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Warum wird ein Achtjähriger zum Serieneinbrecher? Warum haut eine Neunjährige von zu Hause ab? Warum geben Kinder auf, bevor ihr Leben richtig begonnen hat? Huberta von Voss hat viele Familien in ganz Deutschland aufgesucht, um zu erfahren, was in Kindern vorgeht, die inmitten von Wohlstand in Armut aufwachsen. Kinderarmut in Deutschland kommt morgens hungrig zur Schule, hat keine Nachhilfelehrer, ist nicht im Sportverein und bleibt beim Klassenausflug zu Hause. Kinderarmut bedeutet, nicht Kind sein zu dürfen, in einem oft von Gewalt gezeichneten Elternhaus aufzuwachsen und zu den frühen Verlierern zu zählen. Kinderarmut macht einsam, chancenlos und ist inzwischen ein Massenphänomen. Kindheit in Deutschland – das ist viel zu oft ein Armutszeugnis. Huberta von Voss macht die Lage der betroffenen Kinder und auch ihrer Eltern jenseits von Statistiken und Medienereignissen anschaulich, lässt sie von ihren Wünschen und ihrer Wut erzählen, von ihren Träumen und Ängsten. Sie gibt dazu die notwendigen Hintergrundinformationen und zeigt, wie konkrete Hilfe aussehen und was sie bewirken kann.
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2010
Huberta von Voss
Arme Kinder, reiches Land
Ein Bericht aus Deutschland
Mit einem Vorwort von Eva Luise Köhler
Widmung
Zitat
Mitten unter uns
Von Eva Luise Köhler
Gestohlene Kindheit
Hunger und Hartz IV
Land unter
«Mülltonnenfresser»
Kinder nicht erwünscht
Abschied vom Kuscheltier
Vom Versuch, die Würde zu behalten
Wunsch und Wirklichkeit
Wie schön, dass du geboren bist
Willst du mich haben?
Balanceakt
Schatten einer verlorenen Kindheit
Zieh dich an!
Selbst noch ein Kind
Ohne jede Schonzeit
Gewalt und Kriminalität
Dunkelfeld
War nur ein Unfall
Abends, wenn ich schlafen geh …
Statt Kindheit eine Polizeiakte
Flucht und Sucht
Baby im Vollrausch
Sich unsichtbar machen
Voll die Dröhnung
Rettungsanker Hamburger
Brutaler Kick
Auszeit am Alex
Aufbruch und Endstation
Astronaut oder Bundeskanzlerin
Geige statt Gameboy
Stärker als Muhammad Ali
Treibgut
Hier träumt keiner
Torben segelt mit!
Wir sind alle gefragt
Danksagung
Gewidmet sind diese Geschichten meinem ältesten Sohn Maximilian.
Das Kind hat das Recht auf Fehler, auf Achtung, auf Versagen und auf Erziehung.
Janusz Korczak
Von Eva Luise Köhler, Schirmherrin von UNICEF Deutschland
Arme Kinder in einem reichen Land, so etwas gibt es doch nicht. Wenn man die internationalen Zahlen sieht und die Schwerpunkte der Arbeit des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen betrachtet, denkt man zunächst nicht an Deutschland.
Die weltweiten Fakten sind erschreckend: Mehr als 70Millionen Kinder, die rund um den Globus vor allem in Entwicklungsländern arbeiten, sind nicht einmal zehn Jahre alt. Mehr als 100Millionen Kinder leben auf den Straßen der Großstädte unserer Welt, schlagen sich mühsam durch, werden tagtäglich Opfer von Gewalt. Millionen Kinder sterben jedes Jahr aufgrund von Mangelernährung, fehlendem Impfschutz und verheerenden hygienischen Bedingungen. An der Schwelle zum 21.Jahrhundert steht das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen vor riesigen Herausforderungen.
Das sind die globalen Daten. Wie es scheint, finden diese Zahlen keine Anwendung auf Deutschland. Trotzdem gibt es Gründe, sich um Kinder in unserem Land zu sorgen. Armut hat viele Gesichter, nicht immer lässt sie sich nur an der materiellen Situation festmachen – das zeigt dieses Buch. Einfühlsam und ohne Voyeurismus erzählt es Geschichten, die viele von uns nicht hören, weil unsere Kinder nicht in denselben Vierteln groß werden, weil unsere Kinder auf bessere Schulen und in andere Kindertagesstätten gehen und wir jene Kinder, von denen hier die Rede ist, weder in der Musikschule noch in den Sportvereinen antreffen. Kinder, die mitten unter uns in Armut aufwachsen, spüren sehr deutlich, dass sie nicht dazugehören.
Umso wichtiger sind jene Einrichtungen, in denen ihnen soziale Teilhabe ermöglicht wird. Und dennoch: Viele Kinder, von denen hier berichtet wird, müssen trotz des Engagements von Lehrern, Erziehern, Ehrenamtlichen und Sozialarbeitern damit fertig werden, dass ihre Umwelt ihr manchmal im Wortsinne «ver-rücktes» Verhalten nicht versteht und sie in dem Moment aufgibt, wenn sie unsere Hilfe am dringendsten brauchen. Diese Erfahrung blieb auch dem in Deutschland geborenen neunjährigen Hassan nicht erspart, der seiner allein erziehenden Mutter die Diagnose des Arztes übersetzen musste, dass sie bald an einer tödlichen Krankheit sterben werde, und der – völlig überfordert von der auf ihm lastenden Verantwortung – danach nur noch randalierte. «Nicht mehr beschulbar», attestierte ein Heimerzieher dem hochaggressiven Jungen. Heute lebt Hassan in einer Familienwohngemeinschaft des Evangelischen Johannisstifts am Stadtrand Berlins, hat sich nach einer Odyssee durch neun Schulen seelisch stabilisiert und gute Noten.
