Narrenlauf - Carolin Summer - E-Book

Narrenlauf E-Book

Carolin Summer

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Beschreibung

»Manchmal hat der Zufall einen fragwürdigen Humor. Dann schiebt er uns einfach wie Schachfiguren durchs Leben.« Paris, 09. November Denkst du, du kennst die Wahrheit über deine Welt? Was, wenn ich dir erzähle, dass innerhalb eurer menschlichen Gesellschaft eine weitere existiert? Eine, die aus all dem besteht, was ihr für obskure Horrorgeschichten und düstere Märchen haltet? Magier, Werwölfe, Dämonen … Einem Spinner wie mir glaubst du nicht? Sehr gut! Das ist der beste Beweis, dass wir unseren Job richtig machen: Geheimhaltung und Schutz der paranormalen Bevölkerung. Eine Gratwanderung, die ich in zu vielen Welten scheitern sehen musste, um mich hier herauszuhalten. Aber dieser Fall ist seltsam. Irgendetwas stimmt nicht. Vielleicht war es ein Fehler, der Wiederbelebung dieses Ermittlerteams zuzustimmen. Vielleicht hätte ich längst verschwinden sollen. Jetzt ist es zu spät. Vanjar Belaquar

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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IMPRESSUM
# das Gedankenexperiment
# erster Zug
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# zweiter Zug
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# dritter Zug
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# vierter Zug
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# elftes Kapitel
# zwölftes Kapitel
# der Lauf der Geschichte
# Wer - Wo - Warum
# Danke
# Wer schreibt hier eigentlich?
Die Weltenwechsler Akten Tetralogie

NARRENLAUF Carolin Summer Band I Urban-Fantasy-Krimi

Content Notes: Verlust, Tod, Missbrauch, Rassismus, Alkoholkonsum, körperliche Gewalt, psychische Gewalt, Sexismus, Selbstjustiz Das Figurenglossar befindet sich am Ende des Buches.

 

IMPRESSUM

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und jegliche Verwertung ohne Zustimmung der Autorin daher unzulässig. Insbesondere gilt dies für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Dazu zählt ebenfalls die Erstellung von RPG-Foren, Fan-Fictions etc. Die in der Geschichte enthaltenen, fiktiv-physikalischen Erläuterungen erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und sollten mit einem nachsichtigen Augenzwinkern betrachtet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. INSPIRATION UND OVATION [QUELLENANGABE] In »Narrenlauf« werden Auszüge aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Dämmerung senkte sich von oben und Shakespeares Hamlet sowie Songtexte von Nicolas Maus von Sonic Circus zitiert. Quellen: Johann Wolfgang Goethe: Die schönsten Gedichte. Insel Verlag, 2016, S. 162. William Shakespeare: Hamlet. Reclam Universal-Bibliothek Nr. 31, 2014, S. 40f. Fünfte Auflage: 2023 Erste Auflage 2018 Copyright © 2023 Selina Carolin Summer C/o Fam. Töpler, Mozartstr. 8, 66399 Mandelbachtal Lektorat: Kim Anne Heinz Korrektorat: Nina Hasse Satz und Cover: Selina Carolin Summer Bildmaterial: Johanna Summer Textur: Sascha Duensing ISBN Taschenbuch: 978-3-7482-9391-0 ISBN Hardcover: 978-3-7482-9392-7 Erschienen bei Tredition

Für Bene und DanielEinfach weil euch meine wirre Fantasie nicht im Geringsten stört.

Der Läufer

 

Offiziersfigur im Schach

Die häufig verwendete Bezeichnung »Läufer«

lässt sich vermutlich auf die Funktion des

Kuriers zurückführen. (lat. currere – laufen).

 

Im Französischen trägt er den Namen »le fou«.

Der Narr.

# das Gedankenexperiment

[Montag, 17. März | Paris, Frankreich]

 

»Beginnen wir mit einer schlichten Hypothese: Stellt euch vor, die Welt, in der ihr lebt, ist nicht die einzige, die existiert. Es gibt millionen Universen, die wie Fäden neben-, unter-, über- und ineinander verlaufen, ohne sich jemals zu berühren.«

Mathias ›Doc‹ Gadault stand gestikulierend vor der Tafel des altmodischen Hörsaals.

»Mir ist bewusst, dass die Theorie eines Multiversums in der modernen Physik diskutiert wie umstritten ist. Ihr dürft heute getrost davon ausgehen, dass sie der Wahrheit entspricht. Zumindest zu einem gewissen Teil. Also, von diesen Existenzebenen, diesen Universen gibt es so unzählig viele, dass es ein Ding der Unmöglichkeit darstellt, sie zu katalogisieren. Einige davon ähneln unserer Realität so stark, dass sich kaum ein Unterschied feststellen lässt. Manche scheinen in der Zeit versetzt, erinnern an das Mittelalter oder populäre Science-Fiction-Filme. Viele bieten keinerlei Lebensgrundlage oder bringen Arten hervor, die mit denen unseres Universums nur wenig gemein haben.«

Die Behauptungen sicherten dem Mediziner die ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Ein Großteil erstreckt sich über drei Dimensionen. Beziehungsweise vier, wenn wir von der Relativitätstheorie ausgehen. Das entspricht dem, was ihr euch problemlos vorstellen könnt: eine dreidimensionale Umgebung mit in gleichbleibendem Tempo voranschreitender Zeit. Damit das Weltengefüge auf diese Weise funktioniert, muss es aber noch einige weitere Dimensionen geben.« Schwungvoll drehte er sich um, nahm sein Skript vom Tisch und platzierte es auf der ausgestreckten Handfläche.

»Nutzen wir folgendes Anschauungsmodell: Jedes Universum wird von einem Blatt dargestellt. Das sind die ersten vier Dimensionen. Zwischen den Seiten befindet sich etwas Luft, die sie voneinander trennt. Wahlweise auch miteinander verbindet, je nach gewähltem Blickwinkel. Das entspricht dem höherdimensionalen Raum, der die Welten separiert; ohne den sie nicht zu existieren vermögen.« Er legte den Stapel beiseite und schaltete den Beamer an. »Ab jetzt müssen wir unser Denken etwas abstrakter gestalten.«

Summend nahm das Gerät seine Arbeit auf. Die Leinwand zeigte ein Zitat aus Shakespeares Hamlet.

»Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt! Sagt nichts, ich weiß. Nur ein Paranormalitätsforscher kommt auf den Gedanken, Wissenschaft mit Literatur zu verbinden. Womöglich wären an dieser Stelle ein paar Physikstunden angebracht. Da ich aber nur ein simpler Mediziner bin und das hier lediglich ein Gedankenexperiment ist, belassen wir es bei der vereinfachten Ausführung. Unter Umständen werden neben Einsteins Lehren nämlich auch Stringtheorie und Quantenmechanik zur Klärung der Details hinzugezogen. Je nachdem, wen ihr fragt. Aber das geht eindeutig zu weit. Was soll ich sagen? Nicht mein Metier. Halten wir es mit Hamlet und nehmen die Mehrweltentheorie als gegeben hin.«

Auf den meisten Gesichtern zeigte sich dank der offenen Selbstkritik ein Grinsen. Zufrieden ließ er den technischen Schnickschnack vor sich hinbrummen und stöberte in der Schreibtischschublade nach einem brauchbaren Stück Kreide, mit dem er zur Tafel trat.

»So weit, so gut. Nennen wir den höherdimensionalen Raum der Einfachheit halber Zwischendimensionen. Zuerst stellt sich die Frage, wozu diese Dinger sonst noch nutzen.«

Stummes Nicken ging durch die Reihen, vereinzelt unterbrochen von Bleistift- oder Fingernägelkauen.

»Ein simples Beispiel ist Magie. Auch sie ist letzten Endes nichts anderes als Physik.«

Jetzt machte sich doch ein Raunen breit und Mathias konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, bevor er sich wieder seinem Publikum zuwandte.

»Wer von euch gehört zum magisch begabten Teil der Bevölkerung?«

Zaghaft hoben sich ein paar Hände, unter anderem die einer jungen Frau in der ersten Reihe. Ihre Locken umrahmten das mollige Gesicht wie der schnörkelige Goldrahmen ein Puttenbild. Dass sie prompt rot anlief, als Mathias sie aufmunternd anlächelte, verstärkte diesen Eindruck noch. Immerhin schaute sie nicht weg. Ein gutes Zeichen, beschloss er und schüttelte höflich ihre Hand.

»Wie heißen Sie?«

»Christa. Christa Robert.«

»Nun, Christa, was ist Magie?«

Sie musterte ihren Notizblock. »Na, eben für uns nutzbare Energie.« Unsicher schaute sie sich um, als wollte sie herausfinden, ob einer der anderen eine bessere Idee parat hatte.

Mathias nickte zufrieden.

»Richtig. Zaubern bedeutet, bestimmte Energieaufkommen für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Dabei kommt ihr, ohne es zu merken, tagtäglich mit einer weiteren Dimension in Berührung. Über die fünfte werden die Vorgänge und Prozesse, die wir unter dem Begriff Zauberei zusammenfassen, abgewickelt. Eine Leitung sozusagen. Ihr«, er wies auf die Azubis, die sich meldeten, »tut das unbewusst. Ganz simpel. Darüber wie es passiert, machen sich die wenigsten Gedanken. Vergleichen wir es mit Atmen. Oder kann mir jemand von euch fachgerecht die Funktionsweise der Lunge erläutern?«

Dem Schweigen nach zu urteilen nicht.

Auf einem der hinteren Plätze streckte ein Mann mit zu eng sitzender Krawatte den Arm nach oben. Der Arzt nickte ihm zu.

»Egal welche Magie?«

Dieser Satz ließ förmlich den Gesprächsfaden reißen. Eine lautstarke Diskussion von Pro- und Kontraantworten erfüllte den Raum, woraufhin Christa mit unverständiger Miene den Kopf schüttelte.

»Haben Sie eine Idee?« Mathias sprach absichtlich so laut, dass es zumindest die ersten beiden Reihen unmissverständlich mitbekamen.

