Arkadien - Emmanuelle Bayamack-Tam - E-Book

Arkadien E-Book

Emmanuelle Bayamack-Tam

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Beschreibung

Die junge Farah, überzeugt, ein Mädchen zu sein, begreift eines Tages, dass ihr Körper nach und nach männlicher wird. Krankhafte Mutation oder sagenhafte Metamorphose? Ihre Eltern haben in einer libertär lebenden Kommune Zuflucht gefunden, deren Mitglieder in der modernen Welt nicht zurechtkommen. Farah wächst in diesem von riesigen Wald- und Wiesenflächen umgebenen Paradies auf, wo sie mit anderen Kindern erlebt, wie die Erwachsenen mehr schlecht als recht ihre Ideale umsetzen: Absage an gesellschaftliche Normen, Freikörperkultur, freie Liebe und zwar für alle, auch für Alte und Kranke. Das Wunder der Liebe entdeckt Farah mit Arcady, dem spirituellen Oberhaupt dieser bunten Gemeinschaft. Alles könnte so schön sein – wäre nicht ein Migrant in ihr Paradies eingedrungen, der die Kommune in helle Aufregung versetzt. Das Prinzip der universalen Liebe entpuppt sich als Lippenbekenntnis, man will sich hier genauso abriegeln wie in der Außenwelt. Alle, bis auf Farah, die sich jeder Zuschreibung entzieht: Mit ihrer jugendlichen Kühnheit wird sie zum Prüfstein für die Gemeinschaft und entwirft eine Utopie, in der wirklich alle Menschen aufgehoben sind, ungeachtet ihrer nationalen, sozialen oder sexuellen Identität. Emmanuelle Bayamack-Tam zeichnet mit ihrem preisgekrönten neuen Roman in aller grausam-komischen Schonungslosigkeit ein Porträt unserer Welt – und lässt darin sanft das Bild der Unschuld aufleuchten.

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Emmanuelle Bayamack-Tam

ARKADIEN

Roman

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut français.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Arcadie«.

© 2018 P.O.L. Éditeur, PARIS

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Patricia Klobusiczky

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

ISBN 978-3-906910-80-2eISBN 978-3-906910-79-6

Für Célia, Céline, Genevièveund Philippe, alle Mitglied imeinzigen Club, der was taugt.

Wahre Gemeinschaft ist das Wirken eines inneren Gesetzes,und das tiefste, einfachste, vollkommensteund erste ist das Gesetz der Liebe.Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Inhaltsverzeichnis

1.Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag

2.Fürchtet Euch nicht

3.Die ewige Anbetung

4.Der Spiegel der einfachen Seelen

5.Sie blühen, sie blühen

6.Die Liebesschwadrone

7.Der Garten der Qualen

8.Ich bin fünfzehn und ich will nicht sterben

9.Die Liebe wird kommen und deine Augen haben

10.Baile sorpresa

11.Die Festkönigin

12.Der andere Name der Kindheit

13.Die Bergpredigt

14.Hodeidah

15.Endzeitträume

16.Komm und setz dich auf meinen Mund

17.Oh die glücklichen Tage

18.Eine heillose Angst

19.Who’s That Chick?

20.Einfach fließen lassen

21.Auf Wiedersehen, Kinder

22.Nach dem Gewitter

23.Des Schrecklichen Anfang

24.Geistige Gesundheit ist ein zerbrechlich Ding

25.Hermaphroditos Anadyomene

26.Grenzzwischenfälle

27.Was nützt die Liebe?

28.The long goodbye

29.Fern vom Paradies

30.Here but I’m gone

31.Die schwarze Dahlie

32.Girls in Hawaii

33.Pollice verso

34.Dschungel

35.Apocalypse now

36.Der kommende Aufstand

1.

Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag

Wir kommen nachts an, nach einer anstrengenden Fahrt im Toyota Hybrid meiner Großmutter – schließlich mussten wir halb Frankreich durchqueren und dabei Hochspannungsmasten und Mobilfunkantennen meiden, während uns die Schreie meiner Mutter in den Ohren hallten, trotz ihrer Rüstung aus Antistrahlungstüchern. Wie wir an diesem Abend empfangen werden, wie mein erster Eindruck von den Örtlichkeiten ist, weiß ich kaum mehr. Es ist spät, es ist dunkel, und ich muss das Bett mit meinen Eltern teilen, weil für mich noch kein Zimmer vorgesehen ist – an meinen ersten Morgen im Liberty House erinnere ich mich hingegen ganz genau, vom Licht der Dämmerung an, das durch die gestärkten Vorhänge fällt, ohne mich wirklich zu wecken.

Auf dem Rücken ausgestreckt, die Hände schlaff im Schoß gefaltet, mit Satinmasken auf ihren wächsernen Gesichtern, flankieren meine Eltern mich wie zwei friedvolle Grabfiguren. Diesen Frieden hatte ich mit ihnen bisher nie erlebt. Tag und Nacht musste ich mit den Schmerzen meiner Mutter und den quälenden Sorgen meines Vaters zurechtkommen, mit ihrer ständigen, sinnlosen Aufregung, ihren verzerrten Gesichtern und ihrem ängstlichen Gerede. Also bleibe ich liegen, obwohl ich es kaum erwarten kann, aufzustehen und mein neues Heim zu erkunden, und ich lausche ihrem Atem, mache mich ganz klein, um mehr von ihrer Wärme abzubekommen und mich wohlig in ihre Laken zu kuscheln.

Von draußen dringt fröhliches Trillern zu mir, als teilten ganze Nester voller unsichtbarer Spatzen meine Freude, am Leben zu sein. Es ist der erste Morgen und auch ich bin neu. Endlich stehe ich auf und ziehe mich lautlos an, um die Marmortreppe hinunterzugehen, und stelle dabei fest, wie abgenutzt die Stufen in der Mitte sind, als wäre der Stein geschmolzen. Ehrfürchtig klammere ich mich ans Eichengeländer, das vom Griff Tausender feuchter Hände längst poliert und nachgedunkelt ist, ganz abgesehen von den Tausenden jugendlichen Schenkeln, die es triumphal bestiegen hatten, um blitzschnell in die Eingangshalle hinabzurutschen. Kaum habe ich das lackierte Holz berührt, überwältigen mich aufreizende Bilder: Mädchen in Uniform, Faltenröcke, die den Blick auf Beine in opaken Wollstrümpfen freigeben, brave Zöpfe, schrilles Gelächter, wenn die Schülerinnen unter sich sind. Von diesen Wänden geht etwas Eigentümliches aus, ein Jahrhundert lang haben Heranwachsende sie mit ihren hysterischen Anwandlungen und sapphischen Freundschaften geprägt – aber das begreife ich erst später, als ich erfahre, welchem Zweck dieser Riesenkasten ursprünglich diente, in den ich gerade eingezogen bin. Jetzt gehe ich die Treppe einfach mit kleinen Schritten hinunter und atme in der großen Halle mit dem zweifarbigen Fliesenbelag eine Art religiösen Duft ein. Ja, es riecht nach Bohnerwachs, nach Pergament, geschmolzener Kerze und frommer Hingabe, aber das ist mir völlig schnuppe, ich will nichts wie raus, her mit der Freiheit, der belebenden Luft, dem verdunstenden Tau, dem frühen Morgen, der allein mir gehört.

Arkady überrascht mich auf der herrschaftlichen Freitreppe mit ihrem verschnörkelten Vordach aus Schmiedeeisen, ich kann mich nicht von der Stelle rühren angesichts dieser ungeheuren Schönheit: sanft abfallender Pinienwald, junge Heidelbeersträucher, von Bäumen zerstäubte Sonnenstrahlen, der gedämpfte Ruf eines Kuckucks, das unmerkliche Rascheln eines Eichhörnchens, das über Moos und Laub davonflitzt.

