Sammelsurium der Zeit - Carolin Summer - E-Book

Sammelsurium der Zeit E-Book

Carolin Summer

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Beschreibung

»Zeit ist relativ.« Zwischen Jahren und Jahrzehnten Jedes Mal, wenn ich das Krächzen einer Krähe höre, halte ich Ausschau. Lausche auf diesen gewissen Unterton, auf Worte, die sich einfach zwischen meine Gedanken pflanzen. Die Hoffnung auf einen Geist. Unmöglich. Aber ich habe genug Dinge gesehen, die mich an Monster und Gespenster glauben lassen. Vielleicht erzähle ich deshalb ihre Geschichten. Es gibt so viele, die noch übrig sind. Vergangenheiten, über die gelogen oder nie ein Wort verloren wurde. Jahrzehnte voller geretteter Leben und verblasster Freundschaften. So etwas wie eine Familie. Also stöbere ich entlang der Lebensfäden, die das Chaos bedingen, in dem Vanjar und ich gelandet sind. Weil das alles viel zu wichtig ist, um in Vergessenheit zu geraten. Jordi del Ferana

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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IMPRESSUM
# 2008
# Sorgenworte
# 1969
# Goldfresser
# 1987
# Campari Sour
# 1988
# Grau
# 1992
# Nebelkrähe
# 1994
# Monster
# 1995
# Lilienblau
# 1996
# Nachtschwärmer
# 2007
# Wolf im Schafspelz
# Zwischen den Zeilen
# Die unmögliche Bibliothek
# Danke
# Wer schreibt hier eigentlich?
Die Weltenwechsler Akten Tetralogie

DIE WELTENWECHSLER AKTEN

SAMMELSURIUM DER ZEIT

Carolin Summer

 

Geschichtenband zur

Urban-Fantasy-Krimi-Tetralogie

Content Notes: Tod/Mord, psychische Gewalt, körperliche Gewalt, explizit: Überfall auf Familie, Sexismus, Bodyhorror, Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Alkoholkrankheit, Rassismus Das Figurenglossar befindet sich am Ende des Buches.

IMPRESSUM

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und jegliche Verwertung ohne Zustimmung der Autorin daher unzulässig. Insbesondere gilt dies für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Dazu zählt ebenfalls die Erstellung von RPG-Foren, Fan-Fictions etc. Die in der Geschichte enthaltenen, fiktiv-physikalischen Erläuterungen erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und sollten mit einem nachsichtigen Augenzwinkern betrachtet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. INSPIRATION UND OVATION [QUELLENANGABE]: Im »Sammelsurium der Zeit« wird ein Auszug aus Johann Wolfgang Goethes ›Faust I‹ zitiert. Quellen: Johann Wolfgang Goethe: Faust I, Reclam Universal-Bibliothek 2000, S. 19 Zweite Auflage: 2023 Erste Auflage 2022 Copyright 2022 Selina Carolin Summer c/o Fam. Töpler, Mozartstr. 8, 66399 Mandelbachtal Lektorat: Nina Hasse | texteule-lektorat.com Korrektorat: Maria Nitzl | mn-lektorat.de Cover und Satz: Selina Carolin Summer Bildmaterial: Selina Carolin Summer Textur: Sascha Duensing ISBN Taschenbuch: 978-3-347-65677-2 ISBN Hardcover: 978-3-347-65678-9 Erschienen bei Tredition

Für alle, die zwischen den Zeilen wandeln

Auf eure Geschichten.

Der Tragödie erster Teil

 

»Die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.«

 

Johann Wolfgang Goethe – Faust

# 2008

[ZWISCHEN FREUNDEN]

# Sorgenworte

[Freitag, 27. Juni, Paris, Rue Pierre Semard]

 

»Bleibst du?«

Wie viel Unsicherheit passte eigentlich zwischen zwei Worte? Jordi blickte vom Skizzenbuch auf, ohne den Bleistift beiseitezulegen. Fragend sah Luanna ihn an, die gleiche Müdigkeit ins Gesicht geschrieben, die ihm selbst in den Knochen steckte.

