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Durch den Zorn des Zauberspiegels geraten Ariana und Manon in das Königreich des Nordflusses, eine infizierte, schlammbedeckte Insel. Dort lernen sie Tomina kennen, die Königin dieses Reiches, die von ihrem Gatten, dem unheilbringenden König Bijoval, in ein Wildschwein verwandelt wurde. Wie können sie Königin Tomina ihre menschliche Gestalt zurückgeben? Wie gegen König Bijoval kämpfen, der sich anschickt, das Königreich Elfina anzugreifen? Und wie das heilige Schwert vom Grund des geheimnisvollen Flusses zurückholen, um den Herrschern von Elfina zu helfen? Doch in dem sonderbaren Reich der Feen ist alles möglich ... Und der Zauber wirkt!
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Neugierige Nachbarn
Samuel Collins' Besuch
Die Ente mit den zwei Köpfen
Frau Chatouilles Schüler
Der Zorn des Zauberspiegels
Die Bache und die zwei Frischlinge
König Adamaïs
Tymilla und die Kinder der Wiesenfee
Mutter Zentaurus
Der mysteriöse Fluss und das heilige Schwert
Goldzweig
Der große Vogel aus meinem Traum
Ariana lernt Anthony kennen
Bino, die Sonnenblume
König Adamaïs und das heilige Schwert
Begegnung mit General Goldzweig und Paquelords Überraschung
Arianas neunter Sinn
König Adamaïs und Bijovals Armee
Die Schlacht um das Königreich Elfina
Das Licht der Freude und Paquelords Verwandlung
Samuel Collins macht einen Fehler
Anne Katherines Haus war heute vollkommen friedlich, doch zum ersten Mal erschien den Van Buillers diese Ruhe sonderbar. Immerhin konnte das Viertel endlich wieder einmal ruhig schlafen, seit Bernard Coppens aus Bern gekommen war. Jedenfalls dachten das die Van Buillers.
„Verstehst du, Therese, Herr Coppens hätte da sein müssen, als sie hier eingezogen sind“, erklärte Herr Van Buillers seiner Frau.
„Oh, diese Leute! Reden wir besser nicht von denen“, antwortete sie, während sie Ariana von ihrer Terrasse aus verstohlen beobachtete.
Frau Van Buillers böser Blick machte Ariana so wütend, dass sie hastig aufstand und sich zu ihr umdrehte.
„Wenn wir Sie stören, können Sie ja umziehen!“, rief sie sarkastisch.
Frau Van Buillers antwortete nicht. Sie begnügte sich damit, in ihrem Haus zu verschwinden. Anne Katherine würde sie ohnehin nicht mehr darum bitten, auf Ariana aufzupassen, da sie eine neue Kinderfrau hatte. Besser so!
Frau Barbara Pimenta Da Silva hatte bei ihrem früheren Chef unter dem Vorwand gekündigt, dass sie nicht gut genug bezahlt wurde, um bei Anne Katherine als Kinderfrau zu arbeiten.
Auch wenn Herr und Frau Van Buillers die im Viertel herrschende Ruhe zu schätzen wussten, wollten sie doch wissen, was in Anne Katherines Haus vor sich ging, und so erkundigten sie sich bei der neuen Kinderfrau. Selbstverständlich erzählte diese ihnen alles über das Tun und Treiben ihrer Nachbarin.
Eines Morgens im Juni, als Bernard und Anne Katherine an der belgischen Küste im Urlaub waren, erzählte Frau Barbara Pimenta den Van Buillers also, dass Herr Bernard möglicherweise erneut fortgehen würde.
Seit Bernard da war, schien Herr Van Buillers unzufrieden, als wolle er, dass Anne Katherine allein bliebe. Vielleicht war er heimlich in sie verliebt …
„Berichten Sie mir auch das kleinste Fehlverhalten ihrer Arbeitgeber, Frau Pimenta, damit wir uns bei der entsprechenden Behörde über sie beschweren können“, verlangte Van Buillers und lugte mit dem Kopf über die Gartenmauer. „Man muss seine Rechte kennen! Die Leute von heute neigen dazu, Menschen wie Sie auszunutzen.“
„Aber Herr Van Buillers, das ist doch lächerlich, was Sie da sagen. Meine Chefin hat mich nie besonders hart gefordert“, gab Frau Pimenta ruhig zurück. Sie war überzeugt, dass Anne Katherine nie etwas tun würde, das ihr schaden könnte.
Obwohl diese Frau Pimenta alles über ihre neuen Arbeitgeber wusste, abgesehen von dem geheimen Leben ihrer Tochter Ariana, sprachen die Van Buillers sie mit keiner Silbe darauf an. Zweifellos hatten sie Angst, die Alpträume der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Ihre Gespräche drehten sich stets um Bernard bei der Arbeit oder zu Hause. Wenn die Neugier sie dazu trieb, sprachen sie auch darüber, wie Anne Katherine angezogen war. Was die Meerts anging, so zogen sie es vor, nicht einmal Arianas Namen auszusprechen. Zumindest ersparten sie sich so die Probleme, die sie ihnen bereiten könnte.
Eines Tages jedoch konnte Herr Van Buillers das Geheimnis nicht länger für sich behalten und rief die Kinderfrau zu sich. Diese unterbrach ihre Arbeit und kam zur Mauer hinüber.
„Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass die Tochter von denen ein bisschen seltsam ist?“, fragte Herr Van Buillers. „Sie behauptet, eine Fee zu sein und unsichtbare Freunde zu haben.“
„Nein, Herr Van Buillers“, antwortete Frau Pimenta. „Zu Hause ist Ariana ein braves Kind und verhält sich mir gegenüber tadellos.
Worauf wollen Sie hinaus? Man könnte meinen, sie suchten nach einer Laus in Anne Katherines Pelz.“
„Ich wollte Ihnen bloß raten, ein Auge auf dieses Kind zu haben. Es benimmt sich manchmal ziemlich sonderbar.“
Frau Pimenta gab einen unterdrückten Ton von sich, als hätte sie einen großen Bissen Fleisch verschluckt. Sie starrte den Nachbarn verblüfft an. Der jedoch sagte ihr nur knapp „Auf Wiedersehen“, da er Therese näherkommen sah.
„Was wollte sie von dir?“, rief Frau Van Buillers in frostigem Tonfall.
„Nichts, gar nichts“, antwortete er.
Er entfernte sich von der Mauer, ohne einen weiteren Blick mit der Kinderfrau zu wechseln, und ging dann in sein Wohnzimmer. Frau Pimenta lief ebenfalls zurück und machte sich wieder an die Hausarbeit.
Nach der Rückkehr der Coppens aus dem Urlaub verhielt sich die Kinderfrau – Barbe, wie Ariana sie nannte – ihr gegenüber seltsam. Offensichtlich zeigten die Behauptungen der Nachbarn Wirkung. Von nun an behandelte Barbe Ariana wie eine Fremde. Sie kam nicht einmal mehr hinauf, um ihr Bett zu machen, unter dem Vorwand, dass sie ja jetzt schon groß sei und es selbst lernen müsse.
„Es wird Zeit, dass du dein Bett alleine machen kannst“, rief Barbe.
„Du hast Recht, Barbe“, stimmte Anne Katherine ihr zu. „Sie muss lernen, zurechtzukommen.“
Für die Kinderfrau war das ohne Zweifel die einzige Möglichkeit, sich von Ariana fernzuhalten, diesem sonderbaren Kind, wie der Nachbar sie bezeichnet hatte.
Herr und Frau Coppens hatten sich in einer großen Bank in Bern kennengelernt. Sie hatten beschlossen, zu heiraten und ein Kind zu adoptieren. Nach einiger Zeit der Suche mithilfe verschiedener Adoptionsagenturen stolperten sie über eine Agentur aus Irland, die ihnen Ariana vermittelte. Ein irischer Hellseher hatte Anne Katherine anvertraut, dass Ariana aus einer unsichtbaren Welt stammte.
Mit drei Monaten gehörte Ariana zur Familie und galt rechtmäßig als ihre Tochter. Aber Erscheinungen von weißgekleideten Frauen sorgten dafür, dass Anne Katherine umzog und sich nach Brüssel flüchtete, um, wie sie sagte, ihre Tochter zu beschützen. Ein paar Jahre später erfuhr Ariana von ihrer Mutter die ganze Wahrheit über ihre Adoption und die Existenz ihres Zwillingsbruders, der ebenfalls von einer irischen Familie adoptiert worden war, sowie ihre Zugehörigkeit zur unsichtbaren Welt. Ariana ging nach Elfina, um das unsichtbare Volk zu retten, das von dem schrecklichen gefährlichen Zauberer Paquelord mit einem Fluch belegt worden war. Später fand Ariana heraus, dass sie die Tochter der Königin des unsichtbaren Königreichs war. Sie sollte dem furchtbaren Zauberer Paquelord die Stirn bieten …
Mittlerweile war Ariana aus dem Königreich Elfina zurückgekehrt, nachdem dort Licht und Würde wiederhergestellt worden waren.
Inzwischen lebten Herr Coppens und Anne Katherine wieder zusammen und mussten eine Kinderfrau engagieren, da es nicht mehr infrage kam, Ariana von Haus zu Haus mitzunehmen. Anne Katherine hatte drastische Maßnahmen ergriffen, um nur ja nicht den Van Buillers über den Weg zu laufen.
Herr Coppens hatte Bern zwar verlassen, um in Brüssel zu leben, arbeitete aber trotzdem noch bei derselben Bank. Seine Geschäftsreisen waren häufiger geworden und er war kaum noch zu Hause. Anne Katherine war immer noch Sekretärin bei Van Der Meerch, einem bekannten Anwalt aus Brüssel. Ihre Arbeit hatte sich nicht geändert, außer dass sie sich in letzter Zeit darüber beklagte, nur noch Beschwerden über Haustiere bearbeiten zu dürfen, als hätte ihr Arbeitgeber nur noch mit solchen Fällen zu tun. Das ärgerte Anne Katherine. Also dachte sie an Fräulein Lucienne, um sich abzulenken. Aber diese war zu Lambrecht, ihrem Gerichtsvollzieher, nach Molenbeek gezogen. Anne Katherine hatte nun neue Nachbarn: die Meerts.
Die Meerts hatten keine Kinder. Sie waren kein junges Paar mehr. Sie hatten nie erzählt, warum sie kein Kind bekommen wollten. Vielleicht hüteten sie ein Geheimnis, über das die Van Buillers, die „Alleswisser“ des Viertels, Bescheid wussten …
Anne Katherine kannte die Meerts nicht besonders gut. Also ging sie auf direktem Wege nach Hause, sobald sie mit der Arbeit fertig war. Die Meerts hingegen wussten alles über sie, denn die Van Buillers hatten sie über Anne Katherines Gewohnheiten informiert und insbesondere über das merkwürdige Verhalten ihrer Tochter Ariana.
