Der Nachbar kam aus dem Haus und schaute sie irritiert an.
„Bis morgen!“, sagte Herr Van Buillers mit näselnder Stimme und warf ihr einen erstaunten Blick zu. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür.
Während Anne Katherine ihre Haustür aufschloss, erzählte Ariana ihr, was sie geträumt hatte:
„Mama, ich habe meinen Zwillingsbruder kennengelernt …“
Anne Katherine fuhr auf.
„Was … redest … du … da?“, stotterte sie.
Sie fand keine Worte, wurde blass und ihr Herz begann immer schneller zu schlagen. Dann fasste sie sich. „Was für ein komischer Gedanke, Liebling! Du hast keinen Zwillingsbruder. Wie kommst du denn darauf?“ Dann schwieg sie. Aber ihr Blick verriet tiefe Verstörung.
„Die blonde Frau hat es mir gesagt“, erklärte Ariana. „Eine wunderschöne Frau in einem langen weißen Kleid. Eine Fee, Mama, ja, Mama, es war eine Fee! Sie hat mich abgeholt und wir sind nach Dublin gegangen. Dort habe ich Samuel Collins kennengelernt.“
Anne Katherine atmete tief, als wolle sie wieder zu sich kommen. Dann kniete sie sich vor ihre Tochter und nahm ihre Hände.
„Bitte!“, sagte Anne Katherine eindringlich. „Das war nur ein Traum, es gibt keine Feen, Ariana.“
Aber Ariana war überzeugt, dass es sehr wohl eine Fee gewesen war. Diese blonde Frau, schön wie der Tag, so sanft und freundlich …
„Sie sah aus wie meine richtige Mutter!“, rief sie plötzlich.
Anne Katherine erstarrte, ein eisiger Schauder überlief sie. Nie hätte sie sich vorgestellt, so etwas Dummes zu hören. Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu.
„Liebes“, antwortete sie sanft, „was meinst du mit: sie sieht aus wie meine richtige Mutter? Alle Mütter sind lieb und schön. Es ist normal, dass diese Frau …“
Dann besann sie sich: „Hör mir gut zu, mein Kind“, sagte sie, diesmal in festem Ton. „Ich bin deine einzige Mutter, ich allein, und ich werde deine einzige Mutter in dieser Welt bleiben. Du hattest nie einen Zwillingsbruder in Dublin, ich wiederhole es zum letzten Mal. Und übrigens hat es nie Feen gegeben, nur im Märchen. Und jetzt geh auf dein Zimmer, es ist schon drei Uhr früh.“
Dann fügte sie hinzu: „Deine Feengeschichten kannst du deinen Schulfreundinnen erzählen, die werden begeistert sein.“
Am nächsten Morgen beim Aufwachen kündigte der strahlend blaue Himmel schönes, sonniges Wetter an. Eine halbe Stunde zuvor hatte die Putzfrau angerufen und gesagt, dass sie nicht kommen würde. Sie klagte über eine Erkältung, Kopfweh, Rücken- und Ohrenschmerzen. Kurz, alle Beschwerden, die man sich nur vorstellen konnte! Als Anne Katherine sich ihre Entschuldigungen anhörte, wurde sie wütend. Nun würde sie also selbst den Haushalt machen müssen! Kurz darauf rief die Babysitterin an und sagte ebenfalls ab. Sie war außer sich. Was war denn nur heute mit all diesen Hausangestellten los?
Schließlich kam sie auf die Idee, ihren Schlüssel bei den Van Buillers zu lassen. Sie hatten keine Ahnung, wann Ariana kommen würde, aber sie waren ja eh immer da. Anne Katherine stieg in ihr Auto.
Gerade als sie losfahren wollte, hörte sie eine Stimme hinter sich. Abrupt drehte sie sich um und erblickte zu ihrer Verblüffung auf dem Rücksitz einen buckligen alten Mann mit einem schmalen Gesicht und einem langen Bart in der Farbe der Sonne. Er war weiß gekleidet und hielt einen langen Stock in der Hand, der ihn um einiges überragte. Sekundenlang fragte Anne Katherine sich, wie der Alte in ihr Auto gekommen war. Dann fuhr sie zornig auf.
„Verdammt noch mal!“, rief sie. „Was machen Sie in meinem Wagen? Wer hat ihnen erlaubt, sich hier hinzusetzen? Wer sind Sie überhaupt?“
Der alte Mann antworte nicht und verschwand auf der Stelle. Plötzlich tauchte vor ihr eine schöne junge Frau mit hellblauen Augen und leuchtend blondem Haar auf. Sie sah aus wie die Fee, die Ariana beschrieben hatte. Mit offenem Mund startete sie und fuhr mit quietschenden Reifen los. Auf dem Weg zur Avenue des Goldenen Vlieses musste sie unaufhörlich an die Fee denken und die Angst überkam sie mit voller Wucht. Ohne Zweifel tauchten die Dämonen der Vergangenheit wieder auf ... Doch sie konnte keine Erklärung für all das finden. Aber ihre Kollegen warteten schon ungeduldig auf sie. Denn zum ersten Mal, seit sie als Direktionssekretärin in der Anwaltskanzlei arbeitete, hatte ihr Chef, Herr Van Der Meerch, ihr am Vorabend gesagt, dass sie seine beste Mitarbeiterin sei.
Als sie an diesem Morgen die Büroräume betrat, blickte sie überrascht auf unzählige Dekorationen. Überall an den Wänden des Sitzungszimmers hingen bunte Luftballons. Ihren Schreibtisch schmückte ein großer Strauß rosa und weißer Rosen und im ganzen Raum verteilt standen bunt verpackte Geschenke mit Glückwunschkarten. Von der Decke hing ein riesiges Schild mit der Aufschrift:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUR BEFÖRDERUNG! ANNE KATHERINE – MITARBEITERIN DES JAHRES.
Auf Wunsch von Rechtanswalt Van Der Meerch hatten sie diese Feier zu ihren Ehren organisiert, um ihr die wohlverdiente Beförderung zu verkünden. Doch als ihre Kollegen sie beglückwünschen wollten, fiel sie ihnen immer wieder ins Wort:
„Habt ihr ihn auch gesehen?“
„Wen denn?“, fragten alle völlig erstaunt.