Im Moment brachte er es nicht fertig, zu antworten. Weil das, was sie hören wollte, auf eine Lüge hinauslief. Weil alles, was er sagen konnte, zu sehr nach demjenigen klang, der eigentlich an diesem Schreibtisch sitzen sollte. Aber Vanjar war nicht hier, nicht mehr. Auch wenn die Unterlagenstapel unter dem Zeichenkram wirkten, als ob der Weltenwechsler jeden Augenblick neben ihnen auftauchen müsste. Fallakten, Einsatzberichte, Dienstpläne. Dazwischen eine Dose kandierter Ingwer und eine halbleere Teetasse. Niemand hatte aufgeräumt. Abgesehen von Jordi wagte nicht einmal wer, den Tisch überhaupt anzurühren. Die Illusion einer Normalität, die bis vor einigen Tagen geherrscht hatte und von der jetzt kaum mehr übrig war als Spiegelungen in den Splittern eines Scherbenhaufens.

Er klemmte den Bleistift unter die Seiten und zog eine der Schreibtischschubladen auf. Kein Schließzauber hinderte ihn diesmal daran. Zum Vorschein kamen vier unbeschriftete Akten. Alte Pappordner, gefüllt mit losen Blättern. Manche geknickt, andere von Klammern zusammengehalten. Einige mit Daten, Orten oder Uhrzeiten versehen. Zum Teil von Hand geschrieben, auf unterschiedliches Papier.

Eine davon drückte er Luanna in die Finger. Zögerlich fing sie an zu blättern. »Was ist das?«

»Die Wahrheit.«

Sie starrte die Seiten an. Die gleiche Handschrift, mit der ein gewisser Dokumentationszauber ihr Notizbuch gefüllt hatte.

Unsere Geschichte wäre wohl die bessere Antwort gewesen. All das, was geschehen war, aber nie den Weg in offizielle Berichte gefunden hatte. Nicht dieser Haufen umgangener Regeln und dreckiger Lügen, mit denen Vanjar alles geradegebogen und schöngeredet hatte.

»Da stehen Dinge drin, die ich besser nicht wissen sollte, oder?«, fragte sie.

Jordi legte die Zeichensachen weg und stand auf. Mit den übrigen Ordnern im Schlepptau deutete er zu den Sofas. »Vermutlich. Auf jeden Fall eine Menge Dreck, den er dir besser gesagt hätte. Kategorie ›Schweigen ist loyaler als Lügen‹, Marke ›Die Beichte darfst du selbst ausbaden‹, allerunterste Schublade.«

Noch eine Nuance blasser, als sie ohnehin schon war, presste sie die Mappe an sich. »Du machst mir Angst.«

»Sorry.«

Die Entschuldigung klang schal. Träge ließ er sich in die lindgrünen Polster fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie sollte die Wahrheit nicht aus dem Durcheinander da fischen müssen. Dieser Mischung aus Berichten und Tagebüchern voller von der Seele geschriebener Sorgen und Geheimnisse, die Vanjar hiergelassen hatte. Doch ebenso wenig wollte er ihr den Horror persönlich auftischen, der zwischen den Zeilen lauerte. Scheiße, das war genau die Situation, in die er selbst vor Wochen geraten war - nur dass er dabei an Luannas und Van an seiner Stelle gestanden hatte.

Zwischen den Fingern hindurch linste er zu ihr hinüber. Aufeinandergepresste Lippen und dunkle Augen, die ihn unverwandt ansahen.

»Erzähl«, verlangte sie.

Müde ließ er die Hände sinken, nur um den entsprechenden Ordner aufzuschlagen. Einer der Einträge, die er als Erstes nachgeschlagen hatte.

»Dämmerung in den Banlieues, Saint Denis. Salomontitelte das Klingelschild.«

Vorzulesen fühlte sich mies an. Aber sie länger im Ungewissen zu lassen, kam nicht infrage, also fuhr er fort. Zeile für Zeile über die Sache mit ihrem Vater und den Fluch, der ihr Leben endgültig auf den Kopf gestellt hatte, nachdem sie im Belladonna ins Chaos geschlittert war.

Luanna lauschte, saugte die Sätze förmlich auf, während Tränen über ihr Gesicht liefen. Fahrig blätterte sie durch die Seiten, die er ausließ, bis er es nicht länger schaffte zu reden. Übrig blieb erdrückendes, nervenzermürbendes Schweigen. Eine Kaskade aus Wut und Hass wäre akzeptabel gewesen. Mit Streit, Lärm und Vorwürfen hatte er sogar gerechnet, aber nicht mit dieser beängstigenden Stille.

»Was denkst du?« Seine Frage war kaum mehr als ein Flüstern.

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Schob die Seiten zu einem Stapel zusammen, als ließen sich so auch die Gedanken in ihrem Kopf ordnen.