Nachdem Anne Katherine ihr Auto geparkt hatte, empfing Barbe sie vor der Tür, um ihr die Einkäufe abzunehmen, die sie aus dem Supermarkt nicht weit von ihrer Arbeitsstelle mitgebracht hatte.
„Danke! Ist Ariana schon von der Schule zurück?“, fragte sie.
„Nein, noch nicht“, antwortete Barbe.
In diesem Moment unterbrach Frau Van Buillers ihr Gespräch mit der neuen Nachbarin und kam näher, um Anne Katherine zu belauschen.
„Sie müsste bei ihrer Freundin Manon sein“, teilte Barbe ihr mit. „Wenn Sie wollen, kann ich sie abholen.“
„Machen Sie sich keine Umstände, ich werde selbst vorbeigehen“, sagte Anne Katherine.
Frau Van Buillers nahm ihre Unterhaltung mit Frau Meert wieder auf. Unterdessen hörte sie noch, was Anne Katherine zu ihrer Kinderfrau sagte und gab es an Frau Meert weiter. Seit Monaten schon hatte Therese den Eindruck, dass Anne Katherine etwas zu verbergen hatte. Deshalb hatte sie sich mit Rosette angefreundet, um mehr herauszufinden. Die Meerts waren beide Professoren an einer Hochschule in Anderlecht. Wenn Rosette nicht von ihren Studenten erzählte, dann von Anne Katherine. Ja, die zwei verstanden sich wirklich ausgezeichnet!
“Ich glaube, ihr Banker kommt nicht allzu oft nach Hause”, stellte Therese in gemeinem Ton fest. „Dabei wohnt er in der Krokusstraße.“
„Barbe hat mir erzählt, dass sie manchmal mit ihm auf Geschäftsreise geht“, sagte Rosette.
„Allerdings!“, gab Therese mit ernster Stimme zurück.
Die Meerts wussten zwar, dass es Ariana gab, hatten sie aber noch nie selbst gesehen. Offenbar hatte Ariana keine Lust, sich den neuen Nachbarn zu zeigen. Sobald sie das Haus verließ, um zur Schule zu gehen oder Manon zu besuchen, machte sie sich unsichtbar. Das war ihre Art, Frau Van Buillers Geschwätz zu entgehen.
Am nächsten Tag war Ariana auf dem Heimweg. Es war ein schöner Abend, die Sterne standen in all ihrer Pracht am Himmel. Sie kam an der U-Bahn-Haltestelle Saint-Guidon vorbei. Eine zierliche Frau überholte sie. Ariana drehte sich abrupt um und erkannte sie.
„Guten Tag, Frau Meert“, sagte sie zu der Frau.
Rosette schrak heftig zusammen. Sie schaute zu dem kleinen Mädchen, das sie gerade angesprochen hatte.
„Sie sind doch Frau Meert? Unsere Nachbarin?“, fragte Ariana ohne jede Verlegenheit.
„Ah! Du bist Ariana!”, rief Frau Meert verwundert. „Du siehst wie ein braves Kind aus. Was machst du um diese Zeit hier draußen?“
„Es ist nicht einmal 20 Uhr, Frau Meert“, antwortete Ariana.
„Dein Papa sollte lieber nicht erfahren, dass du um diese Zeit draußen herumtrödelst“, sagte Frau Meert.
Da bedachte Ariana Frau Meert mit einem verächtlichen Blick und rief:
„Ich weiß, dass Sie und unsere allwissende Nachbarin, Frau Van Buillers, über meine Mutter geredet haben.“
„Was erzählst du da, mein Kind? Du bist zu…jung, um… so etwas zu… sa…gen“, stammelte Rosette.
Ariana kam näher und musterte Frau Meert von oben bis unten.
„Warum schaust du mich so an?“, fragte diese beunruhigt.
„Damit Sie und Ihr Mann wissen, dass Ihre Spielchen nicht funktionieren werden, weil ich Bescheid weiß“, gab Ariana mit überlegener Miene zurück.
Rosette glaubte für einen Moment, ihr Herz würde stehenbleiben. Sie begriff nicht, was Ariana ihr gerade vorgeworfen hatte.
„Ich weiß ja nicht, was du vorhast“, antwortete sie, „aber Frau Van Buillers hat mir alles über eure Umtriebe erzählt und...“
Frau Meert sprach weiter, aber Ariana hörte schon nicht mehr zu und machte sich wieder auf den Heimweg. Als Rosette merkte, dass sie wegging, hörte sie auf zu reden. Zweifellos wäre sie ihr gerne hinterher gelaufen, doch Arianas abfälliges Verhalten ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben.
Während sie schließlich darüber nachdachte, doch nach Hause zu gehen, kam ein großer, dunkelhaariger Mann auf sie zu.
„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er.
„Ah! Du bist es…”, sagte sie in schleppendem Ton, als hätte sie ihre Zunge verschluckt.
Herr Jacques Meert stand vor ihr. Als er sah, wie tief seine Frau in Gedanken versunken war, fragte er sie noch einmal:
„Was ist denn mit dir los, Rosette?“
„Nichts, nichts … Es war Ariana, die Tochter unserer Nachbarin.“
„Ariana? Also hast du sie endlich kennengelernt!“, rief er erfreut.
„Ja, ich woll…te ihr nur sa...gen …“
Aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht richtig. Also verstummte sie wieder.
