Armin wird mein Bruder - Britta Frey - E-Book

Armin wird mein Bruder E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Hannelore Wohlers, eine kleine mollige Frau von vierundfünfzig Jahren, versorgte gerade die Blumen auf der Fensterbank des Wohnzimmers, als sie ihren neunjährigen Enkel Peer sah, der sich mit langsamen Schritten dem Haus näherte. Besorgt schüttelte sie den Kopf und dachte bei sich: Ich möchte nur wissen, was neuerdings mit dem Jungen los ist. Er kommt ja schon wieder angeschlichen, als ob er statt zwei Stunden zwanzig Schulstunden hinter sich hätte. Als er ein paar Minuten später das Haus durch den Hintereingang betrat, wollte Peer auch sofort hinauf auf sein Zimmer gehen. Doch Hannelore Wohlers hielt ihn zurück und fragte: »Wieso bist du schon da, Peer? Ich denke, ihr habt von zehn bis zwölf Uhr Sport?« »Haben wir auch, Oma, aber Herr Künkel hat mir erlaubt, nach Hause zu gehen.« »So einfach nach Hause zu gehen? Ich verstehe dich nicht, Junge. Du bist doch gesund, oder fehlt dir etwas?« »Klar bin ich gesund, Oma. Ich hatte nur Kopfschmerzen. Und Leichtathletik mag ich sowieso nicht. Sollen doch die anderen Jungen wie die Verrückten immer im Kreis herumrennen.« »Nun hör mir einmal zu, Peer. Wenn du krank bist, wenn dir etwas fehlt, mußt du es mir oder der Mutti sagen. Wir sind dann auch beide damit einverstanden, wenn du dich von bestimmten Unterrichtsstunden freistellen läßt. Was wir dann auch von einem Arzt befürworten lassen werden. Aber du darfst wegen ein bißchen Kopfweh nicht zum Drückeberger werden. Ich möchte überhaupt gern wissen, was in der letzten Zeit mit dir los ist.

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Kinderärztin Dr. Martens – 73 –

Armin wird mein Bruder

Für zwei Jungen beginnt ein neues Leben

Britta Frey

Hannelore Wohlers, eine kleine mollige Frau von vierundfünfzig Jahren, versorgte gerade die Blumen auf der Fensterbank des Wohnzimmers, als sie ihren neunjährigen Enkel Peer sah, der sich mit langsamen Schritten dem Haus näherte.

Besorgt schüttelte sie den Kopf und dachte bei sich: Ich möchte nur wissen, was neuerdings mit dem Jungen los ist. Er kommt ja schon wieder angeschlichen, als ob er statt zwei Stunden zwanzig Schulstunden hinter sich hätte.

Als er ein paar Minuten später das Haus durch den Hintereingang betrat, wollte Peer auch sofort hinauf auf sein Zimmer gehen. Doch Hannelore Wohlers hielt ihn zurück und fragte: »Wieso bist du schon da, Peer? Ich denke, ihr habt von zehn bis zwölf Uhr Sport?«

»Haben wir auch, Oma, aber Herr Künkel hat mir erlaubt, nach Hause zu gehen.«

»So einfach nach Hause zu gehen? Ich verstehe dich nicht, Junge. Du bist doch gesund, oder fehlt dir etwas?«

»Klar bin ich gesund, Oma. Ich hatte nur Kopfschmerzen. Und Leichtathletik mag ich sowieso nicht. Sollen doch die anderen Jungen wie die Verrückten immer im Kreis herumrennen.«

»Nun hör mir einmal zu, Peer. Wenn du krank bist, wenn dir etwas fehlt, mußt du es mir oder der Mutti sagen. Wir sind dann auch beide damit einverstanden, wenn du dich von bestimmten Unterrichtsstunden freistellen läßt. Was wir dann auch von einem Arzt befürworten lassen werden. Aber du darfst wegen ein bißchen Kopfweh nicht zum Drückeberger werden. Ich möchte überhaupt gern wissen, was in der letzten Zeit mit dir los ist. Ich bin deine Oma. Hast du kein Vertrauen mehr zu mir?«

»Was du nur hast, Oma, mit mir ist überhaupt nichts los. Und daß ich in der Schule Kopfweh hatte, das ist auch nicht gelogen. Deswegen bin ich noch lange kein Drückeberger. Du bist richtig gemein, wenn du so etwas sagst. Darf ich jetzt nach oben gehen?«

»Meinetwegen geh. Es dauert sowieso noch eine gute Stunde, bis ich das Mittagessen fertig habe. Du kannst ja in der Zwischenzeit schon mal deine Hausaufgaben machen.«

Peer gab keine Antwort, nahm jedoch seine Schultasche wieder auf und ging langsam die Treppe hinauf.