»Ich frage mich ständig, was ohne meine Begegnung mit der paranormalen Gesellschaft passiert wäre. Und weißt du was? Die Antwort tut genauso weh, wie zu wissen, dass Vanjar sich mit mehr Leuten als dem Junkie in Pigalle angelegt hat, um mir aus dem Dreck zu helfen.« Sie schluckte, strich sich die Locken aus dem Gesicht und atmete durch. »Früher oder später wäre Mama zurückgekommen und Maxi beim Versuch, sie zu unterstützen, genauso in die Scheiße geraten wie jetzt. Er ist nicht wie ich. Er kann unseren Eltern nicht einfach den Rücken kehren und sie ihrem Schicksal überlassen. Keine Ahnung, wie das mit der Vormundschaft dann ausgegangen wäre. Wahrscheinlich hätte er sich zu sehr von mir im Stich gelassen gefühlt, um sich von einem Ausstieg aus der Gang überzeugen zu lassen. Und Pa würde ihn immer noch tyrannisieren. Nichts davon wäre besser als die Situation jetzt.«

»Trotzdem war es falsch.«

»Ja. Wie alles. Das Belladonna, die Akte über deinen Dad, die Sache mit Jean … Die Liste ist endlos. Ich hasse die paranormale Gesellschaft für ihre verqueren Prinzipien. Es gibt hier kein Gut oder Schlecht, weil sogar die Guten die gleichen Saiten aufziehen müssen wie die Bösen, um überhaupt etwas zu bewirken. Und für euch ist das völlig normal. Van hat viel Scheiße gebaut, aber das ändert nichts daran, dass er uns genau damit geholfen hat. Mir, meinem Bruder und vielleicht sogar meiner Mutter. Und dir ebenfalls. Ich wäre gerne einfach nur stinkwütend, aber nicht mal das bekomme ich hin.«

Zwischen Tränen hervorsprudelnde Ehrlichkeit. Statt etwas zu erwidern, nahm Jordi sie in den Arm.

Nach einer geraumen Weile legte Luanna die Mappe auf den Tisch und kramte ihre Zigaretten aus der Cardigan-Tasche. Mit einer davon zwischen den Fingern deutete sie auf die Papiere. »Was hast du damit vor?«

Das einzig Richtige. »Sie zu Ende erzählen.«

Den Kopf noch immer an seine Schulter gelehnt, zog sie die Beine an und ein Sofakissen heran, um es sich bequemer zu machen. »Wieso?«

Das leise Knistern der aufglimmenden Kippe füllte die nachdenkliche Pause.

»Weil ich nicht einfach bei Null anfangen kann. Und weil es sich falsch anfühlt, sie so zu lassen.«

»Genauso falsch, wie zu bleiben?«

Damit waren sie wieder am Anfang dieses Gesprächs angelangt – was die Frage kein bisschen angenehmer machte. Dabei stand die Antwort längst fest. Eine Silbe, zwei Buchstaben. Ja. Dass er sie nicht aussprach, machte es nicht weniger schmerzhaft.

»Aber - wo willst du denn hin?«

Wegvon Gris.Raus aus Paris. »Dorthin, wo ich noch nicht gewesen bin. Immerhin steht ein Teil meiner Weltreise noch aus. Nach New York vielleicht. Keeden Clark wartet ziemlich weit oben auf meiner Rechercheliste.«

Luanna setzte sich auf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Paranormalitätsforschung? Ist das dein Ernst?«

»Nennen wir es ›Dimensionalwissenschaft‹. Ich bin in den vergangenen Monaten in Zwischendimensionen und anderen Universen gelandet. Wir haben gesehen, was passiert, wenn die falschen Leute mit multidimensionalen Phänomenen zu tun bekommen, und welchen Schaden Risse und Spalten im Weltengefüge hervorrufen können. Ich habe genug von dem Mist durchgestanden, um zu wissen, dass es nie wieder so weit kommen darf.«

Halb fassungslos, halb besorgt schüttelte Luanna den Kopf. »Wie kann ich dir das ausreden?«

Der Frage folgte eine Nikotinwolke. Dicke Luft, im doppelten Sinne.

»Gar nicht.« Der Entschluss hatte sich seit Tagen in seinem Kopf festgefressen. »Gris kann mich mal kreuzweise. Team Beta gibt es nicht mehr. Aber der Kampf für die Sicherheit der paranormalen Gesellschaft und den Frieden mit der unwissenden Bevölkerung ist verdammt real.«

Im Dienste der Gerechtigkeit, um die Geheimnisse zu wahren und jedes Leben zu schützen. Der Diensteid, der noch immer Teil seines Credos war, egal, was er inzwischen von der Organisation hielt.