„Nun komm, Rosette, sie ist doch nur ein Kind!“
Herr Meert war sich sicher, dass dieses kleine Mädchen, über das die Van Buillers so viel redeten, und manchmal ganz schön übertrieben, genauso normal war wie alle anderen Kinder.
Letztendlich handelte es sich doch nur um Nachbarschaftstratsch!
„Nun, Rosette, was hast du denn?”, beharrte er mit Blick auf das bleiche Gesicht seiner Frau. „Ich glaube, wir sollten besser heimgehen, statt hier weiter herumzustehen“, fügte er hinzu.
Auf seine Weise versuchte Herr Meert, seine Frau zur Vernunft zu bringen und daraufhin machten sie sich beide auf den Weg zur Krokusstraße.
Am nächsten Morgen sagte Rosette nichts zu Therese. Sie kam gar nicht auf die Idee, ihre Begegnung mit Ariana an der Haltestelle Saint-Guidon zu erwähnen. Sie bemühte sich sogar, jegliches Geplauder zu vermeiden. Für Frau Van Buillers, die von Anne Katherines Leben wie besessen war, galt das allerdings nicht.
Kaum war Barbe vom Supermarkt zurückgekommen und schickte sich an, die Treppe hinaufzugehen, passte Therese sie ab:
„Anne Katherine wollte sich ein neues Auto leisten, nicht wahr?“
Das hatte sie sie schon am Tag zuvor gefragt und Barbe hatte ihr alles berichtet. Nun brannte sie darauf, es Rosette weiterzuerzählen. Rosette jedoch verließ nach ihrem Treffen mit Ariana zwei Tage lang nicht das Haus und ließ ihre Nachbarin in dem Glauben, sie habe sich bei einer falschen Bewegung den Knöchel verstaucht. Sie legte sich sogar einen bleischweren Gipsverband zu, um nicht in den Garten zu müssen. Damit hoffte sie, Therese zu entkommen, denn ihre Gespräche drehten sich ausschließlich um Ariana.
Seit etwa drei Monaten hatten Ariana, Manon und Samuel nicht mehr miteinander telefoniert. Manon war zu sehr mit ihrer kleinen Schwester Manoé beschäftigt, um ihre Freundin anzurufen. Ariana hätte sich zwar unsichtbar machen und Manon in der Rue Neerpède treffen können, der Gedanke kam ihr jedoch gar nicht in den Sinn. Stattdessen spazierte sie durchs Viertel. Und wenn sie Katzen oder Hunden begegnete, machten die sich ganz schnell aus dem Staub. Dieses Phänomen war neu für sie, aber sie schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Auch wenn sie Passanten zusah, die unter ihrem Fenster vorbeigingen, beeilten sich diese, nach Hause zu kommen. Dieses Verhalten ihr gegenüber war ihr gleichgültig. Seltsamerweise dachte sie überhaupt nicht an das Königreich Elfina, weder an Tymilla, Tamita, Eminara, Königin Tamarina, ihre Mutter im Königreich Elfina, noch irgendeine andere Person aus der unsichtbaren Welt. Es war, als sei diese kleine Welt mit der sie so eng verbunden gewesen war, komplett aus ihrer Erinnerung gelöscht worden.
Allerdings kreisten ihre Gedanken mehr und mehr um ihren Bruder Samuel und was sie zusammen machen würden, wenn er in Brüssel wohnen würde.
Sobald sie von der Schule kam, stürzte sie zum Telefon, um zu sehen, ob jemand angerufen hatte. Barbe antwortete jedes Mal mit Nein. Daraufhin ging sie niedergeschlagen auf ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett plumpsen und schaltete den kleinen Fernseher ein, den ihr Herr Coppens in den Sommerferien geschenkt hatte.
Es war neun Uhr morgens, der Himmel war wolkenlos, die ersten Sonnenstrahlen reckten sich über den Horizont, als sie Lust bekam, ihren Bruder anzurufen. Plötzlich erklang ein Schrei aus dem Wohnzimmer. Es war Barbe, die da zeterte:
„Schau nur, wie du den Staubsauger hingestellt hast! Da gehört er nicht hin!“, stellte sie in herrischem Ton fest, als sei Ariana die Hausangestellte.
„Das ist nicht meine Aufgabe“, wies diese sie schroff zurecht.
Dann stampfte sie mit wutverzerrtem Gesicht zurück in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Barbe gefiel dieses Verhalten ganz und gar nicht.
„Wie ungezogen!“, grollte die Kinderfrau und folgte ihr auf der Stelle.
„Kannst du mir bitte mal erklären, was dieses abscheuliche Benehmen gegenüber einer Erwachsenen soll?“, wollte sie mit lauter Stimme wissen.
Barbe versuchte, sie auf ihre Weise zu erziehen, angesichts der schlimmen Dinge, die ihr die Van Buillers über Arianas rätselhaftes Verhalten anvertraut hatten. Tatsächlich hatte Ariana dem Staubsauger einen Tritt versetzt, als sie ins Wohnzimmer kam, und die Kinderfrau war aus der Haut gefahren.
„Ich kann nichts dafür, dass deine Eltern ständig weg sind“, sagte Barbe.
„Das habe ich auch nie behauptet“, gab Ariana missmutig zurück.
„Also willst du den Nachbarn Recht geben?“, fragte die Kinderfrau.
„Die Nachbarn!“, rief Ariana da böse aus und stürzte zu der Babysitterin.
