Arme Leute - William T. Vollmann - E-Book

Arme Leute E-Book

William T. Vollmann

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieser große Reportage-Essay dokumentiert William T. Vollmanns Begegnungen mit armen Menschen – von Kambodscha bis Afghanistan, von Japan bis in den Kongo, von Irland bis in den Jemen. Der Autor ist ein Insektenforscher unter den Menschenjägern, macht aus Zufallsbegegnungen ein Forschungsprojekt, stellt bohrende Fragen, wägt ab, bewertet. Er baut aus einem Kaleidoskop mikroskopisch genauer Betrachtungen seine ganz eigene Theorie der Armut, reich illustriert mit seinen eigenen Fotos.
Arme Leute ist eine einzigartige Erkundung unserer Welt. Vor allem aber ist dieses Buch eine Reise in den Kopf eines der eigenwilligsten Schriftsteller unserer Zeit, der sich das Universum der Armut zu eigen macht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 474

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



3William T. Vollmann

Arme Leute

Reportagen

Aus dem Englischen von Robin DetjeMit Fotografien des Autors

Suhrkamp

5Dieses Buch ist meinen Dolmetscherinnen und Dolmetschern gewidmet, ohne die ich noch tauber und dümmer geblieben wäre, als ich es mit ihnen war. Weil ich meine Gesprächspartner in den Mittelpunkt stellen wollte, ohne dabei ganz vermeiden zu können, Sie mit diversen Interpretationen und Missverständnissen abzulenken, habe ich die Anwesenheit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher wo immer möglich unterschlagen. Nur wo deren Reaktionen ein Schlaglicht auf die armen Leute warfen, sind sie im Bild geblieben. Ich bin ihnen allen sehr dankbar. Ihre Geduld, oft auch ihr Wagemut und vor allem, dass sie sich vor Ort auskannten, haben dieses Buch möglich gemacht.

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

7Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Einführung

1

2

3

Glossar

Selbstbeschreibungen

Eins Ich glaube, ich bin reich.

(Thailand, 2001)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Zwei Ich glaube, sie sind arm.

(Jemen, 2002;

USA

, 1846, 2001-2005; Kolumbien, 1999; Mexiko, 2005; Japan, 2004-2005; Vietnam, 2003; Afghanistan und Pakistan, 2000)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Drei Natalias Kinder.

(Russland, 2005)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

18

19

20

21

Vier Man muss für alles selber sorgen.

(China, 2002)

1

2

3

Fünf Die zwei Berge.

(Japan, 2004 bis 2005)

1

2

3

4

5

Phänomene

Sechs Unsichtbarkeit.

(Afghanistan, 2000; Jemen, 2002; Burma, 1994;

USA

, 2005 und 2000; Vietnam, 2003; Ungarn, 1998; Pakistan, 2000)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Sieben Missbildung.

(Japan, 2004; Russland, 2005; Thailand, 2001)

1

2

3

4

Acht Unerwünschtsein.

(Indien, 1979;

USA

, 1920er-40er; Thailand, 2001)

1

2

3

Neun Abhängigkeit.

(Kolumbien, 1999; Virginia und England, 18. Jahrhundert)

1

2

3

4

5

6

Zehn Unfallanfälligkeit.

(Irak, 1998; Serbien, 1994; Australien, 1994;

USA

, 1999; Kolumbien, 1999;

USA

, 1820er; Frankreich, 1754; Irland, 1889; Republik Kongo, 2001)

1

2

3

2

Elf Schmerz.

(Thailand, 2001; Serbien, 1998; Russland, 2005)

Zwölf Abstumpfung.

(Bosnien, 1994; Schottland, 18. Jahrhundert; Mexiko, 2005;

USA

, 1999; Thailand, 2001; Pakistan, 2000; Russland, 2005)

1

2

3

4

5

Dreizehn Entfremdung.

(

USA

, 1998; Irland, 1848; Russland, 2005; Philippinen, 1949; Bosnien, 1992; Syrien, 1968; Kenia, 1972; Mexiko, 2005; Kolumbien, 1999-2000; Thailand, 2001)

1

2

3

4

5

6

7

8

Wahlmöglichkeiten

Vierzehn Amortisierung.

(

USA

, 1993; Japan, 2000; Philippinen, 1995)

1

2

Fünfzehn Verbrechen ohne Verbrecher.

(Kasachstan, 2000)

1

2

3

4

5

6

7

Sechzehn Furcht vor Snakeheads.

(Japan, 2001)

1

2

Hoffnungen

Siebzehn »Mehr Hilfe, und das gezielter«.

(1997)

1

2

3

Achtzehn Der Fahrer.

(Philippinen, 1995)

Neunzehn Ganz unten.

(Überall)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Zwanzig Schmutzige Toiletten.

(Kenia und

USA

, 1992, 1996)

1

2

3

4

5

6

Platzhalter

Einundzwanzig Ich weiß, dass ich reich bin.

(

USA

, 2005)

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Zweiundzwanzig Ich glaube, du bist reich.

(??)

1

2

3

4

Dreiundzwanzig Das Geld geht, wohin es will.

(Japan, 2005)

Danksagung

Bildteil

Quellen

Fotografien

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

3

5

7

11

12

13

14

15

16

17

19

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

163

164

165

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

239

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

277

278

279

280

281

282

283

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

317

318

331

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

332

333

334

335

11Einführung

1

Vor Kurzem habe ich ein eher umfangreiches Buch über die Gewalt abgeschlossen. Ich wollte, dass es theoretisch keine Lücken hatte ‒ es sollte in der Lage sein, die mannigfaltigen, dabei nicht zahllosen Ausreden für die Anwendung von Gewalt in Kategorien zu fassen.

Dieser Essay über arme Leute ist in anderem Geist entstanden ‒ er will weder die Armut nach irgendeinem System erklären noch ihnen neben dem Kapital auf dem Friedhof abgenagter Gedanken ein zweites Mahnmal errichten. Ich habe mich eindeutig nicht in der Lage gesehen, die Betrachtung irgendeiner bestimmten Erscheinungsform der Armut durchzuhalten, wie es so glutvoll in Preisen will ich die großen Männer1 versucht worden ist. Ich sage »versucht«, weil selbst dieses Meisterwerk sein eigenes Ungenügen wiederholt zum Ausdruck bringt, und daher und vor allem seine Schuld.

Ich kann mit einiger Berechtigung sagen, dass ich die Gewalt analysiert habe, ihr Zeuge und gelegentlich ihr Opfer geworden bin. Arm gewesen zu sein kann ich nicht von mir behaupten. Das erzeugt in mir kein Gefühl von Schuld, sondern eines einfacher Dankbarkeit. Jack London und George Orwell haben beide in Armut gelebt und konnten uns dennoch Die Menschen des Abgrunds und Erledigt in Paris und London schenken, gerade weil sie diesem Zustand entkommen waren. Gute Bücher können aus der Armut und der Erinnerung an sie entstehen, das zu Unrecht in Vergessenheit geratene Manchild 12in the Promised Land2 zum Beispiel. Meisterwerke wurden von Menschen verfasst, die sich von allem Weltlichen abgekehrt hatten (von christlichen Mönchen, buddhistischen Einsiedlern und Weisen), oder von solchen, die in relative Armut abgestürzt waren, so wie Ovid im Exil. Aber wie viele dieser Letzteren befassen sich mit unfreiwilliger und lebenslanger Armut? Die Früchte des Zorns, eines der besten Bücher über arme Leute, das ich je gelesen habe, woran Steinbecks ärmliche Herkunft gewiss ihren Anteil hat, konnte glücken dank einer Mischung aus der Großherzigkeit des Autors, seinen Besuchen bei den Okies, den von Dürre und Wirtschaftskrise betroffenen Einwohnern des US-Bundesstaates Oklahoma, über die er schreibt, seiner Bildung und nicht zuletzt der Ruhe zum Schreiben und Denken, die er sich leisten konnte.