Vorwurfsvoll verzog Luanna das Gesicht. »Du bist keinen Deut besser als Vanjar. Ein Geheimniskrämer, der nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was er tatsächlich weiß, und eigenbrötlerisch seiner Wege zieht, um einem unerreichbaren Ziel nachzujagen.«

»Ja.« Er hatte gelernt, sich nicht auf eine Seite zu stellen.

Luanna erhob sich und drückte die halb gerauchte Zigarette aus. Protest, Zweifel und eine Menge Fragen standen ihr ins Gesicht geschrieben, doch nur eine davon fand den Weg nach draußen. »Wieso?«

»Weil aufgeben nicht infrage kommt. Ich werde weitermachen. Ich habe versprochen, dass ich weitermache. Gegen das Chaos und die Kompromittierung dieser Welt kämpfe. Damit das alles«, er deutete auf den Aktenstapel, »nicht umsonst war.«

 

*

 

Jedes Mal, wenn ich das Krächzen einer Krähe höre, halte ich Ausschau. Lausche auf diesen gewissen Unterton, auf Worte, die sich einfach zwischen meine Gedanken pflanzen. Die Hoffnung auf einen Geist.

Unmöglich.

Aber ich habe genug Dinge gesehen, die mich an Monster und Gespenster glauben lassen. Vielleicht erzähle ich deshalb ihre Geschichten. Es gibt so viele, die noch übrig sind. Vergangenheiten, über die gelogen oder nie ein Wort verloren wurde. Jahrzehnte voller geretteter Leben und verblasster Freundschaften. So etwas wie eine Familie.

Also stöbere ich entlang der Lebensfäden, die das Chaos bedingen, in dem Vanjar und ich gelandet sind. Wenn ich unsere Geschichte schon zu Ende erzähle, warum dann nicht auch all die anderen?

 

Jordi del Ferana

# 1969

[EINANDER FREMD]

# Goldfresser

[Montag, 21. April, Paris, Montmartre]

 

Dalerean rannte durch die Gassen. Stufen hinauf, immer wieder um neue Ecken. Dem unnatürlichen Rauschen hinterher, das sich durch das Morgengrauen entfernte. Vorbei an verhangenen Scheiben und schäbigen Fensterläden, die den Frühnebel genauso aus den Häusern auszusperren versuchten wie die aufziehende Dämmerung.

Das Wesen, das er verfolgte, hielt inne. Ein Schwarm aus unzähligen Steinchen, der, immer wieder die Form wandelnd, in der Luft schwebte. Zitternd, als ob es nicht sicher war, wohin es sich wenden sollte.

Drei, vier Sekunden. Die Chance aufzuholen. Nah genug, um die magischen Kreise endlich auszuhebeln. Bisher war ›das Fremde‹ immer einen Schritt voraus. Niemand kam in Reichweite, um etwas gegen diese seltsame Art Defensivzauber auszurichten. Neutrale Blockaden. Keine Formeln, die Dalerean oder sonst wer bei der Société Démoniaque kannte – und genau das machte der Gemeinschaft Sorgen. Viele von ihnen lebten zu lange, um irgendeiner Form von Magie nicht begegnet zu sein. Futter für einen heiklen Verdacht, den Dalerean noch immer nicht auszusprechen wagte. Dabei konnte er an einer Hand abzählen, wie oft ihm derartige Wesen in den Jahrhunderten seines Lebens untergekommen waren. Das da war kein Dämon. Er erkannte seinesgleichen. Auf den ersten Blick mochte es so wirken, aber die Details sprachen dagegen. Von der Art, magische Fähigkeiten einzusetzen, über das artenuntypische Verhalten bis hin zu unerklärlichem Verschwinden.

Seit Wochen jagte die Hälfte der paranormalen Ermittlungseinheiten von Paris diesem Wesen hinterher, ohne zu ahnen, wen oder was sie überhaupt suchten. Sie folgten den Spuren entleerter Tresore, ausgeräumter Juweliergeschäfte und bestohlener Museen. Auf der Suche nach dem Gold, das in der ganzen Stadt verschwand. Dank des Magieaufkommens war schnell klar gewesen, dass die Diebstähle einen übernatürlichen Ursprung hatten. Bei der Société wurde die Angelegenheit eine geraume Weile nur als beobachtenswert eingestuft. Bis ihre eigenen Schließfächer und Vorräte geplündert wurden.

