Scherbenrausch - Carolin Summer - E-Book

Scherbenrausch E-Book

Carolin Summer

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Beschreibung

»Wer mit dem Schicksal pokern will, sollte mit gezinkten Karten spielen.« Paris, 17. November Willkommen zurück in Paris! Heute auf dem Dienstplan: Durchgedrehte Dämonen, magische Drogeneskapaden und illegaler Bluthandel. Der Freifahrtschein für einen Trip in die Abgründe der paranormalen Gesellschaft. Ich war natürlich wahnsinnig genug, diesen Fall zu übernehmen. Dabei kann ich nicht mal behaupten, dass mich niemand gewarnt hat. »Leben zu retten bedeutet fast immer, Scherbenhaufen zu hinterlassen. Sieh nicht zu oft hin, was sich in ihnen spiegelt. Manchmal zerspringt davon der Verstand.« Inzwischen stecke ich knietief in diesem Sumpf aus Tod, Verrat und Lügen. Ein Spion mit der Schlinge um den Hals, knapp davor, endgültig auf die falsche Seite zu geraten. Weil ich nicht anders kann. Und weil ich es versprochen habe. Vanjar Belaquar

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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IMPRESSUM
# Risse
# erster Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# elftes Kapitel
# zweiter Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
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# erstes Kapitel
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# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
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# vierter Part
# erstes Kapitel
# zweites Kapitel
# drittes Kapitel
# viertes Kapitel
# fünftes Kapitel
# sechstes Kapitel
# siebtes Kapitel
# achtes Kapitel
# neuntes Kapitel
# zehntes Kapitel
# Splitter
# Wer - Wo - Warum
# Danke
# Wer schreibt hier eigentlich?
Die Weltenwechsler Akten Tetralogie

DIE WELTENWECHSLER AKTEN

SCHERBENRAUSCH

Carolin Summer

 

Band II

Urban-Fantasy-Krimi

Content Notes: Drogenkonsum, Abusus, Alkoholkonsum, psychische Gewalt, körperliche Gewalt, explizit: häusliche Gewalt, Missbrauch, Sexismus, Anspielung: sexueller Übergriff, Selbstjustiz, Rassismus, Suizid, Tod/Mord

Das Figurenglossar befindet sich am Ende des Buches.

 

IMPRESSUM

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und jegliche Verwertung ohne Zustimmung der Autorin daher unzulässig. Insbesondere gilt dies für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Dazu zählt ebenfalls die Erstellung von RPG-Foren, Fan-Fictions etc. Die in der Geschichte enthaltenen, fiktiv-physikalischen Erläuterungen erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und sollten mit einem nachsichtigen Augenzwinkern betrachtet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. INSPIRATION UND OVATION [QUELLENANGABE]: In »Scherbenrausch« werden Auszüge aus Friedrich Nietzsches jenseits von Gut und Böse und Der Freigeist, Bitte sowie Songtexte von Nicolas Maus und Sonic Circus zitiert. Quellen: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Reclam Universal-Bibliothek Nr. 7114, 1988, S. 83. Friedrich Nietzsche: Gedichte. Reclam Universal-Bibliothek Nr. 18636, 2010, S. 27; 131 ff. Vierte Auflage: 2023 Erste Auflage 2019 Copyright 2023 Selina Carolin Summer C/o Fam. Töpler, Mozartstr. 8, 66399 Mandelbachtal Lektorat: Nina Hasse Korrektorat: Florian Zimmer Cover und Satz: Selina Carolin Summer Bildmaterial: Deviantart: frankandcarystock Textur: Sascha Duensing ISBN Taschenbuch: 978-3-7497-2043-9 ISBN Hardcover: 978-3-7497-2044-6 Erschienen bei Tredition

Für Annetteweil wir manchmal erst verstehen, wenn es für immer zu spät ist.