2

Das Folgende ist so offensichtlich, dass es noch einmal dargelegt werden muss:

Preisen will ich die großen Männer ist ein elitärer Ausdruck egalitärer Neigungen. Die Spannung zwischen Absicht und Mitteln trägt entscheidend zur Größe des Buches bei. Seine Sympathien für den Kommunismus, die, wie ich leider anmerken muss, mitten während der stalinistischen Schauprozesse zum Ausdruck kamen, stellen eine Naivität aus, ohne die solche Größe nicht denkbar wäre; denn all seiner grimmigen Intellektualität zum Trotz bleibt das Buch in seinem Kern ein Aufschrei kindlicher Liebe, der Art Liebe, die ein Kind treibt, sich an die Beine eines Fremden zu klammern. Was kann der Fremde anderes tun, als dem Kind lächelnd über den Kopf zu streicheln? Nur wenige der Menschen, die Gegenstand des Buches sind, hätten es lesen, geschweige denn schreiben können. James Agee wollte mit ihnen vertraut werden, erleben, wie eingeschränkt auch immer, was sie trieben; er war ihnen von Herzen zugetan und kämpfte mit seiner ganzen 13schlauen, hoffnungslos unerwiderbaren Leidenschaft um unsere Sympathie für sie. Was erklärt, warum die Fotografien von Walker Evans hinzugestellt werden mussten, auf denen die Armut dieser Farmpächterfamilien ruhig, unanfechtbar und herzzerreißend festgehalten wird. Das Projekt der beiden bringt sich mehr als ein Mal selbst zu Fall. Es glückt, weil es scheitert. Es scheitert, weil hier zwei reiche3 Männer das Leben der Armen betrachten. Die Beine des Fremden mögen erreichbar sein, aber der Fremde selbst in seiner riesenhaften Gänze bleibt in seiner Armut unerreichbar und lässt sich nicht so leicht wahrnehmen, wie unsere beiden Beobachter einander wahrnahmen. Hätte das Buch seinen Gegenstand mit dieser Leichtigkeit erfasst, wäre es herablassend ausgefallen. Und so steigert Agee seine Aufrichtigkeit bis an den Rand der Selbstverachtung, und Evans flüchtet sich in die enthüllende Einsilbigkeit der Fotografie. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, gewiss, aber als welche tausend? Ist deine Bildunterschrift die gleiche wie meine? Ein armer Mann starrt dich von der Buchseite an. Du wirst ihm nie begegnen. Ist er hart, bedrohlich, traurig, abstoßend, entschlossen, zermürbt, unbeugsam, stolz oder alles zusammen? Was kann man aus seinem Gesicht wirklich ablesen? Was den Fotografen angeht, der muss sich nie wirklich einlassen.

Agee lässt sich ein. Er will, dass wir alles fühlen und riechen, was die von ihm Beschriebenen fühlen und riechen müssen, und kommt dieser Wirkung so nahe, wie es möglich ist, wenn einem als Mittel nichts als das Alphabet zur Verfügung steht; also scheitert er und verachtet sich und uns dafür, dass es nicht anders sein kann, entschuldigt sich bei den Familien mit so absurd prachtvollen Unterwerfungsgesten, dass nur die Reichen die Muße haben werden, sie zu verstehen ‒ und wie viele von ihnen werden das wollen? Denn die Lektüre von Preisen will ich die großen Männer ist ein Schlag ins Gesicht.

Die Früchte des Zorns sind ein populistischeres Werk. Die Okies haben es gründlich gelesen und den schmerzlichen Genuss erlebt, sich selbst darin wiederzufinden. Doch was der Roman an schöner 14Wirkung erzielte, war das Ergebnis langer Plackerei.4 Die Migranten in den kalifornischen Lagern mögen Stunden der Untätigkeit durchlebt haben, aber Freizeit war ihr Müßiggang nie: Bei all den Sorgen, Unterernährung, Überfüllung, Analphabetentum und vergleichbaren Schäden, sämtlich Folgen der Armut, war es »kein Zufall« (wie Marxisten sagen würden), dass dieses stärkste je über die Okies geschriebene Werk nicht aus der Feder eines Okie stammt.

Ich möchte Armut nicht am eigenen Leib erleben, denn das wäre mit Angst und Hoffnungslosigkeit verbunden. Ich kann nur von außen einen Blick auf sie werfen. Dieser Essay wurde nicht für arme Leute geschrieben oder für eine andere bestimmte Gruppe. Mein ganzes Wagnis besteht darin, dass ich gewisse Ähnlichkeiten und Unterschiede vermerke, von denen ich glaube, dass sie für die Erfahrung der Armut Geltung haben. Ich begann damit, dass ich ein paar meiner Mitmenschen die Frage stellte: Warum bist du arm? Die Antworten finden sich im Folgenden. Auch wenn sie regionale Unterschiede aufweisen, kann es gut sein, dass die Einzelheiten und besonderen Umstände ohne Bedeutung sind. Die Leute können arm an allem sein, auch an Bedeutung. Und deshalb hat ein großer Schriftsteller, der sich mit Armut wahrlich auskannte, geschrieben: Nie oder so gut wie nie fragen die kleinen Leute nach dem Warum all dessen, was sie erdulden müssen. Sie hassen einander, das reicht.

3

Thoreau hat einmal gesagt, die meisten von uns führten ihr Leben in stiller Verzweiflung; aber wenn dies so ist, dann gelingt es den Menschen, die so leben, diese Verzweiflung zu verleugnen. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, sind die Protagonisten dieses Buches nicht 15verzweifelt. Sie sind glücklich oder traurig; sie haben ihre guten Tage, und ihre große Not wird je nach Lage der Dinge fast barmherzig durch deren reine Alltäglichkeit gemildert.5 Die russische Bettlerin Oksana zum Beispiel verrichtete ganz fröhlich ihr Tagwerk, aber immer wenn sie die Lage ihrer Familie mit mir erörterte, wurde sie sich des Ausmaßes ihrer Not bewusst und musste weinen. Ich habe gezielt versucht, arme Leute zu finden, deren Umstände etwas Gewöhnliches hatten, zumindest ein Muster erkennen ließen, damit sich daraus etwas verallgemeinern ließ. Die Drogensüchtigen, Straßendirnen und Kriminellen, die in so vielen meiner anderen Bücher auftauchen, stehen hier weniger im Mittelpunkt. Menschen, die arm sind, ohne unmittelbar vom Tod bedroht zu sein, können leichter Atem holen und ihre Armut auf einen Begriff bringen.

Dass meine eigene Interpretation der Selbstbilder der Helden und Heldinnen dieses Buches ihre Grenzen in der Kürze unserer Bekanntschaft findet, muss nicht extra betont werden. Es handelte sich meist nur um eine Woche oder weniger. Ich weiß, wie wenig ich weiß. Dennoch haben diese Schnappschüsse zufälliger Augenblicke in der Armutserfahrung armer Leute für mich Bedeutung von unschätzbarem Wert. Ich konnte über ihnen brüten, als meine Gesprächspartner mich schon lange vergessen hatten und das Geld, das ich ihnen gegeben hatte, ausgegeben war. Dass es unmöglich war, ein Verständnis ihres Lebens über längere Zeit zu gewinnen, gerade, dass ich für sie unbedeutend geblieben bin, mag die Wahrhaftigkeit dieser Darstellung durchaus erhöhen ‒ denn was habe ich schon zu beweisen? Wie hätte ich so albern sein können zu glauben, ich könnte etwas »bewirken«? Es gibt nichts, was ich ehrenhaft versuchen könnte, als nach besten Kräften zu zeigen und zu vergleichen.

Jede Primärquelle ist kostbar, weil sie so nah an der Wirklichkeit 16ist. Obwohl dieses Buch prallvoll mit Spekulation und Interpretation ist, ist es doch nur ein aufrichtiger Versuch, mir einen Reim auf Phänomene zu machen. Noch einmal Céline: Sie hassen einander, das reicht. Das mag ihr Privileg sein. Meines ist es nicht.

17Glossar

ARM Mangel leiden und besitzen wollen, was ich besitze; unglücklich mit seiner oder ihrer Normalität.

FALSCHES BEWUSSTSEIN Ein Vorwurf an die Wahrnehmung und Erfahrung anderer, wann immer wir bekräftigen möchten, dass wir besser wissen, was für sie gut ist, als sie selbst.

GEMEINSCHAFT Ein Traum. Manchmal wissen wir erst, dass wir sie hatten, wenn wir erwachen.

DER MARKT Für die Marxisten Ort des »nackten Interesses«, der »gefühllosen baren Zahlung«. Allgemeiner eine Ideologie, die den Wert aller Dinge nach deren vermeintlichem Geldwert bemisst.