„Schon wieder diese Van Buillers! Die meinst du doch, oder?“
Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sprang Barbe mit einem Satz zurück. Ihre Stimme kam ganz erstickt aus ihrer Kehle.
„Nein, nein, Ariana!“, verteidigte sie sich mit ängstlicher Stimme. „Ich bitte dich, diese Leute haben mir gar nichts über dich erzählt…“
„Und warum hast du sie dann erwähnt?“, fragte Ariana und baute sich vor ihr auf.
„Ich weiß nicht“, log Barbe.
Ariana verlangte eine Antwort von Barbe.
„Hör zu, mein Kind, mehr kann ich dir dazu nicht sagen“, erwiderte diese vorsichtig.
„In dem Fall“, sagte Ariana, „werde ich zu ihnen gehen und ihnen sagen, dass sie ihre Spielchen uns gegenüber sein lassen sollen …“
Sie hatte kaum einen Schritt zur Haustür gemacht, als ein Geräusch ertönte, das von gelb leuchtenden Funken begleitet wurde. Barbe wandte sich in Richtung von Anne Katherines Zimmer, da sie glaubte, der Lärm sei von dort gekommen. In Wirklichkeit kam das Geräusch aber aus Arianas Zimmer. Der Zauberspiegel, der einst auf Anne Katherines Kommode gelegen hatte, befand sich mittlerweile auf Arianas Schreibtisch neben ihrem Computer. Barbe wusste nicht, ob der Spiegel tatsächlich magisch war oder nur ein ganz gewöhnlicher Spiegel. Es war ihr nie eingefallen, sich diese Frage zu stellen. Selbst wenn sie über die magischen Kräfte des Spiegels Bescheid gewusst hätte, so hätte sie sich doch nie gefragt, wozu ein solcher Spiegel in einer zivilisierten Stadt wie Brüssel gut sein sollte. Also begnügte sie sich damit, ihn zu polieren. Als sie das Zimmer betrat, sah sie den Spiegel unzerbrochen und ohne die geringste Spur einer Beschädigung auf dem Teppich liegen. Der Computer, die von Ariana gemalten Bilder, die normalerweise an der Wand hingen, die auf dem Tisch abgelegten Bücher und Ordner lagen allesamt auf dem Boden. Auf den ersten Blick dachte sie an die Arbeit, die sie jetzt schon wieder damit hätte, dann fiel ihr Blick auf einen Jungen mit tadellos frisiertem Haar und weiß bemaltem Gesicht, der prachtvolle Kleider trug und gerade aus dem zu Boden gefallenen Spiegel trat.
Barbe hatte diesen Jungen noch nie zuvor gesehen. Es war Samuel Collins. Sie stieß ein lautes Kreischen aus, an dem sie fast erstickte, und fiel in Ohnmacht. Samuel verschwand auf der Stelle. Nun betrat Ariana ihrerseits das Zimmer. Außer der Babysitterin, die der Länge nach am Boden lag, sah sie jedoch niemanden. Als sie den magischen Spiegel auf dem Boden entdeckte, dachte sie sofort an das Königreich Elfina und war nicht überrascht, dass der Spiegel kleine Lichtfunken versprühte. Sie begriff, wer da war. Gerade schickte sie sich an, die Oberfläche des Spiegels zu berühren, als Barbe wieder zu sich kam.
„Sieh doch, der… Junge, der klei…ne Junge“, brabbelte die Babysitterin.
Über diesen Worten verlor sie auch schon wieder das Bewusstsein.
„Zeige dich!“, murmelte Ariana.
„Nein, nein, die Kinderfrau hat mich gesehen“, sagte Samuel.
Ariana schaute in ihrem Schrank nach, dann hinter dem Bett.
„Ich bin hier, unter dem Bett.“
„Samuel, du bist es! Warum hast du so lange gebraucht?“
„Die Kinderfrau wird nicht lange brauchen, bis sie sich erholt“, antwortete er.
„Schön, ich bringe sie ins Wohnzimmer.“
Ariana machte eine Handbewegung und in dem Moment, als Barbe die Augen öffnete, schwebte sie über den Teppich wie ein Schmetterling und fand sich sogleich ausgestreckt auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder. Als sie Ariana verschwinden sah, wurde sie wieder ohnmächtig.
Dieses Mal kam Samuel aus seinem Versteck. Das Gesicht immer noch weiß, trug er einen Turban auf dem Kopf und die Kleider eines indischen Edelmannes. Er wandte sich seiner Schwester zu.
„Was soll denn dieser Aufzug?“, flüsterte Ariana.
„Das ist die einzige Weise, wie ich mich von anderen Kindern unterscheiden kann.“
„Na, man kann jedenfalls nicht sagen, es hätte seine Wirkung verfehlt“, bemerkte Ariana, ohne ihren Blick von der Wohnzimmertür zu wenden. „Was hast du gemacht, du hast aufgehört, mich anzurufen! Ich bin fast vor Angst gestorben bei dem Gedanken, dich wieder zu verlieren. Sag mir, was ist passiert?“
„Tymilla hat mich vor ein paar Wochen besucht“, antwortete Samuel.