»Es ist absolut egal, welche wir nutzen«, erklärte die junge Frau, diesmal völlig überzeugt von ihrer Lösung. »Ob weiße oder schwarze Zauberei macht keinen Unterschied. Das Wie läuft identisch ab. Das Woher ist ausschlaggebend!«

»Korrekt. Darüber könnt ihr garantiert eine morgenfüllende Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen«, knüpfte er an die Aussage an und angelte sich damit den gesprächsführenden Faden zurück, der ihm so unelegant aus den Händen geglitten war.

»Schwarz und weiß: Beide Farben werden oftmals für die Darstellung des Guten und des Bösen verwendet. Zwei Seiten, ähnlich den Figuren auf einem Schachbrett. Wenn ihr genauer hinseht, finden sich ständig derartige Vergleiche. Wen wundert es da, dass sie in Sachen Hokuspokus Anwendung gefunden haben? Aber wer definiert, was positiv und was negativ ist? Was ihr euch alle merken solltet«, die eingefügte Pause verfehlte ihre Wirkung nicht; es wurde sehr schnell sehr still im Raum. Vielleicht hatte er vorübergehend die Aufmerksamkeit der Anwesenden verloren, jedoch nicht seine Autorität. »In diesem Haus wird nicht aufgrund der magischen Orientierung über Mitarbeitende geurteilt.«

Noch eine Pause. Diesmal eine, die er dafür nutzte, sein Publikum zu mustern. Von Verblüffung über Zustimmung bis hin zu trotzigem Widerspruch konnte er alles aus ihren Mienen lesen. Typisches Anfängergebaren.

»Sieht aus, als sei eine Diskussion diesbezüglich nicht zu vermeiden«, stellte er theatralisch fest. Die Hände auf dem Rücken positionierte er sich vor dem Pult. Ihm war klar, was nun kam. Er dozierte lange genug, um ausreichend Erfahrungen mit Neulingsgruppen gemacht zu haben. Das Thema magische Orientierung kam bei jedem Kurs früher oder später zur Sprache. Eine Klärung erwies sich meist als unumgänglich. Immerhin sollte die vor ihm versammelte Truppe nach der Ausbildung mit allen möglichen Vertretern der paranormalen Gesellschaft reibungslos zusammenarbeiten. Vorurteile waren absolut fehl am Platz. Mathias beschloss, den Vorlesungsinhalt an diesem Punkt endgültig beiseitezuschieben und sich der unliebsamen Aufgabe zu stellen. Seine Kollegen würden es ihm danken.

»Wie Christa schon sagte, kann sowohl weiße als auch schwarze Magie, bis auf wenige Ausnahmen, Identisches bewirken. Ob man es letztendlich zulässt, steht auf einem anderen Blatt. Das hat etwas mit Glaube und Überzeugungen zu tun, nicht mit Können. Was sie wirklich unterscheidet, ist die Tatsache, woher die verwendete Energie stammt. Haben wir weiße Magiebegabte oder Hexende hier?«

Eine Frau mit pinkfarbenen Haaren und blumigen Hippieklamotten hob die Hand.

»Bei uns Weißen wird ausschließlich die körpereigene Kraft verwendet, was die Umgebung nicht beeinträchtigt. Wir achten das Gleichgewicht und handeln im Rahmen der uns von Natur aus gegebenen Möglichkeiten.« Ihre Stimme klang melodisch, was den umständlichen Satzbau noch kurioser wirken ließ. »Die schwarzen Zauberer bedienen sich hingegen aller möglicher Quellen und gebrauchen ihre Eigenenergie zur Umwandlung. Sie nehmen sich, was sie wollen und praktizieren, was ihnen gefällt. Dabei können auch sie nur so viel nutzen, wie es ihre eigene Kraft zulässt. Wenn Sie mich fragen: Hat man einmal damit angefangen, lässt man das nie wieder bleiben. Und es macht krank! Vor allem in der Seele, aber es strapaziert irgendwann auch den Körper. Dämonen sind dafür das beste Beispiel: Sie existieren Jahrhunderte und nutzen ihr Leben lang schwarze Magie. Wenn sie nicht so eitel sind, ihr Äußeres magisch aufzuhübschen, schauen sie aus wie das lebendige Elend.«

»Und was passiert mit den Massen an Energie, wenn wir sie nicht verbrauchen? Jeder Magiebegabte hat diese Fähigkeit! Ist das eine Ressource, die nicht genutzt werden darf?«, meldete sich empört ein pickliger Teenager von vielleicht sechzehn Jahren zu Wort. »Wo bleibt da dein gelobtes Gleichgewicht? Im Grunde ist unsere Weise doch nur deshalb verrufen, weil wir uns nicht von moralischen Grundsätzen abhängig machen!«

Mathias streckte beide Arme nach oben, um sich Gehör zu verschaffen und zu verhindern, dass die Diskussion der beiden eskalierte. »Wie oft habt ihr schon darüber debattiert? Seid ihr jemals zu einem Ergebnis gekommen?«

Womöglich klang er dabei etwas zu sarkastisch. Die Unruhe hielt sich jedenfalls weiter aufrecht. Zumindest bis ein Knall die zweite Stille des Tages verursachte. Eine Tür, die am anderen Ende es Raums polternd ins Schloss krachte und sämtliche Anwesenden zusammenzucken ließ.

Mathias hob den Kopf, erkannte den Besucher und kam nicht umhin, fragend die Augenbrauen zu heben. Ein stummes ›Was soll das denn bitte werden?‹, auf das er leider keine Antwort erhielt.

Die meisten Blicke wanderten zeitgleich in dieselbe Richtung. Die Zuhörer musterten den jungen Mann, der kurz zum nun verschlossenen Eingang zurückschaute. Er wirkte blass und unausgeschlafen, als hätte er sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Dass er mit seinem Auftritt den Vortrag unterbrach, schien ihm absolut gleichgültig zu sein. Dasselbe galt wohl für das miese Wetter draußen: Seine Kapuzenjacke bedeckten dunkle Wasserflecken, die ausgetretenen Schuhe schleiften penetrant über den Linoleumboden. Mathias fragte sich, ob das furchtbare Geräusch Absicht war, um die ohnehin gereizte Stimmung noch weiter zu strapazieren. Sähe ihm durchaus ähnlich.

»Und die restlichen Dimensionen?« Die Reibeisenstimme zerschnitt die Luft wie eine rostige Klinge. »Laut Stringtheorie gibt es immerhin mindestens elf davon.« Wie obskur die vollkommen aus dem Kontext gerissene Frage wirkte, interessierte ihn genauso wenig wie die Anzahl freier Stühle. Er setzte sich lieber auf den nächstbesten Tisch, die Beine im Schneidersitz gekreuzt. Mager wie er war, blieb dazu ausreichend Platz. »Da bist du stehen geblieben: In den ersten drei leben wir, die vierte ist die Zeit, die fünfte die magische Datenautobahn - und weiter?«

Dass er den Dozenten duzte, blieb unkommentiert. In sämtlichen Gesichtern ließ sich dafür die Frage lesen, wie lange er schon dort oben stand. Doc selbst war ziemlich sicher, dass seitdem noch nicht besonders viel Zeit vergangen sein konnte. Achtsamkeit einfordernd den Zeigefinger erhoben, packte er die Kreide und zeichnete die Skizze zweier Häuschen an die Tafel.

»Stellen wir uns die unterschiedlichen Welten als Dörfer vor, die durch Hügel voneinander getrennt sind.«

Zwischen die beiden Häuser zog er eine steile Kurve.

»Alles zwischen den Dörfern entspricht dem höherdimensionalen Raum. Die fünfte Dimension ist Energiefluss. Die sechste der Hügel selbst und weil es natürlich nicht nur Verbindungen von Welt A zu Welt B und von B zu C, sondern auch zu K oder Z gibt, entspricht das der siebten Dimension. Sozusagen ein Weg von einem Hügel zu einem beliebigen anderen.«

Dank der unerwarteten wie unkonventionellen Hilfe des Nachzüglers, knotete er seinen roten Faden endgültig wieder fest und leinte mit ihm die Kontrolle über die Situation an.

»Über die restlichen wissen wir noch nicht Bescheid. Selbst wenn die String-Theorie Recht behält.« Der Bogen von der kurzen Exkursion zurück zum ursprünglichen Thema ließ sich nun mit Leichtigkeit spannen. »Wie ihr euch denken könnt, ist es nicht einfach, auf diesem Gebiet Forschungen anzustellen. Man muss bedenken, dass in Zwischendimensionen Masse nicht als solche besteht, sondern in Form von Energie. Die Hügel stellen lediglich ein Sinnbild dar. Das Energieerhaltungsgesetz besagt allerdings, dass jede Form von Masse in Energie umgewandelt werden kann - und umgekehrt.«

Der Krawattenträger, auf dessen Frage hin die Magiediskussion ausgebrochen war, starrte die Zeichnung überrascht an. »Heißt das, wenn wir in der Lage wären, unsere Körper von Masse in Energie zu transferieren und umgekehrt, könnten wir über den höherdimensionalen Raum in andere Welten reisen?«

Kluger Bursche. Wenn der wüsste, wie richtig er damit lag.

»Sie haben es erfasst.« Es gab Wesen, so selten sie waren, die genau das beherrschten. Wandernde zwischen den Welten, die Zwischendimensionen nutzten, um beliebig hin und her zu wechseln. Einer von ihnen hockte dort oben. Mathias schaute kurz zu seinem neuesten Zuhörer hin, der es sich mit auf die Knie gestützten Ellbogen bequem gemacht hatte. Er verzog keine Miene.