Das Vermögen der Gemeinschaft bestand zu einem Großteil nicht aus Papieren und Banknoten. Der eigentliche, über Generationen zusammengetragene Grundstock lagerte in Form von Barren und Münzen in den unterirdischen Stockwerken des Hauptsitzes der Dämonengesellschaft, besser bewacht als die Nationalbank – zumindest bis vor zwölf Tagen. Kein Alarm hatte angeschlagen, kein Schutzkreis war angekratzt worden. Es sah aus, als ob niemand das Gelände unbefugt betreten hätte. Abgesehen von einer Kleinigkeit. Eine Kamera, die im Herzen des Gebäudes alles mitschnitt, was dort vor sich ging. Modernste Technik der unwissenden Bevölkerung; mit dem feinen Unterschied, dass dieses Exemplar dank diversen Defensivzaubern vor magischen Zugriffen geschützt blieb.

Die Aufnahme war dennoch schwer in Mitleidenschaft gezogen: die Tonspur unverwertbar, das Bild voller Streifen und Griesel. Ohne den zusätzlichen Schutz wäre gar nichts davon übrig geblieben. Was sie zu sehen bekamen, ließ sich in einem Wort mit ›unerwartet‹ beschreiben. Ein Strudel aus Steinchen, der aus dem Nichts an Masse gewann und eine halbwegs menschliche Silhouette formte, die durchaus an die Variation der tatsächlichen Gestalt eines Erddämons erinnerte. Mehr Sandgeist als Golem. Einen Augenblick verharrte das Wesen mitten im Raum, dann fegte es über das Lager hinweg. Sämtliches erreichbares Gold verflüssigt und zu einem dicken Strom gebündelt, der mitten in die wabernde Erscheinung floss, die sich das Edelmetall wie Nahrung einverleibte.

Goldfresser.

Der Name stammte aus den Zeitungen der Unwissenden, die seit Wochen die kuriosesten Schlagzeilen titelten, ohne zu wissen, wie nahe sie der Wahrheit damit kamen. Gefälschte Bekennerschreiben, spätestens jeden dritten Tag ein weiterer Diebstahl, angebliche Phantombilder. Dabei hatte bisher niemand den Dieb zu Gesicht bekommen. Er verschwand ungesehen im Nichts.

Die Frage war bloß, warum das Wesen ausgerechnet jetzt nicht auf diese Weise floh.

»Stehenbleiben!«

Der Ruf hallte aus der entgegengesetzten Richtung zwischen den heruntergekommenen Fassaden über das Kopfsteinpflaster.

Dalerean ging in einem Hauseingang in Deckung, drückte sich gegen den vernagelten Ladeneingang und wirkte einen Verdeckungszauber. Magie, die ihn mit den verblassten Plakaten im Hintergrund verschmelzen ließ, trotz Invernessmantel und Trilby. Ein Sherlock-Holmes-Verschnitt mit dem Klischeehut des englischen Landadels inmitten stilisierter Cabaret-Damen, über den sich niemand, der in diesem Moment den Hauseingang passierte, wundern würde.

»Keinen Schritt weiter!«, kommandierte die Stimme, deren Besitzer er noch immer nicht auszumachen vermochte. Begleitet von den Magiewellen eines Amuletts. Knapp zehn Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite. Dort, wo eine der zahlreichen Gassen wieder auf eine Reihe Stufen zuführte. Im Grunde bewirkte die im Amulett gespeicherte Magie das gleiche wie seine Zauber: Ihr Träger wurde praktisch unsichtbar.

Die Augen zusammengekniffen konzentrierte Dalerean sich darauf, die magische Verdeckung zu durchdringen. Das erste, was er entdeckte, war die graue Uniform der l’organisation Gris. In ihr steckte ein junger Kerl mit blonden Haaren, die ihm in voluminösen Locken vom Kopf abstanden und sich ebenso wirr als löchriger Vollbart um das Kinn verteilten. Grimmig streckte er dem Wesen seine Waffe entgegen und wirkte dabei eher wie ein halbwüchsiger Löwe als ein ernstzunehmender Ermittler.