„Den dürren alten Mann und die blonde junge Frau!“
„Du hast eine blonde junge Frau und einen dürren alten Mann in deinem Auto gesehen?“
„Nein, der alte Mann war die blonde junge Frau!“
„Hör zu, Anne Katherine, da kommen wir nicht mehr mit“, sagte Eric, einer ihrer Kollegen. „Aber das ist nicht schlimm, das sind die Nebenwirkungen der Beförderung und das kann jedem in deiner Lage passieren.“
„Du bist also sicher, dass der alte Mann die blonde junge Frau war?“, fragte ein anderer Kollege.
„Ja“, antwortete sie trocken. „Ich schwöre euch, das war eine Fee.“
„Eine Fee mitten in Brüssel!“, riefen sie spöttisch.
„Gut, gut“, schaltete sich Rechtsanwalt Van Der Meerch ein. Stirnrunzelnd kam er auf sie zu. „Sie verstehen einfach nicht, dass es um sie geht. Sie steht heute im Mittelpunkt, sie ist heute die Fee, unsere Fee. Das ist doch klar.“
Aber insgeheim dachte er: „Das Problem müssen wir im Auge behalten …“
Er hielt seine Glückwunschrede auf Anne Katherine und ging, ohne ein weiteres Wort zu diesem Thema zu verlieren, während die anderen mit Champagner auf sie anstießen. Indessen hielt es Anne Katherine nicht auf ihrem Platz und sie lief im Flur des Gebäudes hin und her. Ihre Kollegin Ingrid verstand überhaupt nichts. Sie lief hinter ihr her und bombardierte sie mit Fragen.
Nach kurzer Überlegung beschloss Anne Katherine, ihr von dem sonderbaren Anruf ihrer Putzfrau und dem Auftauchen des alten Mannes zu erzählen, aber dann besann sie sich anders. Es war riskant, ihr diesen ganzen Unsinn zu erzählen. Am Schluss stand sie noch als Verrückte da.
Die Tage vergingen. Anne Katherine war ganz normal auf dem Weg zur Arbeit. Doch an jenem Morgen war sie gezwungen, die U-Bahn zu nehmen, was sie nur selten tat, außer im Winter, wenn es schneite und unmöglich war über die Ringautobahn zu fahren.
Als sie an diesem schönen Julitag das Haus verließ, war es neun Uhr morgens und die Sonne tauchte die Stadt in gleißendes Licht. Sie ging in die U-Bahnstation Saint-Guidon hinunter. Vom Bahnsteig gegenüber lächelte ihr ein Paar zu, das sie kannte. In der Bahn zog ein junges Mädchen mit einem bezaubernden Lächeln ihre Aufmerksamkeit auf sich, das sie noch nie gesehen hatte. Groß, mit einem schmalen Gesicht, war sie von übernatürlicher Schönheit. Langes schwarzes Haar fiel über ihren Rücken. Sie trug einen langen weißen Rock mit einem passenden Oberteil. Dieses Mädchen, das Anne Katherine so schön und zugleich so seltsam fand, lächelte sie an und setzte sich auf den Platz ihr gegenüber. Anne Katherine fragte sich: Wer war sie und warum nahm sie die Metro?
„Sagen Sie nichts“, sprach die Fremde sie leise an, immer noch lächelnd.
„Dann können Sie wohl Gedanken lesen?“, fragte Anne Katherine neugierig.
„Ja, ich kann Ihre Gedanken lesen. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Effira. Ich bin hier wegen Ihrer Tochter Ariana.“
Mit gerunzelten Brauen schaute Anne Katherine die Fremde durchbohrend an. „Mein Gott!“, rief sie. „Was wollen Sie von ihr?“
„Frau Coppens…“, sagte Effira.
„Oh, Sie kennen meinen Namen?“, unterbrach Anne Katherine sie argwöhnisch.
„Ja“, erwiderte Effira. „Ihre Tochter gehört zu der Welt, aus der ich komme.“
„Wovon reden Sie?“, fragte Anne Katherine irritiert.
„Von der unsichtbaren Welt, der Welt, in der die Leute meiner Art leben“, fuhr Effira fort. „Ihre Tochter ist unsere letzte Hoffnung, wir warten schon seit Ewigkeiten auf sie. Die Königin wusste, dass Ariana eines Tages in unsere Welt kommen würde, aber das Geheimnis wurde wohl gehütet.“
Doch Anne Katherine hatte genug von diesem Blödsinn und wollte nichts mehr davon hören. Plötzlich stand sie auf und sagte schroff: „Und wieso sollte ich glauben, dass Sie die Wahrheit sagen?“
„Weil ich zu Ihnen gekommen bin …“
„Hören Sie auf!“, fiel Anne Katherine ihr ins Wort, plötzlich fuchsteufelswild.
„Schauen Sie sich doch um, Sie sind der einzige Mensch hier in der U-Bahn, der mich sehen kann. Bitte beherrschen Sie sich! Was sollen denn die Leute um sie herum denken?“, erwiderte Effira sanft.
Kaum hatte Effira diese Worte ausgesprochen, als ein schlecht gekleideter Mann aufstand und Anne Katherine anfuhr: „Wenn Sie Probleme mit Ihrem Mann haben, dann rate ich Ihnen, gehen Sie in die Hölle! Dort treffen Sie Ihresgleichen und ich garantiere Ihnen, dass Sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen!“ Dann setzte er sich wieder, ganz stolz auf sich, als ob er gerade sein Kind zurechtgewiesen hätte.
„Oh! Ich bitte Sie, halten Sie den Mund!“, befahl Anne Katherine schroff.
Der aggressive Mann redete weiter vor sich hin und rieb sich nervös die Hände. Plötzlich stand er wieder auf und ging zu Anne Katherine. „Hören Sie, hier ist nicht der beste Ort um zu streiten“, raunzte er sie an. „An der nächsten Station steige ich aus.“
„Sie steigen auch an dieser Station aus“, sagte Effira eisig.
„Woher wissen Sie das, Effira?“, fragte Anne Katherine.
„Ich weiß alles von Ihnen. Im Königreich Elfina haben wir die Macht, die Gedanken der Menschen zu lesen und ihre Zukunft zu sehen. Wir sind also über alles auf dem Laufenden, was in Ihrer Welt geschieht.“
„Das auch noch!“, erwiderte Anne Katherine. „Dann sind sie gar kein Mensch?“
„Nein.“
„Was sind Sie dann?“
„Wir treten in allen Formen auf“, antwortete Effira. „Aber das bleibt das Geheimnis des Königreichs Elfina.“
„Und wie kann ich Sie erkennen?“
„Wir sind immer weiß gekleidet. Das ist die Farbe der Göttlichkeit und Reinheit“, erklärte Effira.
