Ascheseelen - Carolin Summer - E-Book

Ascheseelen E-Book

Carolin Summer

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Beschreibung

»Niemand sollte mit dem Zweifel wetten, solange die Hoffnung der Einsatz ist.« Paris, 23. November Noch schlimmer kann es nicht kommen? Von wegen! Der beste Beweis ist dieser hässliche Riss. Der Übergang in ein Paralleluniversum. Seit Jahren verheimlicht, mitten in einer stillgelegten Metrostation. Jetzt bricht er auseinander wie spröder Putz. Eure Welt verliert dabei übrigens jede Menge Energie. Dazu strecken Aschegeister ihre grauen Finger von der anderen Seite herüber und versuchen, sich in unseren Köpfen einzunisten. Ein klassisches Weltuntergangsszenario also. Katastrophenalarm. Dass Jordi und ich in dem Mist viel zu tief drinstecken, überrascht sicher niemanden. Schon mal versucht, einen Dimensionsspalt zu schließen? Die Erfolgschancen sind verdammt gering. Doch was anderes bleibt uns nicht übrig. Bevor die Geister noch mehr Schaden anrichten. Bevor die Welt im Chaos versinkt. Vanjar Belaquar

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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IMPRESSUM
# Ende
# erster Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# zweiter Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
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# siebtes Kapitel
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# zehntes Kapitel
# dritter Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# vierter Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# elftes Kapitel
# zwölftes Kapitel
# Anfang
# Wer - Wo - Warum
# Danke
# Wer schreibt hier eigentlich?
Die Weltenwechsler Akten Tetralogie

DIE WELTENWECHSLER AKTENASCHESEELEN Carolin Summer Band III Urban Fantasy Roman

Content Notes: Tod/Mord, Suizid, psychische Gewalt, körperliche Gewalt, explizit: häusliche Gewalt, Missbrauch, Sexismus, Abusus, Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Alkoholkrankheit, Selbstjustiz, Rassismus Das Figurenglossar befindet sich am Ende des Buches.

 

IMPRESSUM

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und jegliche Verwertung ohne Zustimmung der Autorin daher unzulässig. Insbesondere gilt dies für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Dazu zählt ebenfalls die Erstellung von RPG-Foren, Fan-Fictions etc. Die in der Geschichte enthaltenen, fiktiv-physikalischen Erläuterungen erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und sollten mit einem nachsichtigen Augenzwinkern betrachtet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. INSPIRATION UND OVATION [QUELLENANGABE]: In »Ascheseelen« werden Auszüge aus Friedrich Nietzsches Morgenröte zitiert. Quellen: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band I, Hanser, 1954 (Nach Ausgabe Hofenberg Digital) S. 1253. Vierte Auflage: 2023 Erste Auflage 2020 Copyright 2021 Selina Carolin Summer C/o Fam. Töpler, Mozartstr. 8, 66399 Mandelbachtal Lektorat: Nina Hasse Korrektorat: Florian Zimmer Cover und Satz: Selina Carolin Summer Bildmaterial: Deviantart: frankandcarystock Textur: Sascha Duensing ISBN Taschenbuch: 978-3-347-13980-0 ISBN Hardcover: 978-3-347-13981-7 Erschienen bei Tredition

Für die Geister der Vergangenheit.

Morgenröte

 

»Sobald ihr handeln wollt, müßt ihr die Tür zum Zweifel verschließen.«

 

Friedrich Nietzsche

# Ende

[Mittwoch, 14. Mai 2008, Friedhof Saint-Denis – 14:47]

 

»Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub.«

Die Worte des Pfarrers versanken mit dem Rest der obskuren Situation im Gedankenlärm. Wie die Urne dort vorne, nur dass dieses Grab aus schlechten Erinnerungen und überflüssigen Hoffnungen bestand, gefüllt mit einem alten Leben. Vergilbt, verblasst und doch fest genug in sein Gedächtnis gebrannt. Nicht einmal zwei Jahrhunderte reichten aus, um wirklich zu vergessen.

Zur Ablenkung in Jordis Gegrübel zu fischen machte es nicht besser. In dessen Kopf schlingerte das Gedankenkarussell auf ebenso verschobenen Bahnen. In anderen Facetten, aus unterschiedlichen Blickwinkeln, doch letztlich blieb das gleiche ekelhafte Gefühl zurück. Übrig zu sein. Nichts ändern zu können. Dazu die Ungewissheit, was aus dem Rest ihrer Familien geworden war.

Anders als der Name Belaquar stand jener der del Feranas bis zum heutigen Tag auf keinem Gedenkstein. Niemand hatte eine Trauerrede gehalten oder Blumen in die Erde geworfen, wie es die wenigen Besuchenden dieses Begräbnisses gerade taten.

Die Menge Unwissender rund um Luanna. Ihretwegen waren sie hier. Im Gegensatz zu ihnen stand sie in der ersten Reihe. Weil sie musste, nicht weil sie wollte. Weil es sonst niemanden gab, der sich kümmerte. Ehe sie selbst vortrat, fasste sie nach der Hand ihres Bruders. Maxime erwiderte die Geste. Ein stummes Versprechen der Geschwister füreinander da zu sein.

Etwas, das weder Jordi noch Vanjar geschafft hatten. Dieser Vorwurf wucherte ihnen beiden in die Gedanken. Überflüssig, ihn zu teilen. Also senkte der Wanderer mit angehaltenem Atem den Blick. Zählte mental die Anläufe mit, die Jordi versuchte, das Gegrübel über Marie und seine Eltern beiseitezuschieben. Es misslang ihm. Mehrfach. Seine Vergangenheit lag eben weder Welten noch Jahrzehnte zurück. Nur neuneinhalb Monate. Verdammte einundvierzig Wochen. Zweihundertneunundachtzig Tage und noch immer wusste niemand, was wirklich passiert war.

Die Erinnerung tat weh, obwohl es nicht seine eigene war. Zeit, so viel wie möglich in Ordnung zu bringen. Der letzte offene Fall.

Vanjar verlagerte das Gewicht zur Seite und verpasste Jordi einen Hieb mit dem Ellenbogen.

›Lass uns von hier verschwinden.‹

# erster Part

[TOD & ASCHE]

# erstes Kapitel

[Sonntag, 20. April 2008, Officium Iustitia An einem klassisch verregneten Frühlingsmorgen]

 

Tack.

Er zuckte.

Tack.

In den trüben Augen zogen sich die Pupillen zusammen. Wie sie es immer taten, wenn ihn etwas störte. Herr Admiral, dessen Namen ich bis heute nicht kannte. Seit Olivier Martins Todestag waren wir uns häufig begegnet. Bis er mich zuletzt vor versammelter Mannschaft verhaftet hatte.

Tack-Tack.

So gerne ich seine Gedanken lesen wollte, hier drinnen funktionierte das nicht. Innerhalb dieser vier Wände, zwischen denen sterile Farblosigkeit dominierte. Grelles Weiß, das in den Augen stach. Alles hier war bleich und kalt. So wie die Glasplatte des Tisches, die ich mit den Nägeln malträtierte.

Tack-Tack-Tack-Tack.

»Unschön.«

Obwohl ich nur flüsterte, fuhr der Graukopf zusammen. Dabei galt die Bemerkung hauptsächlich der Schwärze auf dem Laptopbildschirm. Die Aufnahme einer Überwachungskamera in der stillgelegten Metrostation. Ein düsterer, dreckiger Ort. Zerteilt von jenem Asche hustendenDimensionsspalt. Mitten in der Luft, gleich am Treppenabsatz der Zwischenebene zu den Gleisen. Vom Geländer bis hinauf zur Decke. Dorthin, wo man das Ende nicht ausmachen konnte. Der Übergang in eine andere Welt.

»Genau deshalb brauchen wir deine Hilfe«, nestelte er sich eine Erwiderung zurecht.

»Ach was.«

Die Arme verschränkt lehnte ich mich zurück. Als ob ich so etwas ausrichten könnte. So. Festgesetzt. Abgeschottet von der Welt da draußen. Von allen Welten, wenn man es genau nahm. Seit zwei Wochen legten mich die vermaledeiten Zauber des Officium Iustitia in Fesseln. Vierzehn Tage, zehn Stunden und siebenundvierzig Minuten. Jede weitere Sekunde zerfraß meine Nerven. Ich konnte sie ticken hören, inmitten der unerträglichen Stille zu weniger Dimensionen.

Herr Admiral seufzte. »Der Vertex Caeruleus hat das Verfahren abgeschlossen.«

Irritiert sah ich zum Einwegspiegel hinüber. Dahinter hockte mit Sicherheit besagtes Gremium. Jene fünf Personen, die absolute Entscheidungsgewalt über das Officium besaßen und die ich trotz zahlloser Verhöre nie zu Gesicht bekam. Der unsichtbare Rat, die höchste Instanz unserer Judikative. Entscheidungsträger, die sich nur selten direkt in Ermittlungen einmischen. Wenn sie es doch tun, sind ihre Worte Gesetz und die Entscheidungen unumstößlich. Sie urteilten ohne Verhandlung. Mich mit Fragen zu löchern blieb die Aufgabe meines Wächters alias Admiral Graukopf.

Mitarbeitende des Officium geben vor dem paranormalen Fußvolk keine Identitäten preis – und die höchste Instanz zeigt nicht einmal ihre Gesichter. Alles, was ich wusste, war, dass sie sich grundlegend in Herkunft, Art, Alter, Glauben und Einstellung unterscheiden. Ansonsten blieben sie heimliche Beobachter. Für jedes Gespräch, jedes Telefonat mit Henry, jede Akteneinsicht. Oh ja, sie ließen mich arbeiten. Und mit Sicherheit lasen sie mit. Sämtliche Berichte über den Belladonna-Fall. Jede Mail an Mathias und Keeden, die noch immer an der Versuchsreihe zur Entschlüsselung jener magischen Komponente der Furora-Formel arbeiteten. Das einzige, was sie nicht einsehen konnten, waren all die handschriftlich verfassten Zeilen, die mich in schlaflosen Nächten davon abhielten noch durchzudrehen. Um eben die Realität nicht aus den Augen zu verlieren, in der sie mich festnagelten.