»Abgesehen von mangelnden Fähigkeiten ist der Haken an der Sache bei uns vor allem, dass unsere Gehirne das Erlebte nicht richtig verarbeiten können. In den meisten Fällen, in denen Menschen in Zwischendimensionen gelangt sind, berichten sie von einem leeren Raum, endlosem Grau, schwarzem Nichts oder etwas in der Art. Ein Schutzmechanismus des Gehirns, der in die Wahrnehmungslücke das hineininterpretiert, was man persönlich mit Leere assoziiert.«

»Gelangt sind?« Christas Augen weiteten sich verblüfft, als ihr bewusst wurde, dass es sich keineswegs mehr um ein Gedankenexperiment handelte. »Wollen Sie damit sagen, es gibt handfeste Erlebnisberichte?«

In den folgenden Sekunden hätte man eine rohe Spaghetti durchbrechen hören können. Da jedoch niemand eine zur Hand hatte, setzte ungläubiges Murmeln ein.

»Einige wenige«, tönte Mathias über die Geräuschkulisse hinweg. »Das Problem bleibt, dass man sie zunächst erreichen muss. Ein Gegenstand, der in eine Zwischendimension gerät, zum Beispiel durch fehlgeleitete Magie, verbleibt dort so lange, bis die verursachende Energie nicht mehr ausreicht. Dann saust er in die nächstgelegene Welt zurück. Je nachdem, mit wie viel Schwung er über die Hügel aus unserem Dorfbeispiel geschickt wird. Vorausgesetzt die Transformation zur ursprünglichen Masse gelingt überhaupt, denn das ist bei Weitem keine Selbstverständlichkeit. Mit einem Menschen passiert dasselbe, abgesehen davon, dass wir das selten so unbeschadet überstehen, wie … etwa ein Stück Kreide. Schon allein unsere Psyche nicht. Je komplexer die Struktur einer Sache, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die molekularen Bestandteile nicht mehr einfach so zusammensetzen lassen. Die restlichen Fakten das Weltengefüge betreffend, werde ich zum Schluss noch aufzählen. Das sollte für heute ausreichend Unterrichtsmaterial darstellen. Euch bleibt genügend Zeit, das Thema zu durchdenken. Keine Bange, meine Damen und Herren, ihr habt es fast überstanden.«

Die Vorlesungszeit neigte sich dem Ende. Allein ihre Neugier verschuldete, dass die Gruppe bereit war, weiter zuzuhören. Dennoch beschloss er, sein letztes Informationspaket so gestutzt wie möglich an den Mann zu bringen.

»Nicht in allen Universen vergeht die Zeit gleich. Je näher sie jedoch beieinanderliegen, desto ähnlicher verstreichen die Minuten. Das sind meistens die Welten, in denen Geografie, Demografie, Flora und Fauna et cetera zu einem sehr hohen Prozentsatz übereinstimmen. Ab achtzig Prozent spricht man übrigens von Paralleluniversen. Wobei es keine Welt gibt, die einer anderen zu einhundert Prozent gleicht. Individuen existieren nie mehrfach. Jeder lebt nur einmal und jede Welt ist ein Unikat.

Im höherdimensionalen Raum vergeht die Zeit vollkommen anders. Es vermittelt den Eindruck, dass sie annähernd stagniert, auch wenn dem natürlich nicht so ist. Strecken haben dort ebenfalls nicht dieselbe Bedeutung wie hier, was beides einen immensen Vorteil mit sich bringt: Schafft man es, eine Zwischendimension zu betreten, kann man weite Wege einfach und schnell überwinden. Von Paris nach Marseille in zehn Minuten. Oder vielleicht in zwei? Das hängt davon ab, welchen Weg man wählt. Man surft sozusagen über die Hänge der Hügel und kommt damit wesentlich zügiger voran, als auf dem uns geläufigen Weg.

Allerdings ist es noch niemandem gelungen, auf diese Art in der Zeit zurückzureisen. Sie vergeht nicht überall gleich, aber sie schreitet immer vorwärts. Ihr ein Schnippchen zu schlagen scheint nicht so einfach, wie man meinen möchte.«

Damit platzierte er die Kreide, die er während seines Vortrags beständig zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her gedreht hatte, mit Nachdruck auf der Schreibtischunterlage. Der heutige Schlusspunkt. Ohne auf die aufgebrachte Gruppe einzugehen, sammelte er seine Sachen ein, zog das Sakko an und schaltete den Beamer aus. Satzfetzen flogen durch den Raum wie Tischtennisbälle. Es hagelte förmlich Vermutungen und Thesen:

»Wenn das stimmt, wieso haben wir bisher noch nichts davon gehört?«

»Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber das Ganze klingt für mich absolut schlüssig!«

»Wenn wir diese Art zu reisen nutzbar machen könnten, würde das die Wirtschaft revolutionieren.«

»Dir ist klar, dass so was genauso geheim gehalten werden muss, wie die Existenz der paranormalen Gesellschaft?«

»Ich will mir nicht vorstellen, was die unwissende Bevölkerung daraus für einen Profit schlagen wollte, sollten wir es ihr jemals erzählen.«

»Und es macht Sinn! Stell dir vor, für Dinge, die plötzlich verschwinden oder auftauchen gibt es jetzt zumindest ansatzweise eine Erklärung!«

»Ergibt. Dinge ergeben Sinn. Nicht machen. Ich halte das aber alles für Humbug. Ein Märchen, das sie uns erzählen, um zu testen, wie wir auf derart abstruses Zeug reagieren.«

Mathias lachte still in sich hinein. Das entsprach genau seiner Absicht: kritisches Denken. Genug Redepotenzial, das den Streit um die beiden magischen Orientierungen in Vergessenheit geraten ließ.

Der Nachzügler schlenderte derweil zwischen den Azubis hindurch und maß die Szene mit eindeutig amüsiertem Funkeln in den schattenumrandeten Augen.

»Ihr verhaltet euch nicht besser als Unwissende, denen man die Existenz von Magie erklärt hat. Wie aus dem Lehrbuch: Skeptiker, Negierende, Legitimierende«, stellte er fest, sichtlich bemüht nicht breit zu grinsen, bevor er sich das Kreidestück vom Schreibtisch nahm und in die Luft schnippte, wo es spurlos verschwand.

Ausgerechnet jetzt ertönte ein schriller Alarm über die Lautsprecheranlage. Dabei hatte Mathias gerade Luft geholt, um jeglichen Einwänden zuvorzukommen.

»Alle verfügbaren Einsatzkräfte bitte umgehend in der Supportzentrale melden!«, schallte eine weibliche Stimme dem durchdringenden Piepton hinterher. Die Luft entwich derweil den Lungen des Kreidediebs; ohne Worte, dafür als müdes Seufzen. Der Arzt warf einen Blick von ihm zur nächstgelegenen Box und zurück. Das war’s dann wohl mit seinen magischen Tricksereien.

»Sieht so aus, als müsstest du los.«

Der Angesprochene nickte und strich sich die feuchten Haare aus den Augen. »Du solltest in deinem Skript dringend berücksichtigen, dass es sich bei den genannten Funktionen des höherdimensionalen Raums nur um die bisherigen Ergebnisse unabgeschlossener Forschungen handelt. Tatsächlich passiert da nämlich wesentlich mehr.« Damit tat er es der Kreide gleich.

Er verschwand. Geräuschlos, spurlos und ganz ohne spektakuläre Showeinlage. Zum wiederholten Mal an diesem Vormittag herrschte im Hörsaal völlige Stille.

Mathias stützte kopfschüttelnd die Stirn in eine Hand und ignorierte geflissentlich den weißen Klumpen, der kurz darauf in der Mitte des Raums auftauchte, wo er zu Boden klatschte und in mehrere Brocken zerbrach.

»Besserwisserische Krähe.«

# erster Zug

[DIE RICHTIGE POSITION]

# erstes Kapitel

[Montagnachmittag, 3. Dezember 2007, Tokio, Japan]

 

»Ob Trugbild oder Realität ist mir schnuppe! Wir können nicht verantworten, dass Unwissende von Werwolfsichtungen berich…«

Be-beep!

»… ist eine magische Einmischung eindeutig nicht gestattet!«

Be-beep!

»… wurde vor drei Jahren wegen illegalem Bluthandel festgenommen …«

Be-beep!

Die nervtötende Signalfolge der eingehenden Funksprüche quittierte mein Auftauchen mit einer atonalen Komposition erster Güte. Zu gerne wäre ich auf der Stelle wieder im scheinbaren Nichts verschwunden. Völlig egal, in welche Zwischendimension. Hauptsache dort war es leise. Stattdessen machte ich meinen Entschluss den MP3-Player auszuschalten rückgängig, was den Lärm in weitaus harmonischeren Akkorden erstickte. In unserem Inventar fehlte definitiv ein ›Wegen-Überfüllung-geschlossen‹-Schild.

Um diese Zeit glich das Großraumbüro einem Nest wütender Hornissen, getarnt als ein Haufen arbeitender Leute. Man sollte meinen, dass ich mich in den vergangenen vier Jahren daran gewöhnt hätte. Fehlanzeige.

So schnell das Zierpflanzenlabyrinth es zuließ, steuerte ich auf meinen Schreibtisch zu. Vorbei an dem munter vor sich hindudelnden Oval aus Supportplätzen, in dessen Mitte die Leitungen der vielen Bildschirme, Telefone und Computer zu einem unentwirrbaren Kabelsalat zusammenliefen. Rund um diese Technik-Ansammlung verteilten sich die übrigen Arbeitsgruppen. Alles zusammengefasst in den passenden Rahmen einer Glasfront, die eine hervorragende Aussicht auf die Straßen dutzende Stockwerke unter uns bot.

Im Moment gab es da draußen allerdings nicht viel zu sehen. Es nieselte, weshalb hauptsächlich bunte Polyester-Achtecke umhereilten. Der Anblick erinnerte an einen altmodischen Bildschirmschoner und war mindestens genauso spannend. In Ermangelung einer interessanteren Ablenkung nahm ich rittlings auf dem Bürostuhl Platz und angelte nach der Maus, um den Einsatzplan der Abendschicht aufzurufen. Eine Routinepatrouille in Ikebukuro. Na meinetwegen. Das lag zumindest direkt vor der Tür.

Theoretisch fing mein Dienst erst in zwei Stunden an.

Theoretisch.