Im nächsten Augenblick warf sie ihr langes schwarzes Haar zurück und verschwand in einem funkelnden Licht.
„Auf Wiedersehen“, murmelte Anne Katherine.
Monate waren vergangen, seit Effira Anne Katherine erschienen war.
Die Nachbarin von gegenüber, Frau Lens, eine junge braunhaarige Frau mit hellblauen Augen, arbeitete im Postamt am Platz der Tapferkeit. Ihre Tochter Valeriane war älter als Ariana. Anne Katherine fand Valerianes Stil vulgär und düster, denn sie trug ein Nasen- und Lippenpiercing und alle möglichen Drachenringe. Man hätte sie für ein Gespenst halten können, das geradewegs der Geschichte der Adams Family entsprungen war.
Als Anne Katherine Valeriane in diesem Aufzug erblickte, hatte sie beschlossen, dass ihre Tochter niemals zu diesen Leuten gehen würde.
Sie hatte Frau Lens im Niederländischkurs der Volkshochschule in Brüssel kennengelernt, und die erste Begegnung war nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Es kam also nicht in Frage, dass „ihre“ Ariana mit dieser Familie verkehrte, deren Vater den ganzen Tag in den Bars um den Südbahnhof herumlungerte.
An jenem Abend war Anne Katherine mit Rechtsanwalt Bondieu verabredet, Mitglied der Anwaltskammer Brüssel und Teilhaber von Herrn Van Der Meerch, die zusammen in einer Kanzlei arbeiteten. Cédric Bondieu hatte Locken, blaue Augen und ein ovales Gesicht, das in einem spitzen Kinn endete. Er war mittelgroß und von Berufs wegen immer tadellos gekleidet.
Er hatte ein Verhältnis mit Anne Katherine, seit sie nach Belgien gekommen war. Sie hatten geschworen, ihr Idyll geheim zu halten, denn sie waren beide verheiratet. Um das besagte Rendezvous einhalten zu können, blieb Anne Katherine nichts anderes übrig, als Ariana bei den Lens’ zu lassen.
In der Diele der Lens’schen Wohnung hingen afrikanische Figuren und Masken an den Wänden, so dass man den Eindruck bekam, man habe es mit weitgereisten Menschen zu tun. Gerahmte Fotos zeigten die Portraits aller belgischen Könige bis hin zu Baudouin. Die Sessel waren dunkelbraun. Frau Lens liebte Trödel und brachte diesen ganzen alten Plunder mit nach Hause. Daher war ihr Wohnzimmer so dunkel, dass man nur mit Mühe etwas erkennen konnte. Inmitten dieses alten Krams hatte Valeriane ihr ganzes Arsenal an Ohrringen und Ringen mit Totenköpfen und Hundeskeletten und ihre Haartönungen aufgebaut. Bei dem Gedanken, dieses ganze gruselige Zeug anzuprobieren, schauderte Ariana. Kurz darauf bot Valeriane ihr an, einige dieser Schrecklichkeiten zu tragen, die auf dem roten Wohnzimmerteppich ausgebreitet lagen.
„Die sind aber hässlich … bäh!“, rief Ariana angewidert.
Doch das hinderte sie nicht daran, am Ende des Abends eine kleine Modenschau mit den Schmuckstücken zu veranstalten.
Als sie am nächsten Morgen ihrer Mutter davon erzählte, wich Anne Katherine vor Wut kochend zurück. Mit undurchdringlichem Gesicht fuhr sie ihre Tochter an: „Dorthin gehst du mir nie mehr! Jedenfalls sind das keine normalen Leute“, erklärte sie zornig. „Ich will nicht, dass du so wirst wie sie!“
„Mama, vergiss nicht, dass ich es nicht war, die dorthin gehen wollte. Du hast sie gebeten, auf mich aufzupassen, weil du nicht wolltest, dass ich zu den Van Buillers gehe. Und sie waren sehr nett. Was ist eigentlich mit der Babysitterin? Was hast du zu ihr gesagt, dass sie nicht mehr kommt?“
„Liebes, ich hatte gute Gründe. Herr Van Buillers hat jedem, der es hören wollte, erzählt, dass wir komische Nachbarn sind. Und Patricia hat ganz allein beschlossen, nicht mehr zu kommen.“
„Wie lange wird das denn dauern? Werde ich eines Tages ein Kindermädchen bekommen?“, murrte Ariana auf dem Weg in ihr Zimmer, um ihren Pullover und ihre Schuhe zu holen.
Sie fand die Schuhe unter ihrem Bett und den Pullover auf ihrer Schultasche. Seit Patricia nicht mehr kam, hatte sich Arianas Zimmer in einen unvorstellbaren Saustall verwandelt … Als sie sich fertig angezogen hatte, lief sie bedrückt die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg zur Schule.
Anne Katherine dagegen war so in ihre Verliebtheit zu Rechtsanwalt Bondieu versponnen, dass sie mit dem Kopf fast in den Wolken schwebte. Sie rief ihn an und sie redeten stundenlang miteinander.
Um siebzehn Uhr kam Ariana aus der Schule nach Hause. Sie traf ihre Mutter mit dem Kopf über das Waschbecken im Badezimmer gebeugt an, wo sie sich die Haare rot färbte.
„Ist das deine neue Farbe?“, fragte Ariana angespannt.
„Es kann dir doch egal sein, ob ich rothaarig bin?“, gab Anne Katherine zurück.
„Na ja… gibt es einen besonderen Grund dafür, Mama?“
„Und wenn?“, erwiderte Anne Katherine schroff. „Ich färbe mir die Haare rot, um deinem Vater zu gefallen. Reicht dir das als Antwort?“
Ariana war nicht dumm: Sie war überzeugt, dass ihre Mutter vielmehr ihrem Liebhaber gefallen wollte. Sie ging wieder in ihr Zimmer, stellte die Schultasche ab und räumte die Schuhe unters Bett.
Plötzlich läutete das Telefon auf dem Fernsehtisch.
„Geh dran, Ariana!“, befahl Anne Katherine aus dem Bad, ohne den Kopf vom Waschbecken zu heben.
„Nein, geh du doch dran!“, rief Ariana patzig.
„Du siehst doch, dass ich zu tun habe!“
„Um dich für Bondieu schön zu machen“, murmelte Ariana.
Wie eine Furie schoss Anne Katherine aus dem Bad und starrte ihre Tochter verlegen an.
„Was … sagst … du… da…“, stotterte sie.