NORMALITÄT Der lokale Kontext, aus dem relative Armut, individuelles Wohlergehen und andere Abstraktionen dieser Art beurteilt werden sollten. Ich stelle das Wort oft kursiv, um mich an seine Beliebigkeit zu erinnern. Normalität kann Anteil an Mangel, Verzweiflung, Überfluss und vielen anderen Befindlichkeiten haben.

REICH Zufrieden mit der eigenen Normalität und ausreichend befähigt, sich dessen bewusst zu sein.

RESPEKT Ein Ausdruck fürsorglicher Zärtlichkeit oder selbstloser Ehrbezeugung. Alternativ eine gedankenlose oder gar heuchlerische Methode, jemanden zu Unsichtbarkeit zu verdammen.

19Selbstbeschreibungen

Eins

21Ich glaube, ich bin reich

(Thailand, 2001)

1

Bei meiner ersten Begegnung mit Sunee war ich in Khlong Toei auf der Suche nach einem armen Menschen, den ich fragen konnte, warum es Armut gibt, und sie kam sofort zu mir hergelaufen, zupfte mich betrunken am Ärmel und wollte, dass ich mit zu ihr nach Hause kam. Meine Dolmetscherin war überzeugt, dass sie früher Prostituierte gewesen war, weil sie ein paar Worte Japanisch sprach und, als sie uns Wasser einschenkte, lachend auf Englisch Dlink, dlink! rief, genau wie die Barmädchen in Patpong.

Gegen den Rat der Dolmetscherin beschloss ich, Sunees Angebot anzunehmen (Abb. 19-21). Wir waren noch keine fünf Minuten in Klong Toey gewesen. Sie brachte uns in den nächsten Slum, fünfzig Schritte weiter, und wir fanden uns in dem üblichen Labyrinth aus feuchten, abschüssigen Gehwegen und holzkistenartigen Häusern wieder, die so dicht gedrängt standen, dass sie über den Wegen fast aneinanderlehnten. Verschlagen schätzten die Einwohner mich aus ihren Fensterlöchern ab: Wollte ich Heroin kaufen oder kleine Mädchen? Sunee torkelte triumphierend voran, die Hände aufs Herz gedrückt. Nach weiteren zwei Minuten waren wir bei ihr; soll heißen: in der Hütte ihrer Mutter mit Decke und Wänden aus zusammengenagelten Holzlatten, mit Ritzen hier und dort, damit die thailändischen Moskitos es leichter hatten. Alle vier setzten wir uns im Schneidersitz auf eine blaue Plastikdecke, die den größten Teil des Betonbodens bedeckte.

22Zuerst fiel mir die dürre rothaarige Katze auf, die sich leckte und biss, vermutlich weil sie Flöhe hatte, dann der runde Spiegel, der unweigerlich die wellige Wand wiedergab (Dosen in einem Regal), und dann der Geruch nach fauligem Wasser, der in der Luft hing. Meiner noch immer beleidigten Dolmetscherin fiel ihrerseits der Hausrat von Sunees Mutter ins Auge, vor allem die beiden Ventilatoren, von denen unsere Gastgeberin den einen, der an der Decke hing und funktionierte, zur Begrüßung eingesteckt hatte; erwähnen sollte ich auch den Wasserfilter, den Fernseher und den winzigen Kühlschrank. Die Dolmetscherin erklärte mir übellaunig, Sunee könne gar nicht arm sein, denn sie, oder zumindest ihre Mutter, besitze mehr Haushaltsgeräte als sie selbst! ‒ meine Dolmetscherin war gewitzt, erfahren, und so lange ihr nicht irgendeine Art von Verbitterung den Blick vernebelte, irrte sie sich nie. In diesem Fall erwies ihre Einschätzung sich als so treffend, wie sie schnell gewesen war, denn bald erfuhr ich, dass das Haus der alten Dame gehörte; sie hatte es mit eigenem Geld gekauft. Na gut, dann waren sie eben reich. Sunee ließ mich derweil nicht aus den Augen und strich sich halb über die Brüste unter der Bluse, mit deren Saum und Kragen sie sich beständig das Gesicht abwischte.

Mit siebzehn hatte sie sich den ersten Ehemann genommen, damals, vor dem Tod ihres Vaters. Ergebnis: vier Kinder. Er war Bauarbeiter. In Sunees Worten: Seine Liebe war nicht echt, er hatte sie nämlich für eine andere Frau verlassen. Ein Jahrzehnt darauf heiratete sie wieder und bekam zur Belohnung das nächste Kind. Wenn ich richtig verstanden habe, verließ sie auch dieser Mann, aber Sunee wiegte sich, weinte trunken und gedachte seiner auf verworrene Weise; vielleicht verbarg sich dahinter die Verschlossenheit, in die man seinen tiefsten Kummer kleidet; auch die gelangweilte, angewiderte Dolmetscherin war nicht so nützlich wie bei früheren Gelegenheiten. Jedenfalls, die beiden Ehegatten schienen weniger Hauptfiguren der Geschichte zu sein als vielmehr gesichtslose Agenten der Schwängerung, die sie wie eine Krankheit befallen hatte. Sunee wachte auf und war plötzlich fünffache Mutter; so war das eben. Sie habe hart gearbeitet, um alle ernähren zu können, schluchzte sie, putzte sich mit 23der Bluse die Nase, lehnte sich bei ihrer Mutter an. Drei waren jetzt auf der Universität; sie besuchten sie nie. Das vierte arbeitete bei einer Bank. Das jüngste wohnte noch bei ihr.

Während die Mutter mit dem Finger s-förmige Muster auf den blauen Plastikbelag zeichnete, dessen Kanten mit braunem Paketklebeband geflickt waren, zitterten ihre schönen silbergrauen Strinfransen im Luftzug des Deckenventilators. Sie selbst hatte acht Kinder zur Welt gebracht, von denen drei schon tot waren. Sie war siebenundsechzig, und Sunee war über vierzig.

Jetzt ist meine Mutter mein Leben, verkündete Sunee mit Nachdruck. Nur meine Mutter gibt mir Kraft. Sie hat immer zu mir gesagt: Sunee, geh und sei stark, denn ich bin für dich da, und ich werde dich nie davonjagen.

Und die Mutter blickte die betrunkene Frau aus ihrem weiten, sanften Gesicht voller Zahnlücken unverwandt an.

Alle Augenblicke faltete Sunee die Hände zum wai, der thailändischen Geste zur Begrüßung oder zum Ausdruck von Dankbarkeit oder Respekt, und dann sagte sie khop khun kha, danke schön, manchmal zu mir, manchmal zur Mutter.

Sie arbeitete für eine nicht angemeldete chinesische Reinigungsfirma, die ihr nie Urlaub gab; ihr Chef habe ein sehr hartes Herz, und beim Gedanken an ihn kippte ihr die Stimme ganz aus der innigen Mutteranbetung und wurde schrill; lange, lange fuhr sie mit den Händen durch die Luft und prangerte ihn an, bis sie sich, vom eigenen Zorn erschöpft, wieder in ihre Bluse schnäuzte.

Wenn ihr Gestikulieren zu wild wurde, hielt ihre Mutter sie sanft im Zaum. Manchmal mahnte sie die Tochter, nicht unhöflich zu werden.

Du bist so unglücklich, willst du nicht ins Kloster gehen?, fragte die Dolmetscherin.

Nein, das will ich nicht. Gib mir deine Telefonnummer, sagte sie zu mir. Die Mutter legte ihr traurig die Hand aufs Knie; aber Sunee ignorierte die Mahnung und fing plötzlich an zu betteln und Forderungen zu stellen, beugte sich vor, gestikulierte, strich sich die Haare zurück. Meine Dolmetscherin, die sonst alle Menschen mochte und 24jedem half, sogar Terroristen, konnte sich kein Quäntchen Respekt für Sunee abquetschen, die in einem fort rief: Meine Tochter ist ein guter Mensch; meine Mutter ist ein guter Mensch. Ich bin eine Säuferin.

Was trinkst du am liebsten? Mekhong?

Whiskey von hier.

Wenn du dir etwas wünschen könntest, was wäre das?

Sie drückte sich die Fäuste auf die Brust und sagte mit tränenerstickter Stimme: Geld! Ungefähr zehntausend Baht für die Ausbildung der Jüngsten. Meine Tochter ist brav. Mein Leben ist jetzt nicht mehr wichtig.

Ein Moskito stach mich in den Arm.