Jenseits von Gut und Böse

 

»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

 

Friedrich Nietzsche

# Risse

[Sonntag, 20. April | Metro Croix-Rouge – Paris]

 

Träge erwachten die Neonröhren aus dem Schlaf. Das, worauf sie flackernd den Blick freigaben, zählte zweifelsfrei zur Kategorie der Dinge, die nicht ins Licht gezerrt gehörten.

Fast hätte der Anblick der Geisterstation einen Hauch von Wehmut heraufbeschworen. Weiß geflieste Wände mit schnörkeligen Zierrahmen, verblichene Plakate. Doch die Nostalgie erstarb schnell. Nicht nur dank der Schmierereien mehr oder minder begabter Graffitikünstler. Das Bild knitterte ein Makel.

Dort, wo die Stufen zu den Gleisen führten, teilte Schwärze den Aufstieg. Falls man es so nennen mochte. Ein Spalt, vom rostigen Handlauf diagonal hinauf ins fade Grau der gewölbten Decke. Das Gefüge aus Rissen zerteilte die Wirklichkeit und fraß, was immer ihm zu nahe kam.

»Wir haben schon eine Menge hindurchgeschickt, aber nichts scheint zurückzukommen.« Der Blick aus den trüben Augen des Grauhaarigen hing an der Szene auf dem Bildschirm. »Nichts, abgesehen von der Asche, die sich hartnäckig in jede noch so kleine Öffnung frisst.«

# erster Part

[BLUTROT & SCHATTENSCHWARZ]

# erstes Kapitel

[Montag, 17. März 2008 | Paris, Frankreich]

 

»Alle verfügbaren Einsatzkräfte umgehend in der Supportzentrale melden!«

Be-beep!

Das schrille Signal begleitete mein Auftauchen vor der zufallenden Tür. Ich fing sie ab, bevor sie ins Schloss krachte. Durch den Spalt schien bläuliches Licht; gepaart mit unruhigem Stimmengewirr zerschnitt es die Schwärze des Flurs.

»Die Verbindung ist vor zwei Minuten abgerissen. Seitdem haben wir nichts mehr gehört«, drang die Unterhaltung nach draußen. Ich hielt inne.

»Was ist mit dem Live-Tracking?«, fragte eine unbekannte Stimme.

Mai war es, die antwortete, monoton, wie sie sonst ihre Visionen von sich gab: »Kein Signal.«

Meine Finger schlossen sich fester um den alten Messinggriff.

»Wir haben alle Kollegen aus der Umgebung zu ihnen geschickt, aber wer weiß, ob die schnell genug vor Ort sind.«

»Geschweige denn, was überhaupt vorgefallen ist. Komplette Teams verschwinden ja nicht einfach vom Erdboden.«

Hast du eine Ahnung, Frischling.

Ich schlich nach drinnen, zog geräuschlos die Tür hinter mir zu und lehnte mich dagegen. Die Wärme des Holzes an meinen Handflächen gab mir die Sicherheit, wirklich präsent zu sein. Ein Anker in der Realität. Der physische Beweis dafür, dass ich nicht bloß Zuschauer der entrückt wirkenden Situation blieb.

Die meisten vom Support hatten sich vor dem Flatscreen mitten im Raum versammelt. Neben einer Straßenübersicht blinkten darauf etliche Warnmeldungen um die Wette. Ein hektischer Takt, der das ratlos-besorgte Schweigen untermalte.

»Wer?«, pflanzte ich meine einsilbige Frage in die Stille. Die unbestimmte Ahnung, gleich mit einer Katastrophe konfrontiert zu werden, kratzte an meinen Nerven.

Mai wirbelte auf dem Absatz herum und maß mich mit einer Miene, die sowohl in Begeisterungsstürme als auch in einem Wutanfall gipfeln konnte. »Dich schickt der Himmel!«

»Wohl kaum«, kommentierte Amélie trocken. »Falsche Abteilung. Zwei Einsatzteams im zehnten und achtzehnten Arrondissement«, gab die Vampirin die Auskunft, auf die ich wartete. »Alpha und Zeta.«

»Scheiße.« Mehr gab es nicht zu sagen.