„Ich wollte… nein… nichts“, erwiderte Ariana.
Um einer Ohrfeige zu entgehen, wiederholte sie den Namen des Rechtsanwalts Bondieu vorsichtshalber nicht.
„Und, Ariana, gehst du jetzt an dieses Telefon? Es ist vielleicht dein Vater!“
Ariana umging die Ohrfeige und nahm den Hörer ab.
„Hallo!“
„Ja, ich bin‘s: Samuel Collins aus Dublin.“
Ariana überlief es plötzlich eiskalt. Mit offenem Mund stand sie da.
„Hallo, hallo! Ist da jemand? Antworten Sie doch!“, sagte Samuel Collins.
Ariana war wie versteinert. Niemals hätte sie gedacht, dass es Samuel Collins wirklich gab. Ihre Mutter behauptete immer und immer wieder, dass sie keinen Bruder habe.
„Melde dich!“, schimpfte Anne Katherine.
„Ja, ja …“
Sie fühlte ihr Herz in der Brust wie eine afrikanische Trommel schlagen. Plötzlich legte sie auf, ohne zu antworten.
„Und, wer war es?“, brüllte Anne Katherine erneut.
„Niemand, Mama, niemand“, log Ariana, immer noch verstört.
„Los, beweg dich, Ariana! Gib mir das Handtuch vom Haken!“
Ariana schaute ins Leere, als hätte sie einen Geist gehört.
„Mach schon! Gib mir das Handtuch!“
Doch Ariana achtete nicht auf ihre Mutter und ging ins Esszimmer, ohne ein Wort zu sagen.
„Ariana!“, rief Anne Katherine und versuchte, das Handtuch zu erreichen. „Ich bin deine Mutter, du hast mir zu gehorchen, verstanden?“
„Mama?“, fragte Ariana plötzlich.
„Was denn? Geh auf dein Zimmer“, erwiderte ihre Mutter barsch, ohne sich die Mühe zu machen, ihr zuzuhören.
Einmal in ihrem Zimmer, lief Ariana immer wieder zwischen Schreibtisch und Bett hin und her und fragte sich, wer Samuel Collins denn sein könnte. Warum rief er aus Dublin an? Wusste ihre Mutter von seiner Existenz? War er ihr Zwillingsbruder? Oder war dieser Anruf nur ein dummer Streich?
Da sie keine Antwort auf all diese Fragen fand, legte sie sich schließlich auf den Teppich in ihrem Zimmer. Still wartete sie, dass ihre Mutter sie wieder anbrüllen würde, um ihre Strafe aufzuheben.
Die Nachmittagssonne brannte immer glühender. Ihre Nachbarin von nebenan, Fräulein Lucienne, eine elegante Frau unbekannten Alters, hatte sich von Kopf bis Fuß mit Sonnenöl eingerieben. Nun lag sie auf ihrer Terrasse und nahm ein Sonnenbad. Sie wurde „Fräulein“ genannt, weil sie nie verheiratet gewesen war und somit nie die Ehre gehabt hatte, sich mit „Madame“ anreden zu lassen. Auch Herr Van Buillers lag halb nackt in seinem Garten auf dem Bauch und ließ sich braun brennen. Madame Van Buillers dagegen war mit Mehl bedeckt und sah aus, als hätte sie gerade mit ihrem Ofen gekämpft. Sie trug eine gelbe Schürze, wie um zu zeigen, dass sie eine perfekte Köchin war.
Währenddessen lag Ariana auf der Terrasse und fragte sich, warum ihr Vater nie genug Zeit für sie hatte. War Bernard Coppens ihr richtiger Vater? Und wer war Samuel Collins wirklich? All diese Fragen blieben unbeantwortet.
Und dabei war heute ihr Geburtstag. Da Anne Katherine ihren Geburtstag jedoch nie gefeiert hatte, weil sie nie Zeit hatte, war dieses Ereignis für Ariana ohne jede Bedeutung und sie fand es altmodisch. Doch manchmal wollte sie sich wieder an früher erinnern. Dann kramte sie in den alten Kartons auf dem Speicher die alten Geburtstagskarten wieder hervor, die sie in der Vorschule bekommen hatte. Auf einer davon stand zu lesen:
HERZLICHE GLÜCKWÜNSCHE ZU DEINEM VIERTEN GEBURTSTAG, ARIANA!
Dennoch dachte sie heute an ihren Geburtstag, was sie nicht mehr getan hatte, seit sie mit ihrer Mutter Bern verlassen und belgischen Boden betreten hatte. Sie träumte von einer Geburtstagsparty, die eines Feenmärchens würdig gewesen wäre, mit Kutschen und juwelengeschmückten Elefanten, bei der die Gäste als Schneewittchen, Piraten oder Prinzessin verkleidet erscheinen würden. Während sie noch überlegte, reckte sie den Hals zum Nachbarbalkon und entdeckte Fräulein Lucienne, die ihr grüßend zuwinkte.
Plötzlich läutete jemand an der Tür. Ariana sprang auf und warf einen Blick auf die Straße. Es war niemand zu sehen.
DING! DING!
Es klingelte wieder und wieder. Der Lärm störte Fräulein Lucienne, die ihr gereizt zurief:
„Wer kann das sein? Es läutet an deiner Tür!“
Plötzlich wurde es ganz still. Dann begann die Türklingel wieder zu läuten.
„Hören Sie auf zu läuten! Es ist heiß!“, brüllte Ariana da wütend.
In diesem Moment spürte sie, wie ihr Körper so schwer wurde wie ein Kartoffelsack, dann wurde ihr ganz bang ums Herz. Da begriff sie, dass etwas passieren würde. Auf einmal streifte ein sonderbares Licht ihre Haut …
Ein schönes Mädchen in ihrem Alter, mit hellen Augen und Haar von der Farbe des Sommers, in einem prächtigen, weißen Kleid, das vor Gold und Diamanten leuchtete, stand vor Ariana und schaute sie an. Seine aus Goldfäden gewebten Schuhe funkelten in der Sonne. Von all dem Glanz war Ariana wie geblendet, aber sie erkannte eine glitzernde Libelle auf seinem Kleid. Sein Lächeln war bezaubernd.
„Wer seid Ihr?“, fragte Ariana.