»Die Suche nach Caesar Sade und den Cousins führen wir selbstverständlich fort. Allein wegen des Bluthandels erwartet ihn und die Chefetage des Belladonna ein Gerichtsverfahren.« Gramfalten verunzierten sein Gesicht. »Die Geschäftsführerin bleibt bei ihrer Aussage. Sie wusste nichts von Caesars Nebenverdienst. Aber das ist weder die Sorge der Société noch die von Gris.« Er zählte mich also nach wie vor zu beiden Organisationen. »Es ist auch nicht unser aktuelles Problem. Die Vorwürfe, die dir gegenüber im Raum stehen, hingegen schon. Sei froh, dass die Initiierung von Mademoiselle Salomon inzwischen ordnungsgemäß gemeldet wurde.« Von Henry, soweit ich wusste. »Ihre Aussagen haben erheblich zu deiner Entlastung beigetragen. Neben Dalereans Bericht.«

»Na dann.« Wahrscheinlich hätte ich darüber nicht schmunzeln sollen.

»Freu dich nicht zu früh.« Die breite Gestalt des Magiers schob sich um den Tisch. Wenn der Kerl sich weiter aufblies, platzte er noch aus dem Anzug. »Dein Handeln mag nachvollziehbar sein, aber nichts davon lässt sich deshalb entkräften.« Die Aufnahme, die weiter auf dem Laptopbildschirm flackerte, degradierte diese Diskussion zu absoluter Irrelevanz. »Verstöße gegen das Initiierungsreglement. Die Involvierung einer Zivilistin in Konflikte dritten Grades.« Musste er das unbedingt aufzählen? »Eine hochgradige Verletzung des Geheimhaltungskodex durch die Unterstützung, Verheimlichung und Nutzbarmachung gesetzeswidrigen Verhaltens Dritter und nicht autorisierte Ermittlungsarbeit.« Als ob ich die Liste nicht längst auswendig kannte. »Eine Abmahnung wegen unberechtigten Gebrauchs indizierter Magie.«

»Willst du dir das Drama nicht für die Anklage vor Gericht aufsparen?« Spott, der ihn resigniert die Augen verdrehen ließ.

»Das wird nicht notwendig sein. Ich bin hier, um dir einen Vorschlag zu unterbreiten.«

Die hervorgepresste Entgegnung wischte mir das Grinsen aus dem Gesicht.

»Wir legen großen Wert darauf, dass du unserem Unterfangen zur Seite stehst.«

Na bravo! Müde stützte ich die Stirn in die Hände. Kopfschmerzen, unnötig und nervtötend. »Weshalb?«

»Die Antwort liegt auf der Hand: Soweit uns bekannt ist, bist du der einzige Wandernde, der sich aktiv und wiederholt in die Geschehnisse dieses Universums einmischt. Auf der anderen Seite sind wir nun mal diejenigen, die über dein Strafmaß entscheiden. Dieser Spalt frisst. Leben, Magie, Energie in allen Variationen. Alles Mögliche. Ein solch brisantes Phänomen dürfte für dich doch von Interesse sein.«

Ah, daher wehte der Wind. Informationen und Hilfe gegen Freiheit und Straferlass. Simpel, praktisch und absolut beschissen. Das Problem daran war, dass mir gar nichts anderes übrigblieb.

»Euer brisantes Phänomen verdient eher den Titel potentieller Krisenherd. Davon abgesehen hat der letzte Handel dieser Art dafür gesorgt, dass ich genau hier gelandet bin.«

Den besten Beweis bildete das Paktmal. Das Zeichen der Tenebra, gegen die ich mehr als einmal verstoßen hatte. Die Folgen blieben deutlich sichtbar. Nicht nur die Lemniskate in der Handfläche. An drei Fingerkuppen war die hässlich-dunkle Verfärbung nicht wieder verschwunden.

Meinem Wächter rang der Einwand bloß ein halbherziges Lächeln ab. »Wir schließen eine Vereinbarung, keinen Pakt.«

Indes machte der hektisch kratzende Stift des schwebenden Protokolls an seiner Seite unmissverständlich klar, dass jedes weitere Wort eine neue Schlinge um meinen Hals zu knüpfen drohte. Die Farce einer Verhandlung, auf die ich nicht vorbereitet war. Zum Kotzen.

»Was habt ihr vor?«

»Ich bitte dich. Du kennst unsere Leitsätze: die Einhaltung des Geheimhaltungskodex sowie der Schutz beider Gesellschaften.«

Natürlich. Das war so aussagekräftig wie mit Glückskekssprüchen bedrucktes Toilettenpapier.

»Meinetwegen. Bevor es schlimmer wird.« Ich verfluchte mich schon jetzt für diesen Satz. »Solange ich einbeziehen darf, wen ich für geeignet halte.« Er schnappte nach Luft, aber ich kam ihm zuvor. »Spar dir die Geheimhaltungspredigt. Das ist ein permanent offener, expandierender Übergang in eine andere Welt.«

»Dessen sind wir uns bewusst.«

»Tatsächlich? Wie viele Meter liegt Croix-Rouge unter der Erde? Fünfzehn? Zwanzig? Und wie weit reicht der Spalt inzwischen in die Decke? Wie lange dauert es, bis er auf Straßenniveau aus dem Asphalt schießt und für alle Welt sichtbar Paris zerteilt? Dann könnt ihr euch Sorgen um Geheimhaltung machen. Wahlweise auch um die Existenz eurer Lebensgrundlage.«

»Zugegeben, das ist - wie nanntest du es? Unschön.«

»Etwas, ja. Ich unterstelle einfach mal, dass ihr die Grundlagen der Physik weit genug beherrscht, um zu verstehen, dass sich durch einen Spalt das Energieniveau zur anderen Seite ausgleicht. Er frisst. Ergo ist es dort drüben geringer als hier. Je nachdem wie hoch die Differenz und die Ausdehnungsrate sind, nimmt eure Welt durch den Verlust früher oder später irreparablen Schaden. Im schlimmsten Fall bedeutet das eine erkrankende Flora und Fauna, Wetteranomalien oder Naturkatastrophen. Und ja, wir reden hier durchaus von Ereignissen, die Millionen Leben kosten könnten.«

Die dahergeklatschten Tatsachen ließen einen bitteren Geschmack zurück. Galliger Belag, den die Silben über meine Zunge zu ziehen schienen.

»Wie schnell kann ein solcher Fall eintreten?«

»Keine Ahnung. Um das zu beurteilen, reicht ein Video nicht aus.«

Endlos lange Sekunden drückendes Schweigen gesellten sich zu dem grellen Weiß.

»Theoretisch ist alles denkbar. Mit etwas Glück stagniert es für die nächsten Jahrhunderte, mit Pech bleiben ein paar Wochen. Die rapide Expansion macht mir zugegebenermaßen Sorgen.«

Horrorszenarien, die man sich lieber nicht ausmalte.

So weit wird es nicht kommen.

In meinem Kopf drehte der Satz Endlosschleifen. Ein Mantra, das sich durch meine Hirnwindungen bohrte und die nächste Frage beinahe übertönte: »Liegt es im Rahmen des Machbaren, diesen Spalt zu kontrollieren?«

Darauf wollte ich nicht antworten. Aber der ekelhafte Beigeschmack, den die gesamte Situation wortwörtlich hinterließ, trieb die Entgegnung von trockenem Husten begleitet nach draußen. »Möglicherweise. Kommt drauf an, wodurch er verursacht wird. Und was dahinter vor sich geht.«

»Prozentuale Chance?«

»Lächerlich gering. Die Anzahl der denkbaren Varianten ist in etwa so hoch wie die der existierenden Welten.«

Nachdenklich rieb er sich den Nasenrücken. »Bisher haben weder magische noch technische Nachforschungen Ergebnisse gebracht. Was wir von hier hinübergeschickt haben, kam nicht mehr zurück. Es frisst alles. Aber wir brauchen Fakten. Schnellstmöglich.«

»Allerdings.« Immerhin darin waren wir uns einig.

»Narrenfreiheit und ein Team deiner Wahl. Was steht noch auf deiner Liste?« Erstaunlich pragmatisch, dieser Tonfall.

»Keine magischen Einschränkungen«, verlangte ich. »Ihr setzt mich nirgendwo fest. Und als Tüpfelchen auf dem I: Die uneingeschränkten Befragungsrechte im Belladonna-Fall, sobald wir das halbwegs geklärt haben. Mit der Madame und ihren Cousins habe ich ein paar Takte zu quatschen.«

Der irritierte Blick war Gold wert. »Für Gris oder für die Société?«

»Weder noch.« Beim nächsten Husten übersäten schwarze Flecken meine Finger. »Das ist mein Privatvergnügen.«

 

*

 

[Zur selben Zeit in der Rue Pierre Semard]

 

»Warte!«

Natürlich blieb sie nicht stehen.

»Luna! Was zur Hölle ist - Shit!« Jordi blickte zurück in die Eingangshalle – und zog die Haustür zu. »Verdammt!«

Während er an den geparkten Wagen vorbeieilte, krempelte er die Pulloverärmel herunter. Seine Jacke lag im Büro. Genau dort, wo man sie nicht brauchte, wenn der Wind schneidend um die Hausecken pfiff. Immerhin regnete es nicht mehr.

Den Schlüsselbund schon in der Hand vertrat er Luanna den Weg. Gerade rechtzeitig, ehe sie den alten Clio passierte. Ihren gehetzten Blick ignorierend öffnete er die Wagentür.