Auch von ihnen erzählt dieses Buch – von den Menschen, die solche Kinder nicht aufgeben. Die sich mit aller Kraft für sie einsetzen. Und die uns beispielhaft zeigen, dass es viele Wege gibt, Kindern in Not zu helfen. Aber auch sie brauchen Fürsprecher, denn allzu schnell kann so manche Streichung in der Jugendhilfe ihre Arbeit und damit die Zukunftschancen ihrer Schützlinge zunichte machen. Wenn Kinder zerstören, stehlen oder auch sich völlig in sich zurückziehen, dann liegt der Grund dafür nicht selten auch in einem eklatanten Mangel an Zuwendung und Aufmerksamkeit.
Was in Kindern seelisch vorgeht, die ohne die schützende Wärme intakter Familienverhältnisse aufwachsen, wo die Wurzeln ihrer Gewaltbereitschaft oder moralischen Empfindungslosigkeit liegen mögen – das sind die Fragen, denen Huberta von Voss in diesem Buch nachgeht. Sie hat mit vielen solcher Kinder gesprochen, die nie Kinder sein durften, deren Alltag oft von finanziellen Schulden, von körperlicher Gewalt, von Vernachlässigung und Verwahrlosung geprägt ist. Dabei wird klar, dass Armut und Deprivation in den allermeisten Fällen eine Hypothek der Vergangenheit sind: Die Unfähigkeit der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, ihnen Werte zu vermitteln, Nähe zuzulassen und Grenzen zu ziehen, liegt in deren eigener Kindheit begründet. Auch deshalb müssen wir uns mit dem Problem der Kinderarmut auseinandersetzen, denn die Kinder von heute sind die Eltern von morgen.
Alle Studien zeigen, dass Kinder, die keine Geborgenheit und Stabilität erfahren und deren körperliche und seelische Integrität immer wieder verletzt wird, sich nicht gesund entwickeln. Nicht immer wird es gelingen, ihnen rechtzeitig zu helfen. Aber es bleibt unsere Aufgabe, die ersten Schritte zu gehen und über weitere nachzudenken. Dabei ändert manche Hilfsaktion zwar nicht das ganze Leben, ermöglicht den Kindern aber ein Aufatmen. Wie bei den gemeinsamen Geburtstagsfeiern, die das Kinderhilfswerk Arche in Hamburg-Jenfeld einmal im Monat veranstaltet, weil den Kindern zu Hause oft niemand gratuliert.
Aber wird die Kinderarmut auch jenseits von Statistiken und Medienereignissen gehört und gesehen? Noch viel zu selten hat sie ein Alltagsgesicht für uns, einen Namen, den wir kennen, eine Adresse, die wir besuchen. Was bedeutet es für Kinder in unserem Land, inmitten von Wohlstand in Armut aufzuwachsen? Es ist das Verdienst dieses Buches, dieses Problem anschaulich zu machen, den Kindern und ihren Familien eine Stimme und ein Gesicht zu geben, von ihren Träumen und Sorgen zu berichten und von ihren Hoffnungen.
Zu den Eltern, die Hoffnung haben, gehört auch der Vater von Pascal. Was sein größter Wunsch sei, lautet die Frage. «Dass Pascal aus der Armut rauskommt», antwortet sein Vater. Martin Zimmer weiß, dass er aufgrund eines bösartigen Tumors nicht mehr lange leben wird. Er wird seinem Sohn Pascal und vier weiteren Kindern außer enormen Schulden nichts Materielles hinterlassen. Es liegt auch an uns, ob der Fünfjährige eine faire Chance auf ein Leben mit guter Bildung, Gesundheit und sozialer Teilhabe bekommt, ob er seine Talente entwickeln und in unsere Gesellschaft einbringen kann.
Kinderarmut hat viele Gesichter. Die meisten haben Ringe unter den Augen, auch schon mit drei Jahren. Kinderarmut hat ebenso viele Stimmen. Ein paar Dutzend von ihnen habe ich im Laufe eines Jahres in zahlreichen Städten und Dörfern Deutschlands zugehört, um herauszufinden, was es für Mädchen und Jungen bedeutet, arm in einem reichen Land zu sein. Manche Stimmen waren scheu, manche klangen tapfer, andere waren wie eine Tonspur, auf der sich zu viele Gefühle gleichzeitig Gehör verschaffen mussten. So wie die von Ricco, 14, mit dem Bubengesicht auf einem massigen Körper. Ricco schiebt seinen enormen Bauch wie eine Baggerschaufel vor sich her: Mir kann keener! Das Gegenteil ist wahr. Fünf Jahre ist es her, dass er seinen arbeitslosen, alkoholkranken Vater nach der Schule tot auf der Couch fand. Seither packt seine depressive Mutter das gemeinsame Leben immer wieder in einen Koffer und zieht ruhelos mit ihren Kindern um. Es scheint, als wolle Ricco durch sein Körpergewicht verhindern, dass er wie eine Spielfigur herumgeschoben wird. Wie oft kann man eine junge Pflanze umtopfen, bis sie eingeht? Ricco hatte sich auf unser Gespräch gefreut. Als es dann so weit war, verließ ihn der Mut. «Fick dich», sagte er einfach. Noch hat seine Wut ein Kindergesicht.