»Van«, warf Mai ein, »ich glaube, das, was die Verbindung lahmlegt, hat Hendrik erwischt. Ich – ich hab ihn schreien hören. Nic ist auch dort. Und Jordi.«

Ausgerechnet.

Während meine unheilvolle Ahnung Gestalt in flauer Gewissheit annahm, schluckte ich ein paar Flüche hinunter. Momente, in denen man Unheil erwartet, haben zuweilen die unangenehme Angewohnheit, beim Eintreten mit doppelter Wucht zuzuschlagen.

Zähneknirschend stieß ich mich von der Tür ab. »Worum ging es bei dem Einsatz?«

»Code Omikron, Übergriff durch einen Dämon.« Mai deutete auf ihren Monitor, über den ein unscharfes und viel zu dunkles Handyvideo flimmerte.

Der Besitzer des Telefons rannte durch eine nebelige Seitengasse. Nasses Kopfsteinpflaster, graffitibesprühte Rollläden, vernagelte Ladeneingänge voller Plakatreste. Nach einigen Metern schwenkte die Kamera nach hinten. Vom Gegenlicht der Straßenlaternen hob sich eine unförmige Silhouette ab. Ihr Bewegungsmuster war für die massige Erscheinung erstaunlich flink. Kurz sank der Fokus Richtung Boden. Stolpernde Füße in roten Skaterschuhen. Als er in seine alte Position zurückfand, schien der Schatten wie vom Erdboden verschluckt. Einen Sekundenbruchteil stagnierte das Bild, ehe es suchend umherglitt. Geparkte Wagen, Hauswände, schmutzige Fensterscheiben. Bloß eine verlassene Großstadtstraße.

Für ein paar Sekunden. Dann zuckte etwas Helles am linken Bildrand auf.

Nein, nicht etwas.

Jemand.

Die junge Frau musste direkt neben dem flüchtenden Filmer aufgetaucht sein. Langsam wiegte sich ihre bleiche Gestalt vor und zurück, das blutverschmierte Gesicht zu einem fanatischen Grinsen verzerrt. Ihr ruiniertes Seidenkleid ließ nur wenig von der ehemaligen Eleganz erahnen. Mit unnatürlich erweiterten Pupillen schaute sie in die Linse, während ihre Lippen tonlos Worte formten. Dann schossen blutige Hände nach vorn und das Bild wurde schwarz.

»Es gibt leider keine Audiospur.«

Die brauchte ich auch nicht. Mit einem Blick auf den Stadtplan prägte ich mir den vermuteten Standort meiner Kollegen ein und verschwand im scheinbaren Nichts.

 

*

 

Ein Schuss krachte aus Nics Glock und bohrte sich ins Knie des nächsten Angreifers. Dem entlockte das allerdings lediglich ein grollendes Knurren. Falls Jordi richtig gezählt hatte, war das die letzte Kugel seines Kollegen gewesen. Ihnen gingen die Ressourcen aus.

Kritisch betrachtete er sein verbliebenes Magazin und schob es zurück in die Jackentasche. Brachte ja doch nichts. Noch bot ihnen der Müllcontainer Deckung. Aber wie lange würde es dauern, bis diese Ungeheuer sie dahinter hervorzerrten? Die Ecke, in der sie sich verschanzten, war alles, was von der vermaledeiten Gasse blieb. Hinter ihnen streckten sich die Fassaden heruntergekommener Wohnhäuser gen Himmel.

Normalerweise halfen Amulette oder spätestens Kugeln zur Abwehr. Aber in diesem Fall? Nichts. Wie Zombies bewegten sich die bleichen Gestalten endlos weiter. Als ob sie den Schmerz der Schusswunden nicht spürten. Sie handelten, bis sie das Bewusstsein verloren. Gegen neun Dämonen waren die beiden Teams machtlos, solange die Prämisse galt, sie nicht umzubringen.