»Gefällt es dir?«

»Ja! Und wie!«

»Nur zu, es gehört alles dir.«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und flitze ebenfalls davon, unter die hohen Bäume, auf das magisch glitzernde Licht zu, ich suche diesen unsichtbaren Vogel, dessen Kuken und Kichern meiner eigenen Stimmung so gut Ausdruck verleiht. Und so stoße ich bald auf meine Großmutter, die gedankenverloren einen riesigen Haufen loser Erde am Fuß einer Pinie bestaunt. Ohne mich richtig anzusehen, fragt sie: »Was das wohl ist? Ein Grab? Sieht so aus, als hätte hier vor Kurzem jemand gegraben. Ich trau dem Ganzen nicht, diesem Haus, diesem Arkady …«

Ich hätte große Lust, mich an diesen makabren Hirngespinsten zu beteiligen, wäre meine Großmutter nicht splitterfasernackt. Als eingefleischte Anhängerin der Freikörperkultur nutzt sie jede Gelegenheit, sämtliche Hüllen fallen zu lassen, dennoch hatte ich gehofft, dass sie ihr Paillettenkleid nicht ganz so schnell ablegen würde. Wobei ich den Anblick der unbekleidet umherstreifenden Kirsten gewohnt bin. Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, dass ich einmal fast gegen ihre Vulva gestoßen wäre, als ich aus meinem Zimmer trat. Mein Blick reichte gerade bis zum Industrial Piercing, mit dem eine ihrer äußeren Schamlippen durchstochen war, eine Art goldener Nietnagel, der einiges her machte, sodass ich unwillkürlich und mit aller Kraft danach griff, was zu verständlichem Geschrei führte: »Lass das, Farah, das ist kein Spielzeug!«

Da ich höchstens drei gewesen sein dürfte, zog ich umso fester an diesem faszinierenden Ding. Paff, erste Erinnerung, erste Klatsche. Geschrei auch meinerseits, was meine panischen Eltern auf den Plan rief. Marqui erfasste mit einem Blick die Tragweite des Dramas, das sich gerade abgespielt hatte, er nahm mich auf den Arm und sagte so würde- wie vorwurfsvoll: »Sie sollten sich wirklich etwas überziehen, Kirsten, ein Höschen, ein T-Shirt, was auch immer. Ich bin es langsam leid!«

»Wir sind hier unter uns! Ich muss doch wohl nicht auf meine eigene Familie Rücksicht nehmen. Außerdem hat mir diese kleine Gans ganz schön wehgetan.«

»Geschieht Ihnen recht. So werden Sie kein zweites Mal Kleinkinder mit Ihrem Metalltand in Versuchung führen!«

Meine Großmutter gab sich damals geschlagen, ohne daraus eine Lehre zu ziehen, und so stellt sie nach wie vor ihren knochigen, vertrockneten Körper zur Schau, der tatsächlich nichts Anstößiges, weil schlicht nichts Menschliches mehr an sich hat. Man braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass dieser kahle Venushügel, diese ockergelbe Hülle, dieses schlaffe, bleiche Gewebe, dieses Netz aus inzwischen schlangenartigen und sogar geschuppt anmutenden Venen früher nicht nur einem weiblichen Wesen, sondern einer der schönsten Frauen ihrer Generation gehörten. Und ihr Busen … Nachdem sie immer lautstark verkündet hat, Büstenhalter seien tödlich für die Brüste, erkennt sie offenbar nicht, dass ihre eigenen nunmehr parallel zum Brustkorb verlaufen, die restlos erschöpften Brustwarzen hängen dreißig Zentimeter unterhalb ihres Ursprungs und schlackern bei der geringsten Bewegung.

Da es keinen Sinn hat, meiner unbezähmbaren Großmutter die Leviten zu lesen, kauere ich mich folgsam vor das frisch ausgehobene Grab und zerkrümele ein paar Erdbrocken, bevor ich mich an eine Vermutung wage:

»Vielleicht war das ein Tier?«

»Was für ein Tier wird das gewesen sein? Ein Riesenmaulwurf?«

»Ich werde Arkady fragen.«

»Na klar, geh doch deinen Guru fragen.«

Ich weiß kaum, was ein Maulwurf und erst recht nicht, was ein Guru ist, und so verschlägt es mir die Sprache, wie so oft bei Kirsten, die zu allem eine Meinung hat und ihre ehernen Ansichten unaufhörlich von sich gibt. Zu Arkady habe ich mir selbst noch keine Meinung gebildet, doch weil er meine Mutter gerade vor dem sicheren Tod gerettet hat, vor einem langsamen Dahinsiechen unter den entsetzlichen Qualen, die eine Elektrohypersensitivität bedingt, möchte ich, dass Kirsten ihm eine Chance lässt, und so wage ich immerhin zu fragen:

»Warum bist du überhaupt mitgekommen, wenn du Arkady nicht leiden kannst?«

»Ich sehe mich nur vor.«

Sie macht auf dem Absatz kehrt, Richtung Liberty House. Ihrer stolzen Haltung konnten die Jahre nichts anhaben, und so geht sie immer noch wie auf dem Laufsteg, wahrscheinlich ahnt sie nicht, welches Schauspiel ihre schlotternden, beuligen Trizepse und erschlafften Pobacken bieten. Als sie in Sichtweite des Hauses gerät, wickelt sie sich halbherzig in ihr Paillettenkleid, aber ich werde sehr bald einsehen, dass mir egal sein kann, welchen Eindruck die Nacktheit meiner Großmutter auf die Einwohner vom Liberty House macht, die sich alle nach dem Paradies vor dem Sündenfall sehnen.

Ich bleibe allein mit dem ungeklärten Rätsel des Grabhügels und dem zweiten großen Rätsel, das dieses Areal eines mediterranen Waldes mir aufgibt mit seinen schuppigen Stämmen, seinem rauschenden Laub, seinen harzigen Düften und seiner Tierwelt, die meine kleinste Regung belauert. Dieser Wald gehört mir, Arkady hat ihn mir geschenkt. Dass es sich nur um den weitläufigen Park eines Guts handelt, entgeht mir voll und ganz, für mich ist es ein noch unentdeckter Dschungel, den ich mit allem gebotenen Ernst verwalten will. Ich stecke meine Pfade ab, kennzeichne meine Bäume und erfasse die Zahl meiner Untertanen: Zwergfledermäuse, Steinböcke, Holzwürmer, Meisen, Raupen, Füchse, Blindschleichen … Kein Tag vergeht, ohne dass ich etwas Neues, Magisches entdecke: rote Pilze mit weißen Tüpfeln, Hasen, die vor Schreck erstarren, Heidelbeeren, Walderdbeeren, Schwärme winziger Fliegen, die über den Pfaden schweben, die makellos blau-schwarz gestreifte Feder eines Eichelhähers, die ich mir als Talisman in die Tasche stecke.

Das Rätsel des Grabhügels klärt sich übrigens ein paar Tage später, als meine Familie und ich zur Aufstellung eines Gedenksteins am Fuß der großen Zeder geladen werden: Im Liberty House haben auch Hunde ein Anrecht auf Bestattung. Schade, denn ich hätte gern Ermittlungen aufgenommen, eine nächtliche Exhumierung durchgeführt, menschliche Knochen oder wenigstens einen Schatz aus Dukaten und Dublonen freigelegt. Ich werde meine Zeit aber nicht mit Jammern verschwenden, nur weil man mir dieses Rätsel entschlüsselt hat, dafür bleiben im Liberty House noch zu viele andere bestehen. Meine Kindheit hat gerade eine neue Wendung genommen, so unverhofft wie zauberisch, das spüre ich, und so steigen am Grab dieses unbekannten Hundes Glückseligkeit und freudige Erwartung in mir auf. Und ich brauche nur das Gesicht meiner Mutter anzusehen, endlich frei von Imkerschleiern und schmerzbedingten Ticks, um mich in meinen herrlichen Hoffnungen bestärkt zu fühlen.

2.

Fürchtet Euch nicht

Es war höchste Zeit: Meine Mutter litt an Migräne, Gedächtnisverlust, Konzentrationsstörung und chronischer Erschöpfung. Meinem Vater ging es blendend, doch vor lauter Empathie war er genauso angegriffen wie sein Rehlein und suchte eifrig nach einem Zufluchtsort, einer Heilanstalt, einem Schlupfloch, wo sie mit ihrer sagenhaften Hypersensitivität den Strahlen entkommen würde. Mir ist bewusst, wie viel Hohn eine solche Diagnose hervorruft, und selbst ich scheine mich über die Symptome meiner Mutter lustig zu machen, aber ich kann bezeugen, dass sie vor ihrer ersten Kur in einer weißen Zone Höllenqualen litt.

In meiner Erinnerung an diese bedrückende Phase trägt sie die ganze Zeit eine Art Imkeranzug, eine Schutzhaube, ein Antistrahlentuch und Kupferfaserhandschuhe. In dieser Aufmachung erregt sie viel Argwohn, während ich im Gegenteil gerührte und mitfühlende Blicke auf mich ziehe, da meine Mutter sich einer so strengen Spielart des Islam unterworfen hat, dass sie nicht den kleinsten beruhigenden Hauch Haut oder Haare mehr enthüllt. Und wer weiß, ob sie sich nicht radikalisieren und in die Luft sprengen wird, mit TATP und Schraubenbolzen garniert, bereit, die Ungläubigen zu durchsieben, von denen es in der Nachbarschaft nur so wimmelt? Kein Wunder, dass unsere seltenen Spaziergänge immer wieder in Psychodramen ausarten und Rehlein schleunigst heimkehrt, in Tränen aufgelöst unter ihrem Niqab. Also geht sie gar nicht mehr aus dem Haus, ruht auf den Kissen ihres Mah-Jong-Sofas, spricht mit schwankender Stimme und wedelt ihr Personal wehleidig herbei: Marqui, Kirsten und mich, Gatte, Mutter und Tochter dieses eleganten Wracks.