Als Hannelore Wohlers den Jungen eine Stunde später zum Essen rief, bekam sie keine Antwort. Als sie beunruhigt nach oben ging, fand sie ihn tatsächlich schlafend vor.

»He, aufwachen, du alte Schlafmütze. Wer wird denn hier am hellichten Tag schlafen? Ich dachte, du machst deine Hausaufgaben?«

»Ich war auf einmal wieder so müde, Oma. Wie spät ist es denn?«

»Zeit für das Mittagessen, Junge. Ich habe dich schon ein paarmal gerufen. Komm jetzt, es wird sonst alles kalt.«

»Ich komme sofort, Oma. Aber nach dem Mittagessen darf ich doch wieder nach oben gehen, nicht wahr?«

»Ja, aber nur, bis du deine Hausaufgaben fertig hast. Das Wetter ist so schön, da bleibst du mir nicht den ganzen Nachmittag im Haus. Du bist ein richtiger Stubenhocker geworden. Frische Luft muß aber sein.«

»Wenn ich aber keine Lust habe, Oma?«

»Papperlapapp, keine Lust. Du bist doch ein Junge. Hast doch sonst auch jeden Nachmittag mit dem Hansi zusammengesteckt. Habt ihr euch gezankt?«

»Wir haben nicht gezankt, Oma.«

»Na ja, das will ich auch hoffen.« Während des Essens beobachtete Hannelore Wohlers Peer verstohlen. Wieder wurde ihr so richtig bewußt, wie sehr sie den Jungen liebte. Sie, Jessica und Peer lebten allein in dem kleinen Eigenheim, das sie und ihr verstorbener Mann in jungen Jahren mit ihren eigenen Händen aufgebaut hatten. Jessica war ledig, hatte ihren Irrtum rechtzeitig eingesehen und Peers Vater nicht geheiratet. Sie selbst hatte ihrer Tochter nie einen Vorwurf daraus gemacht, denn es war schließlich ihr eigenes Leben. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die sie selbst von Anfang an respektiert hatte. Peer aber, der Junge, er war von Anfang an ihr ein und alles gewesen. Sicher, manchmal hätte sie sich den Jungen etwas lebhafter gewünscht, aber das konnte ja noch werden, wenn er älter war.

»Oma, darf ich aufstehen? Ich bin fertig«, holte Peers Stimme sie aus ihren Gedanken heraus.

Sie sah hoch und zu dem Jungen. Tadelnd den Kopf schüttelnd meinte sie: »Du hast ja kaum etwas angerührt, Peer. Du magst doch sonst immer so gern die Apfelpfannkuchen.«

»Du kannst mir ja welche für heute abend aufheben, Oma. Ich habe jetzt wirklich keinen Hunger mehr. Ich gehe meine Hausaufgaben machen, damit ich fertig bin, wenn Mutti aus dem Büro nach Hause kommt. Darf ich mir eine Flasche Mineralwasser mit nach oben nehmen? Ich habe mächtigen Durst.«

»Du hast noch Durst? Du hast doch die ganze Flasche Milch ausgetrunken, wie ich sehe. Aber meinetwegen, hole dir eine Flasche, aber keine aus dem Kühlschrank. Eiskalt ist auch Mineralwasser schädlich für den Magen, und du könntest krank werden. Nun lauf, sonst hast du heute abend deine Hausaufgaben noch nicht fertig.«

Wieder schlich sich Peer förmlich hinaus, und Hannelore Wohlers nahm sich vor, noch an diesem Tag mit Jessica über deren Sohn zu reden. Sie würde sich nicht damit zufrieden geben, daß der Junge so weitermachte. Jessica war Peers Mutter, sie mußte dafür sorgen, daß er ausreichend an die frische Luft kam. Sie als Großmutter konnte ihn nicht gut dazu zwingen.

*

Jessica Wohlers war in der Innenstadt von Hannover in einem Architektenbüro als Sekretärin beschäftigt. Sie war eine junge, hübsche Frau von achtundzwanzig Jahren. Haselnuß­braunes, lockiges Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit großen, dunklen Augen.