Vor Schreck verstand sie gar nichts. Sie versuchte zu rufen, doch sie brachte keinen Ton heraus und sie blieb wie angenagelt auf ihrem Liegestuhl sitzen. Als sie dieses Mädchen so herausgeputzt vor sich stehen sah, musste sie an ihren Geburtstag denken. Und wenn alles, wovon sie ein paar Minuten zuvor geträumt hatte, Wirklichkeit geworden wäre?
„Nun, Ariana?“, sagte das Mädchen plötzlich.
Ariana versuchte aufzustehen. Zweifellos wollte sie sich vergewissern, dass Fräulein Lucienne ihnen nicht nachspionierte. Aber die Beine gehorchten ihr nicht. Schließlich blieb sie einfach auf ihrem Stuhl sitzen.
„Du brauchst dir wegen mir keine Sorgen zu machen“, fuhr das Mädchen fort. „Die anderen Menschen können mich nicht sehen, sie wissen nicht einmal, dass ich da bin.“
„Dann bist du gar nicht real?“
„Doch, im Moment bin ich real in deinen Augen“, antwortete das Mädchen. „Ich werde mich den anderen zeigen, wenn ich Lust dazu habe.“
Dann lächelte es, streckte die Hand nach Ariana aus und sagte: „Du hast heute Geburtstag, nicht wahr? Zeig mir dein Zimmer.“
Ein Blitz erhellte den Himmel und plötzlich fanden sich die beiden Kinder in Arianas Zimmer wieder. Das Mädchen ging zum Fenster und öffnete es. Ein hübscher gelber Schmetterling kam herein und flog zu Ariana. Verblüfft riss sie die Augen auf, nahm den Schmetterling in die Hand und streichelte ihn behutsam. Dann reichte ihr das Mädchen einen glänzenden Gegenstand.
„Was ist das?“, fragte Ariana.
„Ein Amulett mit einer Libelle“, erklärte das Mädchen.
Neugierig versuchte Ariana, seinem Blick standzuhalten, aber die Augen des Mädchens war so voller strahlender Lichtfunken, dass sie gezwungen war, aus dem Fenster zu schauen. Eine Weile glaubte sie, dass das Mädchen weiter mit ihr reden würde. Anscheinend war dieses aber viel schüchterner, als sie gedacht hätte.
Schließlich stellte sie ihm wieder eine Frage:
„Wie heißt du?“
„Tymilla“, erwiderte das Mädchen kurz.
„Darf ich wissen, woher du …“
Doch Ariana kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen. Tymilla verwandelte sich in ein Blatt Papier, auf dem stand:
BIS BALD! WIR SEHEN UNS IN ELFINA.
Ariana spürte, wie sich ein kalter Wind um sie herum erhob, als würde sie in Eiswasser baden. Sie ging zur Heizung.
Als sie das Blatt Papier auf der Fensterbank sah, musste sie schlucken und fragte sich, ob Tymilla wirklich fort war. Sie nahm das Blatt Papier, drehte und wendete es mindestens ein Dutzend Mal, ohne ein Wort zu sagen. Nein, jetzt konnte sie sich nicht mehr irren: Sie war überzeugt, dass sie ein Kind aus einer anderen Welt war. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, jedoch weder sie noch ihre Mutter konnten verstehen, was da gerade geschehen war.
Fräulein Lucienne hatte immer gewollt, dass Anne Katherine und ihre Tochter mindestens einmal abends zu ihr zum Essen kamen. Sie hatte sie bereits mehrfach eingeladen, aber Anne Katherine hatte nie Zeit. Als Assistentin des berühmtesten Rechtsanwalts der Anwaltskammer Brüssel, Herrn Van Der Meerch, hatte sie viel zu viele Akten zu bearbeiten, um die Einladung ihrer Nachbarin annehmen zu können. Zumindest sagte sie das, um ihren Zeitmangel zu rechtfertigen, und hütete sich sehr wohl, die Stunden zu erwähnen, die sie mit ihrem Liebhaber Rechtsanwalt Bondieu verbrachte. Was für ein Glück er doch hatte! Die Hälfte von Anne Katherines Tag war für ihn reserviert.
Fräulein Lucienne konnte sich gedulden … bis zu dem Tag, an dem Anne Katherine endlich beschloss, sie zu besuchen.
Ariana stand immer noch am Fenster, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte:
„Ariana, was machst du in deinem Zimmer?“
„Nichts … Mama“, stotterte Ariana mit zitternder Stimme.
„Kommst du? Es ist sechzehn Uhr. Fräulein Lucienne hat uns zum Tee eingeladen“.
„Es tut mir Leid, aber ich bleibe hier“, antwortete Ariana. Dann fügte sie hinzu: „Mama, glaubst du an Feengeschichten?“
„Ariana, fang bloß nicht schon wieder damit an! Feen gibt es nur in Büchern und Märchen. Jetzt tu mir den Gefallen und komm mit!“
„Sorry, Mama“, erwiderte Ariana. „Ich gehe nicht zu dieser Mumie!“
Anne Katherine war empört. „Pass auf, was du sagst!“, brüllte sie plötzlich. „Ariana, so etwas sagt man nicht!“
„Du weißt wirklich nicht, wer ich bin“, murmelte Ariana.
Anne Katherines Augen waren schwarz vor Zorn. Ariana war überrascht, wieder den gleichen wütenden Blick zu sehen, den sie ihr zugeworfen hatte, als sie von ihrem Zwillingsbruder gesprochen hatte.
„Das reicht!“, befahl ihre Mutter. „Ich verbiete dir, so einen Blödsinn zu erzählen. Wir leben in einer Welt, in der niemand weiß, wer er wirklich ist.“
Sie lief in das Zimmer ihrer Tochter hinauf und fügte diesmal in ruhigem Ton hinzu: „Ich weiß, dass du meine Tochter bist, und das genügt mir.“
„Nein, Mama“, antwortete Ariana. „Du hast mir nie gesagt, dass ich eine Fee bin.“
„Alle Mädchen in deinem Alter sind die Feen ihrer Mütter. Und du bist meine Fee.“
Doch Ariana ließ sich nicht ablenken: „Warum habe ich dann eine Fee in meinem Zimmer gesehen?“
Anne Katherines Tonfall wechselte von sanft zu streng:
„Ariana, zum letzten Mal, es gibt keine Feen. Komm mir nie wieder damit!“
Plötzlich war es mucksmäuschenstill im Haus. Dann ging Anne Katherine die Holztreppe hinunter und läutete bei Fräulein Lucienne.
„Wer ist da?“, fragte diese mit dunkler Stimme.
„Ihre Nachbarin.“
Die Tür öffnete sich. Anne Katherine entschuldigte sich für ihre Verspätung.