Praktisch mimte ich den übermüdeten Ermittler inklusive Augenringe und Dreitagebart, der den überfüllten Ablagen vor sich den Kampf anzusagen gedachte. Papierverschwendung und Umweltverschmutzung, an deren Produktion ich mich maßgeblich beteiligte. Das Los eines Teamleiters.

Mit halb genervtem, halb resignierendem Seufzen begann ich den Schreibtisch zu leeren. Ein Unterfangen, das sich die nächste dreiviertel Stunde in quälender Kaugummimanier dahinzog.

Neben vermissten Kugelschreibern, zwei mir unbekannten Feuerzeugen und einem zwölfseitigen Runenwürfel förderte ich irgendwann – zerquetscht von Ordnern und begraben unter Notizen – eine halbvolle, verbeulte Schachtel Daifuku zu Tage. Es dauerte keine Minute, bis ich das Elend der zermatschten Bällchen nicht weiter mit ansehen konnte und mir eins in den Mund stopfte. Ausgerechnet in diesem Moment flötete Reika vom Aufzug aus meinen Namen quer durch den Raum, in einer Tonhöhe und Lautstärke, dass ich sie deutlich über die Musik des Players hinweg vernahm.

»Van? Vaa-aaan!«

Da der Reiskuchen mich an jeglicher akustischer Erwiderung hinderte, setzte sie ein drittes Mal an. Zur Abwechslung sogar in der langen Version:

»Vanjar!«

Sie stand fast neben mir, was das Gebrüll reichlich überflüssig machte. Grinsend hielt sie mir ein kabelloses Telefon unter die Nase, dessen Display auf ein in der Leitung wartendes Gespräch hindeutete. Beschissenes Timing.

Noch immer auf der weichen Masse aus Mochi und Anko herumkauend, streckte ich ihr im Gegenzug meine mit Zucker und Kokosflocken verklebten Finger entgegen. Ein kläglicher Versuch zu erklären, dass ich gerade nicht in der Lage war, verständliche Konversation per Telefon zu betreiben.

Kopfschütteln samt nachdrücklichem Hörerwackeln begleiteten ihre Antwort auf die nonverbale Ablehnung. »Das ist der Chef. Also deiner. Ich meine denChef!«

Aha. Und das sollte mich inwiefern beeindrucken? Henry Weam, rein optisch am ehesten mit dem Weihnachtsmann in Anzug und Filzpantoffeln zu vergleichen, mochte bei einigen seiner Mitarbeitenden Anfälle von respektvollem Gehorsam hervorrufen. Charakterlich passte diese Beschreibung nämlich kaum. Als Nummer Eins der L’organisation Gris, kurz LOG, blieb ihm zwar genauso viel Arbeit wie Santa Claus, sein Aufgabengebiet hatte allerdings nicht das Geringste mit Geschenken und Wunschzetteln zu schaffen. Was man eben so zu tun hat, als Big Boss einer der zwanzig größten Privatorganisationen, die sich der Geheimhaltung und dem Schutz der übernatürlichen Gesellschaft vor den Menschen (und umgekehrt) verschrieben hatte. Inklusive Erforschung paranormaler Genetik und Medizin, nicht zu vergessen.

Verbreitung: weltweit.

Mitarbeitende: circa 2.400.600.

Hauptsitz: Paris, Frankreich. Europas Hochburg paranormaler Kriminalität.

Kurzum die Firma, bei der wir unsere nicht gerade kleinen Brötchen verdienten. Der ›Alte Mann‹ durfte sich demnach unser aller Chef schimpfen.

Reikas Formulierung spielte vornehmlich darauf an, dass Henry früher sowohl mein Ausbilder als auch Teamleiter gewesen war. Vergangenheitsform. Also erst recht kein Grund zu spuren.

Ihm verdankte ich außerdem meinen Tokio-Aufenthalt – samt dem eben verfluchten Teamleitungsposten. Übrigens zweifele ich heute noch sehr an meinen diesbezüglichen Qualitäten, aber dem maß der Herr Organisationsleiter ganz offensichtlich kaum Bedeutung bei. Was immer ihm damals durch den Kopf ging, einen Gefallen hatte er mir mit der Beförderung nicht getan. Mit der Versetzung übrigens auch nicht. Wahrscheinlich genau seine Absicht.

Zugegebenermaßen, ganz unschuldig war ich an der Situation nicht, aber egal. Inzwischen kamen wir wieder passabel miteinander aus. So weit, dass ich panisch alles stehen und liegenließ, nur weil er am anderen Ende einer Telefonleitung wartete, kam es jedoch nicht. Wenn es nach mir ging, würde dieser Fall auch nie eintreten.

Mit genervtem Augenrollen zog ich die Kopfhörer aus und nahm meiner Kollegin den Apparat ab.

»Quoi?« Mehr ließ sich zwischen den Resten der Bohnenpaste nicht in die Sprechmuschel nuscheln. Ich wartete lieber auf die Entgegnung zu dem dahingeschnauzten französischen ›Was?‹,als den Kunststoff mit Kokosflocken und Spucke zu besprenkeln.

Japanisch ist eine fürchterliche Sprache. Wahrscheinlich klingen nur Finnisch und Englisch schlimmer. Zumindest wenn ich mich daran versuche. Nicht nur deshalb schleppe ich im Auslandsdienst permanent ein paar Translationszauber mit mir herum. Es kann ungemein nützlich sein, diverse Sprachbarrieren auf so einfache Weise aus dem Weg zu schaffen. Eine unauffällige Banalität, die gewährleistet, dass ich von den Leuten verstanden werde und – viel wichtiger – ich sie verstehe. Ausgenommen ich lege Wert darauf, nicht belauscht zu werden. Wie jetzt zum Beispiel. Reika brachte es also rein gar nichts, die Ohren aufzusperren. Es sei denn, sie hatte in letzter Zeit heimlich einen Französischkurs belegt. Eher unwahrscheinlich, so fleißig die angehende Analystin auch war.

»Du bist kein gutes Vorbild, wenn es um Respekt gegenüber Vorgesetzten geht.« Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, zog Henry genüsslich an seiner Pfeife.

»War ich nie«, entgegnete ich mit endlich wieder leerem Mund und hielt meiner Kollegin die Schachtel mit der Süßspeise hin. Davon abgesehen herrschten hier ohnehin eindeutig europäische und nicht klassisch japanische Verhältnisse, was das Miteinander anging.

»Stimmt. Wann fängt dein Dienst an?«

Immerhin fehlte dem Chef heute die Lust oder Zeit zu diskutieren, was mich davor verschonte, mit passenden Kontern aufwarten zu müssen.

»In einer Stunde. Was willst du?«

Der rief nur persönlich an, wenn es um etwas wirklich Dringendes ging.

»Jean hat mich gebeten, dir einen Auftrag zu erteilen.«

Oha, ich hatte mich wohl verhört? Jean? Jean Denulier? Ehemaliger LOG-Ausbilder sowie früherer Partner von Henry? Der Werwolf, der seit Jahren ein ziemlich ruhiges Leben irgendwo in einem Örtchen nahe Reims führte? Bei einem Anruf vom großen Boss rechnete ich mit einigem, aber das überschritt sogar meine Erwartungen.

Jean trat inzwischen nur noch in Ausnahmefällen auf den Plan. Wie Henry zählte er zu denen, die in meiner Lehrzeit mitgemischt hatten. Der Kontakt zu ihm konnte allerdings als wesentlich … familiärer bezeichnet werden. Nicht die ideale Formulierung. Jedenfalls gut genug, um mir Aufträge von Frankreich nach Japan diktieren zu lassen, ohne weiter darüber nachzudenken.

»Lass hören.«

»Jean machte vor circa zwanzig Jahren Bekanntschaft mit einem Auftragskiller der paranormalen Mafia, der infolgedessen über die Jahre hinweg als Informant für uns arbeitete. Ein Mensch übrigens. Spanier mit adeligen Wurzeln in Italien, wenn ich den Namen richtig deute. Vor ein paar Monaten, genau genommen Ende Juli, überfiel eine Truppe Vampire ihn und seine Familie. Seitdem gibt es keine Spur von ihnen. Lediglich der Sohn hat überlebt, da er seit seinem Schulabschluss auf Weltreise umhergondelt. Daddy überließ dem Junior eine Notfall-Liste mit Namen, auf der unter anderem unser Wolf auftaucht. Zum Zeitpunkt des Überfalls war der Junge in der Champagne unterwegs.«

Den Rest der Geschichte konnte ich mir denken, wovon Henry wiederum auszugehen schien. Die Notwendigkeit weiterer Ausführungen entfiel somit.

»Jean hat ihn aufgenommen und ihm die Lage erklärt?«

»Genau. Zu den Wissenden zählte er Gott sei Dank schon. Ist sozusagen in der paranormalen Gesellschaft aufgewachsen. Von der LOG hatte er bisher allerdings keine Ahnung. Denulier versuchte ihn anzuwerben, aber vor ein paar Wochen ist der junge Herr auf eigenen Wunsch weitergereist. Nach Japan.«

Wir kamen der Quintessenz langsam näher.

»Gestern Abend ist er durch die Registrierung in Tokio gestiefelt. Jean wäre froh, wenn du seinen Schützling ein Weilchen im Auge behalten könntest. Die Akte liegt auf deinem Desktop.«

Argwöhnisch musterte ich das blinkende Icon. Da steckte mehr dahinter. Vielleicht gab Jean das vor dem Chef nicht zu, aber irgendwas an dieser Sache besaß für ihn enorme Wichtigkeit.

»Ist gut, ich sehs mir an.«

Zu einer Verabschiedung kam ich nicht. Das Tuten in der Leitung konkurrierte bereits lautstark mit den penetranten Rogerbeeps. Missmutig ließ ich den Hörer sinken und starrte das Display an. Als könnte ich dadurch dem Chef in seinem Pariser Büro die Pfeife rückwärts in den Hals schieben, bevor mein Daumen den roten Knopf malträtierte und ich Reika das Telefon zurückreichte.