Dieses Buch sollte eine Momentaufnahme werden, ein Deutschlandbild auf Kinderaugenhöhe, das jenseits von Zahlen, Studien und Statistiken den Raum ausleuchtet, in dem Kinder leben, deren Eltern resigniert haben und in Hartz IV verharren, als sei dies eine Strafe, die sie absitzen müssen. Ich wollte zeigen, was mit Kindern passiert, die nicht Kind sein dürfen, weil die Probleme ihrer Eltern alles überlagern. Kinder, die keine Wurzeln entwickeln können, die zu wenig Licht abbekommen und deren Potenzial verkümmert, bevor es sich entfalten kann. Es wurde ein Buch über eine große Leerstelle, die Kindheit heißt, über einen Kreislauf, ein Generationenerbe an fehlender Sorglosigkeit, Wärme und Familiensinn, über die Unfähigkeit von Eltern, den eigenen Kindern Nähe, Selbstvertrauen und Geborgenheit zu geben, weil sie solche Erfahrungen selbst nie gemacht haben. Und doch gibt es etliche unter ihnen, die die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihre Kinder aus der Armut herauskommen.
Die weite Strecke zum Kinderhilfswerk ARCHE, wo ich einige der in diesem Buch versammelten Geschichten recherchiert habe, wurde mir im Laufe der Monate vertraut. Oft war ich froh, die Stunde Fahrzeit nach Berlin-Hellersdorf zu haben, bevor die Zeit mit meinen eigenen damals noch drei Kindern und ihren mal größeren, mal kleineren Freuden und Sorgen begann. Nicht immer reichten sechzig Minuten aus, um Abstand zu gewinnen. Es gab einige Geschichten, die mich im Schlaf verfolgten, wie die von der sechsjährigen Katja, die mit käsebleichem Gesicht mit anderen Kindern vor einem Brettspiel saß. Als ihr ein Fünfjähriger den Würfel wegnahm, reagierte das Mädchen auffallend aggressiv, drohte dem kleineren Tischnachbar mit der Faust und ließ sie dann plötzlich wieder sinken, so als wüsste es, dass es gar keine Reserven zum Zuschlagen hat. Kurz danach, nachmittags um fünf Uhr, brach das zierliche Mädchen fast zusammen. «Ich hab solche Ohrenschmerzen», schluchzte Katja. Seit Tagen schon quälte sie eine Entzündung, der Eiter lief bereits aus den Ohren. Zum Arzt war niemand mit ihr gegangen. Jetzt, am frühen Freitagabend, waren die Praxen bereits geschlossen. Die Mutter wurde angerufen, um sie wenigstens abzuholen. Zum Trost stellte ihr eine Erzieherin ein kleines Stück Hefezopf hin, das die Kleine jedoch weinend wegschob. «Ich will einfach was Richtiges essen», weinte Katja erschöpft. Es war so eine Traurigkeit in ihrer Stimme. Es stellte sich heraus, dass sie an dem Tag noch nichts gegessen hatte, auch nicht in der Kantine der Einrichtung, in der die Töpfe bereits leer waren, als sie dort allein am frühen Nachmittag ankam. An der nächsten Tankstelle ergatterte ich für sie das letzte belegte Brötchen. Katja hatte das Brötchen noch nicht zur Hälfte verspeist, als ihre nach Alkohol riechende Mutter in den Betreuungsraum kam. «Komm», sagte die Mutter, sonst nichts. Katja klammerte sich an das Brötchen. «Darf ich das noch essen, Mama?» Eine merkwürdige Frage für ein Kind. Wie oft mag Katja schon mit quälendem Hunger in der Schule gesessen und vergeblich versucht haben, sich zu konzentrieren? Was schreiben die Lehrer auf ihr Zeugnis: «Katja ist unkonzentriert und kommt im Unterricht nicht gut mit» oder «Mit einem leeren Magen kann niemand lernen»?
Es gab auch andere Geschichten, die mir lange nicht aus dem Sinn gingen, wie die von der 14-jährigen Anke aus Köln, die nicht Kind sein durfte, weil ihre einsame Mutter in ihr eine Partnerin auf Augenhöhe suchte, mit der sie ihre Sorgen und ihre Pflichten für die anderen fünf Kinder teilen konnte. Anke wollte aber Kind sein. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter eskalierten, schließlich kam Anke weg von der Familie in eine gemischte Jugend-Wohngruppe. Doch dort fand der Traum vom Kindsein ein jähes Ende, als sie nachts von zwei gleichaltrigen Mitbewohnern vergewaltigt wurde. Erst hielt der eine sie fest, dann der andere. Der diensthabende Erzieher hatte nichts gehört.
Als Mutter von nun vier Kindern, die in ganz anderen, viel behüteteren Verhältnissen aufwachsen, treibt mich die Frage um, warum wir es nicht schaffen, mehr Kindern in diesem Land gute und gleichberechtigte Startbedingungen ins Leben zu ermöglichen. Den letzten Anstoß zu diesem Buch gab der afrikanische Schulfreund meines Sohnes, Kind eines eingebürgerten Vaters, der zur wachsenden Gruppe der «working poor» gehört. Der Junge hatte miserable Noten, war aber ein blitzgescheiter Schachspieler. Mit den richtigen Mitteln und guter Begleitung hätte er eine Chance gehabt, seine Talente zu entfalten und Teil unserer Gesellschaft zu werden. Sein allein erziehender, oft überforderter Vater verlor jedoch irgendwann die Nerven und den Glauben an eine faire Chance für seinen Sohn und schickte den Jungen mit seiner Schwester in sein krisengeschütteltes Heimatland nach Westafrika zurück.