An diesem Tag stülpte sie erleichtert die Haube über die Schreibmaschine, denn die Arbeit war sehr anstrengend gewesen. Wie schon so oft zuvor, hatte sie auch an diesem Tag Überstunden gemacht. Dr. Bracher hatte es zwar nicht ausdrücklich verlangt, aber doch gern gesehen, daß sie sofort auf seine Bitte zu bleiben, zugestimmt hatte. Für Jessica waren diese Überstunden fast selbstverständlich, denn sie konnte es sich nicht leisten, ihre wirklich gut bezahlte Stellung zu verlieren. Sie mußte schließlich ihren Sohn und sich versorgen, denn auf Kosten ihrer Mutter zu leben, das kam für sie nicht in Frage.

Jessica warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. Jetzt wurde es aber Zeit für sie, den Heimweg anzutreten, da sich ihre Mutter sonst noch Sorgen machen würde. Es war für Jessica schön zu wissen, daß sich daheim ihre Mutter liebevoll um ihren Sohn kümmerte, den sie so viele Stunden am Tag allein lassen mußte. Die Mutter und Peer, das war ihre Welt, das war ihr Glück.

Ein Blick noch durch das Büro, und mit eiligen Schritten verließ Jessica nun den Raum und das Gebäude. Bis zum Parkplatz, auf dem sie ihren Wagen geparkt hatte, waren es nur ein paar Schritte, und kurze Zeit später befand sie sich auf dem Weg in den Außenbezirk der Stadt.

Hannelore Wohlers war es gewohnt, daß es bei Jessica immer mal wieder sehr spät wurde, trotzdem machte sie sich jedesmal erneut Sorgen.

An diesem Tag war sie besonders unruhig, denn sie wollte ja unbedingt mit ihrer Tochter über Peer reden, der auch an diesem Tag schon wieder den ganzen Nachmittag oben in seinem Zimmer hockte. Sie hatte noch ein paarmal versucht, ihn dazu zu bewegen, wenigstens für eine Stunde nach draußen zu gehen, hatte es aber dann aufgegeben.

Endlich, es war schon achtzehn Uhr vorbei, hörte Hannelore den Wagen der Tochter vorfahren. Als Jessica kurz darauf das Haus betrat, stand sie in der Diele.

»Du kommst heute sehr spät, Jessica.«

»Ich konnte es nicht ändern, Mutter. Du weißt ja, wie so etwas geht. Es war ein anstrengender Tag, und ich bin froh, jetzt etwas ausspannen zu können. Wo ist Peer?«

»Peer ist in seinem Zimmer, Jessica. Wir müssen unbedingt über den Jungen reden. Aber zuerst will ich dafür sorgen, daß du etwas Warmes in den Magen bekommst.«

»Nein, Mutter, heute nicht. Ich habe doch gesagt, daß ich einen schweren Tag hatte. So wichtig wird es schon nicht sein, daß man es nicht noch aufschieben könnte. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß Peer irgendwelche Probleme verursacht. Er ist doch ein lieber, ruhiger Junge. Kannst du nicht verstehen, daß ich jetzt auch für mich ein wenig Ruhe brauche? Ich mag auch jetzt nicht essen, ich lege mich erst ein wenig hin. Zum Wochenende haben wir dann genug Zeit, dann können wir uns in aller Ruhe über Peer unterhalten. Jetzt sei lieb, Mutter, und dränge mich bitte nicht. Ich sage noch rasch Peer guten Abend und danach möchte ich wenigstens eine Stunde nicht gestört werden.«

Jessica wandte sich ab und ging nach oben, während ihre Mutter in die Küche ging.

Jessica betrat das Zimmer ihres Sohnes. Peer saß vor seinem Schreibtisch, den Kopf auf den verschränkten Armen vergraben und schlief.

Sie trat hinter den Jungen, legte eine Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn leicht.

»He, mein Junge, was ist denn mit dir los?«

Erschrocken zuckte Peer zusammen und fuhr hoch.

»Mutti, wie schön, daß du endlich da bist. Warum mußt du nur immer so viel arbeiten?«

»Manchmal gibt es eben mehr zu tun. Du hast doch die Oma den ganzen Tag um dich. Hast du sie denn nicht mehr lieb?«

»Natürlich habe ich die Oma sehr lieb, Mutti. Aber sie will immer, daß ich nach draußen gehe. Auch wenn ich überhaupt keine Lust dazu habe.«

»Sie meint es sicher nicht böse, Peer. Wenn du hier im Zimmer herumhockst, wirst du nur müde und träge. Ich habe ja gerade erst erlebt, daß du eingeschlafen warst. Weißt du was, wir haben ja später noch etwas Zeit. Ich lege mich jetzt erst für ein Weilchen hin. Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?«

»Ja, Mutti. Soll ich sie dir zeigen?«

»Später, Peer, jetzt nicht.«

»Siehst du, nie hast du Zeit für mich. Wenn ich am Tag ein bißchen schlafe, weil ich so müde bin, dann meckert die Oma. Dabei legst du dich auch hin, obwohl es doch noch hell ist«, maulte Peer enttäuscht.