Das Wesen sackte ein Stück in sich zusammen. Das Geräusch, das es dabei von sich gab, bestand aus einer Mischung von Knistern und schrägem Pfeifen. Gleichzeitig wandelten sich seine Defensivzauber in eine geballte Portion Angriffsmagie.

Unschön.

Die Zähne zusammengebissen, rang Dalerean mit sich selbst darum, abzuwarten oder doch einzugreifen. Wo war der Rest des Gris-Teams? Und wieso zur Hölle legte sich ein magieunbegabter Grünschnabel ganz allein mit einem Wesen an, bei dem nicht klar war, worum es sich handelte? Lediglich ausgestattet mit durchschnittlichen Amuletten und einer Bleispritze? Leichtsinniger –

Ohne Vorwarnung brach sämtliche magische Energie zusammen und flammte wieder auf, als ob für einen Sekundenbruchteil der Pause-Knopf gedrückt wurde.

»Herkommen!« An Selbstsicherheit fehlte es dem Kerl zumindest nicht.

Wieder sackte die Magie ab. Dieses Mal flackerte das Wesen. Wie ein Fernsehgerät, das nach Empfang suchte und zwischendurch das Bild verlor. Versuchte es, zu verschwinden? Wenn ja, war vielleicht genau das die Chance, endlich etwas auszurichten.

»Herkommen, habe ich gesagt!«

Weiter kam Monsieur Junior-Ermittler nicht. Die erste Welle von Zaubern donnerte ihm entgegen und entlud auf einen Schlag sämtliche Amulette. Von einer unsichtbaren Kraft zurückgeschleudert, krachte er gegen die nächste Hauswand, an der er stöhnend auf den Hosenboden sank. Mehr im Reflex als ordentlich gezielt, betätigte er den Abzug. Der Treffer war reine Glückssache. Weil sie einander nahe genug standen oder die Kugel womöglich magisch besprochen war. Jedenfalls riss sie ein Loch in die auseinanderbröckelnde Silhouette, begleitet vom nächsten Energieeinbruch und einem Schrei, der das Blut in den Adern stocken ließ.

Mit der folgenden Verzerrung der Erscheinung weitete Dalerean seine eigenen Zauber aus. Einerseits, um den Menschen zu schützen, andererseits, um das Steinwesen daran zu hindern, den nächsten Angriff zu starten.

Unter Flirren und Knistern krümmte es sich zusammen, schrumpfte und wand sich, bis mehrere glänzende Klumpen aus seiner Mitte heraus zu Boden polterten.

Mit langen Schritten trat Dalerean aus dem Hauseingang auf die Straße. Gleichzeitig wob er seine Zauber enger um die Kreatur. Magische Fesseln für etwas, das sich nicht wirklich halten ließ.

Die Miene des Kerls in Grau verfinsterte sich. Noch immer die Waffe in der Hand rappelte er sich auf und trat gleichfalls näher. »Ist das dein Schoßhund?«

Dalerean schüttelte den Kopf. »Wenn ja, würde ich ihn sicher nicht auf offener Straße herumrennen lassen. Oder mein Erbe an ihn verfüttern.«

Zwischen ihnen wand sich die Steingestalt bröckelnd und knisternd auf der Stelle. Sie kämpfte gegen die Blockaden an und obwohl sich keine klaren Gedanken aus dem mentalen Äther fischen ließen, spürte Dalerean die Wut. Ewig konnte er das Wesen so nicht in Schach halten.

»Dein Erbe?«, wiederholte der Ermittler. »Société also?«

»Korrekt.«

Selbstverständlich war die graue Gemeinschaft informiert. Das wissende Nicken kam Dalerean sogar vage bekannt vor. Gemächlich steckte der andere die Waffe weg und zog ein Taschentuch aus der Jacke. Damit hob er den größten der drei ausgespuckten Klumpen auf. Über den Rand seiner Brille hinweg betrachtete er das rötlich glänzende Stück. »Meine Erbstücke sind dir nicht so gut bekommen, wie es aussieht.«

Fauchend bäumte sich der Goldfresser auf, so heftig, dass Dalerean beinahe die Kontrolle verlor.

»Hast du es etwa geködert?«, fragte er überrascht.

Der Mensch grinste. »In der Tat.«

Respekt. Damit war ihm gelungen, woran seit Wochen eine Menge Leute scheiterten.