Ich bin bei meinen Recherchen vielen Kindern und jungen Menschen begegnet, auf deren Wegen sich so viele Probleme auftürmen, dass sie nicht frei und unbeschwert ins Leben gehen können. Kinder, an die niemand wirklich glaubt und die sich deshalb selbst nichts zutrauen. Kinder, die einem wohlhabenden Staat jede Statistik versauen, die bei uns in der Schublade für Schulversager und Schulabbrecher stecken und denen wenig schmeichelhafte Attribute nachgesagt werden: gewalttätig, lernbehindert, instabil. Kandidaten, die man nach gängiger Auffassung der Sozialpädagogen nur mit so genannten niedrigschwelligen Angeboten erreicht, weil sie es nicht gelernt haben, ein Ziel zu verfolgen und alle damit verbundenen Anstrengungen zu meistern, da ihnen meistens die Vorbilder dafür fehlen.
Herausgekommen ist ein Buch über das Fehlen von Träumen, die einen Menschen bei seiner Suche nach dem richtigen Platz im Leben beflügeln. «Hier träumt keiner», meint Tom, 17, aus der Plattenbausiedlung Halle-Silberhöhe. Dreh dich nicht herum, denn der Kindheitsklau geht um, kommentierte eine Freundin von mir, nachdem sie einige Geschichten gelesen hatte.
Es ist aber ebenso ein Buch über viele Projekte, die Mut machen und zeigen, wie diese Kinder aufgefangen werden können, so wie die Schüler der Herbartschule im Essener Norden, die einmal pro Jahr voller Stolz mit einer eigenen Darbietung auf der Bühne der Philharmonie stehen. Die Aufführung hat wenig mit Wunderkindern zu tun, aber viel mit der wunderbaren Fähigkeit von Kindern, für einen Moment glücklich zu sein. Wer über die Arbeit mit Kindern schreibt, die es schwer haben im Leben, muss sehr behutsam sein, mit welchem Maß er misst. Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, spielt für jene, die sich unter schwierigen Umständen kümmern, eine große Rolle. Viele von ihnen engagieren sich in bewundernswerter Weise für «ihre» Kinder und opfern einen erheblichen Teil ihrer Freizeit – und ihrer Nerven – für den Versuch, in dem Leben ihrer Schützlinge etwas zum Besseren zu bewirken. Nicht immer gelingt das, und dennoch gibt es Erfolge, die sie zum Weitermachen ermutigen. Aber ich traf auf kaum eine Institution, kaum einen Verein, der nicht massive Personalsorgen hatte und vor leeren Kassen stand. Und alle – von Berlin über Kiel und Halle bis nach Köln – berichteten, dass sich die spezifischen Probleme armer Kinder in den vergangenen Jahren verschärft haben und immer mehr Hilfesuchende vor ihrer Tür stehen.
Ich verbinde mit diesem Buch auch Erinnerungen an kleine Augenblicke, die sich mir tief eingeprägt haben. Wie den Moment, als der in einer Wohngruppe in Berlin lebende Hassan in sein Zimmer hocheilte, um ein Buch zu holen über lauter Kinder, die an ihrem Leben verzweifelt sind und versucht haben, es gewaltsam zu beenden. Hassan selbst gehörte lange zu den vielen Kindern in unserem Land, die als nicht mehr oder kaum noch beschulbar gelten. «Ziemlich traurig», sagte er, als er mir das Buch hinlegte. Dann setzte er sich mir gegenüber und stellte allerhand kluge und ernste Fragen. Ich sah in die Augen des Zwölfjährigen und fand darin nicht das Kind, das er noch ist. Hassan wird – wenn alles gutgeht – trotz seiner schwierigen Lebensgeschichte nicht verzweifeln, weil er das Glück hat, einen Platz in einer guten Einrichtung gefunden zu haben, wo er lernt, seinem Leben einen Sinn zu geben, Wünsche zu kontrollieren und seine Traumata gewaltfrei zu verarbeiten. Viele Städte und Kommunen haben diese kostenintensiven Pflegeplätze trotz großer Nachfrage in den vergangenen Jahren sukzessive abgebaut. Oft werden von den Jugendämtern noch nicht einmal die Mittel ausgeschöpft, die dafür in den Haushaltsplänen eingestellt sind, stehen doch billigere Alternativen– Pflegefamilien und Familienhelfer – zur Verfügung. Aber wenn Familiensysteme krank sind, dürfen Sparzwänge keine Rolle spielen. Am Ende muss der Staat doch zahlen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Besser wäre, wir würden umdenken: weg vom Wundenflicken hin zu mehr Prävention und zu einer Mentalität, nach der das Wohl der Kinder in unserem Land absolute Priorität hat.
«Was haben Sie denn mit dem gemacht?», fragte mich ein Betreuer nach einem Interview mit einem Insassen in der Jugendanstalt Hameln. «So gelöst habe ich den noch nie erlebt.»
«Zugehört.»
Was macht dich traurig?
So einiges.
Hast du ein Vorbild?
Ja, meine Mama.
Was vermisst du in deinem Leben?
Meinen Vater.
Marga, 14, als Kind einer polnischen Mutter und eines iranischen Vaters in Hamburg geboren, hat eine Schwester. Ihre Eltern sind arbeitslos und leben getrennt.
Laufen Ihre Kinder im Winter draußen mit Sandalen herum? Tragen sie Unterwäsche? Will Ihr Sohn eine Schultüte zur Einschulung? Würde Ihre Tochter gern mit auf Klassenfahrt gehen? Packen Sie ein Pausenbrot in die Schultasche?
Den Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, habe ich andere Fragen gestellt. Der Alltag der Armut tut weh, den rund 2,6Millionen Kindern in Deutschland, denen je nach Alter zwischen 208 und 278Euro Sozialgeld zugestanden wird – und meistens auch ihren Eltern. Sein Kind am Schuljahresanfang nicht mit dem nötigen Material versorgen zu können, weil das Geld nicht reicht, oder einen hungrigen Teenager mit 3,42Euro Regelsatz pro Tag satt zu bekommen, bedeutet Verzicht auf viele Dinge, die für die Mehrheit von uns selbstverständlich sind. Und es bedeutet Erklärungsnot.