An jenem Abend erzählte Fräulein Lucienne von ihrer Jugend, ihrem Leben in den sechziger Jahren, ihren alten Freunden. All das faszinierte Anne Katherine, erklärte aber nicht, warum sie nie geheiratet hatte.
Anne Katherine hatte sich mit Fräulein Lucienne angefreundet. An den Wochenenden, wenn sie nicht bei ihrem Liebhaber war, ging sie mit ihrer Nachbarin in das Restaurant an der Ecke zum Essen. Diese redete nur über die sechziger Jahre oder den Algerienkrieg. Fräulein Lucienne war eine „Schwarzfuß“ oder „Pied-noir“1, aber sie mochte diese Bezeichnung nicht und zog es vor, sich als „Überlebende des Algerienkriegs“ zu bezeichnen. Dabei war sie noch ein Kind gewesen, als ihre Eltern Algier Hals über Kopf verlassen hatten. Sie sprach nicht gern über ihre Eltern und ihren Familiennamen kannte man ebenfalls nicht.
Keine Wolke trübte den blauen Himmel. Das Wetter war herrlich, die Sonne strahlte vom Himmel. Anne Katherine und Ariana hatten die Gewohnheiten der Belgier angenommen. Also beschlossen sie, ans Meer zu fahren.
Sie stiegen in Fräulein Luciennes Wagen. Auf der Fahrt summten sie die belgische Nationalhymne Brabançonne. Ariana, die sehr musikalisch war, sang laut und deutlich und die beiden anderen fielen vergnügt ein. Sie dachte nicht im Traum daran, dass ihr Tymilla über den Weg laufen könnte.
Als Fräulein Lucienne sich auf dem Autobahnring einordnete, der zum Meer führte, schrie Anne Katherine auf dem Beifahrersitz plötzlich:
„Pass auf! Sonst überfährst du es noch!“
Voller Panik trat die Nachbarin heftig auf die Bremse und Anne Katherine prallte mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Das Auto blieb mitten auf der Autobahn stehen.
„Was soll das?“, rief Fräulein Lucienne. „Dein Verhalten verdirbt uns noch den ganzen Tag!“
„Da war ein Tier vor dem Auto“, antwortete Anne Katherine. „Ich bin mir ganz sicher! Es war direkt vor uns!“
Während sich Fräulein Lucienne entsetzt vorstellte, dass eine wilde Bestie weit weg vom Antwerpener Zoo auf der Autobahn herumstreunte, fand Ariana es faszinierend, auf belgischen Autobahnen Tieren zu begegnen. Und prompt schlug sie vor:
„Wir könnten es mitnehmen.“
Fräulein Lucienne blickte sie verblüfft an. „Du siehst doch, dass da nichts ist!“, rief sie und ließ das Auto wieder an.
Dann fügte sie hinzu: „Ich frage mich, ob wir überhaupt weiterfahren sollen. Wenn der Antwerpener Zoo nicht gut bewacht ist, sollten wir die Reise lieber auf später verschieben.“
Anne Katherine und Ariana machten traurige Gesichter.
„Na gut, versuchen wir, Anne Katherines eingebildetes Tier zu vergessen“, seufzte sie, als sie ihre düsteren Blicke sah.
In diesem Augenblick tauchte das verschwundene Tier wieder auf. Diesmal war es Ariana, die es bemerkte.
„Entschuldige, Mama, dass ich dir nicht geglaubt habe“, sagte sie. „Jetzt habe ich es auch gesehen …“
„Ich glaube, ich spinne!“, grummelte Fräulein Lucienne. „Was redet ihr beide da immer von einem Tier?“
„Mama hat Recht!“, bekräftigte Ariana. „Da ist wirklich ein kleines Reh mitten auf der Straße. Halten Sie an, Fräulein!“
Ariana stieg aus dem Wagen, ging zu dem Tier, hob es auf und trug es ins Auto. Das Kitz lächelte sie an. Ariana erwiderte sein Lächeln. Plötzlich erkannte sie dieses weiße Kitz mit den Augen in den Farben des Sommers wieder: Es war Tymilla, das Mädchen aus dem Nichts. Angesichts der neugierigen Blicke der beiden anderen, nahm es seine menschliche Form wieder an, während Arianas Herz einen Freudensprung machte.
„Tymilla!“, rief Ariana. „Ich wusste, dass du das bist!“
Eine bucklige, magere alte Frau hatte neben ihnen angehalten, Tymillas Verwandlung mitbekommen und war in Ohnmacht gefallen. Tymilla warf ihr einen strahlenden Blick zu, der sie augenblicklich wieder auf die Beine brachte. Zu Tode erschrocken gab sie Gas und startete mit quietschenden Reifen, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Anne Katherine hatte es die Sprache verschlagen.
„Ihr wart ein weißes Rehkitz und jetzt habt Ihr euch in ein Mädchen verwandelt…“ konstatierte Fräulein Lucienne an Tymilla gewandt.
Dann brach sie in ein hysterisches Lachen aus, das nicht mehr aufhören wollte. Entsetzt fragten sich Anne Katherine und Ariana, wie ihnen geschah.
„Bitte, tu was!“, flehte Ariana und warf Tymilla einen strengen Blick zu.
Diese sprach eilig ein paar Zauberformeln und auf der Stelle wurde Fräulein Lucienne wieder normal. Einige Minuten, nachdem sie sich von ihrem Lachkrampf erholt hatte, besann sie sich allerdings. Statt in Richtung Meer zu fahren, nahm sie die Straße nach Brüssel. Ohne Zweifel hatte Tymillas Zauber gewirkt: Sie kehrten nach Hause zurück.
„Ich habe wirklich keine Lust, heute schwimmen zu gehen“, erklärte sie.
„Das geht allen so“, antwortete Anne Katherine plötzlich, die ihre Sprache wieder gefunden hatte.
„Niemand, mit Ausnahme von Ariana, hatte auch nur die geringste Idee, woher Tymilla kam. Wer war sie? Woher kam sie? Warum war sie da? Da sie als Rehkitz gekommen war, fürchteten Anne Katherine und Fräulein Lucienne, ebenfalls in Tiere verwandelt zu werden, und warfen sich beunruhigte Blicke zu.
Ariana ergriff das Wort: „Warum fahren Sie nach Brüssel zurück, Fräulein?“
„Es lohnt sich nicht mehr, ans Meer zu fahren, es ist schon spät“, antwortete Fräulein Lucienne müde.