»Wie? Und wo ist eigentlich der Rest von euch? Ein wenig Unterstützung wäre nicht zu verachten.«

Ablehnend verschränkte sein Gegenüber die Arme. »Es gibt keinen Rest.«

Bitte? Gris gesamte Einsatzstrategie basierte auf Teamwork. Ihr großer Vorteil war die Zusammenarbeit aller möglichen Spezies. Das hier passte so gar nicht zu Richard Weams Prinzipien. Er schickte seine Leute nicht auf Alleingänge. Schon gar nicht die, die selbst keinerlei magische Fähigkeiten besaßen.

Für einen Augenblick verlagerte Dalerean den Fokus weg von der Wut des Steinwesens hin zu den Gedanken des Menschen – und rannte gegen eine mentale Mauer. Irgendetwas … Holunderholz? Garantiert trug er irgendwo ein Stück bei sich. Simpel, zwischen dem Durcheinander an heraufbeschworenen Defensiven, Offensiven und Amuletten kaum auszumachen und so effektiv wie nervig. Weil es unnötig Konzentration kostete, es zu umgehen, und er die gerade beim besten Willen nicht aufbrachte.

»Wunderbar. Irgendeinen Plan wie wir das Ding von der Straße holen?«

Der bitteren Grimasse des anderen nach zu urteilen zumindest keine, die ihm gefallen würde.

»Mit einem Bann?«

Ja, klar. »Dir ist bewusst, dass du hier bloß einem Dämon gegenüberstehst, ja?« Mit dem Daumen deutete erst er auf sich selbst, dann auf das immer noch tobende Wesen. »Das da ist keiner von uns.«

»Aha.« Nachdenklich rieb der Mensch sich die Nasenwurzel und schob seine Brille zurecht. »Hast du eine bessere Idee?«

»Vielleicht.«

Hauptsache weg von der Straße. Raus aus der Öffentlichkeit. Die Masse an Verdeckungen und Schutzzaubern rochen Magiebegabte im Umkreis von zwei Kilometern gegen den Wind, und wenn sie eins nicht gebrauchen konnten, dann Aufmerksamkeit innerhalb der paranormalen Gesellschaft.

»Zutritt zu einem dieser Läden wäre ein brauchbarer Anfang. Je verstaubter und vergessener desto besser.«

Der Grünschnabel holte etwas aus seiner Hosentasche und wog es nachdenklich in der Hand. »Das Eckbistro da drüben hat eine Seitentür. An der bin ich eben vorbeigekommen.«

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, lief er los. Erst als er einen Messingschlüssel an die Tür setzte, erkannte Dalerean, was er da in der Hand hielt. Die metallene Kugel, die den Schlüsselbart ersetzte, wechselte die Form und glitt problemlos ins Schloss. Ein Allesöffner? Na, das war zumindest unauffällig.

Den Goldfresser über die Straße zu manövrieren, stellte sich kräftezehrender heraus als erwartet. Sobald Dalerean einen Schritt auf ihn zutrat, zog sich die Gestalt zu einem Knoten zusammen, dessen Gewicht konträr zur Größe um ein Vielfaches anstieg. Die Zauber reichten kaum noch aus, es in der Schwebe zu halten. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich gegen die unsichtbare Blockade. Jegliche mentalen Befehle prallten auf einen Damm aus Widerwillen.

Fast fünf Minuten dauerte es, die Schwelle der lackierten Tür mit dem gesplitterten Glasmosaik zu passieren. Von innen waren zum Schutz Spanplatten hinter die Scheiben genagelt, die aber kaum mehr draußen hielten als unerwünschte Blicke. In sämtlichen Fenstern klebten alte Zeitungen. Die verblichene Schrift darauf verriet, dass sie bereits seit 1964 dort hingen. Leerstand, wie er in Vierteln wie diesen oft vorkam.

Abseits von Pigalle und der Vergnügungsmeile wirkte die Straßen des Viertels oft alles andere als glamourös. Montmartre war ein Dorf, das die Stadt sich einverleibt und dem sie ihren Stempel aufgedrückt hatte.

Zwischen eingestaubten Tischen, gestapelten Stühlen und den modrigen Resten einer ehemals gemütlichen Brasserie ließ er den bröckelnden Knoten zu Boden sinken.

»Und jetzt?«, fragte Monsieur Ermittler.

»Tür zu.«

Er gehorchte. Gleichzeitig stoben die aufgestellten Magiewirkungen auseinander und zogen auf dem Weg von der Raummitte zu den Wänden dünne Linien in die Staubschicht. Ein verschachtelter Bannkreis, gefüllt mit Runen und Formeln, die es Dalerean abnahmen, permanent die Wirkung von Schutzkreisen und Verdeckungen auf sie drei zu projizieren.