Sie unternahm keinen Versuch, sich an ihm vorbeizuquetschen oder den Renault zu umrunden. Einsteigen kam aber offensichtlich genauso wenig infrage.

»Ich muss nach Hause.« Es gelang ihr nicht, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen musterte sie die weißen Sneaker an seinen Füßen. Was auch immer los war, sie schämte sich dafür. »Jetzt.«

»Okay. Ich fahr dich.«

Zögern. »Wieso?«

Was für eine Frage war das denn? Er lachte. »Weil du gerade vollkommen unerwartet aus dem Haus gestürzt bist? Glaubst du ernsthaft, ich lasse dich Nervenbündel einfach so losrennen?«

Auch wenn er sich damit verdammt viel herausnahm.

Verblüfft schaute sie wieder auf. »Ich brauche keinen Aufpasser.«

»Bin ich nicht. Ich spiele Taxi.« Weil er ahnte, worum es ging. Das wollte und konnte er sie nicht alleine durchstehen lassen. Van hatte sie nicht ohne Grund zur LOG geholt. Sie hatte nicht mehr nur ihr Zuhause in Saint-Denise, sondern auch eins hier. Ihr eigenes Mini-Appartement in der Rue Pierre Semard.

»Die Metro fährt genauso schnell«, erwiderte sie mit verschränkten Armen.

»Darum geht es doch gar nicht.« Trotzdem schlug er die Tür wieder zu. »Das wird so schon schwer genug. Du sollst nur nicht -«

»Was?« Ein winziges Wort, mit dem sich ihre Stimme bedrohlich nach oben schraubte. »Eins dieser hochheiligen Geheimnisse ausplaudern? Keine Angst, Vanjar hat mir deutlich klar gemacht, wie wichtig Geheimhaltung ist. Oder auf mich aufpassen? Ich bin dort großgeworden. Ich brauche keinen Beistand!«

Damit ließ sie ihn stehen. Stapfte weiter den Gehweg entlang. Verdrossen sah er ihr nach. So war das nicht geplant gewesen.

»Alleine sein!«, pfefferte er ihr schließlich hinterher. »Du stehst nicht mehr alleine da. Nicht seit Van diesem Blutrausch-Junkie das Licht ausgepustet hat, um dir den Arsch zu retten!«

Luanna hielt inne, drehte sich aber nicht um. »Woher weißt du das?«

Jordi lachte. »Ich kenne ihn gut genug, um nicht alles zu glauben, was er zu Protokoll gibt. Und du bist nicht die Einzige. Wir gehören beide zu seinem Team. Gewöhn dich besser dran.«

Sie setzte sich wieder in Bewegung, wechselte die Straßenseite und bog um die Ecke, Richtung Poissonnière. Jordis Faust schlug so heftig gegen die Wagentür, dass ihm die Knöchel schmerzten.

»Qué mierda!«

 

**

 

Sie rannte, obwohl ihre Lunge brannte. Auf dem unebenen Boden schlug sie sich die Knie blutig, aber sie spürte den Schmerz kaum. Er war noch immer hinter ihr her. Jagte sie durch die Gänge, entlang der alten Steinbruchstollen. Weiße, grob behauene Wände. Er kannte sich hier unten aus. Er sah – im Gegensatz zu ihr. Die notdürftige Beleuchtung des gestohlenen Feuerzeugs war alles, was ihr half – und sie gleichzeitig verriet, sobald sie stehenblieb, um es zu entzünden.

Doch sie musste weiter. Weg von diesem Monster, gegen das ihre Magie nichts auszurichten vermochte. Sie hatte es versucht. Mit Defensiven und Blockaden bis hin zu Angriffszaubern. So sehr es ihr widerstrebte, Schadzauber gegen ein Lebewesen zu richten, sie hatte gesehen, was er den anderen beiden angetan hatte. Nachdem sie aufgewacht war, in diesem heißen, gefliesten Raum voll altmodischer Laborausstattung. Die Kanülen und Schläuche in ihren Armen, über die er ihnen das Blut abzapfte, Beutel um Beutel füllte. Der Beginn eines Albtraums, aus dem sie nicht aufwachen konnte.

Sie erinnerte sich nicht, wie sie dorthin gekommen war. Nur dass sie eigentlich schlafen sollte. Doch sie war bei Bewusstsein – und hatte es geschafft, davonzulaufen. Weil er nicht damit rechnete und die Riemen um ihre Arme nur nachlässig zuzog. Das Einzige, was ihn interessierte, schienen die Daten auf dem Monitor zu sein. Und natürlich das, was er in der Ritualschale unter dem Mikroskop verrührte.

War er allein? Zumindest sah oder spürte sie niemanden sonst. Ein Funken Hoffnung, der schnell versiegte. Weil sie die Zauber nicht registriert hatte, die ihre Flucht verrieten. Ein kurzer Moment des Aufatmens, dann begann die Jagd.

# zweites Kapitel

[Sonntag, 20. April 2008; Pisswetter mitten in den Banlieues, Saint-Denis]

 

Komm nicht heim. Der Sprit geht aus. Er dreht komplett durch. Ma sperrt sich bei Giselle ein. Wenn er sie findet, bricht er ihr den Hals. Ich versuche, zu den Jungs zu flüchten.

Die Zeilen der Nachricht hatten sich in Luannas Hirn gebrannt. Sie sah sie vor sich, auf den Scheiben der Metrotür, bis diese sich auseinanderschoben.

Endstation.

Sie stürmte auf den Bahnsteig, zwischen den wartenden Leuten hindurch auf kürzestem Weg Richtung Ausgang. Hastende Schritte, bis sie beinahe rannte. Dabei gab es hier Licht. Geräusche und Menschen. Sie war nicht allein. Nicht in der Dunkelheit. Und doch machte es ihr Angst, metertief unter der Erde zu sein. Erst die Sortie-Schilder ließen sie aufatmen. Blau mit weißer Schrift. Wie der Himmel und die Wolken, die sie so schnell wie möglich wieder über ihrem Kopf sehen wollte. Hektisch wischte sie sich die schweißnassen Hände am Mantel trocken. Nur ein paar Meter bis zur Treppe. Auf den letzten Stufen klickte neben ihr ein Feuerzeug. Noch einmal beschleunigte sie das Tempo. Dennoch zog der Geruch nach Vanilletabak zu ihr herüber.

Ein gehetzter Blick zurück präsentierte ihr die Übeltäterin. Eine ältere Dame in Pelzjacke mit goldenem Gehstock und Nickelbrille, die sie beinahe angerempelt hatte. »Vorsicht, Mademoiselle!«

Sie ignorierte den Tadel und eilte weiter.

 

*

 

Die Siedlung heruntergekommener Plattenbauten zeichnete sämtliche Facetten der Trostlosigkeit in die Straßen der Banlieues. Ein Schmutzfleck am Rande des glänzenden Konterfeis der opulenten Metropole. Nicht alle Ecken hier waren so, doch ausgerechnet dieses Viertel machte dem Klischee der kriminellen Klientel alle Ehre. An den Hausecken und auf den Dächern der Betonkästen hielten Jungs mit tief in die Gesichter gezogenen Kapuzen und Kappen Wache. Späher, die ihre Dealer vor anrückender Polizei warnten.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Jordi den richtigen Wohnblock fand. Die Dinger glichen einander wie ein Ei dem anderen. Grau und braun. Baufällige Balkone im Wechsel mit fahl erleuchteten Fenstern. Aufeinandergestapelte Schuhkisten.

Je länger er sich umsah, desto besser konnte er verstehen, dass Luanna niemanden mitnehmen wollte.

Vor den Gebäuden parkten alle möglichen Sorten fahrbare Untersätze. Von rostigen Fahrrädern über Roller, Motorräder bis hin zu Autos diverser Preisklassen. Jordi hielt zwischen einem polierten Mercedes und einem ramponierten Fahrradständer, über den hinweg er problemlos den Hauseingang im Auge behalten konnte.

Prompt steuerte die erste Gruppe Jugendlicher auf den Renault zu. Eine junge Frau in lilafarbener Lederjacke mit Baseballschläger auf der Schulter klopfte gegen die Fahrertür.

»Hey, was machst’n du hier?« Ihre krause Lockenmähne wippte vor der in Falten gezogenen Stirn auf und ab. Im Mundwinkel balancierte sie eine Kippe.

Jordi ließ das Fenster herunter und grinste sie an. »Parken.«

Ihre Finger schlossen sich fester um den Griff des Baseballschlägers. In Anbetracht der Tatsache, dass er keine Jacke dabeihatte, sollte er vielleicht doch etwas mehr Wert auf die Scheiben des Clio legen.

»Ich warte auf eine Freundin«, fügte er hinzu und deutete zum Haus hinüber.

»Wir ham’ dich im Auge.«

Mit einem Schulterzucken wandte er den Blick ab. Wenn eine gewöhnliche Dissimulatio nicht ausreichte, um diese Wachhunde abzuhalten, wollte er gar nicht wissen, was Besuchenden ohne magischen Schutz blühte.

 

*

 

»Verschwinde! Und komm ers’ wieder, wenn du Kohle heimbringst!« Der Rest des Fluchs ging in zerspringendem Glas unter. Einige Scherben rieselten durchs Treppenhaus, als Luanna nach oben stürmte. Über Zeitungen und Umschläge hinweg, die aufgebrochene und überfüllte Briefkästen auf den Boden spuckten.

»Paps, das war alles! Ich schwöre!«

Maxis klägliches Wimmern schnürte ihr die Kehle zu. Sie hörte, dass ihm Tränen in den Augen standen. Ein verängstigtes Kind, nicht der selbstbewusste Junge, der sonst seinen Sturkopf durchzusetzen versuchte.

»Lüg - mich - nicht - an!« Jedes Wort begleitete ein dumpfer Schlag. »Du bist nicht besser als deine Schwester!«

Sie kannte das lallende Brüllen zur Genüge. Es ließ ihren Puls rasen und sie die letzten Stufen nach oben sprinten.