Sunee hielt mich für einen christlichen Missionar. Warum hätte ich, ein weißer Mann, sonst freiwillig in diese Hütte treten sollen? Sie war ja schließlich zu alt, um noch sexy zu sein, oder? Sonst hätte ich ihr schließlich meine Telefonnummer gegeben. Sie starrte mich an, schelmisch oder vielleicht auch trotzig, und rief: Jesus hat gesagt, ich gebe mein Leben für die Menschen. Ich kann auch mein Leben geben ‒ für meine Tochter.

Bei dieser Erklärung, die einen christlichen Missionar sehr wohl hätte verärgern können, gab die Mutter ihrer Tochter einen traurigen Klaps auf das Knie. Sunee ignorierte den Verweis, wie schon alle anderen, und machte noch lauter weiter: Für andere mache ich gar nichts, nur für mein Kind. Warum hat Jesus Sachen für Menschen auf der ganzen Welt gemacht? Warum nicht für meine Tochter?

Ihre Mutter gab ihr wieder einen Klaps aufs Knie.

Findest du, dass du arm bist?, fragte ich.

Ja …

Immer wenn ich heute an Sunee denke, fällt mir diese Art wieder ein, wie sie die Hände auf die Brust legte und dann die Arme weit in die Luft schleuderte, als würde sie nach Luft ringen. Sie erinnerte mich an einen Menschen, der am Ersticken war.

Ich will nicht reich sein wie der Premierminister, klagte sie. Wenn ich Geld hätte, würde ich alles meinen Kindern geben …

Fünfundvierzig Baht ergaben in jenem Jahr einen US-Dollar, also 25betrug die Summe von Sunees Träumen ungefähr zweihundertundfünfundzwanzig Dollar, die ich leicht hätte erübrigen können. Ob es geholfen hätte?

Meine Mama findet mich ungebildet, dabei bin ich sehr schlau … ‒ und sie beugte sich vor und knetete ihre Brüste für mich. Meine Tochter arbeitet bei der Bank; sie hat ein Auto, aber sie gibt uns nie etwas. Aber ich will ihr keinen Ärger machen! Ach ja, manchmal gibt sie mir fünfhundert Baht oder so …

Kurz, Sunee, die treusorgende Mutter, könnte auch Sunee, die Blutsaugerin sein. Die Mutter senkte den Blick und streichelte beschämt den Fußboden.

Wenn ich nicht betrunken bin, bin ich ein ruhiger Mensch. Ich bin schon zwanzig Jahre betrunken. Wenn ich nicht betrunken bin, kann ich nicht schlafen. Whiskey hat mehr für mich übrig als die Männer! Meine Mama trinkt nie Whiskey …

Warum, glaubst du, sind manche Menschen reich und andere arm?

Sie griff etwas aus der Luft und sagte: Wir glauben auf die buddhistische Weise. Manche Menschen sind reich, weil sie in einem früheren Leben großzügig waren. Was sie gegeben haben, bekommen sie in diesem Leben zurück.

Und was ist mit dem kommunistischen Gedanken, dass Menschen arm sind, weil die Reichen ihnen alles wegnehmen?

Ja, weil, als ich früher in Japan war …

Glauben Sie ihr nicht, sagte die Mutter. Sie war nie in Japan!

Aber die Dolmetscherin war überzeugt, dass es stimmte. Wahrscheinlich war sie wirklich dort gewesen und hatte es ihrer Mutter nie erzählt. Über viele Jahre hinweg habe ich die Mädchen von Patpong in einer Reihe unter dem Schild YOUR'S HOUSE stehen sehen, ein ganzes Dutzend in langen, tief ausgeschnittenen Kleidern, rot, blau oder pink, ganz vorn im Licht unter den Arkaden, fast nie ging hinter ihnen die Tür auf; auf dem Passamt von Bangkok ist mir einmal buchstäblich eine Busladung von Mädchen begegnet, die ihnen bis zu den pastellfarbenen Kleidern glichen; ein freundlicher Japaner zahlte ihnen die Visa für sein Land, bestimmt aus reiner Gutherzigkeit. Damen aus Sunees Land haben mir in Kabukichō, dem Rotlicht26viertel von Tokio, die Gläser gefüllt; ein Mal habe ich drei Hostessen in tief ausgeschnittenen Kleidern gefragt, ob ihre Mütter wüssten, in welchem Land sie gerade seien; sie schlugen sich die Hände vor den Mund und lachten.

Jedenfalls, unser König ist sehr gut!, rief Sunee patriotisch. Immer großzügig.

Ich fragte ihre Mutter, ob sie glaube, dass reiche Leute, Konzerne oder Staaten für ihre Armut zumindest mitverantwortlich sein könnten (oh, Entschuldigung; sie war gar nicht arm), worauf sie auf jene eilfertige thailändische Weise zustimmte, die nichts bedeutet. Als Buddhistin, wie ihre Tochter, wusste sie, dass ihr gegenwärtiges Leben von ihren früheren Leben bestimmt wurde.

Wenn Sie in diesem Leben arm sind, heißt das also, dass Sie in einem früheren Leben ein schlechter Mensch waren?

Natürlich, antwortete Sunee für sie. Im nächsten Augenblick zog sie sich die Shorts hoch und zeigte mir ihre faltigen Schenkel.

Sit down!, kreischte sie vergnügt auf Englisch einem tätowierten alten Nachbarn zu, der durch das Fenster hereinlugte, und als er eintrat, schlug sie sich auf den Schenkel.

Aber sie konnte die nicht gemeldete Reinigungsfirma nicht vergessen, in deren Sklavendiensten sie stand, die Firma, die ihr nie Urlaub gab, weshalb sie sich selbst Urlaub nahm, wie zum Beispiel jetzt oder wann immer sie sich betrinken musste. Da saß sie nun, unbezahlt, in der Bleibe ihrer Wahl, die kleine Flasche Whiskey war ihr schon ins Blut gegangen, und noch immer konnte sie nicht von der Arbeit lassen! Es gibt kein Selbst ohne Selbstausdruck. Das muss der Grund sein, dass die Opfer von Gräueln, sooft wohlmeinende Menschen ihnen auch raten, »einfach drüber hinwegzukommen«, im Kopf wieder und wieder zu deren Schrecken zurückkehren. Sunees Arbeitstag dauerte von acht Uhr morgens bis Viertel nach fünf am Nachmittag. Vermutlich gewährte man ihr eine Stunde Mittagspause und irgendwann eine weitere Viertelstunde, denn die Firma bezahlte sie für acht Arbeitsstunden. Mit von acht Uhr morgens bis Viertel nach fünf am Nachmittag wurde ich recht vertraut, denn immer wenn ich Sunee traf, sagte sie den Spruch drei oder vier Mal auf; ein Richt27wert ihrer Existenz. Die meisten von uns würden acht Stunden Arbeit am Tag nicht übertrieben finden, also können wir uns auch gleich darauf einigen, dass Sunee keinen Grund zum Klagen hatte, dass ihr Bedürfnis, sich zu beschweren und sich damit die selige Besinnungslosigkeit zu vergiften, die sie angeblich anstrebte, verachtenswürdig war. Schließlich bleibt doch das viktorianische Rezept der stillen Entsagung aus unserem Arzneibuch für die Erwartungen der Armen der meistgekaufte Heiltrunk. Aber aus irgendeinem Grund konnte Sunee einfach den Mund nicht halten. Wann immer sie auf ihre Arbeit zu sprechen kam, und das war so oft, wie Kampfhunde im Sprung von der eigenen Kette zurückgezerrt werden, fing sie an, mit den Händen in der Luft herumzufuhrwerken, ihre Stimme wurde schrill und heiser. Wie sie ihren Chef hasste; wie sie die Firma hasste. ‒ Reine Ausbeutung!, rief sie immer wieder.

Du redest aber viel!, rief die Dame drei Häuser weiter.

Sunee packte die Katze und schlug sie ohne Grund, nicht fest. Das Tier floh. Zu mir sagte sie: Vielleicht kann ich wieder im Restaurant arbeiten. Ich kann gut kellnern! Warte, ich zeige es dir: Wie hättest du den Kaffee gerne, stark oder nicht so stark? Mein Chef mag meinen Kaffee. Mit eineinhalb Teelöffel Zucker.