Die Kinder, die jeden Tag in Berlin-Hellersdorf in das Kinder- und Jugendhilfswerk Arche kommen, gehören zu jenen, die mittags ihre erste richtige Mahlzeit einnehmen, denen im Sportunterricht die Turnschuhe fehlen und die im Winter keine Jacke haben, die sie wärmt. In «Land unter» erzähle ich, wie aus einer Suppenküche in Berlin eine Arche wurde, die die Kinder und ihre Eltern auffängt, so gut es geht. Überall in Deutschland schießen Projekte dieser Art aus dem Boden, und längst sind ihre Zielgruppe nicht mehr die Obdachlosen, sondern ganze Familien, die in der Schuldenfalle sitzen, nur geringe Aufstiegsperspektiven haben und von den Folgen der Armut erdrückt werden.
Hier und in anderen Brennpunkten unseres Landes leben Kinder, die nicht nur physisch Hunger verspüren. Sie haben Hunger nach Leben – nach allem, was Kindheit ausmacht und die Träume von Zukunft begründet. «Mülltonnenfresser» zeigt, wie diese Hoffnungen verletzt werden. Es erzählt die Geschichte einer 12-Jährigen, die vor der St.-Theodor-Gemeinde im Kölner Stadtteil Höhenberg in der Warteschlange für die wöchentliche Lebensmittelausgabe steht und dabei von dem Nachbarsjungen entdeckt wird, der hämisch «Mülltonnenfresser» herüberruft. Hätte Franz Meurer, der Pastor im Blaumann, die Beleidigung gehört, hätte sich der Junge bestimmt nicht nur eine Strafpredigt anhören müssen, wahrscheinlich hätte ihn der kölsche Gottesmann zum praktischen Dienst am Nächsten verdonnert.
Denn auch davon handelt dieses Buch: Wie engagierte Bürger unseres Landes Familien helfen, deren Kinder ohne Unterstützung keine Chance haben. Doch was in der Domstadt gut funktioniert, weil genügend Einwohner über die entsprechenden Mittel verfügen, lässt sich in wirtschaftlich schwachen Regionen nur schwer bewerkstelligen. Auch im brandenburgischen Milmersdorf, einer 1600-Einwohner-Gemeinde außerhalb von Templin, haben die Kinder und Jugendlichen Träume – und verharren doch in der Lethargie. Von Optimismus ist nichts zu spüren. «Kinder nicht erwünscht» berichtet von einer Großfamilie, die nicht daran glaubt, dass sich für sie im Leben noch einmal etwas ändern wird. Einziger Lichtblick in dem Dorf ist das «Haus der Hilfe», in dem der Verein «Rettender Engel» versucht, kleine Wunder zu bewirken. Nicht immer kommt rechtzeitig ein Engel vorbei.
Bei Irina und ihren beiden Kindern ist ebenfalls noch nie einer gewesen. Seit drei Monaten hat die allein erziehende Mutter aus Berlin-Marzahn mit Sohn und Tochter kein eigenes Dach über dem Kopf. Seit noch viel längerer Zeit auch kein Hartz IV, weil sie den entsprechenden Antrag nicht gestellt hat. Als sie monatelang keine Rechnungen bezahlte, wurde der Strom abgestellt. Nachdem auch die letzte Frist zur Bezahlung der Mietschulden abgelaufen war, kam die Zwangsräumung. Dann hieß es auch für die Kinder «Abschied vom Kuscheltier» zu nehmen. «Die Kinder haben geweint, aber dann habe ich ihnen erklärt, was passiert, wenn man keine Rechnungen bezahlt. Dass man dann die Wohnung verliert. Ich hab ihnen gesagt: Ihr könnt jetzt nicht alle Kuscheltiere mitnehmen. Das Wichtigste ist, dass wir drei zusammen bleiben», erzählt die 34-Jährige.
Sich bloß nicht gehen zu lassen, ist die Maxime von Martin Zimmer, einem allein erziehenden Vater, der seit Jahren unter Knochenkrebs leidet, hoch verschuldet und arbeitsunfähig ist. Sein Sohn Pascal gehört zu den 35 bis 40Prozent der Kinder aus Ein-Eltern-Familien, die laut einem UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland (2008) unter uns in relativer Armut leben. Sein schlimmster Feind, so erzählt Martin Zimmer, sei die Einsamkeit. Vielleicht muss auch deshalb bei ihm alles am rechten Platz sein und eine penible Ordnung haben, selbst die letzten Dinge. «Wenn Papa morgens tot ist, dann rufst du dort an», hat Martin Zimmer seinem fünfjährigen Sohn eingeschärft und ihm eine Telefonnummer gegeben. Die Geschichte handelt «Vom Versuch, die Würde zu behalten».
Wie aus einer Suppenküche eine Arche wurde
Berlin. Schön, denke ich, als ich im Stadtplan auf der Suche nach dem schnellsten Weg in den äußersten Osten Berlins die Landsberger Allee suche – schön, sie fängt am Prenzlauer Berg an. Das klingt wenigstens vertraut. Hier, am Prenzlberg, wohnen die Kreativen und viele von denen, die vor oder hinter den Kulissen die amtlichen und die unausgesprochenen Gesetze der Berliner Republik schreiben. Leute, von denen man eine Telefonnummer hat oder gern hätte. Auch Angela Merkel wohnte hier zu DDR-Zeiten. Das größte Teilstück der 14Kilometer langen Trasse, die die neue Mitte unseres Landes mit dem Rand der Gesellschaft verbindet, kenne ich nicht. Weil es Stadtteile gibt, in denen man keine Freunde hat, keine Konzerte besucht, kein Restaurant frequentiert, in denen keine Spezialklinik liegt und auch kein schöner Park zum Spaziergang lockt.