»Das Miststück von Tochter, das sich von irgend’nem dahergelaufenen Drecksstudenten vögeln lässt!«

Sie erreichte den dritten Stock.

»Lulu …« Maxis Keuchen ging fast im Schnauben ihres Vaters unter. Mit hochrotem Kopf stand er neben der offenen Wohnungstür, seinen Sohn am Kragen des zu weiten Pullovers gepackt und gegen die Flurwand gepresst. Maxis Basecap lag verloren zwischen den Scherben. Blut aus einer Platzwunde an der Stirn verklebte seine schwarzen Locken.

Für einen Moment gefror das Szenario zum Standbild. Luannas Herz setzte mindestens zwei Schläge aus, während die Wut eine Bombe in ihrem Magen hochjagte. Er würde mit ihm nicht so umspringen wie mit ihr. Noch auf dem Treppenabsatz ließ sie ihre Sachen fallen. Verfluchter Säufer! Sie konnte die Fahne bis hierher riechen.

»Lass ihn los!«

Die Kraft, mit der sie ihn beiseite stieß, erstaunte nicht nur sie selbst. Ungeschickt taumelte der Betrunkene rückwärts, polterte gegen den Türrahmen.

»Du läss’ dich hier blicken?«

Ehe sie etwas erwidern konnte, rappelte Maxime sich auf, um sich schützend vor sie zu schieben. Luna hielt ihn zurück. »Geh lieber.«

Irritiert sah er sie an. »Geht’s noch? Ich lass dich mit dem doch nicht allein.«

»Hörs’ du?« Das Grölen hallte zwischen den kahlen Wänden wider. »Er lässt dich nicht allein. Wie du ihn. Um in der feinen Stadt zu leben. Auf Kosten von ’nem stinkreichen Unipisser!«

»Du hast keine Ahnung«, fauchte sie.

»Ach nein?« Wankend stieß er sich von der Zarge ab, um einen Schritt in die Wohnung zu machen, wo gewiss eine weitere Schnapsflasche auf der Kommode wartete. »Zwei Wochen ham’ wir dich nicht gesehen. Schleichst nur rein und raus, um Wäsche zu holen. Musst ihn ja ordentlich bespaßen, dass er sich mit einer von hier abgibt.«

Schnaubend schraubte er den Deckel ab und pfefferte ihn in Maxis Richtung. Dann hängte er sich die Flasche an den Hals. Die Geschwister wechselten einen wissenden Blick.

»Kein’ Cent lasst ihr da, undankbares Pack!«

Wieder lehnte er sich nach drinnen, diesmal griff er allerdings nach oben. Dorthin, wo die Steinskulptur stand, die sie vor Jahren gemeinsam während eines Kinder-Kunstprojekts im Jugendtreff der Gemeinde gemeißelt hatten. Der schiefe Turm mit den neun Zinnen aus Luannas Lieblingskinderbuch. Wie ihr Vater ihn in den Händen wog, wirkte er eher wie eine unförmige Keule.

»Das werd’ ich euch austreiben! Schert euch zu eurer Mutter ins Frauenhaus! Oder wo diese Schlampe Giselle sie sonst heute Morgen hingeschleppt hat. Als ob ich das nicht rausfinde!«

Maxi reagierte zuerst. Luna am Ärmel gepackt, stürmte er los. Gerade rechtzeitig zog er sie weg, ehe das klobige Ding gegen das Geländer donnerte. Nicht der einzige Schlag. Das Dröhnen folgte ihnen die Stufen hinunter bis zur Haustür, gepaart mit irrem Brüllen, mit dem ihr Vater die Stufen herunterkam.

»Haut bloß ab! Ich will euch hier nich’ mehr sehen!«

 

*

 

Zehn Minuten lang passierte überhaupt nichts. Dann ließ sich der Besitzer des Mercedes blicken. Ein älterer Herr im billigen Anzug von der Stange. Wenig Haare auf dem Kopf, dafür jede Menge im Gesicht. Er nickte zum Gruß und stieg ein. Jordi beobachtete ihn beim Ausparken und hätte darüber beinahe die auffliegende Haustür verpasst.

Luanna rannte aus dem Gebäude, gefolgt von einem schlaksigen Jungen mit blutigem Gesicht. Er bog links ab und sprang hinter einem fülligen Kerl auf einen Roller, der auf der Stelle den Motor anließ. Statt ihm zu folgen, sprintete sie weiter in Richtung Clio und mit einem gewagten Satz über die metallene Parkplatzbegrenzung hinweg. Der rote Mantel und die halb offene Tasche schleiften dabei über den Asphalt. Hinter ihr stürmte ein Kerl mit hochrotem Kopf aus dem Hausgang.

Jordi lehnte sich zur Beifahrertür hinüber, um ihr zu öffnen. Kaum dass sie saß, schoss der Renault aus der Lücke und mit viel zu hoher Geschwindigkeit noch vor dem Zweirad vom Parkplatz.

 

*

 

Der nächste Hustenanfall ließ mich mehr von dem schwarzen Zeug spucken. Mehr als die letzten paar Tage zusammen. Und ich hatte gehofft, dass es endlich aufhörte. Aber weder das noch die fragwürdigen Wahrnehmungsverschiebungen verschwanden ganz.

»Shit, das -«, mit dem Reden war nicht die beste Idee.

An den Schultern gepackt wurde ich auf die Füße gezogen. »Hierbleiben.« Der besorgte Tonfall passte nicht zu Admiral Graukopf.

»Als ob ich –«

Den Satz konnte ich mir sparen. Die Barrieren und Zauber fingen an sich zu lösen und mit ihnen verflog endlich die vermaledeite Taubheit der Isolation. Mahnend fixierten mich die trüben Augen. Matt wie die Milchglastischplatte, auf der der Laptop thronte.

»Doch, du könntest. Ich bin befugt, dich gehenzulassen. Aber das wirst du nicht. Noch nicht.«

Das war nicht mehr der Mann, den ich in Olivier Martins Wohnung kennengelernt hatte. Seit dem Abend in den Katakomben hatte er sich verändert. Feixend wischte ich mir mit dem Ärmel die dunkle Brühe aus dem Gesicht.

›Sie haben keine Ahnung, oder?‹

Er zuckte zurück. Überraschte es ihn, die Worte in seinem Kopf zu hören? Er war es wohl nicht mehr gewohnt, sich vor meiner Telepathie schützen zu müssen. Erst recht nicht innerhalb der Officium-Zentrale.

›Davon, dass du hineingesehen hast.‹ In den Spalt.

Seine mentalen Blockaden verstärkten sich. Dabei hatte ich längst gesehen, was ich wollte.

»Es ist mein Sektor. Seit damals. Die Überwachung gehört ebenso zu meinen Aufgaben wie die Forschung. Beides wurde nach der Expansion selbstverständlich intensiviert.«

Natürlich. »Und?«

»Dort ist nichts.«

Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Das glaube ich kaum.«

 

*

 

Jordi sah kurz zu ihr hinüber, doch Luanna erwiderte den Blick nicht. Stattdessen musterte sie ihre Fingernägel.

»Danke.«

»Dafür nicht.«

»Doch.« Seufzend strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich wollte niemanden damit belasten. Das ist –«

»Hast du nicht.« Jetzt schaute er wieder konzentriert auf die Straße. Keine Diskussionen, kein Vorwurf. Derselbe gut gelaunte Plauderton wie immer. »Kommt er gut unter?«

Sie schluckte. »Maxi? Bei seinen Freunden? Nicht wirklich. Aber er würde dort nicht weggehen. So weit ist er noch nicht. Und ich kann ihm nicht vorschreiben, wie er zu leben hat. Nicht gerade jetzt.«

»Verstehe.«

Keine Besserwisserei. Keine Ratschläge. Keine Angebote. Dabei wusste sie ganz genau, dass sie nur mit dem kleinen Finger zu zucken brauchte und ihre neuen Kollegen würden sich darum kümmern. Allein diese Tatsache schürte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

»Ich will keinen Ärger machen. Das ist sehr kompliziert.«

Unvermittelt trat er auf die Bremse und zog mit einem waghalsigen Lenkmanöver in die nächste Parklücke. Stotternd starb das Geräusch des Motors und mit ihm schwand die neutrale Miene.

»Lass das. Kaum jemand bei Gris führt ein Bilderbuchleben. Mai ist vor dem magieorientierten Leistungsdruck ihrer Familie geflüchtet, Nics gewöhnliches Leben endete damit, dass sein Vater von einem Werwolf angegriffen wurde, Amélie und Hélène haben beide eine nicht besonders ruhmreiche Blutsaugervergangenheit hinter sich. Von Van brauche ich erst gar nicht anzufangen. Und mein Dad gehört - gehörte - zur paranormalen Mafia. Glaubst du wirklich, einer von uns erlaubt sich ein Urteil über dich?«

Die Zähne aufeinandergebissen rang sie sich ein Kopfschütteln ab. »Ich weiß. Ich habe die -«

Das plötzlich einsetzende Klingeln von Jordis Handy hielt sie davon ab, weiterzusprechen. Stirnrunzelnd angelte er das Mobiltelefon aus der Hosentasche. Ein Blick aufs Display reichte, die unverhohlene Skepsis mit Staunen zu überpinseln.

Eingehender Anruf: Vanjar Belaquar.

»Wenn man vom Teufel spricht.« Er hob ab. »Sí?«

So viel Anspannung verpackt in einem Wort. Luanna konnte das zu gut verstehen – und hielt ebenfalls die Luft an, bis endlich die Antwort aus dem Lautsprecher tönte.