Irgendwo auf der gegenüberliegenden Straßenseite versteckte sich ihr einziger Magier Leonard mit seiner einzuarbeitenden Scouterin Hélène. Was aus Hendrik und Laurent, dem Hunter der anderen Truppe, geworden war, konnte Jordi von seinem aktuellen Standpunkt nicht erkennen. Sie waren zwei dieser Kreaturen durch ein zerschlagenes Fenster in einen leerstehenden Laden gefolgt, der außerhalb seiner Sichtweite lag.

»Von wegen einfacher Code Omikron!«, schimpfte Nic neben ihm vor sich hin. »Dass eine halbe Armee durchgeknallter Höllenbrut hier wartet, stand nicht auf der Einladung.«

Noch während sie Ausschau nach roten Skaterschuhen gehalten hatten, war eine Kaskade von Zaubern über sie hinweggefegt. Sie entlud ihre Amulette, blockte jeglichen magischen Gegenangriff ab und ließ die Elektronik versagen.

Als Nächstes hatte sie eine Gruppe junger Leute in Abendgarderobe umzingelt. Abgerissene Gruselfiguren, die aussahen, als seien sie einer Geisterbahn entlaufen. Das war vor etwas mehr als zehn Minuten gewesen.

Zu diesem Zeitpunkt lag der arme Kerl längst mit aufgeschlitzten Arterien im Straßendreck.

Den beiden Teams war nichts weiter übriggeblieben, als auszuweichen und die obskure Ansammlung mit Blei zu durchlöchern. Leider mit minimalem Erfolg: Die dämonischen Heilzauber standen der zugehörigen Offensive in nichts nach. Leonard bot auf, was er an magischen Kräften zu bieten hatte. Ein Kampf gegen Windmühlen blieb es trotzdem.

Jetzt saßen sie in der Falle; verstreut wie Kuchenkrümel bei einem Kindergeburtstag.

»Wir müssen nur durchhalten, bis die Unterstützung aufkreuzt.« So positiv sie gewählt waren, Jordis Worten war deutlich anzuhören, dass er ihnen selbst kaum Glauben schenkte. Es war nass, sie froren – da half es auch nichts, die klappernden Zähne aufeinanderzubeißen.

»Sicher. Kann sich nur noch um Minuten handeln!«, schlug Nicolai zynisch in dieselbe Kerbe. Er spähte hinter dem Container hervor, drehte sich aber schleunigst wieder zurück. »Die heilen immer schneller …«

Zusammen mit dem Horrorpüppchen vom Video steuerte der Angeschossene geradewegs auf sie zu. Sein Frack stand offen, der Zylinder saß schief auf den zu Berge stehenden Haaren und die ausdruckslose Miene wirkte wie die eines Toten. Abgesehen von den Augen, die wachsam in das baufällige Gässchen starrten.

Jordi seufzte genervt und stemmte beide Hände gegen das vor Müllsäcken überquellende Ungetüm auf Rädern. Wenn sie nicht mehr davonlaufen konnten, half nur die Flucht nach vorn.

Nic musterte den grimmig-entschlossenen Gesichtsausdruck seines Kollegen und tat es ihm gleich. Geduckt gingen sie in Position. Keinen Moment zu früh. Blutige Finger schoben sich bereits durch den schmalen Spalt zwischen Mauer und Containerkante.

»Drei, zwei, eins, los!«

Kraftvoll warfen sich die beiden Männer gegen den Kasten. Rollen schabten über den Boden. Polternd schlingerte die Abfallsammlung auf ihre Kontrahenten zu. Das wütende Kreischen der Dämonin ließ nicht lange auf sich warten; sie klemmte mit dem linken Fuß unter einem der Räder, ihren Kumpel traf der Griff des Deckels an der Schläfe. Von einer hässlichen Geräuschkulisse begleitet nahm der Müllbehälter Fahrt auf, bevor er die beiden an der gegenüberliegenden Wand einquetschte.