Fast idyllisch windet sich die einspurige Landsberger Allee kurz nach ihrem Beginn die Anhöhe am alten Friedrichshainer Volkspark hoch. Es ist ein bisschen heruntergekommen hier, ein bisschen verwunschen und sehr «hip», vintage würde man es wohl in der Modewelt nennen. Hier wohnt, wer in Berlin mitspielen will. Die bürgerlichen Parteien wissen das und haben die Straßenränder zugepflastert mit Plakaten. Es ist Sommer 2006.Bald ist Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Der Spitzenkandidat der FDP strahlt die Autofahrer an jeder zweiten Biegung von riesigen blau-gelben Stellwänden an. Die Grünen plakatieren nur wenig. Sie wissen, dass sie hier, wo an jeder zweiten Ecke ein Biomarkt ist, ohnehin gut abschneiden.
Doch schon hinter der Anhöhe öffnet sich die Landsberger Allee wie ein Trichter und spuckt mich abrupt in jenem Teil des Ostens aus, in den man nicht hinzieht, sondern schaut, dass man von dort wegkommt. Hier holt einen die DDR-Vergangenheit ein. Wie ein Industrieförderband katapultiert die frühere Leninallee die Autofahrer in Richtung Marzahn-Hellersdorf. Aus der verträumten Allee ist eine fünfspurige Schnellstraße geworden. Endlose Kilometer von Plattenbauten erstrecken sich zu beiden Seiten – die einzige Abwechslung in dieser eintönigen Hochhauswelt sind die Gebrauchtwagenhändler und Billig-Baumärkte. Einige der Plattenbauten wurden nach der Wende bunten Legoklötzchen nachgestaltet. Die Maskerade der Fassaden ist ungefähr so überzeugend, wie falsche Wimpern es bei einer Sechzigjährigen sind. «Heimat» raunt die NPD an jeder zweiten Laterne, was sich nach deutscher Eiche anhört und in dieser Betonwüste merkwürdig ausnimmt. Die Wahlkampfhelfer der PDS haben ihre Plakate stets oben drübergeklebt. Diese Koalition gibt es wohl nur hier, wo Westler nicht wohnen wollen und Ausländer keine Mietverträge bekommen, es sei denn, sie sind Russlanddeutsche. Die PDS setzt bei ihrer Kampagne auf den Zeitgeist: «Sinnvoll» werde es mit ihr zugehen, verspricht sie, und «prickelnd» noch dazu. PDS-NPD-PDS-NPD liest man rhythmisch, während das Auto in Marzahn über die Betonplatten hüpft. Vom Kandidaten der C-Partei hat sich auf zehn Kilometern nur ein einziges Plakat hierher verirrt.
Hellersdorf ist ein Name, der sich nett anhört. «Helle» sagen die Menschen hier. Helle ist die Endstation der Landsberger Allee. Danach kommt nur noch der Autobahnring um die Stadt. In Helle kann man am Wochenende einen Spaziergang von den Plattenbauten zu einem riesigen Parkplatz jenseits der Ausfallstraße machen und im «Teppichland» bunte Auslegeware betrachten oder im «Kaufland» shoppen gehen. Vorausgesetzt, man bezieht nicht Hartz IV, hat keine Schulden, nicht viele Kinder und Aussicht auf einen Job oder eine Lehrstelle. Vorausgesetzt, man ist also nicht ein ziemlich typischer Hellersdorfer.
Von den knapp 75000Bewohnern war 1991 jeder dritte unter 18Jahren alt. Heute beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung nur noch 15,6Prozent. Wer jung ist und eine Chance woanders bekommt, der geht. Doch 71Prozent der Jugendlichen verlassen hier die Schule ohne Abitur – im wohlhabenden Süden der Hauptstadt schafft jeder zweite die allgemeine Hochschulreife. Leicht ist es also nicht, aus den endlosen Plattenbausilos am Ostrand der Stadt wegzukommen, und dazubleiben ist wenig verlockend. Ein Fünftel aller Menschen ist arbeitslos, jede dritte Mutter allein erziehend. Helle ist ein Ort, an dem sehr viele Menschen in «relativer Armut» leben. Ein Begriff, der zum Standardvokabular westlicher Industriestaaten gehört, die sich damit von dem Armutsmaß der Dritten Welt abgrenzen. Ein Begriff mit Helle-Qualitäten. Er hört sich beschwichtigend an, er kommt einem nicht zu nahe. Man kann damit leben. Nur für die Menschen, die davon betroffen sind, ist Armut nicht relativ. Eine allein erziehende Mutter von mehreren Kindern, die mit der Hälfte des monatlichen Durchschnittseinkommens über die Runden kommen muss und kaum ihre Schulden bedienen kann, guckt morgens nicht, irgendwo in einer der Tausenden Plattenbauwohnungen, in den leeren Kühlschrank und sagt: «Halb so schlimm, Kinder, also in Indien, da sind die Menschen noch ärmer.» Armut in Deutschland heißt nicht nur Verzicht inmitten von Wohlstand, sondern heißt Mangel am Notwendigsten. In Berlin betrifft dies nach offiziellen statistischen Angaben jedes dritte Kind. Der Berliner Landesverband des Deutschen Kinderschutzbundes nimmt an, dass die Dunkelziffer noch weitaus höher ist, weil weder die 15- bis 18-Jährigen in dieser Zahl enthalten sind noch all jene, die mit ihrem Gehalt knapp über der Armutsgrenze von 60Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens liegen.