»Wie gut stehen meine Chancen, euch beide innerhalb der nächsten dreißig Minuten zum Officium zu zitieren?«

Das klang nicht gut. Er klang nicht gut. Vom Inhalt des Satzes ganz zu schweigen. »Woher weiß er, dass wir …?«

Jordi legte ihr den Finger auf die Lippen. »Ziemlich hoch, Chef. Alles in Ordnung?«

»Nein. Gib Gas. Doc ist auch unterwegs.«

 

*

 

»Leere.«

Ich hielt inne, Laptop und Notizbuch noch in den Händen. Mein Wächter lehnte am Schreibtisch. Sein Blick verlor sich auf dem Weg durch das trostlose Zimmer zwischen den Resten nicht in Worte fassbarer Erinnerungen.

»Nichts als Dunkel, auf allen – allen Ebenen. Ich habe es gespürt, ohne das ich sagen könnte mit welchen Sinnen.« Der Satz verkam zu Gemurmel. »Es ist sinnlos, das zu beschreiben.«

»Ist es meistens.« Das waren Dinge, die nicht in materielle Welten gehörten. Sie widersprachen sämtlichen gewohnten Denkstrukturen, was in den meisten Fällen in Überforderung gipfelte.

»Es kommt mir vor, als sei meine Realität gewachsen. Dabei ist sie lediglich ein winziges Zahnrad in einem riesigen Gefüge, von dem wir nichts ahnen. Aber irgendwie habe ich einen neuen Blick darauf geworfen. Von außen. Seitdem … nagt es an mir.«

Er stand näher am Abgrund, als ich ahnte. Ein Mensch, dem seine Existenz unter den Füßen wegzubrechen drohte. Etwas zog an ihm, auf dieselbe Weise, wie das Weltengefüge an uns Wandernden zerren konnte. Ich wusste nur nicht zu sagen, was.

»Ihr spürt wesentlich mehr als das, nicht wahr? Wer sich innerhalb so vieler Dimensionen bewegt, muss mehr wissen. Diese Welt ist eine von unzähligen. Warum interessiert sie dich dermaßen? Wenn einem alles offensteht, jedes Universum, jeder Ort, überall – warum kommt man dann zurück?«

Um Zeit zu schinden, verstaute ich die restlichen Sachen in der alten Sporttasche. »Es gibt ein Sprichwort unter uns: ›egal durch wie viele Welten du wandelst, eine wird bleiben, in die du immer wieder zurückkehrst. So oft du kannst.‹ Vielleicht ist das eure.«

Wenn Universen eins nicht sind, dann gleich. Manche würde ich nie betreten. Nicht nur, weil die physischen Gegebenheiten konträr zu meinen materiellen Gestalten funktionieren. Noch so eine Sache, für die es schwerfällt, die richtigen Worte zu finden. Vornehmlich, weil ich nicht wollte.

»Nenn es Instinkt. Oder Intuition. Naturgegebene Impulse. Eine Mischung aus allem. Was dir am besten gefällt.«

Er schnaubte verächtlich. »Trotzdem kannst du nicht bleiben.«

»Nein.«

»Aber du wirst versuchen, diese Welt zu schützen.«

»Sicher.«

»So sicher bin ich mir da nicht. Du kannst uns jederzeit den Rücken kehren, statt dich mit unseren Problemen herumzuschlagen.«

Diesmal war ich es, der einen abfälligen Ton von sich gab. »Werde ich nicht.«

Er neigte den Kopf zur Seite. »Wir sehen weiter, wenn wir dort waren. Im Dunkel, das genauso übermächtig ist, wie das, was in dir wächst.«

 

Das Brummen des Aufzugs mischte sich mit dem Rauschen in meinen Ohren. Ich starrte zu Boden, bis das Klingeln der Stockwerksanzeige mich aus der verspiegelten Kabine entließ. Der Schritt hinaus fiel dennoch schwer. Dankbarerweise blieb mir der Gang durchs Foyer erspart.

Begleitet von einem Quietschen irgendwo zwischen Erleichterung und Freude wurde ich in eine stürmische Umarmung gezogen. Überrumpelt erwiderte ich die Begrüßung. Meine Tasche verabschiedete sich derweil polternd auf den Marmor. Luannas Auftritt kommentierte der Portier mit irgendeiner Unfreundlichkeit. Inmitten des Dufts von Pfirsichshampoo und Tabakrauch war mir das vollkommen gleichgültig. Zumindest bis ich über ihre Schulter hinweg Jordi ansah.

Sein Grinsen versiegte im selben Moment. Was immer er aus meiner Miene las, es schürte einen Berg von Sorgen, hinter dem seine Gedanken in Deckung gingen. Stattdessen flutete mir das Chaos entgegen, das der Morgen in seinem Kopf hinterließ. Hässliche Worte über noch hässlichere Fassaden und die Bewohner dahinter, gepaart mit diesem Gefühl nichts ausrichten zu können - und einem vernichtenden Fazit: ›Sie hat da nichts mehr verloren.‹

Meine Finger gruben sich in den roten Mantelstoff. ›Ich weiß.‹

Ehe ein Wort laut ausgesprochen in die Halle entfleuchte, schwang die Eingangstür erneut auf. Luanna ließ los, wich aber nicht von meiner Seite. Was sie entdeckte, schien sie immerhin zu beruhigen: Mathias betrat das Foyer, in Begleitung von niemand Geringerem als Henry Weam höchstpersönlich. Quartierarzt und Organisationsleitung, Doc noch im weißen Kittel, der Alte Mann wie üblich im Anzug und mit Pfeife im Mundwinkel. Lediglich die Hausschuhe fehlten. Ihren Platz nahmen frisch polierte Oxforder ein.

»Wie es aussieht, sind wir fast vollzählig.« Ein Rauchkringel waberte an uns vorbei auf Admiral Graukopf zu. »Pierre dürfte gleich hier sein.«

# drittes Kapitel

 

»Dalerean?« Luannas Flüstern wurde von den kahlen Wänden nicht so sehr gedämpft, wie sie erwartete.

»Ressourcenteilung«, kommentierte Henry, womit er sich einen derben Ellbogenhieb von Mathias einfing. Im Gehen wandte ich mich zu den beiden um.

»Offiziell?«

Das ging ein gutes Stück über die Distanziertheit hinaus, die unseren Kontakt in letzter Zeit bestimmt hatte. Vom Officium überwachte Kommunikation gab nicht den Raum für Diskussionen auf derart persönlicher Ebene. Die aktuelle Situation zwar eigentlich auch nicht, doch davon nahm Henry keine Notiz.

»Bleibt mir etwas anderes übrig?« Diesen vorwurfsvollen Ton hatte ich nicht vermisst.

»Abgesehen von einer Kündigung? Nein.«

Ein finsteres Lachen brandete vom Ende des Flurs durch den Korridor. »Den Gefallen tut er mir leider nicht.«

Niemand von uns hatte ihn bemerkt. Dabei stach die Gestalt im Invernessmantel aus dem allumgebenden Weiß deutlich hervor. Das Gesicht im Schatten eines Trilbys verborgen, wartete er darauf, dass Admiral Graukopf die Tür zum Konferenzraum öffnete. Der ließ sich nicht erst bitten. Mit zusammengekniffenen Lippen zog er einen Schlüssel aus der Hosentasche.

Drinnen begrüßte uns eine unpersönliche Ansammlung pseudo-futuristischen Mobiliars. Hochglanzfronten, Glas und Chrom. Als hätte jemand das sterile Ambiente des Verhörraumes mit dem Einrichtungsstil der Société gekreuzt. Unpassenderweise zierten großformatige Picassobilder die Wände. Gemälde. Ich bezweifelte ernsthaft, dass sich das Officium mit profanen Kunstdrucken zufriedengab.

Über dem ausladenden Tisch schwebte, einer düsteren Wolke gleich, die Projektion des Desasters in Croix-Rouge. Die magische Variante eines Hologramms, das leise knisternd um die eigene Achse rotierte. Drei Ebenen, vom Straßenniveau bis hinunter zu den Schienen, rund um den wortwörtlichen Kern des Problems. Knapp sieben Meter hoch und vierunddreißig Zentimeter breit. Als sei die Realität nur eine Fassade aus sprödem Putz, der unter der Last der Jahrmilliarden zu reißen begann.

»Mille millions de mille sabords[ 1 ]!«, entfuhr es Mathias. »Bitte sag mir, dass das nicht echt ist.«

»Schön wär’s«, murmelte ich.

So schnell ihm die Gefasstheit abhanden kam, gewann er sie auch zurück. Kritisch schob er die Brille zurecht und beugte sich über den Tisch. »Faszinierend.«

Noch einen halben Zentimeter näher und seine Nasenspitze versank in der Projektion.

»Ich würde es eher als erschreckend betiteln.« Dalerean postierte sich neben ihm, die linke Hand ausgestreckt, bis Zeige- und Mittelfinger den Spalt berührten. Langsam zog er die Finger nach oben. Das Schwarz folgte der Bewegung, dehnte sich aus, bis es die Straße erreichte und über Bäume und Häuser ragte.

Luanna war es schließlich, die die Frage stellte, die auch Henry und Jordi ins Gesicht geschrieben stand:

»Was zur Hölle ist das?«

 

»2002?« Mathias’ Faust krachte auf die Tischplatte. »Seit sechs Jahren existiert ein stabiler Übergang in ein anderes Universum mitten in Paris und ihr habt es nicht für nötig gehalten, irgendwen darüber in Kenntnis zu setzen?«

»Es liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, über die Informationslage zu entscheiden«, entgegnete der Graukopf lakonisch, was Dalerean ein freudloses Lachen entlockte.

»Mit der Gefährdungseinstufung sieht es aber anders aus.«

Stöberte da wer in Köpfen? Die Barrieren des Officium-Wächters verstärkten sich zumindest umgehend. Intensiv genug, dass sogar Jordi neben mir mit einem Schaudern auf das Magieaufkommen reagierte.