»Danke.«

Sie nahm zwar den Apparat entgegen, rührte sich aber keinen Zentimeter vom Fleck. Irritiert schob ich ihr noch einmal die Daifuku über den Tisch und machte mich daran, die Akte zu öffnen. Mal sehen, was der Wolf so zusammengetragen hatte.

Auf der obersten Seite erwartete mich, neben den wichtigsten Daten, zuallererst ein Bild. Jordi del Ferana, achtzehn Jahre alt, geboren am fünfundzwanzigsten Januar. Der schlaksige Kerl mit den braunen, in alle Richtungen stehenden Haaren, grünen Augen und Sommersprossen grinste gut gelaunt in die Kamera. Die nächste Seite wartete mit weiteren Familiendetails auf: Seine Mutter stammte aus England. Rein äußerlich schlug er eindeutig mehr in Richtung der britischen Gene. Außer ihrem Sohn hatten Michelo und Julie noch eine jüngere Tochter. Marie verschwand gemeinsam mit ihren Eltern.

»Schaut nicht so viel jünger aus als du«, stellte Reika fest, die noch immer neugierig neben meinem Schreibtisch auf und ab wippte. Dreist beugte sie sich in Richtung des Monitors. »Außerdem ist er niedlich«, setzte sie nach einem prüfenden Blick hinterher. »Ich mag euch westliche Jungs einfach.«

Skeptisch zog ich die Augenbrauen nach oben. Völlig falsche Schublade. Oder besser: falsche Welt. Zur Antwort schnippte ich gegen die verbogene Süßigkeiten-Verpackung, sodass ihr eine ordentliche Portion Puderzucker und Kokosflocken entgegenflog. Reflexartig nahm sie Abstand.

»Erstens steckst du deine Nase in Sachen, die dich nichts angehen und zweitens solltest du inzwischen wissen, dass Aussehen nichts mit tatsächlichem Alter zu tun hat.«

»Wie alt bist du denn?«, quittierte sie die Zurechtweisung mit Unschuldsmiene und gespitzten Lippen. Dachte sie ernsthaft, ich übersah das Grinsen, das sie damit zu verstecken versuchte?

»Stümperhafter Versuch.« So einfach verplapperte ich mich nicht. In dieser Hinsicht besaß ich fast so viel Übung wie unsere stellvertretende Büroleiterin. Bloß aus vollkommen anderen Beweggründen heraus. Die Dämonin war schlicht extrem eitel, ich hingegen machte mir seit fünfzehn Jahren einen Heidenspaß daraus, die Leute rätseln zu lassen. Da kamen die wildesten Theorien zusammen, von denen es sich bei einigen ernsthaft lohnte, sie aufzuschreiben. Bei Gelegenheit sollte ich eine Sammlung erstellen.

»Dreiundzwanzig. Alles andere darfst du schätzen.«

Bei weitem die langweiligste Auskunft, die ich mir die letzten Jahre zurechtgelegt hatte. Ohne weiter auf das Thema einzugehen, wandte ich mich wieder der elektronischen Akte zu.

Jordi del Ferana übte sich seit Monaten als Weltenbummler. Gesponsert wurde er von seinem Vater, der das Geld für sein Luxusleben mit fragwürdigen Aufträgen der paranormalen Mafia verdiente. Zu allem Übel war sein Sohn darüber in Kenntnis gesetzt.

Was erzählten die Seiten noch über ihn? Der Halb-Engländer besaß ein Faible für Waffen, war leidenschaftlicher Schütze und gab Unsummen für teure Technik und Markenklamotten aus. Bei dem Lebensstil seines Vaters kein Wunder.

Außerdem bezeichnete Jean ihn als chaotischen Autofahrer-Frischling und talentierten Zeichner. Im Dossier fanden sich ein paar Karikaturen im Comic-Stil. Denulier erkannte ich auf Anhieb, auch seinen alten Jugendfreund und Mechaniker Alain konnte man nicht verwechseln. Del Ferana Junior besaß Talent und Humor. Die Zeichnung des Wolfs hätte eins zu eins aus einem amerikanischen Achtziger-Jahre-Comic stammen können: eine auf zwei Beinen gehende, überproportionierte Bestie, die nichts mit dem tatsächlichen Erscheinungsbild eines Werwolfs gemein hatte. Prächtig übertrieben und surreal.

Nächster Punkt: Schulbildung. Internat in England mit passablem Notendurchschnitt abgeschlossen. Wenn ich mich nicht verrechnete, hatte er sogar eine Klasse übersprungen. Mathe war dennoch unübersehbar das Hassfach: ausreichend. Sprachen dagegen schienen ihm zu liegen; Englisch, Spanisch, Französisch und brockenweise Italienisch. Nicht schlecht.

Sonst gab es kaum Interessantes zu lesen. Lieblingsspeise Lasagne und eine Abneigung gegen Bohnen, bei der ich ihm aus tiefstem Herzen beipflichtete. Angelegenheit Garfield, wie ich Jordi kurzerhand taufte, war mir irgendwie sympathisch. Obwohl ich nichts weiter als ein paar Zeilen über den Kerl gelesen hatte.

Schnell notierte ich Namen und letzten Aufenthaltsort auf einer durchgerissenen Karteikarte und drehte mich zu Reika um. Ihrem Quieken zufolge ausgesprochen unerwartet. Geschah ihr recht. Den Zettel drückte ich ihr in die Hand und nickte in Richtung der nervtötend piepsenden Kabelsalat-Arbeitsplätze.

»Stöber ihn auf. Ich schau nach Dienstschluss vorbei.«

Sie klappte stumm den Mund auf, wieder zu und tippte gegen das Telefon, das am Bund ihres Minirocks baumelte.

»Aber, ich hab doch unten Dienst?«

Kein sonderlich beeindruckender Einwand. Erstens gab es in der Telefonzentrale um diese Uhrzeit nicht solche Unmengen zu tun, dass jemand Gefahr lief, sich zu überarbeiten, und zweitens vertrat ich die Meinung, dass diese Aufgabe sie maßlos unterforderte.

»Interessiert mich herzlich wenig«, teilte ich ihr daher in passendem Tonfall mit und wies auf den Personalzuteilungsplan an der Pinnwand. »Da stehst du ganz unten bei Team Delta.«

Reikas Augen funkelten, als sie verstand, worauf ich hinauswollte. »Ist das ein Befehl?«

»Du hast es erfasst.« In klischeehafter Chefmanier legte ich die Füße auf den Schreibtisch, was dank meiner verschlissenen Oldschool-Basketballtreter allerdings schwer an Wirkung einbüßte.

»Bis später, Boss!«

Sie verschwand tänzelnd und begeistert pfeifend zu den Computerterminals. Dank Plateauschuhen und Minirock erinnerte sie mit ihren dünnen Beinen an die Figur aus einem Tim Burton Film.

So groß ihre Motivation war, so gering war meine eigene. Aber es half alles nichts, in einer halben Stunde mussten wir los.

 

**

 

Schiefgelaufen. Schon wieder! Dabei war er so sicher, dass es diesmal klappen würde!

Noch keiner der anderen hatte etwas Derartiges versucht. Eine vollkommen neue Strategie, ein einmaliger Zug. Die individuelle Lösung! Die Kombination aller Einzelteile, die der Meister sie gelehrt hatte.

Aber es war nicht mal jemand auf der Bildfläche erschienen.

Generalproben gingen immer schief. Genau das war es: sein letzter Test, die Probe aufs Exempel. Nun stand er im selbstverursachten Desaster und hatte alle Hände voll zu tun, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.

Beim nächsten Mal funktionierte es bestimmt. Die Fehler von heute würde er nicht noch einmal begehen.

Leise Stimmen im Flur ließen ihn aufhorchen. Sein Puls schoss beim Gedanken an die noch nicht aufgelösten Zauber in die Höhe. Wer kam so spät noch her? Sämtliche Bauarbeiter waren bereits vor Stunden gegangen. Es gab hier oben nicht mal Strom. Hatte er sich verhört? Oder war ihm jemand auf den Fersen?

Panisch packte er seine Jacke und lief in die entgegengesetzte Richtung zum Treppenhaus. Die Scheibe der Tür war vorhin dank einem Teil der zerfetzten Zauber aus dem Rahmen geplatzt. Seine Schritte knirschten auf den Scherben, die sich als gläserne Nägel in die Schuhsohlen bohrten. So leise wie möglich schlich er die Stufen nach oben und kauerte sich abwartend in eine Ecke.

# zweites Kapitel

 

»Neun Festnahmen. Wegen einer Gruppe junger Gestaltwandler, die nahe eines Spielplatzes Wettwandlungen abhielten«, warf Hina gerade in den Raum, als ich den Eingang des staubigen Fuhrparkbüros erreichte.

Hier unten erhielt ausrangiertes Mobiliar die Gnadenfrist. Auf dem hintersten Schreibtisch stand lediglich ein verlorener Computer, der seine Lebenserwartung bereits ums Dreifache überschritten hatte. Das gute Stück diente nur noch dazu, die zentral eingespeisten Daten auszuspucken. Dabei legte der ratternde Kasten eine erstaunliche Zuverlässigkeit an den Tag. Vielleicht hatte ihn irgendjemand aus einem nostalgischen Anfall heraus mit einem Zauber besprochen. Wundern würde es mich jedenfalls nicht.

Gegen den Türrahmen gelehnt, hörte ich zu, wie mein Team die Protokolle der Mittagsschicht diskutierte. Zu spät kommen zählt absolut zu meinen Talenten. Für Lauschen gilt dasselbe.

»Fast eine Stunde hat die Aktion gedauert. Die haben sich ordentlich gewehrt«, fuhr Hina fort und grüßte mich mit einem kaum merklichen Zwinkern. Die Hexe war erst vor kurzem in den aktiven Dienst gewechselt, kannte das Team aber längst als Supporterin. Für ihren ehemaligen Posten gab es aktuell noch keinen Ersatz. Daher auch die Azubi-Notbesetzung aka Reika im Dienstplan. Hinas Versetzung durften wir getrost als Glücksfall bezeichnen. Unsere gute Seele. Sie gehörte zu den ausgeglichensten Personen der gesamten Belegschaft. Außerdem war sie eine der wenigen, die mich zu meinen Anfangszeiten in Tokio nicht voller Vorurteile abgestempelt hatte. Da sie als Einzige in Blickrichtung Tür stand, bemerkten die anderen mich nicht.