Der Nachbar zwinkerte mir zu und sagte: Du meinst eineinhalb Kilo Zucker und viel Whiskey obendrauf!

Schlau bin ich, sagen die Leute, plapperte Sunee weiter. Ich hätte Bolschewikin werden können! Besser ich wäre in Russland geblieben …

Nein, besser du wärst in Amerika geblieben, in dem World Trade Center, das sie gestern zerbombt haben! Dann hätten sie dich auch erwischt!

Darüber mussten alle lachen, sogar die brave alte Mutter; Sunee kicherte erstickt und ließ die Hände flattern.

282

Schicksal sagen sie immer. In anderen Ländern hegen und pflegen die Menschen natürlich andere Erklärungen. Ich kann mich noch gut an die junge algerische Babysitterin erinnern, die mir, kurz vor der Hochzeit verwitwet und mittellos geworden, ganz ruhig erklärte, niemand sei arm, denn jedem habe Allah etwas gegeben, wofür man Ihm danken müsse, um Seine Prüfung zu bestehen. Die mexikanische Putzfrau, die fast so alt war wie Sunee, aber nicht trank, hatte nur zwei Kinder und zufällig keine Arbeitserlaubnis in den USA, und sie erklärte ihre Armut aus den Umständen: keine Papiere. Sie bleibe nur wegen ihres Mannes im Land, sagte sie. Daheim in Mexiko war sie Lehrerin gewesen, also aufgenommen in die Mittelschicht. Da sie nicht in Armut geboren war, fühlte sie sich nicht genötigt, sie für ihr Schicksal zu halten. Als ich sie um ihre Meinung zur allgemeineren Frage bat, warum so viele Menschen auf der Welt arm seien, erwiderte sie, dass zu wenige Menschen zu viel Geld besäßen, worauf ich fragte, ob eine Revolution, bei der die Reichen umgebracht würden, für die Mehrheit besser wäre, und diese Frau, die braunhäutig war, kräftig, sommersprossig und auf eine unpersönliche Weise, die aber ihre Fähigkeit zur Freundlichkeit nie beeinträchtigte, tief verbittert, überlegte, ob sie mir vertrauen konnte, was ich als Zeichen dafür nahm, dass sie, wie so viele ihrer Landsleute, tatsächlich für einen blutigen Umsturz war (die Algerierin, auf ihre Weise so herrlich weltfremd wie die Buddhisten, hatte schreckerfüllt geschrien: Aber Menschen nur wegen ihres Geldes umbringen, das ist doch Unrecht!) ‒ aber da trat die Herrin des Hauses in die Küche und fing an zu brüllen, dieser halbe Tag der Mexikanerin gehöre ihr, da sie ihn gekauft habe; wenn ich auch nur einen weiteren Augenblick davon für meine Zwecke nutzen würde, hätte ich dafür in bar zu bezahlen; und die Mexikanerin, die in den fünf Minuten unseres Gesprächs sowieso nie aufgehört hatte, die Spüle zu schrubben, wandte sich schnell und mit leerer Miene ab. Nein, Schicksal galt wahrlich nicht überall als Erklärung für alles, aber in Sunees Viertel, wo einem die Bettler ihren wai-Gruß schenkten, ob sie nun Geld bekamen oder 29nicht, und wo Besonnenheit bedeutete, sich mit so wenig Aufwand wie möglich durch die Hitze treiben zu lassen, nicht weil die Thailänder »faul« gewesen wären, sondern weil Anstrengungen in diesem Klima so ungesund, ja gefährlich waren wie einen Dreißig-Kilometer-Langstreckenlauf durchzusprinten, war Schicksal das Wort, das die Menschen murmelten. Genau wie Männer Kisten nach oben schleppen, während fette Frauen mit zerfurchten Gesichtern Zuckerrohrsaft in Plastikbeuteln verkaufen, wie Ausländer mit schweißnassen Haaren oder der Hitze trotzend in den teuersten Bezirken ausschwärmen, wie Schulmädchen in weißen Blusen und blauen Miniröcken zusammen auf die Busse warten, so wissen arme Leute, dass sie schon arm waren, bevor sie geboren wurden. Und diese Putzfrauen: So viele von ihnen stammten aus dem Nordosten ‒ einem Gebiet, das ein Drittel des thailändischen Territoriums umfasst, dazu ein Drittel der Bevölkerung, in dem aber nur ein Zehntel des Gesamteinkommens verdient wird. Sie kamen ohne Fähigkeiten, die sich verkaufen ließen, außer jener zur Geduld und Erfahrungen im Reisanbau und in einigen wenigen Fällen mit einem Aussehen, das die Lust von Männern erregte. Ob sie in den Slums von Khlong Toei landeten oder Platz in einer Hütte in der Nähe der Phetchaburi Road fanden, mit ihren amerikanischen Hamburger- und Brathühnchen-Ketten und Eisdielen, zwischen denen die Taxis, Laster und letzten überlebenden tuktuks hindurchkrochen, das Schicksal hatte sie schon im Bauch ihrer Großmütter gezeichnet. (Abb. 22, 23)

Hältst du dich für arm oder nicht?, fragte ich eine andere von ihnen, eine Frau, die ihren Job als putzen-wischen-fegen beschrieb. Sie war Ende dreißig und sah mindestens aus wie fünfzig.

Arm, sagte sie und verzwirbelte nervös ein Stück Papier in der Hand. Obwohl sie schon Schluss hatte, fürchtete sie, dass jemand sie melden könnte, weil sie mit mir sprach, weshalb ihre Freundinnen ihr nach diesem halbstündigen Interview rieten, sich nicht mehr mit mir zu treffen, obwohl ich ihr mehr als einen Tageslohn gegeben hatte.

Wie wohnst du?

In einem Holzhaus im Ratchutori-Viertel. Zwanzig Minuten zu Fuß. Ich zahle zweitausenfünfhundert im Monat.

30Damit war ihr halbes Gehalt weg.6

Warum sind arme Leute arm?

Das ist Schicksal, sagte sie mit einem höflichen halben Lächeln und zerriss mit ihren von geschwollenen Adern überzogenen Händen das Papier.

Kannst du dein Schicksal beeinflussen?

Unmöglich. Immer arm.

Wenn jemand dir eine Million Baht schenken würde, was würdest du tun?

Über diesen Witz musste sie lächeln. Schließlich sagte sie: Zuhause bleiben, umziehen. Nicht mehr in Bangkok arbeiten …

Kannst du lesen und schreiben?

Ich war auf der höheren Schule, erwiderte sie, wobei ihr unwohl war, und ich verstand.

Sind Männer und Frauen gleich arm?

Frauen sind ärmer als Männer, weil wir nicht so hart arbeiten können wie Männer …

Also war ihr Geschlecht ein Grund mehr, fatalistisch zu sein. Sie lächelte mit schiefen Zähnen dazu.

Ihre Arbeit sei sehr anstrengend, murmelte sie. Sie wolle sich einen anderen Job suchen, habe aber nie die Zeit …

3

Vergessen wir die Marxisten; schon seit Urzeiten haben Wichtigtuer sich deren Begriff vom falschen Bewusstsein zu eigen gemacht, von den jesuitischen Missionaren, die die Irokesen vor der Verdammnis retten wollten, obwohl die Irokesen gar nicht gerettet werden wollten, bis hin zu den amerikanischen Gesetzgebern, die ihre Mitbürger ins Gefängsnis stecken, um sie davor zu bewahren, sich selbst mit Marihuana Schaden zuzufügen. Was für eine Welt! Aber wenn Sunee, 31dazu verdammt, ein Leben von mittlerer Scheußlichkeit zu führen, sich nicht ausgebeutet zu nennen beschließt, sollen wir sie da beim Wort nehmen? Wenn meine Dolmetscherin belegen kann, dass Sunees Mutter nicht so schlecht dran ist, können wir dann beide ganz liebevoll von unserer Liste streichen?7 Wenn Sunee ein Mal sagen würde: Ich bin reich, was sie nicht tun wird, wäre es dann auch so? Wo liegt unsere Verantwortung für ihr Leben?