Wir leben in völliger Abschirmung. Metallene Rollläden haben unsere schönen Samtvorhänge ersetzt, sie sollen die Strahlen zurückwerfen und teilen das elektromagnetische Feld in drei, dennoch verspürt Rehlein jedes Mal ein heftiges Brennen, wenn sie an den Fenstern vorbeigeht. Dabei hat Marqui sich wirklich alle Mühe gegeben, unser Heim zu isolieren, beim Elternschlafzimmer angefangen: Schutztapete, Netzabkoppler, Vitalfeldtechnologie, die den Elektrosmog in heilsame Strahlung verwandeln soll, giftbindende Pflanzen, nichts wurde ausgelassen, um Rehlein ein wenig Ruhe zu verschaffen. Vergebens, denn sie schläft nur drei Stunden pro Nacht, meistens in der Badewanne, entflieht dem Ehebett, obwohl es mit einem Antistrahlenbaldachin versehen ist. Dass wir keine Computer mehr haben, keine Mobiltelefone, keine Induktionskochfelder, versteht sich von selbst. Sogar die Kaffeemaschine wurde verbannt. Wir benutzen wieder das Schnurtelefon, den italienischen Espressokocher aus Edelstahl und LED-Leuchtmittel. Von zehn Nachbarn besitzen aber sechs WLAN. Und natürlich leben wir in unmittelbarer Nähe einer Mobilfunkantenne. Auch wenn Marqui unsere Wohnung zum Refugium umgestaltet hat, siecht Rehlein dahin und die Liste ihrer Symptome wird immer länger: Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Übelkeit, Muskeltonusschwund, Juckreiz, Sehschwäche, Reizbarkeit, kognitive Störungen, unkontrollierbare Ängste, um nur einige zu nennen.

Davon abgesehen, kommt es mir so vor, als hätte ich meine Mutter immer nur nervenschwach und lethargisch erlebt. Tatsächlich machten die Ärzte, die sie konsultierte, keinen Hehl daraus, dass ihr motorisches Defizit und ihre nachlassende kognitive Leistung eher durch eine Depression bedingt waren als durch eine vermeintliche Überempfindlichkeit gegen Elektrosmog. Weil diese Diagnose für Rehlein aber eine Beleidigung darstellt, wirft sie unbedarften Medizinern den Blick einer gebrochenen Lilie zu, – ist sie doch das Ebenbild von Lillian Gish, und obwohl der Star der Stummfilmära den meisten kein Begriff ist, sorgt meine Mutter dafür, dass er nicht in Vergessenheit gerät. Lillian Gish starb ja als Hundertjährige, und Rehlein dürfte es, wie allen zerbrechlichen und überbehüteten Prinzessinnen, nicht anders ergehen. Das stelle ich ohne jeden Groll fest, weil ich meine Mutter aus tiefstem Herzen liebe und sie diese Liebe voll und ganz verdient, mit ihrer Freundlichkeit, die ihrer Schönheit in nichts nachsteht. Sie wäre sogar lustig und heiter, wenn die Depression – oder die EHS – sie nicht daran hinderte. Ja, man sollte sich an diese Kürzel gewöhnen, die in unseren Familienalltag eingedrungen sind, denn meine Mutter ist nicht nur hypersensitiv gegen elektromagnetische Wellen, sie leidet außerdem an MCS, multiple Chemikaliensensitivität, und an ICEP, idiopathische chronische eosinophile Pneumonie, hinzu kommt ihr Reizdarmsyndrom, wobei sich all das bei näherer Betrachtung als ein und dieselbe Pathologie entpuppt: generelle Unverträglichkeit. Und das hat sie ganz bestimmt nicht von ihrer Mutter geerbt, der unverwüstlichen Kirsten, die laut eigenem Bekunden in zweiundsiebzig Lebensjahren nie auch nur den kleinsten Anflug von Schwermut verspürt hat und überhaupt nicht nachvollziehen kann, was ihrem Rehlein widerfährt. An die Kosenamen sollte man sich übrigens auch gewöhnen, denn alle, die ins Liberty House einziehen, müssen ihre bürgerliche Identität aufgeben.

»Stimmt genau, hier gilt das Gleiche wie in der Fremdenlegion«, donnert Arkady. »Wir pfeifen auf das, was ihr früher wart. Es zählt einzig und allein, was Liberty House aus euch machen wird!«

Und so hat Arkady praktisch alle enttauft, nie um eine Verniedlichung oder einen Spitznamen verlegen. Aus meinem Vater wurde Marqui, aufgrund seiner schweren Dysorthographie beharrlich ohne »s« geschrieben; meine Mutter ist Rehlein, Fiorentina ist Mrs Danvers, Dolores und Teresa heißen Dos und Tres, Daniel ist Nello, Victor wird mal Monsieur Bitch, mal Monsieur Mirror gerufen, Jewel ist Lazuli und so weiter. Mir wurde das Einführungsritual versagt, wahrscheinlich, weil mein überaus zartes Alter diese symbolische Neugeburt überflüssig machte. Der Ehrlichkeit halber sollte ich jedoch erwähnen, dass Arkady meinem Vornamen in der Regel kryptische Beinamen hinzufügt: Farah Facette, Farah Diba, Prinzessin Farah, Kaiserin Farah und so weiter. Diese Titel schmeicheln mir natürlich, aber ich habe keine Ahnung, was an mir auch nur den Hauch von Adel oder Überlegenheit erkennen lassen könnte.

Dessen ungeachtet, sind wir im Liberty House glücklich gewesen. Dort führten wir tatsächlich das idyllische Leben, das Arkady uns versprochen hatte, wobei er die Rolle seines Lebens spielte, die des guten Hirten, der seine arglose Herde auf die Weide führt. Ich betone das umso mehr, als dieses Glück nun bedroht, wenn nicht unrettbar geschädigt ist. Vor fünfzehn Jahren jedoch, als wir unter einem blauen Junihimmel diesen absurden Gedenkstein einweihten, fühlten wir uns leicht, von unseren Ängsten befreit, voller Zuversicht, und zwar zum ersten Mal seit Langem, ich zum ersten Mal überhaupt, da ich meine Eltern immer nur furchtsam eingekapselt erlebt hatte, unfähig, sich der Außenwelt zu stellen. Mit sechs war ich bereits die Stütze meiner kleinen Kernfamilie, diejenige, die hinausgeschickt wurde, um reale und eingebildete Klippen zu umschiffen: Ich holte die Post, brachte den Müll hinunter, kaufte Brot oder die Zeitung. Kirsten übernahm Wocheneinkauf und Behördengänge und reagierte eher verhalten auf unsere Entscheidung, ins Liberty House zu ziehen:

»Mag ja ganz nett sein, so eine weiße Zone, früher oder später wird es auch in dieser Gegend Mobilfunkantennen geben. Vielleicht stehen in der Nähe schon Hochspannungsmaste! Oder ein Atomkraftwerk, von dem ihr nichts ahnt. Außerdem ist dieser Schuppen mindestens 150 Jahre alt. Bei dem vielen Blei, Asbest und Schimmel werdet ihr dort keine drei Jahre aushalten!«

Drei Jahre entsprachen der Ansicht meiner Großmutter nach in etwa der Lebenserwartung, die uns aufgrund dieser flüchtigen organischen Verbindungen bleiben würde. Denn obwohl sie die Phobien ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns nicht uneingeschränkt teilte, war sie ebenfalls der Meinung, dass wir einer vom Aussterben bedrohten Art angehörten. Wir fürchteten uns, und unsere Furcht war so vielgestaltig und heimtückisch wie das, was uns bedrohte. Wir fürchteten uns vor neuen Technologien, Klimaerwärmung, Elektrosmog, Parabenen, Sulfaten, digitaler Steuerung, Tütensalat, Quecksilberbelastung im Meer, Gluten, Aluminiumsalzen, Grundwasserverschmutzung, Glyphosat, Entwaldung, Milchprodukten, Vogelgrippe, Diesel, Pestiziden, raffiniertem Zucker, Umwelthormonen, Arboviren, intelligenten Stromzählern, um nur einiges zu nennen. Und auch wenn ich selbst noch nicht so recht verstand, wer uns da an den Kragen wollte, wusste ich, dass sein Name Legion ist und wir bereits kontaminiert waren. Ich machte mir Befürchtungen zu eigen, die mir zwar fremd gewesen waren, sich aber mühelos mit meinen kindlichen Ängsten verbanden. Ohne Arkady wären wir über kurz oder lang gestorben, weil die Panik größer war als unsere Fähigkeit, sie auszuhalten. Statt Krankheit, Wahn oder Selbstmord hatte er uns eine wundersame Alternative geboten. Er hatte uns in Sicherheit gebracht. Er hatte zu uns gesagt: »Fürchtet Euch nicht!«

3.