„Was?“, fragte Ariana verblüfft. „Macht der Fluch immer noch Probleme?“
„Nein, viel schlimmer. Es ist Bijoval.“
„Wer ist das?“
„Das ist der Bruder von König Adamaïs.“
„Was will er von seinem Bruder?“
„Sein Königreich will gegen das von Adamaïs in den Krieg ziehen.“
„Und warum?“
„Das weiß ich nicht.“
„Weiß Tymilla was darüber?“
„Ja, ich denke schon.“
„Ok, was können wir tun?“
„Nun, Tymilla sagt, dass wir die einzigen Erben des Königreichs sind und wir etwas tun müssen, um Elfina aus dieser schwierigen Lage herauszuhelfen. Nach allem, was sie erzählt hat, ist Bijoval auch ein König und zwar des Königreichs des Nordflusses. Er wird seinem Bruder nichts schenken! Ich glaube, er ist entschlossen, alles im Königreich Elfina zu vernichten.“
„Und warum?“
„Das ist nur eine Vermutung: Seine Armee ist stärker als die aller umliegenden Königreiche.“
„Was können wir dagegen tun? Es wäre ziemlich schwierig, eine Armee aufzustellen, die genauso stark ist wie die von König Bijoval.“
„Das habe ich mich auch gefragt. Und ich habe keine Antwort darauf“, sagte Samuel. „Aber Tymilla hat mir versprochen, bald zurückzukommen, bestimmt, um mir zu sagen, wie es weiter gehen soll.“
Direkt danach verschwand er.
„Warum hast du es denn so eilig? Warte!“, schrie Ariana.
„Nein, nein, ich muss los …“, antwortete das Echo von Samuels Stimme.
Schlagartig erinnerte sie sich an Barbe, die immer noch auf dem Sofa lag.
„Herr im Himmel! Barbe ... Mama wird bald zurückkommen!“
Sie machte eine Handbewegung. Urplötzlich erwachte Barbe.
„Hast du mich schweben lassen wie einen Schmetterling?“, fragte die Kinderfrau, deren Miene ihre Angst verriet.
„Habe ich gar nicht“, entgegnete Ariana. „Du hattest einen Alptraum. Komm, lege dich besser nochmal hin.“
„Nein, dieser kleine Junge, er kam durch den Spiegel. Und was hat er überhaupt in deinem Zimmer gemacht?“
„Nein, das stimmt doch gar nicht! Er ist durch die Tür gegangen wie du und ich“, antwortete Ariana schlagfertig.
Bei all den Fragen, die Barbe stellte, fühlte sich Ariana ganz unbehaglich, aber sie hielt dem anklagenden Blick der Kinderfrau stand, die sie fragte, warum sie nicht die Wahrheit sagte. Ariana wusste allerdings genau, dass Barbe ihre Zunge nicht lange im Zaum würde halten können. Sie würde den Van Buillers alles erzählen, die ja ihre ganze Zeit damit verbrachten, herauszufinden, was bei Anne Katherine vor sich ging.
Die Kinderfrau erhob sich plötzlich, immer noch genauso verängstigt wie zuvor.
„Na schön.“ Ariana gab auf.
Angesichts von Barbes Reaktion entschloss sie sich, ihr die ganze Geschichte über ihren Bruder, Samuel Collins, zu erzählen: die Adoption durch ein irisches Paar, die Zeit, in der ihre Mutter Anne Katherine sie den Van Buillers anvertraut hatte, um auf sie aufzupassen, wenn sie weg war, und den Umstand, dass diese keine Ahnung von der Existenz ihres Bruders gehabt hatten. Allerdings erzählte sie nichts über das Königreich Elfina und ihre Mutter Tamarina im unsichtbaren Königreich. Mit weit aufgerissenen Augen hing Barbe verblüfft an ihren Lippen.
„Warum haben deine Eltern dir deinen Bruder verheimlicht?“, fragte sie verwundert
„Mama hat immer gesagt, ich sei ihr einziges Kind“, antwortete Ariana.
„Naja, nicht weiter tragisch: Wir sagen den Van Buillers einfach, dass dein Bruder bei deinen Großeltern war oder bei Freunden in Irland.“
„Mama hat vielleicht etwas zu viel gesagt. Du weißt was darüber, oder?“, erkundigte sich Ariana verärgert. „Was wollten die Van Buillers von dir? Ich habe dich letzte Nacht mit ihnen gesehen. Ihr habt über Mama geredet. Ich vermute mal, sie erzählt dir alles, was bei uns passiert. Du solltest jetzt über alles auf dem Laufenden sein…“
Barbe verstand dieses Verhör nicht recht und hörte mit offenem Mund zu. Dann rief sie:
„Was willst du mit all den Fragen andeuten? Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum dein angeblicher Bruder durch den Spiegel gekommen ist und warum er auf einmal verschwunden ist, als er mich gesehen hat.“
„Nein, er ist gar nicht verschwunden“, gab Ariana zurück.
„Na, dann erzähle mir doch, wo er sich versteckt!“
„Ich erzähle dir gar nichts!“, antwortete Ariana schroff.
Die Kinderfrau, die zusammengekauert in einer Ecke des Wohnzimmers saß, schwieg einen Moment. Dann erinnerte sie sich daran, was die Nachbarn ihr gesagt hatten: Anne Katherines Tochter verhält sich unheimlich. Es ist besser, ihr keine Fragen zu stellen. Diese Worte fielen ihr auf einmal wieder ein. Sie stellte sich vor, was ihr alles passieren könnte, wenn die Alleswisser die Wahrheit gesagt hatten. Unheimliche Kinder neigten dazu, Leute zu verwandeln, ganz wie es ihnen gefiel… Sollte sie jemals die Grenze überschreiten, war es gut möglich, dass sie sich in Sibirien wiederfinden oder sogar in eine Katze verwandelt werden würde! Angesichts dieser furchtbaren Möglichkeiten saß Barbe die Angst im Nacken und sie starrte Ariana aus großen Augen an.