4

Ihre Tochter Vimonrat, schlank, schüchtern und dunkel, wartete immer unter Aufsicht ihrer Großmutter, wenn Sunee mit ihrer Flasche eintraf. Das Mädchen verbrachte seine Wochenenden in der Hütte mit den welligen Wänden und dem Geruch nach fauligem Wasser, weil es sonst nichts zu tun hatte; die Schule war aus und seine Mutter arbeitete oder war betrunken. An dem Abend, als ich der Tochter zum ersten Mal begegnete, saß sie mit ihrer Großmutter in der Nachbarhütte und guckte Fernsehnachrichten, in denen es immer noch vor allem um tote Amerikaner ging, ein Thema, das für die acht oder neun Menschen, die im Schneidersitz auf dem Boden saßen, viel weniger von Interesse war als die Sportberichte aus Thailand, die folgten.

Sunees Mutter machte einen eher introvertierten Eindruck, wenn die Tochter nicht zu Hause war. Sie saß mit dem Rücken zum Fernseher des Nachbarn da und hatte die dicken, knotigen, rastlosen Finger aufgespreizt auf dem Boden abgestützt wie Luftwurzeln. Vimonrat hatte ihre Schuluniform schon ausgezogen. In ihren graukarierten Shorts sah sie sehr reinlich aus, still und höflich, beugte 32sich über eine Schüssel Reis und hob dann einen Knochen mit Fleisch an den Mund. Sie war zehn.

Was machst du in deiner Freizeit?, fragte ich.

Mit meinen Freundinnen vor Großmutters Haus spielen.

Im Nordosten, wo ihre Mutter herstammte, war sie nie gewesen. Den Lebensmittelpunkt der Mutter dagegen hatte sie gesehen, sie fand es dort »nicht so schlimm«; dort half sie ihrer Mutter, hantierte mit dem Besen, schrubbte oder kochte sogar Kaffee für den Chef, einen chinesischen Ladyboy. Immer wenn er sie sah, rief er: Wo ist das dicke Mädchen, Baby?, womit er ihre Mutter meinte. Das war seine Art Humor.

Bedächtig zerdrückte das Mädchen einen Moskito auf seinem Arm, dann putzte es sich die Hand an einem Putzlappen ab. Die kleine, dicke Achtjährige der Nachbarin, tropfnass und nackt bis auf ein um die Hüften gewickeltes Handtuch, ging währenddessen hinter dem Fernseher vorbei und wollte nach oben. ‒ So arm sind diese Leute nicht, ließ die Dolmetscherin mich mit Nachdruck wissen.

Vimonrat nahm den Lappen, an dem sie sich die Hände abgewischt hatte, und fing an, damit den Boden, wo sie gesessen hatte, zu schrubben. Sie konnte nicht genau sagen, wie oft ihre Mutter zuhause blieb. Wenn sie sich morgens betrunken fühlte, konnte sie nicht arbeiten gehen. Kommt das einmal im Monat vor, fragte ich, einmal die Woche, zweimal die Woche? Das wusste Vimonrat nicht. Es gab Wichtigeres, von dem sie genauso wenig zu wissen schien. Sie glaubte zum Beispiel, ihre Mutter habe nur drei Kinder.

Jetzt hatte man die Nachbarn lange genug belästigt, also traten Vimonrat, ihre Großmutter, die Dolmetscherin und ich in die warme Luft des Abends, in der die Moskitos schwirrten, eines Abends wie jeder andere, und stiegen einen abschüssigen Weg hinab, so schmal wie die mit Hütten besetzten Stege in den thailändischen Fischerorten; wirklich, ich konnte mich nicht daran gewöhnen, dass man das Nachbarhaus gegenüber praktisch mit einem aus dem Fenster gestreckten Arm berühren konnte; kurz: Hier gab es keine Privatsphäre; die Nachbarn starrten umstandslos durch die Fenster. Die Dame, die Sunee angeschrien und gerufen hatte: Du redest aber viel!, 33hatte jedes Wort verstanden, obwohl sie drei Häuser weiter wohnte. Sie sah uns jetzt aus dem Fenster an.

Wir gingen am Haus von Sunees Mutter vorüber, verließen den Slum und traten in den nächtlichen Glanz von Khlong Toei: flackernde Fernseher in schiefen Hütten, Motorradfahrer, halb verhungerte Katzen, Lagerhäuser voller Jutetaschen, Straßenstände, an denen Obst und Kassetten verkauft wurden, Neonröhren in Hauseingängen, laute Musik, heruntergezogene Eisengitter, grüner Zuckerrohrsaft in Plastiktüten, drei grell beleuchtete Grillhühnchen auf ihren Spießen wie eine sakrale Assemblage; eine Gruppe fröhlicher Junkies, die tanzten wie die ordentlich aufgereihten, Grimassen schneidenden Schutzgottheiten an den thailändischen Tempeln, Arm an Arm rund um einen goldenen Stupa; und als wir in den nächsten Slum abbogen, wo Sunee sich ihr privates Drecksloch gemietet hatte ‒ fünf Minuten zu Fuß vom Haus ihrer Mutter, also fast eine Viertelstunde, wenn man so langsam ging wie die Mutter, zum Teil, weil bei Sunee der Strom ausgefallen war und die alte Dame des Nachbarn batteriegetriebenes AUTOMATISCHES NOTLICHT mitschleppen musste, das so groß war wie ein Ghettoblaster und ziemlich schwer aussah; aber sie wollte sich nicht beim Tragen helfen lassen. Als wir dort waren, musste ich sofort an Sunees typische Nach-Luft-Schnapp-Geste denken, so stickig war es in dem kleinen Zimmer oben an der morschen, dunklen Treppe; sogar Sunees Mutter schwitzte jetzt, und die Dolmetscherin konnte endlich nicht mehr abstreiten, dass, wer hier wohnte, arm sein musste.

(Sunee, warum ziehst du nicht zu deiner Mutter, du liebst sie doch so sehr? ‒ Weil ich eine Säuferin bin! ‒ Vimonrat zufolge war der wahre Grund, dass Sunee sich weigerte, mit ihrer jüngeren Schwester zu reden, die in Sunee-freien Stunden die alte Dame besuchen kam. Ich meinerseits fragte mich, wie drei Menschen dort hätten schlafen können; wenn Vimonrat sich an den Wochenenden neben ihrer Großmutter auf dem Betonboden ausstreckte, musste es schon eng genug sein.)

Das Mädchen fegte rasche den schmutzigen Boden, damit wir uns setzen konnten, und die Großmutter schaltete beide Birnen des AUTOMATISCHEN NOTLICHTS ein, in dessen Glanz ich das Zimmer 34in seiner ganzen Grässlichkeit in Augenschein nehmen konnte.8 Vimonrat hatte zwischen den beiden Wäscheleinen Platz genommen (ihre Mutter machte die Wäsche) und schlug brav thailändisch-bescheiden die Beine unter, so dass ihre Fußsohlen nach hinten wiesen und von ihr weg.

Wohnst du schon lange hier?

Meine Mutter zieht dauernd um.

Es stellte sich heraus, dass die beiden seit ungefähr zwei Monaten hier lebten.

Wie findest du die Wohnung?

Die meiner Schwester mag ich lieber, sie ist größer.

Ist es in Khlong Toei gefährlich für dich?

Viele Drogensüchtige. Ich hatte einen Alptraum: Ich spielte mit meiner Freundin, und da kam ein Mann und wollte uns entführen. Ich habe Angst hier. Einmal dachte ich, hier gibt es ein Gespenst. Ich war in der Dusche, und es klopfte an der Tür, aber als ich aufmachte, war niemand da, also war das bestimmt etwas Böses. Ich habe Angst vor Gespenstern.

Die Großmutter, die im Dunkeln saß, glaubte nicht an Gespenster.

Und Mutter glaubt auch nicht an sie, sagte das Mädchen.

Zur Schule fuhr sie in einem »großen tuktuk«, womit sie wahrscheinlich einen Bus meinte. Ich fragte sie nach ihrem Lieblingsfach; Englisch, erwiderte sie höflich mit ihrer leisen, schüchternen Stimme; sie wollte Lehrerin werden. Ein großer, glänzender Käfer kroch um den Lichtkreis herum und verschwand dann unter dem Moskitonetz, unter dem Vimonrat und ihre Mutter schliefen.