Die ewige Anbetung

Ich bin für die Anbetung geschaffen. In ihrem Klima blühe ich auf. Und niemand verdient Anbetung mehr als Arkady. Wäre ich ihm nicht begegnet, hätte ich vielleicht mein ganzes Leben damit zugebracht, mittelmäßige Menschen anzubeten, und es dadurch vergeudet. Ich hatte das unermessliche Glück, dass unser Retter sich als herausragender Mann erwies und der kultischen Verehrung, die ich ihm auf Anhieb und für immer angedeihen ließ, tausendmal wert war. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich schon einen ausgeprägten Hang zur Vergötterung, nur dass sich dafür kein Gegenstand finden ließ: Meine Eltern lösten bei mir eher Mitleid aus und den Drang, sie zu beschützen, während ich meine Großmutter zwar sehr liebte, aber kaum zu ertragen vermochte. Arkady zog meine Inbrunst, meinen unbedingten Willen zu Fügsamkeit und selbstvergessener Hingabe sofort auf sich. Von den ersten Tagen unseres Lebens im Liberty House an hatte er mich auf den Fersen.

»Was machst du da, Farah Facette?«

»Ich komme mit dir mit.«

»Na gut, wie du willst.«

Er gewöhnte sich rasch an meine Gesellschaft und bedachte mich mit den gleichen flüchtigen Streicheleinheiten wie seine Meute von Katzen und Hunden – dennoch verfolgte er meine persönliche Entwicklung so aufmerksam wie niemand zuvor, weder meine armen Eltern noch meine Großmutter oder die Lehrerschaft in der Vor- und Grundschule; diese hatte lediglich meine Unansehnlichkeit und meine Ausgrenzung durch Gleichaltrige zur Kenntnis genommen, eine Ausgrenzung, die meine Lehrerinnen und Lehrer aufgrund der Gegebenheiten offenbar für unausweichlich hielten. Vermutlich dachten sie, wer so hässlich ist, müsse daran selbst ein klein wenig Schuld tragen.

Tatsächlich endete mit meiner Geburt eine lange Reihe von bemerkenswert attraktiven und makelfreien Wesen. In der Familie meiner Mutter pflegt man in Ermangelung anderer Eigenschaften und Ressourcen eben die Schönheit weiterzuvererben. Väterlicherseits sieht es nicht ganz so spektakulär aus, und trotzdem habe ich auf drei Generationen vergilbter Fotos nur harmonische Gestalten und ansprechende Gesichter entdeckt, weit entfernt von dem Anblick, den ich selbst biete, mit meinem krummen Rücken, meinen hängenden Lidern, meiner platten Nase, meinen konturlosen Lippen und dem animalischen Haaransatz. Die Pubertät hat alles nur noch schlimmer gemacht: Ich wurde knochig und klobig, meine Körperbehaarung geriet außer Kontrolle, und anstatt wie erwartet mächtig anzuschwellen, breiteten sich meine Brüste als eine Art Zittergelee über den Oberkörper aus, mit zwei kaum wahrnehmbaren lachsblassen Warzen. Beim sexuellen Wettbewerb bin ich folglich chancenlos, von vornherein disqualifiziert. Zu meinem Glück werden im Liberty House vor allem die Verlierer der großen Parade aufgenommen und den unerbittlichen Zwängen der Gesellschaft entzogen. Verglichen mit Arkadys anderen Gästen bin ich gar nicht mal so schlecht dran: Unter all diesen Fettleibigen, Scheckhäutigen, Bipolaren, Elektrosensiblen, Schwerdepressiven, Krebskranken, Polytoxikomanen und demenziellen Greisen mache ich mich sogar ganz gut. Immerhin bin ich jung und geistig gesund. So oder so ähnlich lautet die Botschaft von Arkady, als ich mich eines Tages an ihn wende, weil ich Klarheit erlangen möchte:

»Findest du mich hübsch?«

Ich nehme an, dass Mädchen in der Regel ihre Mütter danach fragen, aber wie soll ich das bei meiner Mutter wagen, die seit ihrem zartesten Alter unbestritten als herrliche Erscheinung gilt? Tatsächlich hatte Kirsten, als sie auf die vierzig zuging und das baldige Ende ihrer eigenen Modelkarriere vorausahnte, beschlossen, die Reize ihres einzigen Kindes in klingende Münze umzusetzen und es schon sehr früh zum Preispudel gemacht, zu einer Art vorzeitigen Minischönheitskönigin. Und obwohl meine Mutter zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt ist, um auf ihr betörendes Aussehen Wert zu legen oder sich irgendetwas darauf einzubilden, wende ich mich für eine Beurteilung meines Äußeren trotzdem lieber an Arkady, der mich in dieser Hinsicht weniger einschüchtert. Ich kann nicht leugnen, dass er meine Frage sehr ernst nimmt, und so stellen wir uns gemeinsam vor einen großen Spiegel, der mit Rostflecken übersät ist. Während er mich hin und her dreht, um mich erst von vorn, dann im Profil und in Dreiviertelansicht zu begutachten, schöpfe ich allmählich wieder Hoffnung: Arkady ist ein Zauberer, der meine Schwachpunkte verschwinden lassen oder sie in überraschende Vorzüge verwandeln kann – aber da habe ich seine gnadenlose Ehrlichkeit und Offenheit nicht bedacht.

»Du bist ein bisschen … massig. Und deine Augen sehen so aus, als würden sie voreinander fliehen. Außerdem setzt dein Haar zu tief an, so wirkst du etwas beschränkt. Mach mal den Mund auf. Ja, deine Zähne sind gar nicht so übel, jedenfalls sind sie intakt. Schade nur, dass deine Vorderzähne …«

»Was ist mit meinen Vorderzähnen?«

»Sie stehen zu eng beieinander. Und du hast einen leichten Überbiss.«

»Was?«

»Macht doch nichts. Mir ist das lieber als diese überbehandelten Gebisse: ein und dasselbe Lächeln für alle – das ist so gar nicht meins!«

Ich weiß natürlich, dass Arkady Kieferorthopädie ablehnt, hätte aber selbst nichts gegen eine Zahnspange gehabt, wie sie alle tragen. Selbst ein Korsett hätte mich nicht gestört, denn ich habe, wie Arkady feststellt, einen Buckel – dabei sieht man in Frankreich schon seit Jahrzehnten keine Buckligen mehr.

»Deine Zähne sind ja noch passabel, aber das da, dein Rücken, da hätten deine Eltern doch zumindest …«

Er spricht den Satz nicht zu Ende, um Rehlein und Marqui keine Schuld zu geben, aber auch, um sich nicht selbst Lügen zu strafen, da er gern verkündet, man müsse sich so akzeptieren, wie man ist, mit seinen etwaigen Makeln – der dicken Nase, den Falten, der Orangenhaut, den vorstehenden Zähnen oder abstehenden Ohren, eben all dem, was die entsprechende Chirurgie zu korrigieren, zu reparieren, zu richten anbietet. Zwischen der Unbekümmertheit meiner leiblichen Eltern und den Dogmen meines geistigen Vaters werde ich so schnell keinen geraden Rücken erlangen, und so betrachte ich mich voller Verzweiflung in diesem altersbedingt doch schmeichelhaften Spiegel.

»Ich bin missraten.«

Jegliche Hoffnung auf Widerspruch wird auch jetzt wieder enttäuscht: Arkady nickt.

»Stimmt, sie haben dich ein bisschen verpfuscht. Aber nur ein bisschen, klar, nicht dass du mir noch das Wort im Mund umdrehst!«

Das, was er gesagt hat, macht mir schon genug zu schaffen, da brauche ich ihm keine schlimmeren Kränkungen zu unterstellen. Also hebe ich nur leicht meinen schweren Pony an, um die Stirn freizulegen und mein Gesicht dem strengen Blick von Arkady auszuliefern, dem ich nur recht geben kann: Etwas muss bei meiner Embryonalentwicklung schiefgegangen sein, hat mein rechtes Auge zu weit von meinem linken entfernt, meine Nase plattgedrückt, meinen Kiefer schwerer gemacht. Ich bin nur knapp, also wirklich ganz knapp an einer pathologischen Hässlichkeit vorbeigeschrammt. Gerade, als ich seufzend kehrtmachen will, packt er meinen Arm und zieht mich an sich.