„Die Van Buillers haben recht: Du bist nur eine kleine Hexe“, stellte sie kalt fest.
Jemand öffnete die Haustür. Anne Katherine kam von ihrer Arbeit zurück. Sie schien so müde, dass sie weder Barbe noch Ariana ansprach und gleich zu ihrem Zimmer ging.
„Du weißt, Mama wird dir nicht glauben!“, behauptete Ariana perplex.
Barbe fühlte, wie ihr der Atem stockte. Sie begriff, dass ihr Alptraum in genau diesem Augenblick begann.
Einen langen Moment herrschte Schweigen.
„Kannst du dieses Geheimnis für dich behalten?“, brach Ariana die Stille.
„Welches Geheimnis?“, fragte Barbe.
„Mein Bruder…“, antwortete Ariana, den Blick starr auf die Kinderfrau gerichtet.
„Nein, reden wir nicht mehr davon!“, unterbrach Barbe sie.
„Ich denke auch, das ist eine gute Idee“, erwiderte Ariana.
Nun, da Barbe dieses Geheimnis kannte, brauchte sie die Van Buillers nicht mehr. Sie schaute sich kurz um und stand auf, wobei sie, unfähig, sich auf den Beinen zu halten, über den Wohnzimmerteppich stolperte.
„Ich helfe dir...“
„Nein“, schrie Barbe.
Immer noch zitternd flüchtete sie sich in die friedliche Ruhe ihres Zimmers. In Anne Katherines angrenzendem Zimmer brannte Licht. Ihre Handtasche lag auf dem Bett, Kartons waren mit Aktenordnern gefüllt, von denen einige verstreut auf dem Boden lagen und wahrscheinlich darauf warteten, geordnet zu werden. Nach diesem kurzen Blick schloss sie ihre Zimmertür.
Anne Katherine hatte ihren berühmt-berüchtigten Nachbarn bereits zum Vorwurf gemacht, in anderer Leute Angelegenheiten herumzuschnüffeln. Dennoch ging der ganze Zirkus weiter, da Rosette Meert ihre Tage bei den Van Buillers verbrachte, zweifellos, um über Ariana und ihre Mutter zu reden. Daher fasste Frau Coppens eines Novembermorgens den Entschluss, das Problem auf ihre Weise zu regeln: in geselliger Runde.
Am Freitag lud sie also auf den Rat ihres teuren Gatten die Meerts und die Van Buillers zum Essen ein. Für ihn war dies die einzige Art und Weise, das Geheimnis vom Tisch zu bekommen, das die anderen über seine kleine Familie erzählten. Es war das zweite Mal, dass die Van Buillers zu Anne Katherine zum Essen kamen. Das erste Mal hatte stattgefunden, als alles noch gut gewesen war zwischen den Van Buillers und Anne Katherine, vor dem Tag, an dem die Gerüchte über ihre Tochter Ariana, die Runde machten. Man erinnere sich daran, dass Anne Katherine ihrer Tochter verboten hatte, so über ihre Nachbarn zu reden, die sie die „Alleswisser“ genannt hatte. Für Frau Meert, die Neue im Viertel, war diese Einladung eine Überraschung. Die Nachbarinnen waren begeistert, nicht über die Einladung selbst, sondern weil sie sich erhofften, endlich herauszufinden, was Anne Katherine verbarg.
An diesem Abend beeilte sich Therese, die Anne Katherines Haus immer durch ihr Fernglas ausspähte, ihrem Mann zu sagen, dass er sich angemessen kleiden sollte, um ja keinen Verdacht zu erregen. Sie selbst trug ein langes, weißes Kleid als Zeichen der Versöhnung mit Anne Katherine, da Weiß für sie ein Symbol für Ruhe und Frieden war, als sei sie mit ihr im Krieg gewesen. Herr Van Buillers dagegen war seltsamerweise in ein gelbes Jackett mit drei schwarzen Knöpfen gekleidet, hatte eine erbsengelbe Krawatte umgebunden und sich ein großes Holzkreuz und einen riesigen Rosenkranz umgehängt. „Diesen Leuten“, sagte er, „denen muss man den rechten Weg zeigen!“ Was Frau Meert anging, so war diese Einladung eine Premiere. Sie zog einen weißen Mantel an, dessen Futter ein Muster aus kleinen Kreuzen aufwies und schmückte sich mit einer Kette mit einer Knoblauchzehe als Anhänger, als wolle sie auf Vampirjagd gehen.
Offenbar war das ihrer Meinung nach die einzige Möglichkeit, sich vor all den unheimlichen Erscheinungen zu schützen, von denen die Van Buillers so oft berichtet hatten. Herr Meert war aus gesundheitlichen Gründen nicht da, was seine Rosette Anne Katherine nicht hatte sagen wollen, um zu verhindern, dass Ariana ihm einen bösen Fluch anhängen könnte. Zumindest war es das, was sie dachte. Ariana war diese Einladung ein Dorn im Auge.
Es war sechs Uhr abends, als die lieben Nachbarn an Anne Katherines Tür klingelten. Mit ängstlicher Miene und pochendem Herzen ging Barbe auf Zehenspitzen hin, um die Tür zu öffnen.
„Kommen Sie doch bitte herein“, sagte sie höflich.