»Was soll der Mist denn?« Hiroto schüttelte ungläubig den Kopf, wobei seine zu lang geratene Igelfrisur faszinierende Ähnlichkeit mit windgebeuteltem Schilf aufwies. Klar, dass der Wandler für das Fehlverhalten seiner Artgenossen kein Verständnis aufbrachte. Im Gegensatz zu Hina durfte er sich weder Geduld noch Besonnenheit auf die Fahnen schreiben. Ein absolut temperamentvoller Hitzkopf. Impulsiv, direkt und von sich selbst überzeugt. Wahrscheinlich machte er sich als Jäger paranormaler Delinquenten deshalb so hervorragend. Jemandem wie ihm lag aktives Eingreifen mehr als Spionage oder technisches Geplänkel im Hintergrund.

Im Rahmen eines Undercover-Einsatzes vor zwei Jahren war ich mit ihm heftig aneinandergeraten. Leiden konnten wir uns noch nie sonderlich gut, aber seitdem versuchten wir Konfrontationen mit penibler Akribie zu vermeiden. Das klappte sogar recht gut. Zumindest bis vor vier Wochen. Da setzte die Büroleitung sich spontan in den Kopf, den Schichtplan umzugestalten und Hiroto in mein Team zu pflanzen. Die Begeisterung darüber hielt sich auf beiden Seiten in Grenzen. Eine Unterordnung von wegen Dienstrang funktionierte zwar irgendwie, dennoch stand nach wie vor dieser verdammte alte Konflikt im Raum. Dass ich damals im Recht war, gab er ums Verrecken nicht zu – und ich schmierte es ihm bei jeder Gelegenheit aufs Brot. Sturheit ist nämlich uns beiden nicht fremd.

»Ich hab hier zwei Vampirübergriffe in einem Uniwohnheim«, übernahm er. »Zum Glück keine Todesopfer. Bei einer Studentin ist noch nicht klar, ob sie gewandelt wurde. Sie liegt auf der Krankenstation unter Beobachtung. Mehr konnten wir nicht für sie tun.«

Unsere beiden Menschen verzogen zeitgleich mitleidig die Gesichter. Die Zwillinge leisteten aktuell ihre Einarbeitungszeit nach der Ausbildung ab und nahmen sich so manchen Fall mehr zu Herzen als die alten Hasen. Dennoch bildeten Mio und Kaito eines der am besten eingespielten Azubi-Duos in Tokio.

»Wir haben eine Liste mit diversen fehlgeschlagenen Flüchen und Bannen, einer missglückten Beschwörung und mehreren unidentifizierten Magiewirkungen höherer Stufe«, erklärte Kaito und blätterte durch den Stapel.

»Insgesamt vorwiegend schwarzmagische Vorfälle heute.« Mio band sich die Haare zu einem Dutt zusammen. »Sieben zu zwei, um genau zu sein.« Zahlen und Statistiken, ihr Steckenpferd.

Hiroto gab ein verächtlich klingendes Geräusch von sich, bei dem ich nicht anders konnte, als in Erwartung negativer Randbemerkungen das Gesicht zu verziehen. Eine Denkweise, die ich mir eigentlich nicht leisten durfte.

»Dann können wir wohl froh sein, jemanden mit schwarzmagischer Fachkompetenz dabeizuhaben«, kommentierte er sein Grummeln, was ihm erstaunte Blicke von Seiten der Zwillinge einbrachte.

»War das jetzt ironisch gemeint? Du lässt doch sonst kein gutes Haar an Vanjar«, wollte Kaito wissen, ehe ich selbst dazu kam, mich bemerkbar zu machen. Die Direktheit in Person. Höflichkeit sieht anders aus. Um ehrlich zu sein, fragte ich mich aber dasselbe.

Hina suchte teils amüsiert, teils neugierig Blickkontakt zu mir, schien aber aus meiner Miene nicht schlau zu werden. Ich gab mir auch alle Mühe meine Skepsis zu verbergen, erwartete allerdings nicht, damit erfolgreich zu sein.

Hiroto schüttelte unterdessen erneut den Kopf. »Nein, das ist mein Ernst. Mir sind die Schwarzen nicht geheuer. Wenn wir welche von ihnen suchen, ist es besser einen davon auf unserer Seite zu haben. Ich fühle mich wohler damit. Das magische Potenzial kann ich unserem Teamchef ja nicht absprechen.«

Hoppla, ich tat ihm Unrecht.

Kaito pfiff nicht minder verblüfft durch die Zähne. »Stimmt. Vermutlich besitzt er sogar Stufe eins.«

Na, mit der Mutmaßung lag er weit daneben.

»Zwei«, korrigierte ich, im Beschluss genug gelauscht zu haben und stieß mich vom Türrahmen ab.

Mio bekam vor lauter Schreck einen Schluckauf. Hiroto fuhr herum, wie ein kleines Kind, das man beim Süßigkeiten stibitzen erwischt hatte und Kaito erstarrte, als hätte er einem Basilisken zu tief in die Augen geschaut. Lediglich Hina blieb seelenruhig und schenkte mir ein Lächeln, bei dem sie eine Reihe perfekter Zähne entblößte.

»Du darfst das nicht immer überschätzen, Kaito«, erklärte sie auf eine Art, die in keiner Weise rechthaberisch wirkte, ihn aber dennoch eines Besseren belehrte. »Wenn man das Stufenmodell zur Eingruppierung magischen Potenzials zugrunde legt, ist Stufe eins jemand, der über maximale Fähigkeiten verfügt. Diese rar vertretenen Zeitgenossen haben eine eigene Politik untereinander. In vielen Ländern sind sie sogar meldepflichtig.« Die acht Stufen darunter gliedern sich in starke bis latente magische Begabung, die im Grunde von Geburt an festgelegt ist. »Es ist zwar nicht auszuschließen, dass man sich im Laufe seines Lebens mit viel Training um ein oder zwei Stufen steigert, aber die oberste ist nicht so einfach zu erreichen.«

Dem war nichts hinzuzufügen. Die Beurteilung funktioniert ähnlich einem Schulnotensystem, gemessen an der Kraft und den Möglichkeiten, die einem beim Gebrauch magisch nutzbarer Energie zur Verfügung stehen.

Hinas Monolog bewahrte mich außerdem davor, Rechtfertigungen bezüglich meines Erscheinens abgeben zu müssen. Sollten die drei sich ruhig fragen, wie lange ich schon dagestanden hatte. Ich nutzte die Chance, setzte mich an den Rechner und aktualisierte die geöffnete Datei. Keine weitere Meldung. Auch gut.

»Wir müssten uns diese danebengegangene Beschwörung noch mal ansehen«, schlug Kaito nach einer Weile unangenehmen Schweigens vor und ruderte somit unbeholfen zum Ausgangsthema zurück. Niemand widersprach dem Frischling. Allein schon, weil dieser Fall die größte Gefahr bezüglich Spätfolgen barg.

Dämonen existieren in hunderten Variationen. Die Evolution spuckt sie irgendwann in jedem bewohnten Universum aus. Dimensionale Kanalratten oder anhängliche Humanoidenseuche, wie Henry es so charmant auszudrücken pflegt. Damit repräsentiert er die Meinung der meisten Weltenbewohner, egal wo man sich umschaut. Mir passt der Ausdruck weniger in den Kram, was hauptsächlich der Tatsache geschuldet ist, dass sich in meinem Stammbaum eine nicht unwesentliche Zahl Vertreter dieser Spezies tummelt, auch wenn das mindestens zwei Generationen zurückliegt.

Fakt ist: Obwohl Dämonen üblicherweise keine Zwischendimensionen zum Reisen nutzen können, sind sie ständig präsent. Wobei man nicht alle über einen Kamm scheren darf. Ob Elementar-, Tier- oder Mischformen, oft unterscheiden sie sich körperlich so extrem voneinander, wie die Universen, in denen sie leben. Das gilt selbstverständlich genauso für ihre Fähigkeiten. Gemein bleiben allen Sorten drei Dinge:

Erstens besitzt jeder Dämon drei Erscheinungsformen. Ein gewöhnliches, meist der hauptsächlich vertretenen und für ihre Zwecke nützlichsten Art angepasstes Aussehen. In dieser Welt also menschlich. Ihre jeweilige Tier- oder Elementarvariante und die tatsächliche Gestalt; der nicht sonderlich ansehnliche Mischmasch aus den beiden anderen. Hinzu kommen die Halbdämonen, denn sie sind die Einzigen, die mit fast jeder Art Nachkommen zeugen können. Dabei werden schwächere Varianten des dämonischen Elternteils in die Welt gesetzt, die ihrerseits wiederum Nachfahren mit Sonderbegabungen hervorbringen, bis sich die genetische Information im Laufe der Generationen irgendwann verliert.

Beinahe in jeder Welt lassen sich religiöse Mythen oder Legenden auftreiben, in denen die Ausgeburten des Bösen in irgendeiner Version Erwähnung finden. Nicht immer entspringt das der freien Erfindung. Bei Baphomet mit seinem Ziegenkopf tippe ich am ehesten auf die tatsächliche Gestalt eines dieser Wesen. Nachgeforscht habe ich aber nie.

Zweitens sind sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit erfahrene Schwarzmagier. Dämonen altern wesentlich langsamer als Menschen. Somit bleibt ihnen um einiges mehr Zeit, die optimale Ausnutzung ihres magischen Potenzials zu trainieren.

Zu guter Letzt unterliegen alle Voll- sowie viele Halbwesen den Gesetzen der Bann- und Beschwörbarkeit.

Ersteres lässt sich am einfachsten als magische Handlung zur Kontrolle definieren. Trotz der begrifflichen Ähnlichkeit nicht mit Bannkreisen zu verwechseln, mit deren Hilfe man Magie an einen festgelegten Ort bindet. Das sind zwei Paar Schuhe.