»Wie alt bist du?«

»Vierzehn.«

»Hast du schon deine Regel?«

»Nein.«

»Lass uns noch ein Weilchen warten, aber wenn du in den nächsten zwei oder drei Jahren niemanden findest, der mit dir geht, und den Sprung wagen willst, kommst du am besten zu mir.«

»Wozu?«

»Keine Ahnung, das wirst dann du mir sagen.«

»Willst du mit mir gehen?«

»Warum nicht?«

»Aber du hast schon einen Freund …«

Diesen Einwand bringe ich nur der Form halber hervor, denn ich hätte nichts dagegen, dass Arkady den abscheulichen Victor betrügt, und vor allem nicht, wenn er es mit mir täte. Allein die Vorstellung, dass Arkady und ich miteinander Sex haben, bringt mich völlig aus dem Häuschen, Victor hin oder her. Er hält mich immer noch umfangen und blickt mich so zärtlich wie zweifelnd an:

»Stört dich, dass ich bereits einen festen Freund habe?«

»Aber nein, überhaupt nicht!«

Er soll sich ja nicht einbilden, dass ich deswegen Skrupel hätte, und er soll auf keinen Fall dieses Versprechen zurücknehmen, das er mir gerade macht! Ich bin erst vierzehn, aber ich weiß bereits, dass ich ihn liebe und begehre, obwohl er schon fünfzig ist und sein Aussehen fast so viel zu wünschen übrig lässt wie meins: Arkady – klein, dicklich, mit hellen Glubschaugen und einem Wulst zwischen Nase und Oberlippe, der an Affen erinnert – ist alles andere als ein Ausbund an Schönheit. Er schließt die Arme noch fester um mich und flüstert mir ins Ohr:

»Ich werde immer für dich da sein, Farah, okay? Und du bestimmst, wo es langgeht. Wenn du willst, schlafen wir miteinander, aber wir müssen nicht.«

»Gefalle ich dir?«

Er zuckt mit den Schultern und reißt die Augen auf, als wäre meine Frage überflüssig oder die Antwort selbstverständlich: »Na klar!«

»Aber warum sagst du dann, dass ich verpfuscht bin?«

»Weil dein Kopf merkwürdig aussieht und dein Körper auch. Aber das kann mit der Zeit besser werden. Und wenn nicht, ist mir das scheißegal. Ich finde dich sexy.«

»Warum legen wir dann nicht gleich los?«

»Ich fände es besser, wenn du es mit jemandem tust, den du wirklich liebst. Zumindest das erste Mal.«

»Du bist es doch, den ich liebe!«

Er lacht, greift mit beiden Händen nach meinem Schopf, zieht daran und dreht mein Haar ein, als wollte er daraus einen Knoten machen. In seinem Blick liegt jetzt keine Spur Zärtlichkeit mehr, was ich in ihm erkenne, gefällt mir aber so gut, dass ich meine geballte Überzeugungskraft in meinen eigenen zu legen versuche. Wozu die Warterei? Kein anderer als er wird jemals diese Wirkung auf mich haben. Ich würde gern etwas sagen, aber ich traue meinen eigenen Worten nicht, nie im Leben werden sie dem Gefühl gerecht, das er in mir auslöst. Wie soll eine Vierzehnjährige den Mann ihres Lebens dazu überreden, sie mit einer ordnungsgemäßen Entjungferung über alle Maßen zu beglücken? Denn ich habe den Eindruck, dass er mir gerade etwas Derartiges angeboten und es zugleich auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben hat. Also probiere ich es mit seinen eigenen Worten, was mir nicht ganz leichtfällt:

»Ich werde nie wen finden, der mit mir geht! Das weiß ich ganz genau … Und ich will … den Sprung wagen. Jetzt gleich.«

»Aber du bist noch nicht mal voll sexualmündig! Soll ich deinetwegen im Gefängnis landen?«

Seinen Worten zum Trotz ist er durchaus verlockt, das spüre ich und drücke mein Becken fester an seins. Er reißt sich mit einer Hüftdrehung von mir los, aber ich habe den Eindruck, dass er dafür einiges an Willenskraft aufbieten musste.

»Farah, mein Schatz, lass uns ein anderes Mal darüber reden, einverstanden? Glaub mir, du bist noch zu jung.«

»Ich bin nicht zu jung. Ich bin zu hässlich!«

Immerhin kenne ich Arkady seit neun Jahren und nehme seine frohe Botschaft von jeher begierig auf. Um ihn anzustacheln, nimmt man am besten eine Hässlichkeit für sich in Anspruch, die er nicht anerkennt, weder bei mir noch bei irgendjemand anderem. Arkady gibt allen eine Chance, Buckligen, Fettleibigen, Schielenden, alten Schabracken oder abgehalfterten Beaus. Er stöhnt:

»Du bist perfekt. Denk einfach eine Weile nach, bevor du dich dem Erstbesten an den Hals wirfst.«

»Du bist nicht der Erstbeste! Ich kenne dich!«

»Und grade das ist schade. Nimm lieber einen Unbekannten, das wäre für dich erregender.«

»Du erregst mich!«

»Was weißt du schon von Erregung?«

Wie soll ich ihm erklären, dass mir außer Scham und Panik kein Gefühl vertrauter ist als dieses? Und warum widersteht er mir so hartnäckig, nachdem er mit allen anderen hier ins Bett gestiegen ist, auch mit meinen Eltern – die sind aber so leicht einzufangen, dass das nicht zählt, man braucht sie nur kurz anzuherrschen, damit sie zu allem Ja und Amen sagen. Doch selbst wenn man meine armen Eltern nicht mitzählt, ist Arkadys Jagdbeute immer noch beeindruckend. Meine Großmutter ist die einzige, die dabei fehlt, schließlich ist Arkady ganz und gar nicht ihr Typ. Was wäre denn ihr Typ? Problembeladene Frauen, die in der Regel fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger sind als sie. Kirsten hatte nur geheiratet, um sich fortzupflanzen. Kaum war dieses Ziel erreicht, hielt sie sich an das, was ihr am meisten zusagte, und so sind Laurence, Valérie, Roxane, Malika und andere an mir vorbeidefiliert, lauter raschelnde, nach Vanille oder Mimose duftende Geschöpfe.

Komisch, wie schnell sich die meisten Leute festlegen: Mit zwanzig ist die Sache geritzt, nicht nur, ob man ausschließlich Männer liebt, oder ausschließlich Frauen, sondern auch, ob man brünett oder blond bevorzugt, sportlich oder intellektuell, Schwarze oder Araber usw. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Arkady meine Großmutter anbaggern wollte, und aus ebenso sicherer Quelle, dass sie ihn zum Teufel gejagt hat, just wegen solcher lächerlich begrenzter Vorlieben. Aus mir unerfindlichen Gründen verabscheut sie alles Männliche. Mädels, die wie ich etwas kerlhaft anmuten, haben bei ihr keine Chance. Schoßhündchen hingegen schon, nimmt man ihre Neigung zu niedlichen lockigen Wesen ernst, für die Malika bis heute das beste Beispiel liefert; zugleich stellt sie für meine Großmutter einen Rekord dar, weil die beiden fast drei Jahre zusammen waren, mit allen anderen dauerte es selten länger als drei Monate. Kurzum – Arkady hätte gern meine Großmutter vernascht, gibt sich jedoch wählerisch, wo ich ihm aus freien Stücken und von ganzem Herzen meine jugendlichen Reize anbiete. Das beunruhigt mich, egal, wie ich es deute. Am liebsten würde ich weinen, beherrsche mich aber. Tränen passen nicht zu meinem Pferdegesicht. Anstatt meinem Kummer freien Lauf zu lassen, versuche ich, Garantien auszuhandeln:

»Na gut, aber wenn ich fünfzehn bin, dann machst du’s?«

»Ja, unter der Bedingung, dass ich nicht dein Erster bin.«

»Das ist doch Schwachsinn! Ich will keinen anderen als dich, und es soll ein Fest werden, verstehst du, eine Art Zeremonie.«

Jetzt habe ich ihn geködert, das spüre ich: Niemand liebt Feste mehr als Arkady. Im Liberty House werden ständig welche veranstaltet. Der Nachteil ist, dass ich mir für meine Entjungferung nicht unbedingt ein größeres Publikum wünsche, aber was sein muss, muss eben sein. Ich brauche nur noch acht Monate durchzuhalten. Bis dahin werde ich meinen Damenbart entfernen, meine Zähne und meinen Rücken richten lassen – ich werde die Schönste sein. Arkady bemerkt meinen betrübten Blick in den Spiegel.