«Das Jammern über ‹Armut in Deutschland› muss endlich aufhören», schaltete sich Altbundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 2006 entnervt in die Debatte ein, ob man «Unterschicht» noch sagen darf oder lieber von «Prekariat» sprechen sollte. So als werde das Problem kleiner, wenn man nur weniger darüber klagte oder einen anderen Namen dafür fände. Unterschichten, das neue Tabuwort, gebe es überall auf der Welt – so der Altbundeskanzler – und unserer deutschen gehe es heute doch viel besser als all jenen Menschen, die in seiner Jugend zu kämpfen gehabt hätten.
Aber anders als zu Zeiten des jungen Helmut Schmidt, in den Jahren des deutschen Wirtschaftswunders, kämpfen heute viele Eltern nicht mehr um den sozialen Aufstieg, weil sie – und auch schon ihre Kinder – gar nicht mehr daran glauben, aus der Armut je wieder herauszukommen. Eine Untersuchung von UNICEF zur Situation der Kinder in Industriestaaten ergab, dass erschreckend viele Jugendliche düster in die Zukunft blicken. Mehr als 30Prozent der 15-Jährigen rechnen damit, dass sie später nur einer gering qualifizierten Arbeit nachgehen werden – und die Mehrheit dieser jungen Pessimisten wird man hier, in Vierteln wie Hellersdorf, und nicht auf den Schulhöfen der Gymnasien finden, wo man mit 16Jahren ins Ausland zum Schüleraustausch geht, in den Ferien Sprachkurse absolviert und die ersten Berufserfahrungen bei Praktika sammelt, die oft die Eltern organisiert haben. Doch wen ruft man an, wenn man seit Jahren arbeitslos ist? Wie bringt man die eigenen Kinder gut unter, wenn man selbst schon als hoffnungsloser Fall gilt und sich auch so fühlt? Die Mütter und Väter, die sich nach dem Krieg das letzte Hemd abgespart haben, damit ihre Kinder es einmal besser haben, sind fast eine ausgestorbene Gattung. Heute wachsen die Kinder in Problemvierteln vielfach mit Eltern auf, die in der «relativen Armut» resignieren und vor lauter eigenen Problemen und Ansprüchen nicht mehr die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen.
Kinder in «relativer Armut» sind Kinder, die mit leerem Magen und ohne Pausenbrot in den Kindergarten oder die Schule geschickt werden; die keine Spielsachen haben, die sie motorisch oder sensorisch fördern; denen nicht vorgelesen wird, weil die «Bildungsferne» ihrer Elternhäuser bedeutet, dass selbst der Gang zur Stadtbibliothek gescheut wird. Es sind Kinder, in deren Wohnung Tag und Nacht der Fernseher läuft und ihnen eine Welt zeigt, in der sie nie wohnen werden; es sind Kinder, mit denen niemand die Hausaufgaben erledigt; denen Ruhe fehlt; deren Eltern vergessen haben, dass Kinder Vorbilder brauchen, an denen sie sich orientieren können; Kinder, die nicht damit rechnen können, dass ihnen jemand das Selbstvertrauen stärkt, wenn sie Niederlagen einstecken müssen; die zur Härte erzogen werden und später nicht mehr weich sein können. Kinder, die mit abgetragener Kleidung vorliebnehmen müssen, die in verwahrlosten Wohnungen hausen, in denen regelmäßig der Strom und das Gas abgedreht werden, weil ihre Eltern die Schulden nicht mehr bedienen können. Kinder, die im Wortsinne unbehaust sind und infolgedessen «multipel deprivieren» – wie Experten es nennen, wenn Kinder sich weder emotional noch physisch gut entwickeln, häufig unter Sprachstörungen leiden, verhaltensauffällig sind und keine guten Leistungen in der Schule erbringen. Es sind Kinder, denen die Welt offenstehen sollte, die aber in Wahrheit draußen vor der Tür stehen und dort auch bleiben werden.
Diese symbolische Tür haben Pfarrer Bernd Siggelkow und seine Frau Karin vor mehr als zehn Jahren geöffnet, als sie 1995 von einer Pfarrstelle im beschaulichen Schwarzwald aufbrachen und im Osten Berlins mit ihren eigenen sechs Kindern ein neues Leben begannen, um fremden Kindern nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch an sich selbst zu vermitteln. Aus der Initiative im eigenen Wohnzimmer, die Siggelkow damals noch mit einem Halbtagsjob im Hotel mitfinanzierte, ist eines der erfolgreichsten Kinderhilfswerke Deutschlands geworden. Das zur evangelischen Freikirche gehörende Kinder- und Jugendwerk «Arche» ist heute nicht die einzige Suppenküche, die Kindern mehr als eine Mahlzeit anbietet. Überall in Deutschland, oft in den Räumen der evangelischen und katholischen Amtskirchen, sind Initiativen entstanden, die die Botschaft praktisch umzusetzen versuchen, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt. Ihre Resonanz zeigt, wie wenig haltbar die landläufige Meinung ist, dass in Deutschland niemand hungern muss. Allein der Verein Deutsche Tafel unterhält 600Anlaufstellen, und immer mehr Familien überwinden ihre Scham und stellen sich mit ihren Kindern zur Essenausgabe an.
Nicht nur in Berlin-Hellersdorf findet sich eine solche Arche, weitere Standorte hat sie in Hamburg-Jenfeld und München-Moosach. Was die Hellersdorfer Arche neben ihrem umfassenden Konzept aus materieller Versorgung und pädagogischer Förderung aber von vielen anderen Hilfseinrichtungen unterscheidet, ist die Höhe der eingeworbenen Spenden. So kann das bereits sehr viel länger in Hamburg-Jenfeld aktive Kinderzentrum «Kaffeekanne» nur davon träumen, dass Firmen wie Unilever sie gleich mit einem Zuschuss von 180000Euro unterstützen oder sogenannte «Arche-Botschafter» wie der Extrainer von Hertha BSC Falko Götz ihnen Türen zu Spendern öffnen.