Schwer atmend lehnten Nic und Jordi sich gegen ihren Schutzschild. Lange würden sie den Koloss nicht in dieser Position halten können. Ehe die beiden Dämonen sich erholten und versuchten, sich aus der misslichen Lage zu befreien, sollten sie ihnen schleunigst das Handwerk legen.

»So bekommt das Wort ›Müllpresse‹ eine ganz andere Bedeutung«, stieß Jordi hervor. Suchend wandte er sich nach dem Rest der blutigen Gesellschaft um. Irritierenderweise fehlte von denen jede Spur.

Dafür traten Leonard und Hélène aus der Deckung. Team Zeta sah kein bisschen besser aus, als Nicolai und er sich fühlten. Gerädert, abgekämpft und überfordert.

»Wir haben zwei festgesetzt«, verkündete die Scouterin halbherzig grinsend und deutete auf einen zusammengekrachten Bretterverschlag. »Was machen wir mit eurem Sandwich?«

»Eintüten und wegwerfen. Hat im Dreck gelegen«, scherzte Jordi. Sein Blick blieb an dem verbeulten Zylinder hängen, der einsam auf dem Kopfsteinpflaster lag. Die Ironie wirkte in Anbetracht der Situation völlig fehl am Platz. Immerhin blieben fünf Angreifer weiter auf freiem Fuß und zwei ihrer Kollegen verschwunden. Da waren vier Gefangene lediglich ein mäßiges Erfolgserlebnis.

Grob packte Leonard die Blondine an der Schulter und zog sie unter den Müllsäcken hervor. Die Worte eines Banns drangen dabei als unterschwelliges Raunen über seine Lippen. Allerdings schien sie überhaupt nicht zu bemerken, was mit ihr geschah. Teilnahmslos hing sie in den Armen des Zeta-Teamleiters. Zwischen ihren hellen Haaren klaffte eine Platzwunde, aus der beständig dickflüssiges, dunkles Blut quoll.

Nics blankliegende Nerven kapitulierten zuerst. Mit beiden Händen umfasste er den Kopf der Dämonin, um sie zu zwingen, ihn anzusehen.

»Wo sind sie?« Seine Stimme steigerte sich von den Wänden widerhallend zu einem durchdringenden Crescendo. »Sag mir auf der Stelle, wohin deine Freunde mit unseren Kollegen verschwunden sind!«

Vollkommen zwecklos.

Mit einem verzweifelten Aufschrei ließ er sie los, um den Container zur Seite zu bugsieren. Unter dem stinkenden Tütenberg blickten ihnen die leeren Augen des Frackträgers entgegen.

»Verdammte Scheiße! Was ist nur los mit …«

Das Ende des Satzes ging in ersticktem Kichern unter.

»Hört ihr das?«

Die anderen schüttelten die Köpfe, aber da ertönte das Lachen erneut. Lauter diesmal, begleitet von zischenden Stimmen, die unverständliche Dinge aus den Wänden heraus zu flüstern schienen. Skeptisch die Stirn in Falten gezogen schaltete Jordi die Taschenlampe ein. Leonard hielt ihn nicht zurück.

»Das Magieaufkommen ist viel zu hoch, um sie anhand dessen ausfindig zu machen. Das stinkt förmlich nach fiesen Spielchen.«

Im schlimmsten Fall eins um das Leben ihrer Kollegen. Gerade deshalb mussten sie der Sache nachgehen. Also förderte Jordi das aufgehobene Magazin zu Tage und warf es Nic zu. Begleitet vom Lichtkegel, der über die nichtssagenden Wände tanzte, machte er einen zögerlichen Schritt vorwärts. »Eine Maskierung vielleicht? Gebt mir Deckung, ich seh mir das genauer an.«

Als ob er das zu entscheiden hatte! Rein nach Dienstrang und Erfahrungsgrad war Leonard der Weisungsbefugte. Zu Jordis Überraschung erhob der Magier immer noch keinen Einspruch. Im Gegensatz zu Nicolai: »Als ich den Satz das letzte Mal von einem Beta-Teammitglied gehört habe, sind uns defekte Lähmungszauber um die Ohren geflogen und ich musste schmerzhafte Bekanntschaft mit einem Treppengeländer machen!«, insistierte er – und kassierte einen ausgestreckten Mittelfinger.