»Hör auf, dich so anzustarren! Weißt du nicht mehr, was ich dir über Spiegel gesagt habe?«

Sobald es um ihn geht, fällt mir alles wieder ein, und seine Predigt über Spiegel zählt zu denen, die mich besonders begeistert haben. Einmal im Monat ruft Arkady uns alle zusammen, um Vorträge über die unterschiedlichsten Themen zu halten. Mit »uns« meine ich die Gäste des Liberty House, meist rund dreißig an der Zahl, mit unerheblichen Schwankungen, was häufiger durch Todesfälle bedingt ist als durch freiwillige Abreisen. Welcher zurechnungsfähige Mensch würde schon von sich aus eine so sichere Zuflucht verlassen, einen Ort, der so frei ist von allem, was die Außenwelt zur ständigen Bedrohung macht, zu einer Fallgrube, in der wir ein Leben lang vor uns hinsiechen sollen, wenn man überhaupt von Leben reden kann – wie Arkady uns gern in Erinnerung ruft: Was die meisten Menschen unter Leben verstehen, ähnelt nur sehr vage einem erfüllten Dasein; sie fristen eine kümmerliche Existenz, sie vegetieren dahin, sie sterben in der Erwartung, ihr Leben würde jeden Moment beginnen, aber dieser Moment kommt nie. Um ihr Leben zu beginnen, müssten sie sich zunächst allem entziehen, was sie langsam abtötet, das ist ihnen aber nicht bewusst, und selbst wenn es ihnen bewusst wäre, hätten sie dazu nicht die Kraft.

Mir ist klar, dass ich von meinem Thema abschweife, also von Arkadys Spiegelpredigt, um darauf zurückzukommen, muss ich allerdings erneut abschweifen, und zwar um ein Kapitel zu eröffnen, das mir einiges abverlangt, geht es da doch um die Liebesbeziehung zwischen Arkady und Victor – auch wenn ich es mir anders wünschte, muss ich mir doch eingestehen, dass der Mann meines Lebens mehrere Leben hat und in einem dieser Leben ist er der Liebhaber von Victor Ravannas, der ihn zwar nicht verdient, aber trotzdem Anspruch auf ihn erheben darf, während ich vor Sehnsucht vergehe.

4.

Der Spiegel der einfachen Seelen

Ich würde Victor gern auf eine Art und Weise beschreiben, die seine abstoßenden Merkmale wiedergibt. Bin ich objektiv? Keineswegs, aber ich muss subjektiv vorgehen, wenn ich mich nicht in rhetorischen Vorsichtsmaßnamen und halbherzigen Umschreibungen verlieren will: Victor ist ein Scheusal, wer das nicht offen anspricht, verschleiert die Tatsachen. Dass es ihm gelingt, Arkady über sein wahres Wesen hinwegzutäuschen, ist für mich so verblüffend wie betrüblich. Vielleicht täuscht Arkady sich auch nur selbst, weil er unfähig ist, sich die Existenz solch einer schwarzen Seele vorzustellen. Das ist die Gefahr bei höheren Wesen: Sie können keine niedere Gesinnung und auch keine niederen Beweggründe nachvollziehen.

Ich muss Victor Ravannas zugestehen, dass er über eine gewisse Stattlichkeit und Gewandtheit verfügt, die ihn durchaus zu einem angenehmen Gesprächspartner machen können. Er imponiert allein schon durch seine Erscheinung: Groß und gewaltig dick, hat er stets einen Knaufstock dabei, dessen Nutzen zwar fragwürdig ist, der dafür aber mächtig Eindruck macht. Der achteckige Knauf aus schwerem Elfenbein fügt sich in eine Strategie ein, die viel ausgeklügelter ist, als es den Anschein hat, doch ich kenne mich mit Äußerlichkeiten aus, mir selbst erschweren sie das Leben so sehr, dass ich nicht auf sie hereinfalle, und so ist mir nicht entgangen, dass Victor stets versucht, sich mit einer Aura von Vornehmheit und edler Abkunft zu umgeben. Darüber wird kein Wort verloren, während jedes Detail es glauben machen soll, von seinem Gehstock bis zu seiner kunstvoll geringelten silbrigen Frisur, von den gebauschten Ärmeln seiner Hemden zur vorgeblichen Lässigkeit seiner Lederpantoffel. Diese Eitelkeiten könnte ich ihm verzeihen, wenn er sie durch Herzenstugenden ausgleichen würde, aber er hat ja kein Herz, anders gesagt nur ein speckummanteltes Organ, das fleißig weiterschlägt, trotz aller Wunschgebete, die ich täglich aufs Neue formuliere. Da Fettleibigkeit die Lebenserwartung beträchtlich senkt, ist nichts daran auszusetzen, wenn man das Unvermeidliche herbeiwünscht. Leider durchkreuzt Victor jede Prognose und erscheint Tag für Tag voller Glanz und Theatralik an unserem Tisch, wo er sich einer grenzenlosen Gefräßigkeit hingibt. Im Liberty House werden die Mahlzeiten gemeinsam im Refektorium eingenommen, Victors absolutem Lieblingsraum, weil er so schön erhaben ist, beim Kreuzrippengewölbe angefangen, unter dem er unerhörte Essensmengen verschlingt – und sich dabei den scheußlichen Mund sachte mit einem Monogrammtaschentuch abtupft, da bei ihm alles Pose, affektierte, kalkulierte Verrenkung ist.

Bevor Liberty House sich in eine Zuflucht für Freaks verwandelte, war es ein Mädchenpensionat, und das Haus bewahrt noch vielerlei Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung: das Refektorium, die Kapelle, die Lernstuben, die Schlafsäle und vor allem unzählige Porträts der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, eine ganze Serie von Ehrwürdigen und Glückseligen, die nur dem Namen nach glückselig waren, wenn man ihren tuberkulösen Teint und trüben Blick bedenkt. Ich weiß nicht, welches Sammelsurium von Bischöfen, Theologen und Ärzten über ihren Status befunden hat, jedenfalls wurden Verbitterung und Frustration offensichtlich mit Märtyrertum verwechselt. Ein Segen, dass ich mich inzwischen nicht mehr so leicht einschüchtern lasse wie früher, denn als ich hier ankam, machten mich diese vielen erbaulichen Farbdrucke eher mürbe. Ich fürchtete mich ganz besonders vor einer Ordensschwester aus Kerala, die in einem Flur im ersten Stock mit gelben Wangen und irren Augen nach mir spähte. Wenn ich an ihr vorbei musste, drückte ich mich an der Wand gegenüber entlang und hielt den Atem an, dennoch nahm ich die bleibende Wirkung ihres Grolls und die Ausdünstung aller üblen Fieber wahr, die sie hier befallen hatten. Im Gegensatz zu mir ist Victor ganz vernarrt in Maria-Eulalia vom Heiligsten Herzen und wollte eine Zeit lang ein Fresko in Auftrag geben, das sie mit ausgebreiteten Armen und ekstatischem Lächeln darstellen sollte, den Blick zum dornenbekrönten Herzen erhoben, dem sie ihr ganzes erbärmliches Leben gewidmet hatte. Als aber die Gäste des Liberty House dazu befragt wurden, stimmten sie zum Glück mit einer einzigen Ausnahme dagegen, sämtliche Mahlzeiten unter dieser frommen Ägide einzunehmen – denn natürlich wäre dem Refektorium die zweifelhafte Ehre eines Wandgemäldes der Erleuchteten von Kerala zuteil geworden.

Tatsächlich ist Victor nicht nur ein Heuchler und eitler Fatzke, er ist außerdem noch ein Frömmler der übelsten Sorte. Man muss ihm allerdings lassen, dass seine Verehrung für Maria-Eulalia sich gering ausnimmt im Vergleich zum Kult, den er um seinen berühmtesten Namensvetter betreibt, gemeint ist Victor Hugo. Oh ja, Victor der Kleine vergöttert den Großen. Selbst seine Begegnung mit Arkady erfolgte von Gnaden des Châtiments-Dichters – ob Gnade hier das richtige Wort ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schlug bei beiden der Blitz ein, als sie gerade eine Büste von Hugo in dessen Pariser Gemächern an der Place des Vosges bewunderten. So sehr ich bedaure, dass Victor und Arkady sich ineinander verliebten, kann ich mich über die segensreichen Folgen ihrer Begegnung und Leidenschaft doch nur freuen, über dieses Phalansterium, das sie gemeinsam entworfen und verwirklicht haben, wobei sie sich in ihrem Größenwahn gegenseitig befruchteten, unter der Schirmherrschaft des illustren Meisters, selbst ein Experte in Megalomanie. Denn obwohl das Liberty House einst von in Gottesfurcht erstarrten Nonnen angeleitete und Zopf mit Schleife tragende Schülerinnen beherbergte, haben Arkady und Victor daraus einen Ort gemacht, der vom Geist Hugos durchweht ist und eher an das Hauteville House erinnert als an eine Klosterschule – schon allein wegen seiner Inneneinrichtung.