Sunees Mutter und meine Dolmetscherin hatten Vimonrat eingeschärft, dass sie ehrlich zu mir sein musste, wie peinlich es auch sein mochte; ich bezahlte für diese Interviews,9 weil ich etwas lernen 35wollte, das anderen helfen könnte, und Vimonrat verstand das; als ich sie also nach ihrem Familienleben fragte, antwortete sie, die Augen geweitet in dem schlechten Licht, das ihr mit grausamer Wahllosigkeit auf Stirn und Wangen fiel, auf denen der Schweiß stand: Ich mag nicht, wenn meine Mutter betrunken ist. Wenn sie betrunken ist, bekommen wir manchmal Ärger mit den Leuten von nebenan, weil sie zu laut wird …

Aber dann verfiel sie wieder in die Abwehrhaltung ihrer Mutter, bekam Angst vor meiner Ablehnung und sagte: Manchmal fragt meine Mutter mich, ob ich etwas Schönes essen möchte, und kauft nach der Arbeit Huhn für mich.

(Heute Abend gab es kein Huhn.)

Manchmal bitte ich meine Mutter, nicht mehr zu trinken. Meine Mutter sagt, das kann sie nicht. Sie sagt: Ich war sogar betrunken, als ich dich im Bauch hatte!

Wie geht es dir damit?

Ihre Sache, murmelte das Kind. Mir egal.

Warum sind manche Menschen arm und andere reich?

Aus dem früheren Leben. Wenn man Gutes tut, ist man später nicht arm.

(Ist diese Ideologie grausam oder nicht? Einerseits führt sie zu Hoffnungslosigkeit, Selbsthass. Andererseits können arme Leute in einer Gesellschaft ohne Vollbeschäftigung auch einfach resignieren.)10

Dann hast du in einem früheren Leben also etwas Böses getan?

Nein, sagte das Mädchen langsam, die Beine höflich untergeschlagen, und stützte sich auf den Händen ab.

Und warum bist du dann arm?

36Es lächelte und legte den Kopf schief, kratzte sich am Mückenstich. ‒ Vielleicht war ich im letzten Leben sehr reich, und diesmal muss ich arm sein.

5

Ich gab ihr hundert Baht, und sie freute sich sehr, weil das hieß, dass sie sich mit den anderen aus der Schule einen Film ansehen und danach noch etwas essen konnte. Ich wollte mehr geben, aber die Dolmetscherin warnte mich, dann würde Sunee ihr alles wegnehmen. Diesmal hörte ich auf die Dolmetscherin.

Es wurde spät, das Mädchen ließ jetzt den Kopf sinken. Immer wenn die Mutter betrunken war, gingen sie um neun Uhr schlafen, zusammen unter dem Moskitonetz. Sonst gingen sie um acht zu Bett. Es war kurz vor neun. Wir waren alle vier so schlaff und nass wie die Kleider, die in dem trostlosen Zimmer an der Wand hingen. Endlich kam Sunee herein, betrunken und laut …

6

Bei unserem nächsten Besuch in Sunees Wohnung hörte man Wasser aus einem Eimer klatschen, dann kam das Mädchen aus der Dunkelheit, nass, es hatte sich nur ein weißes Handtuch umgewickelt und faltete die Hände zu einem höflichen wai. Bei dieser Gelegenheit entdeckte ich zwei Lichtschlitze ganz oben, fast an der Decke, durch die man in die Nachbarbehausung blicken konnte, und durch einen davon wurden wir von einem Menschenauge ausgespäht. Ich erinnerte mich, wie Vimonrat gesagt hatte, dass die Nachbarn nicht so nett seien; viele Menschen redeten über Sunees laute Stimme. War die Betrunkene für sie ein Freak oder einfach nur lästig? Spionierte das Auge dem Mädchen nach, wenn es sich wusch? Wie viel konnte es sehen? Das Mädchen stand jetzt in der dunkelsten Ecke und zog sich an, während wir anderen wegguckten.

37Sunee saß im Lotossitz vor dem Moskitonetz, ein Schattenriss. Sie sei heute sehr müde, sagte sie. Aber sie hatte uns zu Ehren geputzt. ‒ Ich hätte nie gedacht, dass uns jemand besuchen kommt, erklärte sie. Ich bin kein wichtiger Mensch. Also bin ich arbeiten gegangen und war um sechs zu Hause …

Das brach mir das Herz.

Sie hatte noch nicht angefangen zu trinken. Sie strengte sich so sehr an, eine gute Gastgeberin zu sein.

Normalerweise wachte sie vor sechs Uhr auf und war um sieben aus dem Haus. Sie musste fünfunddreißig Minuten Bus fahren und versuchte, um halb acht da zu sein, weil der Ladyboy ihr den Lohn kürzte, wenn sie bei Arbeitsbeginn um acht nicht dort war, und bei Sunees Lebensstil vermutete ich, dass er es ihr oft kürzte. Er herrschte über fünfundvierzig Arbeiter. Erst putzte ihm Sunee das Büro; dann ging es auf ihr angestammtes Terrain, nämlich in den elften Stock eines bestimmten Büroturms, wo sie saugte, kehrte und wischte, und dann kam der für sie unangenehmste Teil der Arbeit: den Dachgarten gießen, wozu sie das Wasser eine steile Leiter hinauf schleppen musste, zwei Eimer an einer Stange auf den Schultern; obwohl sie stolz auf ihre gute Gesundheit war und nur zur Geburt ihrer fünf Kinder Zeit im Krankenhaus verbracht hatte ‒ früher war sie so kräftig gewesen, dass sie, nachdem ihr erster Mann, der Bauarbeiter, sie verlassen hatte, als Trägerin im Hafen gearbeitet hatte ‒, war sie nach thailändischem Maßstab doch nicht mehr ganz jung,11 und die Eimer waren schwer, und die Leiter war alles andere als stabil. Sie zeigte mir die Abschürfungen an den Waden und Schenkeln, dort, wo sie Tag für Tag an das Dach stieß. Dann fing sie an, sich wieder kraftlos über den chinesischen Ladyboy zu beschweren. Sie hatte zu viel Angst, sich in der blauen Uniform mit den Firmeninitialen fotografieren zu lassen, weil »das Folgen haben könnte«, aber sie zeigte sie mir, sie zog sie sogar für mich an, mit einem seltsamen halben Lä38cheln. Ich fragte mich, ob sie an ihre Zeiten als Barmädchen dachte, als sie einen hübschen Badeanzug getragen haben musste oder eines jener wunderschönen pastellfarbenen Kleider wie die Mädchen vom YOUR'S HOUSE. Aber dieses Gewand hätte Gefängniskleidung sein können; wenn ich in den weniger stark gesicherten Gefängnissen meines Landes diverse Freundinnen besuchte, waren sie ähnlich angezogen; oft sogar in der gleichen Farbe wie Sunee, obwohl der Stoff ihrer Uniform, deren Kosten ihr vom Lohn abgezogen worden waren, nicht so fest war; deshalb empfand ich immer diese Trauer, wenn ich sie und ihre Schwestern in ihren blauen oder orangen, Gefängnis-Overalls so ähnlichen Livreen sah, wenn sie gemächlich an den Vorsprüngen und Klüften der großen westlichen Wolkenkratzer von Bangkok vorüberhuschten und einen Besen über eine Terrasse schoben.

Sunees Lohn betrug einhundertsechzig Baht für acht Stunden ‒ ungefähr drei Dollar und fünfzig Cent.12 Das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Bangkok betrug das Dreifache. Manchmal konnte sie Überstunden machen. Der Bus kostete fünf Baht, und für zehn weitere Baht kaufte sie sich auf der Straße ein Mittagessen: Reis in einem Plastikbeutel. Mit ihrer wichtigsten Ausgabe hielt sie es so: Wenn ich nicht arbeite, gebe ich fünfzehn Baht aus. Nur die halbe Flasche für fünfzehn. Wenn ich ein bisschen putze, dann dreißig. Ich bin nicht abhängig, ich will einfach gut schlafen können! Wenn ich nicht trinke, habe ich schlechte Laune und bin unglücklich.

(Ich erinnerte mich an ihr betrunkenes Weinen bei unserer ersten 39Begegnung. War das kein Ausdruck von Unglück gewesen? Aber vielleicht machte die Katharsis des Weinens sie glücklich …)

Wie heißt dein Whiskey?

Ohne Namen. Bloß achtundzwanzig- oder vierzigprozentig.

Wie Mekhong?

Mit Mekhong ist man lange betrunken und wird faul. Dieser Whiskey, wenn man den trinkt, schläft man gut. (Unwillkürlich kam mir der Gedanke: Opium des Volkes.) Und dein ganzer Schmerz ist weg, sagte sie und hob die Arme wie Flügel in die Dunkelheit.