»Ich heiße nicht Belaquar!«

»Da ist das Problem«, grummelte Nic, winkte aber schulterzuckend ab. »Geh halt, wenn du lebensmüde bist.«

Genau das tat er. Trotz der Gänsehaut, die ihm den Rücken hinunterkroch. Schritt für Schritt tastete er sich vorwärts, leuchtete in jede Nische, über am Boden liegende Bretter und an den Fassaden der abgetakelten Häuser hinauf. Keine besonders sehenswerte Ecke der Stadt und genauso wenig ein Viertel, in dem derart schick gekleidete Leute wie ihre Dämonenkompanie normalerweise verkehrten.

Bei jeder seiner Bewegungen schienen die obskuren Stimmen von einer anderen Seite zu ihm zu dringen. Mal aus den vernagelten Fenstern, mal aus dem Abwasserschacht in der Ecke oder der Richtung, in der seine Kollegen standen.

Hinhaltetaktik.

Er war beinahe am Ende der Sackgasse angelangt, als der Boden unter seinen Füßen plötzlich einsank. Warm und weich, wie ein flauschiger Teppich. Unsicher verlagerte er das Gewicht, einen Schritt zurück, wo eben noch schiefes Kopfsteinpflaster den Sohlen seiner Stiefel Halt geboten hatte. Jetzt gab der Boden nach und schickte eine Dunstwolke nach oben. Schnaufender, heißer Atem, der in die kalte Nachtluft entfloh.

Ehe er hinunterleuchten konnte, schoss stickige Dunkelheit um ihn empor. Ein klaffender Schlund, der sich über ihm schloss und die Welt da draußen aussperrte.

Klappernd fiel die Taschenlampe zu Boden, gefolgt von bedrückender Stille.

# zweites Kapitel

 

Schattenwesen. Neun Stück, wenn ich richtig zählte.

Faszinierend.

In dieser Welt kamen Elementardämonen mit Bezug zu Licht oder Dunkel relativ selten vor. Selbst wenn, verfügten sie lediglich über eine latente magische Begabung. Die neun bildeten, was beide Punkte anging, eine Ausnahme. Keiner von ihnen schien geringer als Stufe vier zu liegen. Wobei … nein. Sobald ich die fünfte Dimension fokussierte, stellte sich die Angelegenheit vollkommen anders dar.

Tatsächlich wurde ihr magisches Potenzial auf irgendeine Weise künstlich in die Höhe getrieben. Die Fähigkeit, mit jedem noch so kleinen Schatten zu verschmelzen, tat ihr Übriges dazu. So zügig, wie ihr Wechsel von menschlicher Gestalt zu Dunkeldasein vonstattenging, schienen sie gut in Form zu sein. Gegen einen Magier, einen Wandler, drei Menschen und eine Frisch-Vampirin blieben sie damit definitiv im Vorteil.

Was sie mit meinen Kollegen veranstalteten, konnte getrost unter widerwärtig bis skurril verbucht werden. Ihre Körper hingen leblos nebeneinander in der Luft. Die Köpfe gesenkt, wie nasse Wäsche auf der Leine. Aus den Schatten, die die Miethäuser auf das zugemüllte Gässchen warfen, blubberte eine ölige, gräuliche Masse empor. Spritzend verteilte sie sich über den ohnmächtigen Körpern. Wo das ekelhafte Zeug die Haut berührte, verdichtete es sich zu einer zähen Schicht, kroch an den baumelnden Armen hinauf, legte sich auf die Gesichter und drückte unnachgiebig in sämtliche Körperöffnungen. Das dazugehörige Geräusch erinnerte an einen Moorspaziergang im Herbst. Je näher ich kam, desto mehr galt Selbiges für den ausströmenden Gestank.