Geknausert haben sie jedenfalls nicht. Das karge Mobiliar der Nonnen wurde durch gotische Anrichten und Lehnstühle ersetzt, an allen Ecken und Enden stößt man auf prunkvolle Teppiche und Wandbehänge aus Damast. Und dann sind da noch die Spiegel, ein Steckenpferd von Victor, der sie mit manischer Entschlossenheit auf Trödelmärkten aufstöbert und in allen Varianten zur Schau stellt. Wandspiegel, Stehspiegel, dreiteilige Rasierspiegel, Hexenspiegel, Sonnenspiegel aus den 70er Jahren, Ankleidespiegel, blattvergoldete Spiegel, Intarsienspiegel, Spiegel mit Rahmen aus geflochtenem Rattan, Tau, Bambus, Messing, gekalktem Holz, Schmiedeeisen, asymmetrische, ovale, achteckige, rechteckige, facettierte Spiegel – im Liberty House kann man keinen Schritt tun, ohne seinem entgeisterten Ebenbild gegenüberzustehen. Mit entgeistert meine ich allerdings mich, denn Victor wirkt immer entzückt, wenn er sich betrachtet. Aus dem großen Salon hat er einen richtigen Spiegelsaal gemacht, in welchem er ständig umherstolziert, um jedes kleine Detail zu überprüfen und an die richtige Stelle zu rücken: den Gehstock mit Elfenbeinknauf, das karmesinrote Einstecktuch, die Manschettenknöpfe, die wohlgeordnete Fülle seiner schneeig schimmernden Locken. Leider werden alle Mühen, die er auf seine Erscheinung verwendet, von seiner unförmigen Hose mit Gummizug ruiniert, dem einzigen Modell, das solch eine knietief hängende Plautze zu fassen vermag. Auch wenn ich weiß, wie sehr Arkady jede Form von Monströsität toleriert, frage ich mich doch, wie ihr Sexualleben aussieht. Dessen ungeachtet lautet Victors Spitzname im Liberty House tatsächlich »Monsieur Mirror«. Und so wird man mir bestimmt nachsehen, dass ich Arkadys Schmährede gegen diese Spiegel für eine Art von Kritik am zügellosen Narzissmus seines Liebhabers gehalten habe. Schließlich war er selten so leidenschaftlich und überzeugend wie an jenem Tag, an dem er uns in die Kapelle zusammentrommelte, um uns jeglichen Blick auf spiegelnde Oberflächen zu untersagen. Seine Stimme vibrierte vor Eindringlichkeit, seine Wangen röteten sich, seine Faust flog nach oben oder stürzte auf das schwere Eichenpult nieder, wenn er seiner Empörung trommelnd Ausdruck verlieh:

»Nicht nur, dass die Spiegel zu eurer Seelenmarter beitragen – mir ist schleierhaft, was ihr dort erfahren oder nachprüfen wollt. Die Spiegel können euch nichts beibringen, rein gar nichts! Und sei es nur, weil sie ihren eigenen geometrischen Gesetzen folgen. Versucht doch mal, die linke Hand vor eurem Spiegel zu erheben, dann werdet ihr feststellen, dass euer Ebenbild die rechte hebt!«

Arkady lässt den Blick über seine Zuhörer schweifen, über all die offenen Münder und wackelnden Köpfe, die nur eines anstreben: die positive Bewertung ihres Schönheitskapitals. Sie haben wohl vergessen, dass man im Liberty House vor allem bei den weniger Begünstigten rekrutiert. Mit offensichtlicher Ausnahme meiner wunderschönen Mutter und meines Vaters, dem jeder Charme und regelmäßige Gesichtszüge bescheinigt, sehen alle anderen, ich inbegriffen, schauderhaft aus und können in der Tat von den Spiegeln keinerlei Trost erwarten. Arkady fährt fort:

»Außerdem ist nichts kälter und glatter als ein Spiegel! Was kann er schon von eurer Wärme einfangen, euren Unebenheiten, eurem Innenleben, also genau dem, was euch ausmacht und von jedem anderen unterscheidet? Wisst ihr was?«

Die Versammelten beben, atmen mit ihm ein und halten erwartungsvoll die Luft an. Arkady runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen und nimmt diesen herrischen Ausdruck an, der ihn in meinen Augen so unwiderstehlich macht.

»Wir werden alle Spiegel im Haus verhängen oder umdrehen. Alle! Auch die Spiegel, die ihr im Zimmer oder im Bad habt. Verstanden? Liberty House soll zur spiegelfreien Zone werden!«

Seine Schäfchen nicken, Arkady ist aber noch nicht fertig.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche von euch sogar Vergrößerungsspiegel besitzen. Das geht dann doch zu weit, meint ihr nicht? Jetzt mal ganz ehrlich: Welcher Teil – von euch, von mir, von uns – verdient so viel Aufmerksamkeit? Im Ernst?«

In einer der Reihen vor mir nehme ich wachsende Unruhe wahr, ein Rascheln und Stöhnen: Dadah möchte sich zu Wort melden, und das dauert bei ihr immer eine gewisse Zeit, als müssten sich ihr altersschwaches Hirn und ihr ebenso altersschwacher Körper erst einmal aufwärmen und zurechtruckeln, um überhaupt zu funktionieren. Ein wütendes Schnauben, das Froufrou ihrer Rüschen, Zähneknirschen, das ungeduldige Hämmern ihrer Hand auf der Armlehne, dann ist sie so weit: »Arkady …«

Ihre nach fast hundert Jahren Raucherei vermännlichte Stimme erhebt sich unter dem Kreuzrippengewölbe und schlägt alle in Bann – mit Ausnahme von Arkady, der sich durch nichts beeindrucken lässt. Man muss wissen, dass Dadah – mit bürgerlichem Namen Dalila Dahman – stets gesprochen hat, um Furcht zu wecken und Gehorsam zu fordern; und selbst, wenn sie das gar nicht fordern wollte, fürchtete man sie und gehorchte ihr, so wie ihr praktisch alles von Geburt an in den Schoß gefallen ist. Als steinreicher Spross einer Familie von Kunsthändlern war Dadah nichts Besseres eingefallen, als sich noch mehr zu bereichern, über jedes vernünftige, ja vorstellbare Maß hinaus, denn wer hat schon die Gehirnkapazität, die Größe eines Vermögens zu ermessen, das auf Millionen beziffert wird? Eins muss man Dadah allerdings lassen, sie wusste ihr Geld auszugeben, und im Gegensatz zu dem, was eine dämliche Volksweisheit behauptet, hat dieses Geld sie durchaus glücklich gemacht. Würden die Gebrechen des Greisenalters sie nicht an ihren Rollstuhl fesseln, wäre sie übrigens noch immer regelrecht glücklich und unempfänglich für das Leid von anderen, und zwar in einem Grade, wie man ihn maximal erreichen kann. Nun, da Arthritis und Emphysem sie davon abhalten, in ihren Privatjet zu springen, ist ihre Welt auf die Größe des Liberty House geschrumpft, das vor allem von ihr gesponsert wird. Doch obwohl sie Dutzende von solchen Wohlfahrtseinrichtungen großzügig fördern könnte, geizt Dadah bei ihren Spenden, während sie verschwenderisch mit Worten umgeht, die unsere mangelnde Dankbarkeit anprangern – und uns jeden Euro, den sie für Heizkosten und Landschaftspflege aufwendet, teuer bezahlen lässt. Ja, Reiche können ganz schön knickrig sein, trotzdem kenne ich außer Dadah niemanden, der Verpackungen aus Aluminium wiederverwendet und anderen rät, das Kochwasser für die Kartoffeln später zum Pflanzengießen oder Geschirrspülen zu benutzen. Mittlerweile ist sie in Fahrt geraten, und ich bin sicher, dass sie zu Arkadys großartigem Vortrag über die Spiegel einiges zu sagen hat.

»Arkady, Vergrößerungsspiegel sind beim Schminken doch sehr praktisch, besonders in unserem Alter!«

Mit ihren sechsundneunzig Jahren ist Dadah bei weitem die Älteste im Phalansterium, aber sie redet immer so, als wäre ganz Liberty House eine Seniorenresidenz. Dabei sind – einmal abgesehen von meiner erst zweiundsiebzigjährigen Großmutter und Victor, der da vorgibt, fünfzig zu sein – die meisten Gäste in der Blüte ihres Lebens. Es kommt Dadah jedoch gelegen, so zu tun, als stünden alle hier kurz vor ihrer Vergreisung. Auf der Kanzel sammelt Arkady seine Notizen zusammen, ein Bündel vergilbter Blätter, die vermutlich kaum Bezug zum Thema des Tages haben, aber er liebt es nun mal, seine Eloquenz mit solchen Requisiten zu unterstreichen und mit den Insignien der Gelehrsamkeit Eindruck zu schinden. Dalila Dahman muss sich warm anziehen.