Dann sagte sie nichts mehr.
Sie befanden sich am Ortseingang von Brüssel. Nun war für Anne Katherine der Moment gekommen, Tymilla auszufragen: „Ist Tymilla dein Vorname? Es ist sinnlos, bei den Menschen zu bleiben. Verzeih mir meine Grobheit, aber diese Welt will niemanden wie dich.“
„Wieso nicht?“, fragte Tymilla fassungslos.
„Aus dem einfachen Grund, weil du nicht zu unserer Welt gehörst“, erwiderte Anne Katherine.
„Es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber ich bin Ihr Gast“, entgegnete Tymilla kühl.
Nun wandte sich Anne Katherine an Fräulein Lucienne. „Was sollen wir mit ihr machen? Soll sie mit zu uns kommen?“
„Das ist viel zu gefährlich“, antwortete Fräulein Lucienne. „Was sollen wir den Nachbarn sagen? Und wenn sie sich wieder in ein Rehkitz verwandelt?“
Sie fixierte Tymilla und fügte hinzu: „Schau dir nur ihren Aufzug an! Man sieht, dass sie nicht von hier ist.“
„Vielen Dank!“, sagte Tymilla.
Plötzlich blitzte es und Tymilla saß in einem rosa Kleid vor ihnen. Jetzt sah sie aus wie alle anderen, so wie Fräulein Lucienne es wollte. Nun konnten Anne Katherine und Fräulein Lucienne keine weiteren Einwände vorbringen, die ihnen Recht gegeben hätten.
„Ich habe dich den ganzen Tag gesucht!“, wandte Tymilla sich an Ariana.
Plötzlich wusste Anne Katherine, dass ihre alten Albträume sie bis nach Brüssel verfolgt hatten. Sie fühlte sich völlig vernichtet. Doch wieso konnte eine kleine Unbekannte ihr so viel Angst machen? Kannte sie ein Geheimnis, das sie sich geschworen hatte, ihren Nachbarn nie zu enthüllen? Floh sie vor ihnen, damit sie nicht wussten, wer sie wirklich war? Es heißt, dass einen die Vergangenheit immer einholt. Entweder erschreckt sie einen zu Tode oder macht einen glücklich. Bei Anne Katherine war Ersteres der Fall. Sie spürte, wie ihr Herz einen wahren Trommelwirbel in der Brust veranstaltete, als ob etwas Geheimnisvolles mit ihr geschehen wäre. Sie hatte den Eindruck, das sei ein böses Omen: Dieses Mädchen brachte eine Nachricht, die das Leben ihrer Tochter verändern würde.
Plötzlich befahl sie ihrer Nachbarin, Gas zu geben. Ihre Lust, sich am Strand zu sonnen, verging auf einer Auffahrt des Autobahnrings.
Anne Katherines Wohnung hatte nur zwei Zimmer: eins für sie, das andere für Ariana. In Arianas Zimmer befand sich ein Einzelbett und ein Schreibtisch, auf dem große Kisten mit Spielzeug standen. In einer Ecke lagen Plüschbären und ein Haufen Puzzleteile. „Da können wir unmöglich ein zweites Bett für Tymilla aufstellen“, überlegte Anne Katherine.
Die Wohnung von Fräulein Lucienne verfügte ebenfalls über zwei Zimmer: eins für sie und ein Gästezimmer mit einem Doppelbett. Anne Katherine wollte gerade Fräulein Lucienne fragen, ob sie Tymilla bei ihr einquartieren könnten.
„Ich bin nur auf der Durchreise bei Ihnen“, sagte Tymilla plötzlich. „Heute Abend kehre ich dorthin zurück, wo ich herkomme, das heißt in das Königreich Elfina.“
„Wie hast du meine Gedanken erraten?“, fragte Anne Katherine verstört. Ich wollte, dass du bei meiner Nachbarin übernachtest…“
„Ich komme aus einer Welt, in der man die Gedanken der Menschen lesen kann … ich habe Ihre Gedanken gelesen. Danke, aber ich möchte Ihre Gastfreundschaft nicht missbrauchen. In der Regel übernachte ich nicht, wenn ich reise. Es ist neunzehn Uhr und ich muss um Mitternacht zurück sein.“
Einen Augenblick schaute Anne Katherine Tymilla schweigend an.
„Und wie kehrst du nach Hause zurück? Verwandelst du dich in ein Reh, ein Pferd oder vielleicht eine Ziege?“, fragte sie ironisch.
„Nein, Madame. Ich bin als Rehkitz gekommen, aber diesmal gehe ich, so wie Sie mich hier sehen,“ antwortete Tymilla mit sanfter Stimme.
„Was wird Fräulein Lucienne denken, wenn sie dich nicht mehr sieht?“
„Ich werde dafür sorgen, dass sie alles vergisst“, bekräftigte Tymilla.
Dann atmete sie tief durch und begann erleichtert ihren Vortrag, als hätte sie schon lange auf diesen Augenblick gewartet.
„Madame, Sie müssen unbedingt akzeptieren, dass Ihre Tochter eine der Unsrigen ist. Sie hat einen Zwillingsbruder, den Sie sich weigern anzuerkennen. In diesem Moment, da ich mit Ihnen rede, befindet sich ihr Zwillingsbruder Samuel Collins in Elfina.“
„Du willst mir nicht sagen, dass Ariana eine Fee ist?“, rief Anne Katherine irritiert.
„Doch, Madame, genau das versuche ich Ihnen zu sagen.“
„Was hast du jetzt vor?“
„Mit Ariana reden.“ Dann ging sie zu Ariana. „Ariana, lass mich dir wenigstens sagen, wer du bist.“
„Ich bin eine Fee!“, beeilte sich Ariana zu antworten.
„Faszinierend!“, rief Tymilla kopfschüttelnd. „Ja, eine Fee.“
„Unsinn!“, rief Anne Katherine verzweifelt. „Das sind alles Kindereien. Und jetzt geh dahin zurück, wo du hergekommen bist!“
Angesichts Anne Katherines Reaktion färbte sich Tymillas Gesicht rot. Anscheinen hatte ihr diese heftige Antwort nicht gefallen.
Plötzlich flog eine kleine geflügelte schwarze Kugel durch Anne Katherines Wohnzimmer und klammerte sich flach an die Wand. Es war Anne Katherine, die in eine Fledermaus verwandelt worden war.
„Warum hast du das mit Mama gemacht?“, kreischte Ariana.