Sie nahm Thereses Mantel entgegen und hängte ihn an die Garderobe hinter der Tür. Herr Van Buillers presste sein Kreuz und seinen Rosenkranz so fest an die Brust, dass die Kinderfrau sich nicht einmal traute, ihn anzusprechen. Sie wandte sich sofort Frau Meert zu. Als sie die Hand ausstreckte, um ihren mit Kreuzen bedeckten Mantel zu nehmen, schleuderte Rosette ihr ein schrilles „Nein“ entgegen. Barbe machte augenblicklich auf dem Absatz kehrt, um den beiden Frauen nur ja keine Gelegenheit zu geben, ihr Fragen zu stellen. Das Verhalten der Kinderfrau machte Frau Meert stutzig, und sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie einen Blick auf die Innenseite ihres Mantels warf.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Rosette argwöhnisch.
„Ich weiß nicht“, antwortete Therese leise.
„Diese junge Frau benimmt sich schon sonderbar, seit wir hier hereingekommen sind“, sagte Rosette und schaute dabei Herrn Van Buillers an.
„Sie macht nur ihre Arbeit. Daran ist nichts auszusetzen“, antwortete er spontan.
Im selben Moment tauchte Anne Katherine vor ihnen auf, gekleidet in ein hübsches bonbonrosa Kostüm. Sie schenkte ihnen ein Lächeln und führte sie dann ins Esszimmer.
„Setzen Sie sich doch“, bat sie freundlich und wies auf einen fein gedeckten Tisch.
Sie gab ihr Bestes, um nett zu sein. Aber Ariana, die bereits von der Idee, ihre Nachbarn nur zu sehen, nicht begeistert war, warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Anne Katherine war klar, dass ihre Tochter sauer war. Sie entschuldigte sich bei ihren Gästen und nahm sie beiseite:
„Ich weiß, du hast diese Leute nie gemocht, aber glaube mir, diese Einladung wird den Eindruck ändern, den sie von uns haben.“
Tatsächlich hatte Ariana oft darüber nachgedacht, Frau Meert in einen Vampir zu verwandeln, aber dann hätten die Van Buillers Recht gehabt. Und sie wollte ihrer Mutter nicht den Abend verderben, was diese ihr nie verzeihen würde. Also tat sie so, als nähme sie auf ihre Art teil. Gekleidet in ein weißes Kleid mit rosa Tupfen ging sie wieder zu den Gästen und begrüßte sie hoheitsvoll, indem sie sich vor ihnen verneigte. Dann nahm sie Platz. Anne Katherine lächelte, was bedeutete, dass der Abend gut verlaufen würde.
„Perfekt!“, rief sie fröhlich.
Sie zog einen Stuhl heran, um neben Frau Van Buillers Platz zu nehmen. Mit einem spöttischen Lächeln schob Therese ihren Stuhl Richtung Rosette und gab ihr einen Fußtritt. In dem Glauben, Arianas Magie wäre am Werk gewesen, stieß Frau Meert einen kleinen Schrei aus, dann entschuldigte sie sich sofort, als sie erkannte, dass es bloß Thereses Fuß gewesen war. Anne Katherine stand auf und ging in die Küche, wo sie Barbe fand. Auf dem Tisch wartete eine Ente, dick wie eine Pferdekeule.
„Gut, ich denke, es ist Zeit, den Aperitif zu servieren“, sagte sie zu der Kinderfrau. Dann schloss sie sich wieder den Gästen im Esszimmer an.
Frau Van Buillers, die normalerweise ohne Punkt und Komma redete, hatte dazu keine Chance, denn Ariana starrte sie an, ohne zu blinzeln. Dieser Blick machte Therese solche Angst, dass sie bei jedem Satz, den sie an Anne Katherine richtete, ins Stottern geriet.
Ariana, die sich immer noch über diese unerwünschten Gäste ärgerte, hatte plötzlich Lust, mit ihrem Bruder zu reden. Sie stand auf und wollte in ihr Zimmer gehen. Vor Angst wie erstarrt, machte Therese ihr wortlos Platz. Als sie sah, dass ihre Tochter aufstand, folgte Anne Katherine ihr eilig.
„Ariana, wir haben Gäste, falls es dir noch nicht aufgefallen ist“, stellte Anne Katherine streng klar.
Frau Meert kicherte und warf Herrn Van Buillers einen Blick zu, zufrieden, dass dieses unheimliche kleine Mädchen, das dem ganzen Viertel Angst einjagte, nur ein ganz normales Kind war, das jeder ansprechen konnte. Doch Ariana überhörte die Ermahnungen ihrer Mutter, mit der sie sie aufforderte, bei den Gästen zu bleiben, stellte sich stur und kehrte in ihr Zimmer zurück. Dass die Nachbarn da waren, war ihr egal,
„Warum kommst du nicht zu uns an den Tisch?“, wollte Anne Katherine wissen, die ihr gefolgt war.
„Zuerst einmal: Ich mag diese Leute nicht. Und indem ich in mein Zimmer gehe, vermeide ich alle Unannehmlichkeiten.“
„Zuerst einmal“, wiederholte Anne Katherine zornig, „haben diese Leute, wie du sie nennst, Namen und sie sind unsere Nachbarn. Du schuldest ihnen Respekt. Hat man dir das nicht beigebracht, in deiner unsichtbaren Welt?“
„Mama, deine Gäste machen sich lustig über das, was du für sie tun willst.“
„Na und?“, versetzte Anne Katherine und ging zurück zu den Nachbarn ins Esszimmer.