»Wozu die Schminke? Habt ihr jemals erlebt, dass jemand durch Make-up oder Lippenstift schöner wird? Das Gegenteil ist der Fall: Glaubt mir, mit jedem Lidstrich, jedem Tropfen Nagellack, jedem Puderhauch rückt ihr ein Stück weiter von aller Schönheit und Wahrhaftigkeit ab!«

Dadah klammert sich an die Armstützen ihres elektrischen Rollstuhls für siebentausend Euro und bebt, weil sie sich angegriffen fühlt und gleichzeitig auf ein Wortgefecht mit ihrem Lebenscoach freut – denn so lautet die Rolle, die sie Arkady zuweist. Gleich bei ihrer Ankunft hat sie ihm ihre Seele anvertraut und voller Erleichterung deren Führung überlassen. Dennoch lehnt sie sich immer wieder wegen Kleinigkeiten auf, damit niemand vergisst, dass sie jederzeit ihre Freiheit – und ihr Geld – wieder für sich beanspruchen kann. Und so hebt sie zu einem Plädoyer für Blush und Wimperntusche an, die sie hartnäckig als Rouge und Mascara bezeichnet, trotzdem verstehen wir sie, vor allem, da sie beides im Übermaß aufträgt und uns das von Arkady gegeißelte Unnatürliche lebhaft vor Augen führt: asymmetrische, safrangelb bestäubte Wangenknochen, geschwollene, fettig glänzende Lippen, verspachtelte Falten, verklebte Wimpern. Neben ihr – natürlich nur im übertragenen Sinn, weil sie sich gegenseitig nicht leiden können und jede Tuchfühlung meiden – wirkt meine Großmutter so frisch und rosig wie ein Laib Reblochon. Man muss wissen, dass sie der Kosmetikindustrie schon lange vor ihrer Begegnung mit Arkady misstraute und lieber ihre von erweiterten Äderchen durchzogenen Wangen und ihr zerknittertes Dekolletee zur Schau stellt, als sich mit irgendeiner Creme zu behelfen – geschweige denn mit Skalpell oder Silikon.

Arkady hört Dadah nur mit einem zerstreuten, vielleicht sogar ungeduldigen Ohr zu. Er mag ja gerontophil sein, doch die senilen Haarspaltereien, in denen Dadah regelmäßig schwelgt, gehen ihm schnell auf die Nerven. Leider hat sie sich nun des Themas bemächtigt und wird so bald nicht lockerlassen. Im Gegensatz zu Arkady, der immer mit einer Bühne und einem andächtigen Publikum rechnen kann, wenn er sich äußern möchte, bleibt Dadah inzwischen die willfährige Aufmerksamkeit versagt, die sie in ihrer Glanzzeit erlebt hat. Zwar ist sie nach wie vor reich und furchterregend, ihr Verstand lässt sie aber meist dermaßen im Stich, dass ihr selbst die größten Speichellecker in ihrer Gefolgschaft kaum mehr zuhören. Doch obwohl Dadah nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, bleiben ihr genug Synapsen, um zu merken, dass ihr Wort nichts mehr gilt. Darum nutzt sie jede Gelegenheit auf das Ausgiebigste, um andere zuzuschwallen, und setzt sich dabei souverän über sämtliche Unterbrechungen und Anzeichen von Überdruss hinweg. Mangelnder Zuspruch dient ihr sogar als Ansporn, und so dreht sie sich genüsslich in ihrem Rollstuhl hin und her und setzt mit ihrem Kontra-Alt dramatische Akzente:

»Das ist ja unerhört, dass eine Frau sich nicht einmal mehr hübsch machen darf, solange sie noch kann! Kleinere Unreinheiten zu beheben, ist außerdem ein Gebot der Höflichkeit! Heutzutage findet man äußerst wirksame Anti-Aging-Produkte. Ja wirklich!«

Seltsamerweise glaubt Dadah immer noch, ihre Haut weise nur winzige Makel auf, etwa ein brauner Fleck hier, oder dort eine geplatzte Ader, ein Lachfältchen vielleicht, die man alle leichter Hand mit Concealer oder Highlighter abdecken kann. Und da deutet sie auch schon mit zittrigem Finger auf ihre verheerten Gesichtszüge, als wollte sie uns zeigen, welche Wunder die Kosmetologie bei ihr bewirkt hatte – dabei ist Dadah der lebende Beweis ihrer Unwirksamkeit. Während sie für dreißig Sekunden triumphierend verstummt, nimmt Arkady geschwind den Faden seines Vortrags wieder auf und wendet sich dem »einzigen brauchbaren Spiegel« zu. Als guter Redner holt er etwas weiter aus und baut gezielt Spannung auf, sodass sich alle den Kopf zerbrechen und überlegen, was wohl gemeint sein könnte. Das gibt auch mir genügend Zeit, allerlei kraftlose Vermutungen anzustellen: die Augen, das Gewissen, die Quellen, die Brunnen, die Pfützen, der Himmel, was weiß ich. Dann erweist sich allerdings, dass ich vollkommen daneben liege, denn nun reckt sich der kleine Arkady hinter seinem Pult zur vollen Höhe auf und verkündet, dass Der Spiegel der einfachen vernichtigten Seelen und jener, die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe verbleiben fortan unser aller Spiegel sein soll. Natürlich folgt auf diese Erklärung ehrfürchtiges Schweigen, aber mit ein paar flüchtigen Blicken nach links und nach rechts stelle ich fest, dass keiner was verstanden hat, abgesehen von Victor, dessen selbstgefällige, vielsagende Miene mich auf den Gedanken bringt, dass er hinter diesem hochliterarischen Verweis steckt. Sollte es sich nämlich um ein Buch handeln, dann stammt die Idee garantiert nicht von Arkady, der das Lesen verabscheut.

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das erkannte, weil er fortwährend bekundet, die Literatur im Allgemeinen und den großen Victor im Besonderen zu lieben, und weil er das Liberty House zudem noch sehr großzügig mit Glasschränken und Regalen ausgestattet hat, die Hunderte Bücher mit Goldschnitt fassen. Ich habe selbst, auf den Aubusson-Teppichen der Bibliothek sitzend und von einem Sonnenstrahl beleuchtet, stundenlang in ihnen geblättert, als vollendete Allegorie jugendlichen Bildungshungers, aber auch als Mensch gewordene Ratlosigkeit – denn es handelte sich bei den meisten Büchern um uralte Abhandlungen über Arithmetik oder Agronomie, die Arkady meterweise gekauft hatte, wohl eher darauf bedacht, die Einbände auf unsere Sesselbezüge abzustimmen, als unseren Wissensdurst mit richtigen Büchern zu stillen. Nachdem diese dekorativen Schwarten zur hagiografischen Sammlung der Schwestern vom Heiligsten Herzen hinzugekommen sind, bleibt für die Literatur hier im Grunde nur wenig Raum – ein Regalbrett, wenn überhaupt. Nein, ich übertreibe, denn auch wenn Victor ein furchtbarer Angeber ist, hegt er für die Poesie eine wirkliche Leidenschaft und besitzt eine eigene Bibliothek. Zu meinem Leidwesen befindet sich diese jedoch im Zimmer, das er mit Arkady teilt, und besteht außerdem aus einem herrlichen neogotischen Glasschrank mit drei Flügeltüren, die er stets mit einem Vorhängeschloss sichert, sodass ich mir noch nie Zugang dazu verschaffen konnte, trotz meiner heimlichen Erkundungen ihrer Hochzeitssuite.

Ich liebe Arkady und halte ihn für den Inbegriff von Seelengröße, dennoch muss ich zugeben, dass Victor und er sich selbst die prunkvollsten Räumlichkeiten zugeteilt haben, während den Gästen des Liberty House geradezu klösterliche Zellen oder Bettnischen zugewiesen wurden, die man durch Unterteilung der Schlafsäle gewonnen hatte. Ich selbst verfüge nur über ein fünf Quadratmeter kleines Kämmerchen, und meine Eltern sind kaum besser dran. Das ist mir aber egal. Es gefällt mir sogar, auf so engem Raum zu hausen, und ich fühle mich in meinem Schlupfwinkel mit dem winzigen Fenster geborgen. Vor allem, weil besagtes Fensterchen auf das Geäst einer Atlas-Zeder blickt und ich mich allein schon über ihre Nachbarschaft freue, über den Duft ihrer Zapfen, das beständige Schrammen ihrer Zweige gegen die Fassade, das fröhliche Getöse der Vögel, die in ihnen nisten und mich jeden Morgen wecken – jeden Morgen, als wäre es der erste Morgen. Bevor ich ins Liberty House einzog, lebte ich in einem Zustand sensorischer Entbehrung, der mir nicht einmal bewusst war. Eltern, die ihr Kind mehr als hundert Meter von einem Grasmückennest oder Zistrosenstrauch entfernt aufwachsen lassen, sollten strengstens bestraft werden. Meine Eltern haben diesen Fehler begangen, sodass ich um ein Haar nie das Vergnügen erlebt hätte, meine Blütenblätter in der Sonne zu entfalten, die Wange an einen harzigen Baumstamm zu schmiegen oder auf eine Gewitterfront zuzustürmen.

Arkady wagt sich an eine mitreißende Exegese der gelungensten Seiten seines Spiegel der einfachen Seelen