»Raus aus dem Kreis«, befahl er und stiefelte selbst zur Theke. Taumelnd begann das Steinwesen die Linien entlangzuschweben, als suchte es nach einem Ausgang. Das Geräusch, das es dabei von sich gab, ähnelte dem Summen eines wütenden Bienenschwarms, den jemand in eine wattegefüllte Box gesteckt hatte.

Außer Gefecht gesetzt. Vorerst.

Mit den Händen fuhr Dalerean sich übers Gesicht und zog Hut und Mantel aus, um sie über einen der Barhocker zu hängen.

Der Mensch tat es ihm gleich. »Danke übrigens. Das war ganz schön knapp eben.«

Dalerean zuckte mit den Schultern. »Ohne deinen Köder wäre er mir vermutlich genauso durch die Lappen gegangen wie dir ohne meine Zauber. Wir sind quitt.« Aus der Innentasche des Invernessmantels holte er einen Flachmann hervor und genehmigte sich einen Schluck. Sein Gegenüber zog seinerseits ein Tabaksäckchen und eine kleine Pfeife aus der Uniformjacke.

Auffordernd hielt Dalerean ihm erst den Schnaps, dann die ausgestreckte Hand entgegen. »Pierre.«

Monsieur Ermittler nahm einen kräftigen Schluck, ehe er die Geste erwiderte. »Henry.«

Die englische Aussprache des Namens ließ Dalerean die Stirn in Falten ziehen. Weam Junior? Lief tatsächlich ausgerechnet er als stellvertretender Leiter der Société Démoniaque dem Sohn des Gründers der l’organisation Gris über den Weg?

»Dann erzähl mal, Henry: Wieso jagst du solo einem Gespenst hinterher?«

»Weil ich nicht sicher war, ob mein Plan aufgeht.« Mit einem Streichholz entzündete er die Pfeife. »Und wer hört schon den Vermutungen eines unerfahrenen Neulings zu?«

»In Zukunft hoffentlich ein paar mehr Leute.«

Sie setzten sich an die vergessene Theke und teilten den Inhalt des Flachmanns, der nicht leerer werden wollte.

»Und du?«, fragte Henry zwischen hervorgepafften Rauchwölkchen.

»So ähnlich. Ich bin einem Verdacht gefolgt, den sowieso niemand für voll nehmen wird.«

Einen Moment blieb es still. Nur das Rauschen und Rieseln des im Kreis irrenden Wesens füllte den Raum. Der Junior-Ermittler war es schließlich, der wieder das Wort ergriff.

»Also auch kein offizieller Auftrag?«

»Woher denn! Wie bist du auf den Gedanken mit dem Köder gekommen?«

Henry kratzte sich am Kopf und schien zu grübeln, wie die richtigen Worte für eine Erklärung lauteten. »Mir ist bei den Museen und Banken etwas aufgefallen: Es ist nur Gold verschwunden, das nicht direkt von Kabeln umringt war. Aus den Vitrinen, die ringsum mit Beleuchtungsmontagen versehen sind, wurde nichts entwendet. Gleiches gilt für die Auslagen bei den Juwelieren. Geschlossene Tresore hingegen wurden restlos leergeräumt. Also bin ich dieser Spur nachgegangen. Wie es aussieht, kommt es wirklich auf die Nähe an. In Wänden scheinen Kabel weniger ein Problem darzustellen, aber je näher sie der Beute sind, desto eher bleibt das Gold liegen. Dazu kommt, dass nicht eine Unze Roségold als gestohlen gemeldet wurde. Bei keinem einzigen Vorfall.«

Langsam dämmerte Dalerean, worauf er hinauswollte. »Der Kupferanteil?«

»Genau.« Henry holte das Taschentuch hervor, in dem er die ausgespuckten Brocken eingeschlagen hatte, und hielt sie ihm entgegen. »Also habe ich Goldbarren aufgebohrt und Stücke davon hineingeschoben. Ein Experiment. Das ist übrig.«

Dalerean nahm sich einen der Klumpen. Das angelaufene Metall wirkte wesentlich schwerer, als es für seine Größe sein sollte. Unförmig wie ein zerdrücktes Stück Teig. »Was war das mal?«

»Teile eines Kabels.«

Verdaut. Sie dachten es beide, auch wenn keiner es aussprach.

---ENDE DER LESEPROBE---