Manch einen irritiert die rege Publicity-Tätigkeit Siggelkows und seines Partners Pfarrer Kai-Uwe Lindloff – vor allem Lokalpolitiker, die fürchten, ihr Sprengel werde in der Öffentlichkeit heruntergeredet und stigmatisiert. Und tatsächlich gibt es Tage, da fühlt man sich in der Arche wie im Zoo, wenn Filmteams ihre Kameras rücksichtslos auf ohnehin gereizte Kinder halten oder Journalisten auf der Suche nach geeigneten Interviewpartnern durch die Gänge schwirren: «Guten Tag, ich suche eine Familie mit ganz vielen Kindern, einer Plattenbauwohnung und massiven Problemen. Wie viele haben sie denn?» – «Ich habe einen Sohn, der bei mir lebt», sagt der Vater von Pascal, der auf Krücken vor der Boulevardjournalistin steht. «Und drei, die bei der Mutter wohnen, aber ich kann ihnen gern erzählen, wie beschissen es mir geht!» – «Vielen Dank, läuft leider nicht. Wir brauchen auch Fotos», sagt die Frau, zeigt auf ihren mitleidsvoll blickenden Fotografen und düst weiter.
Im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit, Spendengelder und die Reputation von Stadtvierteln wird zuweilen auch zu unsauberen Mitteln gegriffen. Besonders verletzend dürfte die von einem PDS-Mann gesäte Rufmord-Behauptung gewesen sein, Siggelkow halte nicht den «gebührenden körperlichen Abstand» zu seinen Schützlingen. Ja, wer mit Bernd Siggelkow im Büro sitzt, erlebt immer wieder, wie große und kleine Kinder hereinstürmen, auf den Schoß von «Bernd» springen, als sei er wochenlang nicht da gewesen, und sofort losplappern, als sei niemand anderes im Raum. Weil sie wissen, dass sie für Bernd Siggelkow und seine Mitarbeiter wichtig sind und im Zentrum stehen, weil ihnen hier zugehört wird und weil sie hier überhaupt einmal eine Umarmung bekommen. Weil Berührung zu zeigen, zu fühlen und anzunehmen hier wieder zu einem natürlichen Teil der Kindheit und Jugend werden. «Es ist Montag», sagt der Arche-Gründer vielsagend. Montag in sozialen Konflikträumen ist der Tag nach 48Stunden Dauerstress am Wochenende, für viele Kinder gleichbedeutend mit familiärem Streit, leerem Magen und Marathonfernsehen. Nicht nur Bernd Siggelkow, sondern auch seine zahlreichen Mitarbeiter legen immer wieder ihr Tagwerk beiseite, um einem Kind oder Jugendlichen zuzuhören, auf die Schulter zu klopfen, körperliche Zuwendung zu zeigen. Sie sind im wahrsten Sinne für die Kinder greifbar. Auch Eltern kommen, die Rat oder Trost suchen und sich hier für ihre Hilflosigkeit nicht schämen müssen.
Besonders bei den kleinen Kindern ist die Sehnsucht nach Nähe spürbar. Wer sich oben im Kleinkindbereich hinsetzt, hat sofort ein Kind auf dem Schoß – und manchmal gleich mehrere, die sich gegenseitig von diesem begehrten Platz zu vertreiben suchen. So wie die dreijährige Nadine, deren völlig überforderte allein erziehende Mutter die Kleine vom Bezirks-Kindergarten schnurstracks in die überfüllte Arche-Kantine und von dort in den Kleinkind-Hort bringt, ohne ihr einen Moment der Ruhe zu zweit zu gönnen. Nadine kuschelt sich sofort in meine Arme, um ein bisschen zu schlafen, und blinzelt immer wieder heimlich nach oben, um sich zu vergewissern, ob ich auch nach zehn Minuten noch da bin. Oder wie der fünfjährige Gregor, dessen Sprachentwicklung völlig zurückgeblieben ist, aber der nach drei Wochen immer noch die Seite kennt, an der ich aufgehört habe, ihm aus seinem Lieblingsbuch «Aladin» vorzulesen. Oder wie Janine, auch fünf Jahre alt, die mich bei einem Ausflug zum Kinderbauernhof «Pinke Panke» den ganzen Nachmittag von Tiergatter zu Tiergatter zieht und keinen Moment meine Hand – die Hand einer Fremden – mehr loslässt, mich aber schon eine Woche später nicht mehr wiedererkennt.
Jeden Tag stehen bis zu 350Kinder in der Kantine in Hellersdorf an, um sich eine kostenlose Mahlzeit zu holen. Und es werden immer mehr. Für manche von ihnen ist es die erste Mahlzeit des Tages und manchmal auch die letzte. Aber die Kinder der Arche haben nicht nur Hunger auf eine Mahlzeit jenseits der Dönerbude, die zu Hause häufig die Küche ersetzt, sondern sie sind auch hungrig nach Aufmerksamkeit, Vertrauen, Förderung, Spiel, nach gemeinsamer Zeit und Zuneigung.
So ist aus der Suppenküche eine tatsächliche Arche geworden, die die Kinder aufsammelt, wenn Land unter ist in ihrem unruhigen Leben. Wenn die Wohnung zwangsgeräumt wird, weil die Miete seit Monaten aussteht. Wenn sie Opfer von Gewalt