In Krähengestalt zog ich Schleifen über dem Viertel. Bei dem magischen Tumult, den die Dämonenkompanie veranstaltete, stellte es zumindest keine Schwierigkeit dar, sie ausfindigzumachen.

Über der Gasse wölbte sich eine haarsträubende Mischung diverser Verdeckungs- und Maskierungszauber. Das mochte vielleicht bei Unwissenden funktionieren und unsere Kommunikation lahmlegen, bei jedem halbwegs gut ausgebildeten Magiebegabten schrillten hingegen sämtliche Alarmglocken.

Ohne lange nachzudenken, umging ich die fragwürdige Barriere über eine Zwischendimension und landete auf dem Giebel des nächstgelegenen Dachs. Vier Schatten hatten meine Kollegen außer Gefecht gesetzt. Sie bewegten sich keinen Millimeter vom Fleck. Ihre Freunde schienen es nicht für nötig zu halten, ihnen zu helfen.

Mir sollte es recht sein. Einer gegen fünf war immer noch keine rosige Aussicht. Missmutig plusterte ich das Gefieder auf. Und jetzt? Ein Bann kam nicht infrage. Erstens war das bei der Anzahl Gegner ineffektiv und zweitens stellte ich mir damit nur selbst ein Bein. Das einzig Sinnvolle, was mein Kopf letztendlich ausspuckte, war ein banaler Satz: Licht vertreibt die Dunkelheit.

Element gegen Element? Logisch, allerdings nur wirksam, wenn man entsprechend stark Paroli bot. Eine solche Menge Energie anzusammeln, lag weit außerhalb meiner Fähigkeiten.

Es sei denn … Wenn es mir gelang, meine Kollegen in die Gegenwehr einzubinden, bestand eventuell eine Chance. Grundsätzlich möglich war dergleichen. Und scheißgefährlich. Dieses Vorhaben driftete weit in die fragwürdigen Gefilde dunkler Magie ab. Wenn das schief ging, besiegelte ich nicht nur mein eigenes Schicksal. Die Variante, die ich kannte, stammt aus einem zwielichtigen Kapitel meiner Vergangenheit. Es war vermutlich besser, dass mir nicht die Zeit blieb, darüber nachzudenken.

Also dann, testen wir eure Feuerresistenz.

Im Sturzflug segelte ich nach unten und pfefferte die entsprechenden Offensiven in Richtung der gräulichen Pfützen. Zeitgleich versuchte ich, im Durcheinander an Kopfgeschehen ein bekanntes Gedächtnis ausfindig zu machen – und das stellte sich als komplizierter heraus, als erwartet.

Was in den Köpfen der Dämonenkompanie vorging, vermochte ich nicht zu fassen. Das Geflecht ihrer mentalen Fäden blieb wirr und zusammenhanglos, sodass ich mich darin verfing wie in einem alten Fischernetz. Auf Barrieren gleich massiver Betonwände war ich gefasst, rechnete mit allen erdenklichen Varianten von Gegenwehr, aber nicht mit offenliegendem Chaos. Nur ein einziges Verlangen schwelte als glühender Faden unter dem kopflosen Durcheinander:

Blut!

Aus dem Konzept gebracht übersah ich beinahe ein verbogenes Balkongeländer, was meinen Weg ungeplant und wenig elegant auf der darunterliegenden Fensterbank enden ließ – wild flatternd wie ein vom Fuchs gejagtes Huhn.

Glanzleistung …

Immerhin kam ich meinen Kollegen nah genug, um ihre Gedanken vom restlichen Durcheinander trennen zu können. Leider war keiner von ihnen voll bei Bewusstsein. Hendrik und Laurent schienen tief und fest zu schlafen, die anderen trieben lethargisch zwischen Träumen und Wachen dahin. Keine Möglichkeit, sie vorzuwarnen. Na bravo. Dann musste es eben so gelingen, mir einen Weg durch die Watte zielloser Gedankenfetzen zu bahnen, um ihnen die Formel zu suggerieren.