„Es war die einzige Lösung, damit sie uns in Ruhe lässt“, erklärte Tymilla.
Dann fuhr sie fort, als ob nichts geschehen wäre, ließ einen prächtigen Spiegel erscheinen und reichte ihn Ariana.
„Was für ein wunderbarer Spiegel!“
„Das ist ein Zauberspiegel“, erwiderte Tymilla.
Der Spiegel war groß und oval. Sie konnte ihn nur an die Wand des Wohnzimmers lehnen. Tymilla erlaubte ihr hineinzuschauen.
Das Schicksal ihrer Mutter war nicht mehr wichtig. Sie ging zum Spiegel, aus dem ein paar Lichtfunken sprühten. Ariana war überrascht, aber ihre Neugier siegte und sie trat näher heran. Da sah sie auf der anderen Seite des Spiegels einen wundervollen Ort, voller junger Frauen, Mädchen und Jungen. Alle trugen blaue, hellgrüne, oder weiße Gewänder. In der Hand hielten sie Zauberstäbe aus Elfenbein und trugen funkelnde Diamantkronen auf dem Kopf.
„Sehr beeindruckend! Was ist das?“, fragte Ariana, immer mehr interessiert.
„Das ist das Königreich Elfina“, erklärte Tymilla. „Du siehst die Kinder deines Alters.“
„Ja, aber ich, was mache ich im Königreich Elfina? Ich bin nur ein ganz normales Mädchen. Wenn ich auf die andere Seite gehe, bin ich nicht mehr wie die anderen.“
Plötzlich brach sie in Tränen aus und rief, in alle Richtungen gestikulierend: „Nein, ich gehe nicht dahin! Ich kann Mama nicht ganz allein lassen! Ich will meine Mama nicht ganz allein lassen! Dort, hinter dem Spiegel, werde ich eine Gefangene sein wie die anderen und das will ich nicht Nein, das will ich nicht!“
Während Ariana weinte, wirbelte die Fledermaus aufgeregt über ihrem Kopf herum. Mit einer Handbewegung zauberte Tymilla das Tier an der Decke fest. Dann trat sie zu Ariana, legte ihr die Hände auf die Schultern und schüttelte sie sanft.
„Aber schließlich wirst du dem Königreich Elfina nützlich sein!“, sagte sie betrübt. „Ich hätte Effira bitten sollen, an meiner Stelle zu kommen …“
Dann setzte sie sich neben Ariana und fuhr freundlich fort: „Beruhige dich, Ariana, und erinnere dich an das letzte Mal, als ich dich an deinem Geburtstag besucht habe. Ich hatte dir ein Amulett mit einer Libelle dagelassen.“
„Das Amulett mit der Libelle …“, wiederholte Ariana mit aufgerissenen Augen.
„Ja!“, rief Tymilla. „Das Amulett mit der Libelle, erinnerst du dich?“
„Ja, aber ich habe sie Mama gegeben und ich weiß nicht, wo sie sie hingetan hat“, antwortete Ariana mit weinerlicher Stimme.
Tymilla ließ sich auf Arianas Bett fallen und starrte eine Weile auf die Fledermaus, die an der Decke klebte, bevor sie fortfuhr: „Mit diesem Schmuckstück kannst du auf die andere Seite des Spiegels gelangen und wieder zu den Menschen zurückkehren. Es ist der Schlüssel zum Tor des Königreichs Elfina. Du musst alles tun, um ihn von deiner Mutter zurückzubekommen.“
„Und wie soll ich das machen?“, heulte Ariana. „Meine Mama hängt als Fledermaus an der Decke.“
„Ariana“, gab Tymilla zurück, „du kannst deine Mama wieder zurück verwandeln, so wie sie war. Du hast die Macht, das zu tun.“
„Was? Was? Ich… kann… Mama… wieder zurückholen? Aber wie?“, stammelte Ariana.
„Ja, du kannst deine Mama wieder zurückverwandeln, du hast diese Macht“, wiederholte Tymilla.
„Aber wie? Ich wurde nicht ausgebildet, wie die Kinder hinter dem Spiegel. Wie könnte ich das, ohne im Königreich Elfina gewesen zu sein?“
„Zur Fee! Es ist dreiundzwanzig Uhr. Ich muss blad zurück“, bemerkte Tymilla.
„Aber du hast mir weder etwas über mich noch über das Königreich Elfina erzählt“, protestierte Ariana.
„Du wirst es erfahren, wenn du das Amulett gefunden hast. Es besitzt viele Geheimnisse. Wenn du diesen Anhänger hast, weißt du alles über dich. Ich werde es dir nicht wiederholen müssen.“
Sie warf einen durchdringenden, bösen Blick zur Decke, als ob die Fledermaus die Ursache allen Unglücks im Königreich Elfina sei.
„Ich werde versuchen, deine Mutter dort herunterzuholen. Sie weiß viele Dinge über dich, viel mehr als du denkst.“
Tymilla blinzelte mit ihren langen blonden Wimpern und sogleich nahm Anne Katherine wieder ihre menschliche Form an. Wütend stürzte sie sogleich zum Telefon, um die Polizei anzurufen.
„So kommst du mir nicht davon, Tymilla! Wir sind hier bei den Menschen und da gibt es Regeln, die einzuhalten sind!“, schrie sie.
Doch sobald sie den Hörer abnahm, flehte Ariana sie an: „Nein, Mama! Tymilla ist meine Freundin …“
In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Immer noch hochgradig erregt, ging Anne Katherine öffnen.
„Kann ich Ihnen helfen, Madame?“, fragte ein Mann in Uniform. „Ich habe Schreie auf der Straße gehört.“
„Ja, mein Herr. Da ist dieses Mädchen, da hinten, im Wohnzimmer“, antwortete Anne Katherine schroff.
Der Polizist schaute sorgfältig in jeden Winkel des Wohnzimmers. Nicht die geringste Spur eines Mädchens. Es war Mitternacht. Tymilla war ins Königreich Elfina zurückgekehrt.
Am nächsten Morgen erwähnte Anne Katherine die Ereignisse des Vorabends mit keinem Wort.
An diesem Montag schien die Sonne durch das Fenster ihres Zimmers. Glücklich stand sie auf und summte die Melodie von Macarena vor sich hin. Ihre hohe Stimme ließ Ariana aus dem Schlaf auffahren.
„Los, los, los! Aufstehen! Es ist sieben Uhr morgens! Siehst du nicht die Sonnenstrahlen in deinem Fenster?“