Jessica fuhr dem Jungen übers Haar und erwiderte: »Ich will ja nicht schlafen, ich will nur meine Beine etwas hochlegen und meinen Rücken gerademachen. Den ganzen Tag an der Schreibmaschine sitzen, davon bekommt man arge Rückenschmerzen. Und du maul jetzt nicht länger, du kannst dir ja die Zeit mit Spielen oder Lesen vertreiben. Ich verspreche dir aber schon jetzt, daß ich mir über das Wochenende sehr viel Zeit für dich nehmen werde. Was wir unternehmen können, darüber unterhalten wir uns noch.«

»Das wird in den nächsten Wochen sowieso echt langweilig, Mutti.«

»Warum, Peer?«

»Hast du vergessen, daß wir ab Montag Ferien haben, Mutti?«

Jessica stutzte und faßte sich an die Stirn.

»Stimmt ja, daran habe ich nicht mehr gedacht. Nun, uns wird schon etwas einfallen. Wir reden heute abend darüber. Also, bis nachher.«

Jessica ging nun wieder aus dem Zimmer und zu sich hinüber, wo sie sich hinlegte. Erst ungefähr eineinhalb Stunden später, nach dem Abendbrot, wollte sie sich noch mit Peer befassen. Es reichte jedoch nur dazu, seine Haus­aufgaben nachzusehen, denn danach war er so müde, daß sie ihn zu Bett schickte, eine weitere Unterhaltung mit ihm erst einmal verschob und zu ihm sagte: »Ich denke, du gehst jetzt zu Bett, dir fallen ja deine Augen schon zu. Geh schon nach oben, ich komme gleich und sage dir gute Nacht.«

Überrascht sah Jessica nun doch, daß Peer ihr und seiner Oma eine gute Nacht wünschte, ohne aufzumucken die Küche verließ und in sein Zimmer ging.

Noch vor einer Woche wäre das undenkbar gewesen. Trotzdem war sie zu diesem Zeitpunkt felsenfest davon überzeugt, daß es eine vorübergehende Sache wäre.

*

Hannelore Wohlers beobachtete die restlichen Tage bis zum Wochenende ihren Enkel ganz genau. Sie kam dabei immer mehr zu der Überzeugung, daß ihre Beobachtungen wichtig waren. Mit Peer war etwas nicht in Ordnung. Sie mußte unbedingt mit Jessica darüber reden. Ein Aufschieben gab es nicht mehr, Jessica mußte ihr zuhören.

Gleich nach dem Frühstück am Samstagmorgen, Peer schlief noch, sagte sie resolut: »Hör mal, Jessica, wir müssen heute über den Jungen sprechen. Ich habe ihn während der vergangenen Tage ganz genau beobachtet. Ich mache, mir große Sorgen um ihn. Selbst dir müßte es inzwischen aufgefallen sein, daß sich Peer immer mehr zu seinem Nachteil verändert hat. Ich finde, so kann es nicht mehr weitergehen.«

Schon während des Wochenendes wurde Jessica unsicher, und das setzte sich in den folgenden Tagen fort.

Peer wirkte lustlos und müde. Beide Frauen wunderten sich vor allen Dingen über das große Trinkbedürfnis des Jungen. Ja, auch Jessica erkannte, daß mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte, und begann, sich um ihn Sorgen zu machen.

Als er am Mittwochabend schon oben in seinem Zimmer war, ging sie noch zu ihm, um ein ernstes Wort mit ihm zu reden.

Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante und fragte mit ernster Stimme: »Willst du mir nicht sagen, was dir fehlt, mein Junge? Ich habe dich in den vergangenen Tagen beobachtet und mache mir allmählich große Sorgen. Tut dir etwas weh? Wenn es auch nur die geringste Kleinigkeit ist, so mußt du es mir ehrlich sagen. Ich bin deine Mutter, ich muß doch wissen, wenn du krank bist. Nun, sei ehrlich, hast du Schmerzen? Ich werde mir freinehmen und mit dir zum Arzt gehen.«

»Ich bin aber nicht krank, Mutti«, wehrte der Neunjährige entrüstet ab. »Zu einem Doktor will ich auch nicht.«

»Warum denn nicht? Eine Untersuchung tut erstens nicht weh, und zweitens schadet sie nicht.«

Abwehrend erwiderte Peer: »Ich will aber nicht, Mutti. Ich bin wirklich nicht krank. Der Doktor lacht mich ja aus, wenn wir zu ihm gehen. Ich will nicht ausgelacht werden. Wenn man müde ist, ist man doch nicht krank. Ganz ehrlich, Mutti. Darf ich jetzt schlafen?«

Jessica sah ein, daß sie im Augenblick bei ihrem Sohn nicht weiterkam. Sie würde mit ihrer Mutter reden und sich etwas anderes einfallen lassen.