Im Grunde handelt es sich bei einem Bann um einen Zauber, der ausreichend starken Magiebegabten oder Hexenden gestattet, über das Handeln eines Dämons zu entscheiden. Vorausgesetzt, er befindet sich im Moment des Aussprechens in unmittelbarer Nähe. Es funktioniert ähnlich wie ein Fluch, also ein Schaden, der einer Person oder Sache auf Dauer angeheftet wird.

Wohlgemerkt, Dämonenbanne erlauben lediglich die Kontrolle über den Körper, nicht über das Bewusstsein. Auch wenn der Betroffene tun muss, was der Verursacher von ihm verlangt, heißt das nicht, dass er damit einverstanden ist – beziehungsweise nicht nach Schlupflöchern sucht, um das ihm Abverlangte zu umgehen.

Man sollte nie vergessen, dass jedes dieser Wesen in der Lage ist, sich zu wehren. Je stärker die magische Begabung, desto schwieriger gestaltet es sich, ihn zu bannen und umso kürzer ist die Dauer des Zwangs. Jeder Dämon kommt früher oder später wieder frei. Wie lange es dauert, steht freilich auf einem anderen Blatt. Als Faustregel gilt: Langfristigen Erfolg erzielt man nur, wenn er mindestens eine Potenzialstufe unter einem selbst liegt.

Als Beschwörung hingegen definiert man das Herbeirufen und nein, dabei gibt es kein Trara mit schwarzen Kerzen oder Blutopfern. Reine Hollywoodspekulation. Sinnvoll ist es, die richtigen Worte zu kennen, dann bleiben zwei Möglichkeiten: Zum Herbeirufen einer bestimmten Person nutzt man schlicht und einfach den Namen. Wahlweise funktionieren auch Haare, Fingernägel oder was weiß ich für ein persönlicher Teil.

Steht nichts dergleichen zur Verfügung, wird es unspezifisch: Ein Stück Fell, Haut oder das entsprechende Element der jeweiligen Wechselgestalt in das Ritual einzubinden, ruft einen x-beliebigen Dämon der gewünschten Sorte herbei. Wundertütenprinzip. Und tadaaa, das war’s schon. Natürlich ist fraglich, ob der Herbeigeholte an Ort und Stelle bleibt.

Im Gegensatz zum Bann muss man sich bei einer Beschwörung nicht in der Nähe des Ausführenden befinden. Das klappt durchaus über große Entfernung. Der Nachteil daran ist, dass sie sogar von Menschen durchgeführt werden kann. Man muss es bloß richtig anstellen. Das Risiko dabei wird meist unterschätzt. Keiner ist begeistert davon, sich irgendwohin befördern zu lassen oder nach irgendjemandes Pfeife tanzen zu müssen. Ich kann versprechen, vor der Rache eines freigekommenen Dämons ist man nirgendwo sicher.

Vieles, was besonders von den westlichen Religionen – allen voran das Christentum – in diese Welt gesetzt wurde, ist also vollkommener Humbug. Einiges entspricht allerdings der Wahrheit. Logischerweise hat Gris auf solche Fälle ein besonders wachsames Auge. Kaitos Vorschlag, die misslungene Beschwörung genauer unter die Lupe zu nehmen, war daher absolut naheliegend.

»Machen wir.«

Ich stand auf und zog den Reißverschluss meiner Fleecejacke nach oben. Die Temperatur draußen betrug mit Glück sieben Grad – eindeutig zu kalt.

In unseren grauschwarzen Uniformen erinnerten wir am ehesten an Mitarbeitende eines privaten Sicherheitsunternehmens. Tatsächlich bestand darin eine der vielen Identitäten, unter denen die Organisation in der Öffentlichkeit auftrat. Logistical Observation Group nannte sie sich in Europa. In Japan gab es selbstverständlich ein entsprechendes Pendant dazu.

Bestückt mit Funk und Waffen in verdeckten Holstern verließen wir zu fünft das Gebäude.

 

»Welches magische Potenzial hast du, Hina?«, fragte Mio über die Schulter hinweg. Manchmal konnte sie genauso taktlos sein wie ihr Bruder.

Hina neigte nachsichtig den Kopf zur Seite. »Ich habe mich nie einordnen lassen«, gab sie zu. »Ich finde es schlicht nicht wichtig.«

Hiroto wandte sich im Gehen zu mir um. »Fragen wir doch unseren Herrn Gedankenleser. Mit ein bisschen mentaler Fischerei kannst du da doch sicher Abhilfe schaffen.«

Grinsend schüttelte ich den Kopf.

»Magisches Potenzial liest man nicht einfach aus Personen heraus, egal welcher Art sie angehören. Auch nicht mit telepathischen Fähigkeiten.«

Unter zurate ziehen der fünften Dimension ließ sich allerdings eine relativ zuverlässige Schätzung abgeben. Wandererbonus. Aber den hängte ich gewiss nicht an die große Glocke. Diesen Vorgang korrekt zu beschreiben, gestaltet sich sowieso recht schwierig. Man könnte sagen, wir Weltenwechselnden sind in der Lage, die magische Datenautobahn nicht bloß intuitiv zu nutzen oder einzuschätzen, sondern können sie ebenso bewusst auslesen.

In Sachen Bloßstellung ist das durchaus mit dem Eindringen in die intimsten Gedanken vergleichbar. Zumindest was das anging, lag Hiroto zwar richtig, aber es gibt schlicht gewisse Grenzen, die man gegenüber Freunden oder Kollegen nicht überschreiten sollte. Weder beim Begutachten des magischen Potenzials noch beim Gedankenlesen.

Zugegeben, es passiert oft genug, dass ich, ohne es bewusst zu steuern, anderer Leute oberflächliche Überlegungen belausche, und ich streite das gewiss nicht ab. Jeder Telepath, der dementiert, das zu tun, lügt meiner Meinung nach sowieso. Was das angeht, stelle ich also bestimmt keine Seltenheit dar. Zwei Prozent der übernatürlichen Gesellschaft zählen in dieser Welt zu den mental begabten Wesen. In gewissem Maß liegt hinzuhören einfach in unserer Natur. Zumindest behaupten das die meisten Paranormalitätsforscher und ich neige dazu, ihnen diesbezüglich Glauben zu schenken. Die Kontrolle, auf die Hiroto anspielte, lag allerdings eindeutig außerhalb dieses gewöhnlich akzeptierten Rahmens. Recht behielt er trotzdem. Ich konnte nachsehen, wenn ich wollte und tat das eindeutig zu oft.

Es wäre mit Sicherheit gesellschaftskonformer ohne beide Fähigkeiten auszukommen, aber was soll ich sagen? Es gelingt mir nicht. Man könnte es vielleicht als siebten Sinn bezeichnen. Zumindest rede ich es mir damit schön.

»Naaa?«, stocherte Hiroto nach. Das Wort ließ keinen Zweifel daran, dass er nichts von Gedankenleserei oder der Sicht nach innen, wie die Hexenden es gerne nennen, hielt. Noch so ein Diskussionsthema, bei dem wir nicht übereinkamen.

»Was?«, fragte ich gereizt zurück und erntete damit einen Ellbogenhieb von Hina.

»Tu nicht so unschuldig! Du hast bestimmt längst jeden von uns unter die Lupe genommen.«

Dazu gab es nichts zu sagen. Mein Talent in Fettnäpfchen zu treten, erwies sich mal wieder als ausgesprochen zuverlässig. Die Hexe lachte herzlich auf und gab dem Wandler einen Klaps auf die Schulter. »Sei nicht so neugierig!« Ob der Satz ihm oder mir galt, wusste er wie ich nicht zu sagen. Vermutlich uns beiden.

Hirotos angesäuertes Gesicht ließ indes keinen Zweifel daran, dass das Thema für ihn noch nicht abgehakt war. Mit ein paar schnellen Schritten gelangte er neben mich.

»Hat sie recht?«, fragte er leise.

Ich holte Luft, um etwas in Richtung ›Als Teamleiter sollte ich ja wohl wissen, über welche Kompetenzen meine Leute verfügen‹ von mir zu geben, doch ich hielt die Klappe. Wenn ich mir eins nicht leisten konnte, dann es mir noch schlimmer mit den Leuten zu verscherzen, mit denen ich täglich zusammenarbeitete. Teamchef hin oder her.

Um etwas mehr Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, vergrub ich die Hände in den Hosentaschen und wich einem Zeitungsständer aus, der zu weit auf den Gehweg ragte und mich zwischen sich und dem fast einen Kopf größeren Gestaltwandler einzuquetschen drohte.

»Glaubst du denn, das lasse ich mir entgehen?«, fragte ich schließlich zurück. Ein schiefes Grinsen ließ die Antwort leider nicht weniger unverschämt wirken.

Er verdrehte seufzend die Augen.

»Wenn mich mal einer fragen sollte, woher die weit verbreitete schlechte Meinung über Schwarzmagier stammt, werde ich dich als Paradebeispiel anführen!«, verkündete er im Brustton der Überzeugung. Ich grinste noch breiter.

»Weil wir dir ja so gar nicht geheuer sind.« Wahrscheinlich hätte ich besser eingelenkt, aber die Lust meinen Fauxpas noch weiter breitgetreten zu sehen, hielt sich in Grenzen. Lieber bestätigte ich seine Meinung. Die stand sowieso felsenfest wie der Himalaya.

Einen Moment schaute er mich beinahe fassungslos an, dann schlich sich ein Schmunzeln auf sein Gesicht.

»Dass du keinen Humor hast, kann man dir nicht nachsagen.«

Wie? Jetzt war es an mir, verdutzt zu sein.

Die nächste Kreuzung kam in Sicht und Mio blieb stehen, um ein graues Hochhaus mit dunkelblauen Fensterrahmen in Augenschein zu nehmen, an dem jede Menge Neonwerbung blinkte.