Der Magier ließ sich nichts anmerken. »Bis vor fünf Wochen war der Durchgang stabil. Dreiundzwanzig Zentimeter. Eine Handspanne hoch. Die Öffnung an der weitesten Stelle einen knappen Zentimeter breit. Meine Einschätzung war nicht fehlerhaft.«

»Doch.« Damit sprach Mathias aus, was ich dachte. »Allein das Energiepotenzial eines –«

Henry brachte ihn mit resoluter Geste zum Schweigen. »Wir hätten eine derartige Entdeckung auch nicht nach außen getragen. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Mich interessiert vielmehr, was das O.I. daraus gemacht hat. Forschungsergebnisse? Nutzbarmachung? Immerhin konntet ihr über Jahre ein – so weit wir wissen – einzigartiges Phänomen beobachten.«

»Natürlich haben wir beides in Erwägung gezogen. Es wurden ausgiebige Forschungen angestellt, aber bisher blieben unsere Bemühungen umsonst. Sie frisst. Das ist alles.«

»Sie?«, wiederholte Dalerean.

»Die Öffnung.« Er wurde rot. »Sonden, Magie, alles Mögliche. Was in der Schwärze verschwindet, kommt nicht zurück. Ein Übergang ins Nichts. Schade, in Anbetracht dessen, was für eine Bandbreite wissenschaftlicher Arbeit uns das ermöglichen könnte. Vielleicht sogar eine Quelle hier zu Neige gehender Rohstoffe. Andererseits praktisch, wenn man bedenkt, wie viel Dreck auf diesem Planeten angehäuft wird. Alleine durch Atomenergie. In entsprechender Größe –«

Das war der Punkt, an dem Luanna nicht weiter still zuhören konnte: »Sie denken ernsthaft darüber nach, unseren Müll in einer fremden Welt zu entsorgen? Oder sie auszubeuten? Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Du denkst zu eingeschränkt, Mademoiselle. Es geht bei diesen Überlegungen um den Erhalt unserer Heimat.«

»Und die Welt dort drüben? Was, wenn sie damit die Heimat von jemandem verseuchen? Mensch- Individuen krank werden oder sterben, die nicht einmal ahnen, was der Grund dafür sein könnte? Was, wenn sie nichts von uns wissen? Wenn die Bewohner der anderen Seite gar nicht so weit entwickelt sind wie wir? Oder noch schlimmer, wenn sie es herausfinden? Denken Sie nicht, sie würden sich wehren? So wie wir?«

»Eben das gilt es herauszufinden.« Die nüchterne Betrachtung des Blaumantels schmeckte weder ihr noch mir. »Die Beeinträchtigung von Zivilisationen muss selbstverständlich ausgeschlossen sein. Außerdem benötigt der Spalt eine ausreichende Größe, die den Transport diverser Güter, egal in welche Richtung, zeitnah gewährleistet. Bisher ist er trotz der Expansion zu klein. Man müsste ihn unter kontrollierten Bedingungen in einem gezielten Bereich erweitern.«

Mathias schüttelte den Kopf. »Ein Portal ist nicht einfach so umsetzbar. Allein zur Entstehung benötigt ein solches Phänomen Unmengen Energie. Selbiges gilt, um einen Übergang permanent offenzuhalten. Und erst recht, um ihn immer wieder neu zu erzeugen. Vom Problem des Ausgleichs des Energieniveaus der beiden Welten ganz abgesehen. Was dort drüben fehlt, fließt von unserer Seite herüber. Der Spalt holt sich, was er braucht und je größer er wird, desto mehr wird das sein. Dazu der Sicherheitsaspekt einer Überquerung.«

»Wissen wir. An der Stelle kommt ihr mit eurer Fachkenntnis ins Spiel. Wie die letzten sechs Jahre beweisen, bietet unsere Welt ja ein gewisses Potenzial, die Gegenseite zu versorgen.«

»Noch.« Eine Silbe, mit der ich mir sämtliche Aufmerksamkeit sicherte. »Bei zwanzig Zentimetern vielleicht. Aber keine Welt liefert unendlich viele Ressourcen. Eine Weile mag das funktionieren, nur sicher nicht auf Dauer.«

»Das ist der Kern der Sache: eine Möglichkeit zu finden, diese Problematik zu umgehen. Im Idealfall schaffen wir einen Öffnungsmechanismus, der es uns erlaubt, den Übergang vorübergehend zu schließen.«

Doc schüttelte den Kopf.

»Das halte ich für unmöglich. Es geht um einen Spalt. Einen Riss, der sich aufgrund der abfließenden Energie nicht wieder geschlossen hat. Eine Wunde im Weltengefüge, die zuwachsen wird, weil sonst das Gleichgewicht durcheinandergerät. Kein stabiles Portal. Irgendwann gleicht sich das Energieniveau beider Universen aus und dann schließt sich diese Öffnung von selbst. Wie wir sie bis dahin unter Verschluss halten wollen und in welchen Zustand das beide Seiten versetzt, ist ein anderes Thema. Ein paar Verdeckungen werden auf Dauer kaum ausreichen. Außerdem können wir nicht ausschließen, dass unsere Welt irreparablen Schaden nimmt, ehe wir eine Lösung für irgendwas entwickelt haben.«

»So weit waren wir vorhin schonmal«, setzte ich hinterher.

Unter nervenaufreibendem Kratzen schob Dalerean seinen Stuhl zurück, den Blick auf meine Hand mit dem Paktmal geheftet. »Du hast das schon erlebt.« Eine Feststellung, keine Frage. »Dass eine Welt auf diese Weise zugrunde geht.«

»Welten.« Es war nie nur eine. »Ihr denkt zu eingeschränkt.«

Angesichts der säuerlichen Miene des Graukopfs verkniff Jordi sich das Grinsen. ›Hilfst du ihnen?‹

›So weit ich es verantworten kann.‹

›Und das heißt, wir machen jetzt was?‹

›Wie wär’s mit dem Versuch eure Welt zu retten?‹

 

[Sonntagnachmittag, 20. April 2008, ehemalige Metrostation Croix-Rouge]

 

Den stillgelegten Eingang verdeckte ein Bodengitter. Umfunktioniert zum Lüftungsschacht, mit einem riesigen Ventilator, wo früher Stufen nach unten führten. Den einzigen Zugang bildete ein Wartungsgang auf der anderen Seite.

Die Schritte des Graukopfes hallten voraus. Ein panischer Herzschlag im Halbdunkel, gefolgt von Dalereans dürrer Gestalt - von der ich bei so manchem Schatten nicht zu sagen wusste, ob er noch als menschlich bezeichnet werden konnte. Doc mimte den passenden Geisterjäger: Bewaffnet mit einem futuristisch aussehenden Messgerät, das an eine Kombination aus Tablet, Spiegelreflexkamera, Diktiergerät und in die Jahre gekommene Funkstation erinnerte. Beständig blinkte es vor sich hin, als versuchte es, mit Jordis Taschenlampe um die Wette zu eifern.

Begleitet wurde diese seltsame Prozession vom Rauschen der Metro. Linie 10. Sie rauschte in regelmäßigen Abständen an graffitibesprühten Wänden und müllüberladenen Bahnsteigen vorbei. Absperrgitter trennten die Gleise vom Aufgang zur Zwischenebene der Station. Abenteuerlustige Streuner, die über die Schienen auf die Bahnsteige kletterten, kamen daher ausgesprochen selten dorthin, wo das Officium den Spalt beobachtete. Nicht die einzige Vorsichtsmaßnahme, doch die Zauber, die das Ding bislang vor den Blicken Unbefugter schützen sollten, hingen nur noch zerfetzt im Äther. Klägliche Reste weißer Magie, die unangenehm auf den Magen drückten.

Dalerean hielt gleichzeitig mit mir inne.

»Unschön.« Die Finger gespreizt streckte er den Arm nach vorne und packte ins Leere. Docs Apparatur kommentierte die Geste mit kränklich flackernden Anzeigen. Ein Bündel Magieströme leuchtete auf, die sich haltlos im scheinbaren Nichts verloren. Er zerrte sie beiseite, wie jemand, der im Regenwald Schlingpflanzen aus dem Weg riss. Der Impuls für eine Kettenreaktion. Über den Gang flirrten weitere Fäden, krümmten sich zusammen und zerfielen zu schimmernden Segmenten. Ein glühendes Gewirr inmitten grauen Nebels. Was es schließlich freigab, quittierte mein Hirn mit einer Mischung aus Schwindel und hysterischem Lachen, das körperlos aus den Wänden zu hallen schien.

»Eine Welt in tausend Scherben, schickst die Freunde ins Verderben. In morte veritas!«

Strauchelnd fasste ich nach dem Geländer und trat um ein Haar Jordi auf die Zehen, der mich am Arm packte und meine nähere Bekanntschaft mit Beton und Fliesen geistesgegenwärtig verhinderte. Das Lachen verebbte zu einem Wispern, mischte sich mit dem Rauschen der Metro und verstummte.

»Pass auf.« Er packte fester zu, als Admiral Graukopf weiter in Richtung des nächsten Treppenabsatzes stiefelte. Dorthin, wo Schwärze die spärliche Beleuchtung zerschnitt.

 

*

 

Hinter dem alten Mann betrat Luanna das Büro. Der Geruch nach kaltem Pfeifenrauch hing in der Luft und mischte sich mit dem Duft frisch aufgebrühten Kaffees.

»Mach es dir bequem.« Die Worte brummten so leise aus seinem Bart heraus, dass sie nicht sicher war, richtig gehört zu haben. »Möchtest du eine Tasse?«

Dankend nahm sie Platz. Hier drinnen ließ sie das Gefühl nicht los, durch die Zeit gefallen zu sein. Der ganze Raum wirkte wie ein Überbleibsel aus den Zwanzigern. Sogar das Kaffeeservice. Weißes Porzellan mit blauem Blütendekor. Eine dieser filigranen Tassen schob Henry ihr über Papiere und Ordner hinweg entgegen.