»Schlaf jetzt, wenn du müde bist, Peer. Aber glaub nicht, daß ich mich zufrieden gebe. Wir werden sehen, was wir mit dir machen.«

Als Jessica wieder zu ihrer Mutter kam, fragte diese: »Nun, Mädel, hast du etwas aus dem Jungen herausbekommen? Wirst du mit ihm einen Arzt aufsuchen?«

»Nein, im Augenblick noch nicht, Mutter, denn Peer wehrt sich dagegen. Ich muß mir etwas anderes einfallen lassen.«

»Ich wüßte da schon etwas.«

»Was denn, sag schon.«

»Peer hat doch jetzt Schulferien, und du könntest auch Urlaub gebrauchen, um etwas auszuspannen. Warum nimmst du keinen Urlaub? Wir könnten alle drei an einen schönen Ort fahren, an dem der Junge viel frische Luft bekommt, und wo du dich auch gleichzeitig erholen könntest. Nun, was hältst du von meinem Vorschlag?«

»Urlaub, ein paar Wochen weit weg von den beruflichen Pflichten, das wäre schon etwas Schönes. Vielleicht liegt es ganz allein an mir, daß sich Peer verändert hat. Ich habe viel zu wenig Zeit für ihn. Wenn er schon ohne Vater aufwachsen muß, sollte wenigstens seine Mutter mehr Zeit für ihn haben. Weißt du was, Mutter? Ich gehe gleich morgen früh zu meinem Chef und bitte ihn um Urlaub. Ich denke, daß er mir diesen Wunsch nicht abschlagen wird. Wir drei machen gemeinsam Urlaub – noch ist es für mich wie ein Traum. Welchen Ort würdest du denn vorschlagen, wenn es klappt?«

»Ich würde sagen, daß wir einen hübschen Ort in der Heide aussuchen. Natürlich ohne deinen Wagen. Wir fahren einfach wieder mal ganz altmodisch mit dem Zug. Peer kann dann auch nicht sagen, wir fahren da und da hin. Er muß dann wohl oder übel viel laufen. Wenn ihm körperlich wirklich nichts fehlt, so wird ihn die frische Luft wieder auf Trab bringen. Außerdem hast du mehr von der Landschaft, wenn du dir vom Zugfenster aus alles ansehen kannst und nicht auf den Straßenverkehr achten mußt. Könntest du dich mit dem Gedanken anfreunden?«

»Und ob, Mutter. Du bist ein Schatz. Das ist die Idee. Sobald ich meinen Urlaub bewilligt bekomme, machen wir sofort weiter Pläne. Hoffentlich kommt nichts mehr dazwischen. Sag dem Jungen aber noch nichts von dem, was wir vorhaben. Ich möchte nicht, daß er zu sehr enttäuscht ist, wenn ich wider Erwarten meinen Urlaub nicht bekomme.«

»Es wird schon gutgehen, Jessica. Du bist immer pünktlich und korrekt mit deiner Arbeit, und dein Urlaub steht dir schließlich auch zu. Du mußt jetzt positiv denken. Vorfreude ist immer noch die schönste Freude. Geh jetzt schlafen und träume etwas Schönes. Ich werde auch bald zu Bett gehen.«

»Ich soll mich jetzt hinlegen und schlafen, Mutter? Nein, ich fühle mich plötzlich so aufgedreht, ich könnte jetzt doch noch kein Auge zutun.«

»Wie du willst. Ich hole uns eine kleine Erfrischung aus der Küche, und danach schauen wir uns den Film im Fernsehen an. Das wird dich garantiert auf andere Gedanken bringen. Abgemacht, Mädel?«

*

Jessicas Chef war sehr verständnisvoll, als sie ihn um ihren Jahresurlaub bat und ihm auch ihre Gründe dafür darlegte. Noch zwei Tage Arbeit lagen vor ihr, danach gehörten vier lange Wochen ihr.