»Da oben. Das Zentrum des Zaubers wurde in der derzeit leerstehenden zwölften Etage geortet.«

Mit über die Augen gehaltener Hand zählte ihr Bruder tonlos die dunklen Stockwerke. »Seht ihr das kaputte, abgeklebte Fenster? Dort irgendwo müsste es sein.«

# drittes Kapitel

 

Nur circa ein Viertel der Klingelschilder und noch weniger Briefkästen wiesen verblasste Beschriftungen auf. Über der Tür hing breit und bunt die Reklame eines Bauunternehmens. Direkt darunter prangte, nicht minder auffällig, die Anzeige einer Immobilienfirma.

Sonst hatte das Haus nichts weiter als kahles Gemäuer zu bieten. Einen Portier suchte man hier vergebens, sämtliche Türen waren verschlossen.

»Wir müssen wohl Einbrecher spielen.« Mio klang semibegeistert.

»Nicht nötig.« Hina zog einen silbernen Schlüssel aus der Tasche, der am vorderen Ende in einer haselnussgroßen Metallkugel mündete.

Vor lauter Neugier bekam Kaito beinahe Stielaugen. »Was ist das?«

»Ein Allesöffner«, gab die Hexe bereitwillig Auskunft. Fragend schaute sie zu mir herüber. Ich nickte in Richtung Schloss, zum Zeichen, dass es an ihrer Idee nichts auszusetzen gab.

»Wie viele Lizenzen hast du noch?«, wollte ich trotzdem wissen. Diese Dinger gab es schon seit einigen Jahren nicht mehr bei der Organisation. Eine Zeit lang hatte man sie offiziell beantragen können, allerdings wurden die guten Stücke zunehmend zweckentfremdet. Vom Lesen fremder Schreibtischinhalte über Spionage im Büro des Ehemanns bis hin zu Diebstahl. Zuerst versuchte man es mit eingeschränkter Nutzungshäufigkeit, was – oh Wunder – kaum half. Wenig später schaffte man sie komplett ab.

Nachdenklich schaute die Hexe nach oben, als vermochte sie die Antwort irgendwo in den Wolken abzulesen, die trüb und voller Wasser über der Stadt hingen.

»Noch drei, glaube ich. Er wurde schon Jahre nicht mehr gebraucht, wisst ihr.«

Damit setzte sie das Metall aufs Schlüsselloch und presste es dagegen. Egal wie lange sie das Ding mit sich herumtrug oder wozu es ursprünglich gedient haben mochte, im Moment war es ziemlich nützlich. Dennoch zählte es normalerweise zur Ausrüstung der Teammitglieder im Außendienst und nicht zu der von Analysten und Bürohockern. Vielleicht sollte ich sie danach fragen, falls sich die Gelegenheit bot. Für den Augenblick gab ich mich mit dem praktischen Nutzen zufrieden.

Staunend beobachteten die Zwillinge, wie das Metall sich vor dem Schloss verflüssigte, um in der Öffnung zu verschwinden. Kurz darauf knackte es im Inneren des Mechanismus. Die Hexe drehte den Schlüssel und öffnete problemlos die Tür.

»Wenn ich sie wieder zusperre, ist eine weitere Lizenz verbraucht und er formt sich zurück.«

Mio betrat die dunkle Eingangshalle als Erste. »So was hab ich noch nicht gesehen. Du Hiroto?«

»Erst einmal, aber noch nie in Aktion. Die Teile gibts seit zehn Jahren nicht mehr.«

›Zwölf‹, verbesserte ich gedanklich. Der Gestaltwandler drehte sich irritiert zu mir um.

»Hast du was gesagt?«

Hatte ich? Nein, theoretisch sollte er die Überlegung nicht gehört haben. Da war sie, die Krux mit der Telepathie: Manchmal passiert dergleichen einfach ungewollt. Ich schüttelte also lieber den Kopf und folgte den anderen nach drinnen.

Die Innereien der Alarmanlage ragten über uns, in Einzelteile zerlegt, aus der Wand, als hätte jemand eine Portion Spaghetti an den Marmor geklatscht. Zusammen mit einem tomatenroten Schild, auf der weiße Zeichen Vorsicht! Wartungsarbeiten! verkündeten. Kaito betrachtete die Stelle, als stünde er vor einem Kunstwerk.

»Schön. Wirklich sehr schön«, murmelte er theatralisch. Das machte es uns ein weiteres Mal extrem leicht. Im Gegensatz zum nächsten Technikausfall: Der betraf nämlich den Aufzug, der, mit einem ähnlichen Schild gekennzeichnet, außer Betrieb gesetzt worden war. Na gut, dann eben zu Fuß.

»Mio, Kaito und Hina: Ihr nehmt die Südtreppe. Hiroto und ich gehen im Norden rauf«, kommandierte ich kurzerhand und schlug den Weg ein, bevor jemand Einspruch erheben konnte. »Treffen im Zwölften vorm Aufzugsschacht.«

Sinnvolle Aufteilung. Die beiden Anfänger gingen zusammen mit der Erfahrensten den kürzeren Weg. Der Rest nahm die vom vermeintlichen Ort des Geschehens am weitesten entfernte Strecke. Außerdem gab es so in jeder Hälfte einen Magiebegabten, falls notwendig. Dass ich nebenbei darauf spekulierte, mit Hiroto ein paar Takte unter vier Augen zu reden, durfte als positiver Nebeneffekt bezeichnet werden.

Ich erwartete nicht, dass Mr. Um-alles-einen-Bogen-Machen von sich aus ein Gespräch begann. Noch während ich überlegte, wie man derartige Unterhaltungen am gescheitesten anfing, ohne gleich einen Streit vom Zaun zu brechen, wurde ich vom Gegenteil überzeugt.

Mit leisem Räuspern blieb der Wandler stehen. »Hör mal …«

Verbales Anlauf nehmen.

Ich drehte mich auf meiner Stufe um und stellte fest, dass wir so passenderweise auf Augenhöhe standen.

»Hm?« Dass ich unwillkürlich die Arme verschränkte, bemerkte ich erst, als er es mir gleichtat.

»Was die Arbeit angeht, also … ich meine -« anscheinend fiel ihm das genauso schwer wie mir. »Ich bin nicht voreingenommen, was deine Kompetenz als Teamleiter betrifft.«

War mir vorhin schon klargeworden. Abwartend lehnte ich mich ans Treppengeländer.

»Ich weiß, ich sollte meine private Meinung von den Einsätzen trennen, aber irgendwie ist das nicht leicht.«

Immerhin war er so ehrlich und gab das zu. »Dann reiß dich zusammen oder spucks aus. Du hast noch zehn Stockwerke Zeit.« Nachdrücklich-quietschendes Treppenstapfen unterstrich die gegrummelte Aufforderung, als ich mich zum Gehen wandte.

Hiroto atmete tief durch, bevor er mir folgte. Eine halbe Etage lang liefen wir stumm hintereinander her. Es fiel mir unfassbar schwer, die Geduld aufzubringen, nicht gleich in seinem Kopf zu wühlen. Um mich abzulenken, zählte ich die Stufen, verzählte mich allerdings nach den ersten zehn und fing von vorne an: … elf, zwölf, dreizehn …

»Uns wurde beigebracht, dass die Art und die magische Orientierung keinerlei Bedeutung haben.«

… fünfzehn nein, vierzehn …

»Dass die Geschichten der bösen Magier und schlechten Dämonen Vorurteile sind.«

… siebzehn? Faszinierend, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolperte. ›Worauf willst du hinaus?‹

»Du machst es mir ganz schön schwer, daran zu glauben. Ich habe eine Menge Fallakten gelesen. Ständig leistest du dir irgendwelchen Mist. Verschwindest ohne Vorwarnung über Wochen hinweg, lässt dein Team hängen, tauchst auf, wann es dir passt und jeder akzeptiert das! Du wurdest zu uns strafversetzt. Vor Jahren schon! Was ist vorgefallen, dass es so weit kommen musste?«

Darauf sollte ich am besten nicht antworten. Allerdings ballte sich mein Magen zu einem wütenden Knoten zusammen und die Worte sprudelten aus meinem Mund, bevor ich ansatzweise über sie nachdachte.

»Genau das ist passiert! Weam akzeptiert nicht, dass mein Leben in mehr als einer Welt stattfindet. Er kann es sich nur nicht leisten, den einzigen Wanderer in seinen Reihen endgültig davonzujagen. Ich lasse niemanden im Stich. Sonst wäre ich nie hierher zurückgekommen. Noch weniger hängen meine Entscheidungen von der Magie ab, die ich nutze«, zischte ich ihn an und bereute den giftigen Tonfall im selben Moment. Nicht sonderlich professionell.

Hiroto kam zum gleichen Schluss und gab ein verächtliches Lachen von sich, was bei seiner tiefen Stimme einen ungewollt bedrohlichen Eindruck vermittelte.

»Du belügst dich selbst! Nutzt schwarze Zauberei, beziehst Energie zum eigenen Vorteil, ohne Rücksicht auf Verluste. Wieso solltest du dienstliche Entscheidungen unter anderen Gesichtspunkten fällen? Genau wie dieses Verschwinden: Denkst du überhaupt darüber nach, ob es der richtige Zeitpunkt ist, einfach abzuhauen?«

›So einfach ist das nicht.‹

Das war der letzte Satz, den er jetzt gelten ließ. Natürlich sah es für ihn nach Willkür aus. Für wen nicht? Tatsächlich gab es zwei essenzielle Gründe und zumindest über einen davon setzte ich ihn zu meiner Verteidigung in Kenntnis: »Du irrst dich. Ich entscheide nicht immer selbst, wann ich gehe.«

Diese Vorwürfe hingen mir dermaßen zum Hals heraus, dass ich es nicht fertigbrachte, meine Rechtfertigung für mich zu behalten.

Ein weiteres Mal blieb der Wandler stehen. Verständnislos breitete er die Arme aus. »Was meinst du damit?«

Ebenfalls innehaltend vergrub ich schon wieder die Hände in den Hosentaschen. Die Geste kam mir langsam vor, wie ein Zugeständnis am liebsten im Boden verschwinden zu wollen.