»Worüber machst du dir Gedanken?«

Sie schaute auf, geradewegs in sein forschend dreinblickendes Gesicht.

»Ob es richtig ist. Hier zu sein, meine ich.«

Er schüttelte den Kopf, während er sich selbst einen Kaffee eingoss. »Wir sind da unten beide keine Hilfe.«

»Das meine ich nicht.« Und das wusste er ganz genau. Sie wollte nicht dort sein. Nicht durch dunkle Gänge irren, wo die Wände sie erdrückten und sich die Erde meterhoch über ihrem Kopf auftürmte.

»Ach so.« Sonst sagte er nichts. Als wäre das alles vollkommen selbstverständlich.

»Ich weiß nicht, ob meine Entscheidung richtig ist.« Sie wich dem Blick der faltenumwobenen Augen aus, der so unnachgiebig an ihr haftete. »Ob es richtig ist, alles andere für ein Leben in dieser Gesellschaft aufzugeben.«

Seufzend stellte Henry die Tasse ab und öffnete die Holzkiste, in der er seine Rauchutensilien aufbewahrte. »Es hat lange gedauert, bis deine Zweifel kamen. Ich habe mich schon gefragt, wann es so weit ist. Warum jetzt?« Er kramte eine bauchige Pfeife hervor, die bereits befüllt war.

»Jordi hat heute Morgen etwas gesagt, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Außerdem weiß ich im Grunde nichts über euch.«

»Verstehe.« Die erste Rauchwolke bahnte sich ihren Weg Richtung Decke. »Ganz pragmatisch muss ich dir raten, in einer Sitzung mit Mathias Gadault darüber zu sprechen. Da mir bekannt ist, dass du ihn bereits konsultierst und er gerade sehr beschäftigt ist: Was möchtest du wissen?«

 

*

 

»Warte!«

Nein. Ganz bestimmt nicht.

»Ihr könnt da nicht einfach –!«

Reinrennen? »Hab’ ich nicht vor.«

Sie hielten mich nicht auf. Weder Mathias noch Jordi. Sogar Dalerean trat zur Seite. Der Schmetterlingssammlerblick spießte mich dennoch auf. Ich schaute nicht weg. Keine mentale Blockade, keine verborgenen Gedanken. Sollte er sehen, was ich sah:

Die Energie, die der Spalt aufsog, gleich einem ausgetrockneten Schwamm. In gierigen, pulsierenden Zügen. Ein Verdurstender, der nach Tagen in der Wüste rettendes Nass vorgesetzt bekam, bloß dass es kein Wasser war, das darin versickerte, sondern der Lebenssaft dieses Universums. Durch die Wunde des Weltengefüges rann er davon und hinterließ leere Flecken. Widerlich. Mit jedem Schritt, den ich näherkam, steigerte sich die Abneigung. Sie manifestierte sich als schlichter Gedanke, der sich nicht aus meinem Kopf verdrängen ließ: ›Weg hier!‹

Genau das, was ich nicht tun würde. Ebenso wenig wie Admiral Graukopf. Wie in Trance hielt er inne. Keinen Meter von der Öffnung entfernt. Dort, wo eine dicke Ascheschicht den Boden bedeckte.

»Finden wir heraus, was auf der anderen Seite ist.«

Die abgetretenen Sohlen meiner Schuhe hinterließen ungleiche Spuren auf dem grauen Pulverteppich. Ein Schritt, zwei … Es fiel mir viel zu leicht, über die Realität hinwegzusehen und mich auf die Wahrnehmungsverschiebung zu konzentrieren, die seit der Entlassung vom Officium nur darauf wartete, die Welt in Nebel zu hüllen. Nichts hatte sich seit dem Abend im Belladonna geändert. Gar nichts. Sobald die Zauber des O.I. mich nicht mehr abschotteten, kehrte alles zurück, inklusive wispernder, galliger Hirngespinste. Die Auswirkungen meines Dimensionsrisses. Ausgelöst durch den Versuch, mithilfe indizierter Magie meine Kollegen vor einer Gruppe Dämonen im Drogenrausch zu retten – was ich glorreich in den Sand gesetzt hatte. Das Ergebnis? Jener hässliche Energieschub, dank dem der Spalt vor uns expandierte. Vor vierunddreißig Tagen, knapp fünf Kilometer entfernt.

»In morte veritas.« Das Flüstern des Officium-Wächters ließ mich zusammenfahren.

›Was?‹

Die Antwort kam nicht von ihm. Stattdessen schälte sie sich kratzend aus einem Lautsprecher. Nicht Docs Messanzeigen. Der Apparat stand in sicherer Entfernung parat, um aufzuzeichnen. Was sich da unter Störfrequenzen bemerkbar machte, war Jordis Funkgerät: »In morte veritas.«

# viertes Kapitel

 

Noch während ich kehrtmachte, fiel das Gerät klappernd zu Boden.

»Beta-Two für Zeta-One, kommen!«

Jordi wich einen Schritt zurück. »Unmöglich.«

»Beta-Two für Zeta-One, kommen!«

»Leo ist tot.«

Das Gerät gab ein Knacken von sich, als ich es vom Boden klaubte. Ein Stück des Gehäuses war abgeplatzt, das Display an einer Ecke gesprungen.

»Beta-Two für Zeta-One?«

Zitternd drückten meine Finger den Sendeknopf. »Beta-One hört.«

Kurz blieb es still, dann rauschte es in der Leitung. »Habt ihr sie gerettet?«

Jordi starrte mich an, die Augen weit vor Fassungslosigkeit. Damit spiegelte seine Miene astrein meine Gemütslage wider.

»Habt ihr sie gerettet?«

»Haben wir.« Ich schluckte. »Leo, wo –?«

»Ihr müsst raus. Hélène hat das Buch. Ich musste es einfach holen, aber … Die Welt zerbrich-«

Mathias nahm mir den Apparat aus den Händen und schaltete ihn ab. »Eine Echo-Anomalie oder …«

»Beta-One für Zeta-One, kommen!«

Mir drehte sich der Magen auf links. Das kam nicht nur aus dem Lautsprecher. Der sonore Bass ertönte direkt hinter meinem Rücken.

»Wir müssen raus.«

 

*

 

Mireille hatte nicht vor zu warten, bis Dalerean nach Hause kam. Mit Sicherheit wusste sie nicht alles, doch was er erzählte, reichte, um sich Sorgen zu machen. So viele, dass sie jetzt tatsächlich in der Rue Pierre Semard stand. Vor Henry Weams Tür.

»Die Société in Kooperation mit Gris.« Zwei Mal drückte sie den verwitterten Knopf der Klingel. »Ich kann nicht fassen, dass er das geschafft hat.«

»Wundert es dich wirklich?«

Die Sohlen der Sneaker quietschten, als sie sich umdrehte.

»Jean!« Es gelang ihr nicht, die Überraschung mit einem Lächeln zu überspielen. Weniger, weil er sie aus dem Nichts heraus ansprach, als dank seiner Unruhe, die sich auf sie übertrug. Wie lange war es her, dass er sein Team verloren und Gris verlassen hatte? Fünf Jahre? Was war aus ihm geworden? Er schien erschöpft. Überreizt und alt. So erschreckend alt.

»Hallo Mireille.« Wie falsch es klang, wenn er sie mit vollem Namen ansprach. Früher hatte er das nie getan. »Was machst du hier?«

»Das könnte ich dich genauso fragen.« Immerhin gelang ihr das Lächeln nun leichter. Ob er es ihr immer noch glaubte? Oder es hinnahm, weil er es glauben wollte? »Du bist seit Jahren nicht mehr im Dienst.«

Schnaubend verschränkte er die Arme. Wie er es so oft tat, wenn er sich zurückzuhalten versuchte.

»Und du? Zurück in Paris?« Wie vorwurfsvoll er das formulierte. Sie konnte nicht anders, als die Hand nach ihm auszustrecken. Sachte berührten ihre Fingerspitzen seine Wange. Dort, wo sich die ersten weißen Stoppeln zeigten. Irgendwann nagte die Zeit auch an den Wölfen. Leider nicht genug, um ihn vergessen zu lassen. Statt wie früher die Augen zu schließen, wich er ihr aus. Enttäuscht ließ sie die Hand sinken. Als sie sich zuletzt gesehen hatten, war er nicht einmal Leiter eines Einsatzteams gewesen und dieses Haus noch der Privatsitz der Weams, in das man die ersten Büros auslagerte. Die halboffizielle Notlösung, ehe das Hauptquartier Anfang der Neunziger endgültig hier eingerichtet worden war. Seitdem hatte sich vieles verändert.

»Wie geht es dir?«

Er dachte nicht daran, zu antworten. Aber immerhin sperrte er die Tür auf. »Kommst du mit Voranmeldung?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Wollen wir doch mal sehen, wem Henry seine wertvolle Zeit zuerst opfert.«

 

*

 

Die Finger zu magischen Zeichen gekreuzt fuhr ich herum. Zeitgleich expandierten sämtliche Schutzkreise in einem Ausmaß, das meine Potenzialstufe bei weitem überschritt. Dalereans Werk, wie das Paktmal in meiner Hand juckend bewies. Der Bannkreis, den der Dämon aufflammen ließ, zeichnete seine Symbole in purpurnen Linien auf den Beton. Eine über sieben Ringe verschachtelte Defensive aus Zeichen, die mir nur vage bekannt vorkamen.

Keine Sekunde zu früh.

Grau und fahl wie der Pulverteppich vor uns stießen unzählige Hände aus dem Spalt heraus. Ein Meer gekrümmter Finger, geformt aus der Asche, die das Schwarz sonst von sich spuckte. Begleitet von unverständlichem Wispern quetschten sie sich durch die Öffnung, dehnten sie und langten nach allem, was sie zu fassen bekamen. Steine, Dreck und …

»Pass auf!«

Blauem Stoff. Dem Einzigen, der zu weit wegstand, um rechtzeitig in unsere Barriere zu gelangen. So nah am Spalt hielten seine Schutzzauber nicht stand. Knackend gaben sie die Energie frei, während die durcheinanderzischenden Stimmen zum Chor anschwollen, der immer wieder denselben Namen ausstieß.