Sie kaufte immer in einem bestimmten Laden, wo man sie kannte; an ganz finsteren Tagen bekam sie dann ihre halbe Flasche auf Kredit. Manchmal, ganz selten, trank sie Methamphetamin für fünfzehn Baht ‒ damit ich gut arbeiten kann, sagte sie.

Und deine Kolleginnen trinken auch?

Es gibt Menschen, die arbeiten hart oder haben Probleme mit ihrem Mann ‒ weil er ein Säufer ist zum Beispiel ‒, und dann trinken sie …

Sind die Männer deiner Erfahrung nach oft böse zu den Frauen?

Meistens, antwortete sie und nickte mit Nachdruck.

Sunee, hast du das Gefühl, dass deine Eltern dir dein Leben falsch eingerichtet haben?

Mein Vater ist gestorben, als ich sieben war, und ich hatte sehr viele Brüder und Schwestern. Für die Schule war kein Geld da. Also hat meine Mutter gesagt, nach der Grundschule ist Schluss, du musst mir mit deinen Brüdern und Schwestern helfen. Ich hatte drei Brüder. Einer ist an einer seltenen Lähmung gestorben. (Das glaube ich nicht, warf die Dolmetscherin ein; Drogen vielleicht.) Mit fünfzehn war ich drei Monate lang auf einer kostenlosen öffentlichen Schule, aber es war ein Zwei-Jahres-Kurs, also habe ich nicht so viel gelernt. Danach habe ich versucht, die Zeitungscomics zu lesen …

Kannst du heute lesen?

Nicht sehr gut.

Kannst du schreiben?

Nur meinen Namen.

Und den deiner Tochter?

40Der ist sehr schwierig.

Wenn du jetzt Unterricht nehmen und versuchen würdest, lesen und schreiben zu lernen …?

Sie zuckte die Achseln und sagte in höflicher Unaufrichtigkeit auf: Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen.

Und würdest du das gerne tun?

Ein bisschen …

Schlank, langbeinig, das Handtuch mit einer Hand um die Brüste gezogen, beugte Vimonrat sich schüchtern vor und suchte etwas in einem knisternden Wust aus Plastiktüten, von denen die meisten leer waren.

Hast du irgendwelche Hoffnungen für sie?, fragte ich Sunee.

Ich hoffe, dass sie Lehrerin werden kann. Ich hoffe, dass ihr Leben einfacher wird als meins. Manchmal spielt sie ganz für sich, mit einem Buch, und tut so, als würde sie viele Schüler unterrichten.

Also brachte ich dem Mädchen bei meinem nächsten Besuch Stifte, Blöcke und sogar ein paar Bücher mit, weil ich mir ausrechnete, dass ihre Mutter dies nicht in Whiskey würde verwandeln können. Vimonrat freute sich sehr; heißt das, dass ich ihr etwas Gutes getan habe? Aber das war erst beim nächsten Mal. Sie hatte sich inzwischen hingesetzt und versuchte, in der Dunkelheit ein Bild zu malen, ihr Gesicht berührte fast den Boden. Eine Hausaufgabe: EIN BILD AUS MEINEN TRÄUMEN, dann NAME UND KLASSE. Vimonrat malte einen Engel mit einem Regenschirm in der Hand; der Engel fürchtete den nahenden Regen. Sie hatte das nicht wirklich geträumt, sie dachte es sich einfach aus. Und Sunee, der ich zugesehen hatte, wie sie ihrer Tochter liebevoll in die Schuluniform half, saß da und soff Glück, um von der Traurigkeit erlöst zu werden.

Wie kann man armen Leuten am besten helfen?, fragte ich sie.

Wenn wir arm sind und kein Geld haben, können wir nichts tun, nur uns ausdenken, was wir tun könnten. Gebt uns ganz viel Geld!

Und sie machte wieder eine ihrer Gesten, so wie der geflügelte braune Käfer mit den haarigen Beinen, der mangsab heißt, langsam die langen, langen Fühler streckt und sie graziös wiegt, wie Seegras, wenn er stirbt.

417

Ich konnte Sunee nicht helfen, weil sie trank ‒ nicht dass ich ihr nicht hätte helfen wollen, ich konnte es nicht. Auch Vimonrat konnte ich nicht wirklich helfen, weil Sunee deren Geld einstrich; helfen konnte ich nur mit kleinen Summen, die sich sofort für Süßigkeiten ausgeben ließen, oder indem ich der Großmutter Geld gab, das sie sich mit dem Mädchen teilte. (Nicht mehr als fünfhundert Baht, riet die Dolmetscherin, die Vimonrat mochte.) Weil ich mehr tun wollte, gab ich der Großmutter heimlich tausend Baht für Vimonrat, und Sunee erfuhr davon, versoff das Geld und konnte drei Tage lang nicht zur Arbeit gehen. Zehntausend Baht hätten sie umbringen können. Wenn ich ihr wirklich zweihundert Dollar geschenkt hätte, nun …

Auf Madagaskar hatte ich einmal jemandem ein Jahr lang die Miete gezahlt. Der Vermieter freute sich; seine Familie feierte an dem Abend ein Fest; ich glaube, sie haben sogar ein Huhn geschlachtet. Sie betranken sich alle und schliefen bis in den späten Vormittag in ihrer stinkenden Hütte; am Nachmittag bekam ich den Vermieter endlich zu Gesicht; er war ungefähr dreißig, lächelte mich zahnlos an und kratzte sich, weil er Läuse hatte. Was die Frau anging, für die ich bezahlt hatte, die freute sich auch; es nützte ihr, glaube ich. Und was Sunee angeht, wenn ich die Miete für sie gezahlt hätte, hätte man sie trotzdem hinausgeworfen.

Mehr Bücher für das Kind kaufen, das hätte ich vielleicht tun können.

Warum war manchen Menschen einfach nicht zu helfen?

Die ewige Antwort gab mir ein halb blödes Zimmermädchen mit abgebrochenen Zähnen in einem Hotel: Schicksal! (Aber sie berichtigte sich sofort: Halb Schicksal, halb Charakter.) Sie hatte einer Heiratsvermittlung eintausendsiebenhundert Baht gezahlt, weil sie auf eine Ehe mit einem reichen farang (foreigner, Ausländer) gehofft hatte, einem Australier vielleicht. Aber sie konnte ihre Angst, sich fotografieren zu lassen, nicht überwinden, ihre Angst, sie oder eine ihrer Töchter könnten nackt im Internet landen. Also erlaubte sie der Heiratsvermittlung nicht, ein Porträtfoto von ihr aufzunehmen, und 42kein Millionär aus dem Ausland meldete sich bei ihr. Wozu ihr ein falsches Bewusstsein vorwerfen? Das Leben als Single muss ihre Bestimmung gewesen sein.

8

Bei meinem letzten Besuch (ich hätte vielleicht auch danach noch kommen sollen, aber Sunee sah immer so müde aus, wenn sie nicht betrunken war, was sie meistens war, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr in die Quere kam, und mir fielen keine Fragen mehr ein; was gab es da noch zu erfahren?) hatte sie aus dem Büro gefiltertes Wasser für mich mitgebracht: Dlink, dlink!

In der heißen Dunkelheit hatte Vimonrat schon eine Kerze auf den Boden gestellt, in deren Licht sie Hausaufgaben machte, das Gesicht dicht über der Flamme. Sie trug noch ihre Uniform, und der Schweiß auf ihrer Stirn glänzte wie das Licht der Lampe auf dem Smaragd-Buddha, dem in Gold gewandeten Smaragd-Buddha.

Wie war dein Tag, Sunee?

Immer dasselbe, jeden Tag.

Und der Chef?

Chef kommt nicht so oft. Aber wir arbeiten immer …

Sie hatte Whiskey in ihrer Handtasche, gekauft offenbar von dem Geld, das ich am Vortag Vimonrat gegeben hatte. Und damit Sie nicht denken, dass ich das Urteil meiner Dolmetscherin über das Trinkverhalten dieser Frau teile: Die Geschichte von Sunee ist bei weitem nicht so schauderhaft wie die von Marx im Kapital versammelten Geschichten ‒ die achtzehn Stunden Arbeit am Tag, die Spitzenklöpplerinnen, die an Überarbeitung sterben, Frauen, die Lastkähne ziehen müssen,