»Julius!«

Scharf wie ein dahergeschleudertes Schimpfwort. Mit jedem Mal, das sie ihn wiederholten, trübten sich die Augen des Officium-Magiers ein Stück weiter.

»Julius! Julius!«

Der Schrei, der sich darüber seiner Kehle entrang, erstarb schnell. Staubige Finger pressten sich auf seine Lippen, schoben die Zähne auseinander und füllten seinen Mund mit Dreck, bis er keine Luft mehr bekam. Hustend streckte er die Arme aus. Der klägliche Versuch, dagegen anzukämpfen. Doch da war nichts, was ihm Halt bot. Sie zerrten ihn fort, schneller als es mir gelang, den Bannkreis zu überwinden und zuzugreifen. Dalereans Barriere wirkte nicht nur von außen. Deutlicher konnte er ›Du kannst nichts mehr ausrichten‹ kaum formulieren. Die Mienen meiner Kollegen standen dem in nichts nach.

Von wegen!

Fluchend trat ich einen Schritt zur Seite. Außer Reichweite von Jordi, dem im selben Moment aufging, worauf das hinauslief. Sein Protest verschwamm im Wechsel in die nächste Zwischendimension.

Das mit spanischen Verwünschungen gespickte Finale kam mir hingegen deutlich zu Ohren. Außerhalb des Bannkreises, viel zu dicht beim Spalt. Ohne jegliche Abgrenzung war der Energiesog beinahe physisch spürbar. Welchen Aufwand hatte das Officium betrieben, um das zu isolieren? Abseits von Dalereans Verstärkung zerfielen meine Schutzkreise gleich sprödem Papier. Jeder Zauber fütterte den Spalt mit dem, was er zum Wachsen brauchte. Aber Magie war hier ohnehin das Letzte, was funktionierte.

Ehe die grauen Finger sich an mich klammerten, packte ich den Wächter am Ärmel. Wir mussten hier raus. Weg von der Schwärze, in die er so oft gestarrt hatte.

 

*

 

Die Nachmittagssonne tauchte den Innenhof in karamellfarbenes Licht. Es ließ diesen seltsamen Ort auf gewisse Weise friedlich wirken. Eingepfercht zwischen den Gebäuden, die Gris als Hauptquartier betitelte. Inmitten frisch bepflanzter Beete und grünenden Sträuchern suchte Luanna sich eine Bank im Hof und zündete eine Zigarette an. Sie brauchte eine Pause. Nach der Unterhaltung mit Henry schwirrte ihr noch immer der Kopf. Zwar hatte er einige ihrer Wissenslücken gefüllt, dem ohnehin schon düsteren Bild jedoch einen noch hässlicheren Anstrich verpasst.

»Bekomme ich auch eine?«

Irritiert schaute sie auf, in das hübsche Gesicht einer jungen Frau mit dunklen Augen und rotgefärbten Haaren. Sie deutete auf die Zigarette. »Ich werde auf meine Audienz beim grauen Meister wohl noch ein Weilchen warten müssen.«

»Ähm, ja, sicher.« Luanna hielt ihr das Päckchen entgegen.

Als wählte sie Pralinen aus einer Bonbonniere, zog sie mit spitzen Fingern einen der Glimmstängel heraus.

»Danke.« Das Feuerzeug ließ sie stecken. Die Kippe fand auch nicht direkt den Weg zwischen ihre Lippen. Stattdessen machte sie es sich ebenfalls auf der Bank bequem. In so vereinnahmender Pose wie ihre ganze Art nach Aufmerksamkeit gierte.

»Faszinierend, dass sich hier kaum etwas verändert hat.«

Luanna runzelte die Stirn. »Entschuldige, aber kennen wir uns?«

Gespielt überrascht lachte ihre neue Gesellschaft auf. »Ach, nein. Also, zumindest du mich nicht.« Jetzt hob sie die Zigarette doch an den Mund. Der Tabak entzündete sich mit einem schlichten Fingerschnipsen. Die andere Hand hielt sie ihr zur Begrüßung hin. »Mireille. Mireille Erenalda.«

»Ah.« Das erklärte einiges. »Dann ist es wohl nicht nötig, dass ich mich vorstelle.«

Die Geste erwiderte sie dennoch. Die Finger der Nagi waren angenehm warm. Im Gegensatz zum Rest. Der war eher kühl und aalglatt.

»Keine Angst, ich lese keine Gedanken. Ich weiß auch so, wer du bist, Beta-Three.«

Es war das erste Mal, dass sie jemand so ansprach.

»Das ist noch nicht offiziell«, nuschelte Luna. Hoffentlich wurde sie nicht rot. Die Blöße wollte sie sich ausgerechnet vor Dalereans Verwandtschaft nicht geben.

Mireille inhalierte genüsslich den Nikotinqualm. »Nicht so schüchtern. Du gehörst jetzt dazu.« Aus ihrem Mund klang das wie etwas, worauf sie stolz sein sollte. »Ich muss zugeben, ich war gespannt darauf, die Frau kennenzulernen, für die Vanjar Belaquar bereit ist, einen dunklen Pakt zu brechen.«

Allein dieser Satz schürte erfolgreich das unangenehme Gefühl, dass diese Person den Wanderer um einiges besser kannte, als Luanna es von sich selbst behaupten konnte. Eine Tatsache, die ihr mehr zusetzte, als sie sich eingestehen wollte.

»Schau mich nicht so an. Du gehörst eindeutig zu dem erlauchten Kreis von Personen, die es sich leisten können, ihm blind zu vertrauen. Ich meine, dass er beim Versuch meinen Bruder zu befreien Caroles Tod riskiert hat, um Jordi den Hals zu retten war hässlich, aber gegen die Tenebra zu verstoßen …«

Ohne die Armlehne aus verschnörkeltem Gusseisen wäre sie wohl von der Bank gekippt. »Carole?«, brachte sie gerade so hervor.

Mireille neigte den Kopf zur Seite und bedachte sie mit einem mitleidig-traurigen Blick. »Hoppla, habe ich etwa ein paar Details ausgeplaudert, die du noch nicht kanntest?«

Freute sie das, ja? »Du darfst sie mir gerne erzählen.«

 

*

 

Eine Weile war nur das Murmeln angespannter Stimmen zu hören. Jemand zog den rauen Mantelstoff unter meinen Fingern weg. Es roch nach Fäulnis und irgendetwas Verbranntem. Tod und Asche.

Ich setzte mich auf, ehe die Kälte des Bodens mir in die Glieder kroch, wagte jedoch nicht, die Augen zu öffnen. »Wie lange?«

Der Wechsel hatte mehr als Kraft und Orientierung gekostet. Ich wusste es, ohne das Ausmaß eingrenzen zu können. Weil es nicht nur um eine Welt ging. Dafür war Julius zu nah an der anderen Seite gewesen.

»Drei Stunden, siebzehn Minuten.«

Jordis Antwort versetzte mir einen Stich. Einerseits aufgrund der Information, andererseits wegen des nüchternen, müden Tonfalls.

»Scheiße.«

»Ziemlich große, ja.«

Jetzt blinzelte ich doch. Mathias und Dalerean beugten sich über den reglosen Körper des Graukopfs. Die Lippen des Dämonenfürsten formten tonlos die Worte eines Zaubers, während der Arzt eine Spritze aufzog. Sani-Ausrüstung und Messgeräte verteilten sich um sie herum. Ein seltsamer Kontrast zu den staubigen Handabdrücken, die Julius von Kopf bis Fuß bedeckten. Wenn etwas von den klammernden Händen mit in die Transferierung geraten sein sollte, waren sie hoffentlich längst zu Ascheregen zerbröselt.

Nach einer Weile richtete Doc sich seufzend auf. »Er ist stabil, aber nicht bei Bewusstsein. Physisch dürfte es ihm in ein paar Stunden besser gehen, alles andere sehen wir erst, wenn er zu sich kommt.«

Auffordernd streckte er mir die Hand entgegen. Ich ließ mich hochziehen. Es gelang mir weder, die Übelkeit zu verdrängen, noch das schwarze Zeug herunterzuschlucken, das meinen Mund füllte.

Vornübergebeugt atmete ich durch und versuchte nicht auf Jordis sorgenvolle Miene zu achten. Mathias reichte mir eine Wasserflasche.

»Was sagen deine Daten?«, fragte ich nach den ersten Schlucken. Vermutlich hatte er mich längst überprüft. Mir blieb nur zu hoffen, dass meine Transferierung nicht der Auslöser für Julius Zustand war.

Der Arzt hob die Brauen. »Nichts, was du nicht selbst weißt, denke ich.«

 

**

 

Sie wäre nie so weit gekommen, wenn er es nicht zugelassen hätte. Im ersten Moment erschrak er tatsächlich. Eine leere Liege. Dabei sollte sie gar nicht wach sein. Erst recht nicht, ohne dass er es mitbekam. Aus irgendeinem Grund setzte sich ihr Organismus über die magische Betäubung hinweg - und allein das faszinierte ihn.

In den vergangenen Wochen hatte er einige hilfsbereite magiekundige Seelen hier heruntergeholt. Keiner von ihnen war es gelungen, sich seinen Zaubern zu widersetzen. Das Furora stärkte ihn. Erhob seine Kraft über sein Potenzial hinaus. Magiebegabten, die auf normalem Weg zum Vampir gewandelt wurden, blieb von ihrer Kraft normalerweise nicht viel übrig. Der Preis der Natur für ein langes Leben. Aber bei ihm war es anders.

---ENDE DER LESEPROBE---