 

*

 

›Ròn'ïnacra çe-sehy nôraz!‹

Die fremdartigen Worte fischten nach Aufmerksamkeit. Sie perlten zwischen seinen eigenen dämmrigen Gedanken hervor, lösten den Drang aus, sie nachzusprechen, zu wiederholen, auch wenn er nicht wusste, was sie bedeuteten.

Schwer schluckend versuchte Jordi den Kopf zu heben. Aussichtslos. Etwas zog sein Gesicht geradezu nach unten. Außerdem klebte ihm die Zunge am Gaumen. Er war viel zu müde, um –

›Hey, bleib wach!‹, riss ihn die raue Stimme aus dem Halbschlaf. Träumte er noch? Er hatte das schon einmal erlebt. In Tokio. Die Erinnerung ließ ihn Hoffnung schöpfen. So fest wie möglich biss er sich auf die Zunge, als könnte er sie so zwingen, die unbekannten Worte zu formen.

»Ròn'ïnacra çe …«, brachte er schließlich zustande.

›… sehy nôraz!‹

Licht flackerte auf, loderte unter ihm, wie Flammen in einem Kamin. Jeder Funke beschwor ein Gefühl der Freiheit empor. Es rüttelte seinen Geist wach, zumindest für einen Augenblick, bevor beides erstarb.

»Ròn'ïnacra … çe-sehy … nôraz!«

Wieder das Flimmern. Diesmal blieb ein Glühen im bedrückenden Grau zurück. Beim nächsten Mal gingen ihm die Worte bereits leichter über die Lippen. Außerdem fiel eine weitere Stimme ein. Mühsam quetschte sie Silbe für Silbe hervor: unverkennbar Leonards sonorer Bass.

 

*

 

Dass es ausgerechnet Jordis Geist war, zu dem die Formel den ersten Zugang öffnete, verwunderte mich weitaus weniger als die Tatsache, dass sie umgehend Wirkung zeigte.

Für gewöhnlich kann man nur so viel Energie beeinflussen, wie es die eigenen Fähigkeiten zulassen. Irgendwann ist das Fass einfach voll. Es sei denn, man schafft sich vorübergehend Verstärkung. Nichts anderes stellten meine Kollegen gerade dar. Lebendige Gefäße, zwei zusätzliche Energiesammler.

Die querbeet verteilte Flammenoffensive loderte auf, als hätte jemand Napalm gezündet. Je höher sie flackerte, desto mehr verlor sie ihre grüne Farbe. Sie tauchte die Gasse in fahles Licht und lehnte sich ungewohnt stark gegen die Schatten auf, die vollauf damit beschäftigt schienen, sich um ihre Opfer zu kümmern.

Im Gegensatz zu mir handelte es sich bei ihnen um vollwertige Dämonen. Sie speisten nicht nur sämtliche Magie aus dem Element. Ihre tatsächliche Gestalt war ein Teil des Dunkels. Das Feuer griff somit ihre Substanz an. Die graue Masse brannte binnen kürzester Zeit lichterloh. Sie schrumpfte zusammen, klatschte leblos zu Boden und verglühte dort zu matschigen Klumpen.

Parallel erwischte mich die Kehrseite der Medaille. Der Grund, weshalb diese Art Zauber gemieden und gefürchtet wird. Jeder als Gefäß genutzte Körper stellt gleichzeitig eine Schleuse dar. Sie geben nicht nur Energie ab, sondern sorgen ebenso für ihre Zufuhr. Solange sie entsprechend verbraucht wird, lässt sich dieser Prozess auch ohne passende Potenzialstufe halbwegs beherrschen. Je näher man dem Ziel jedoch kommt, desto mehr unverbrauchte Energie staut sich an. Der einzige Ausweg bleibt, den kurzen Moment abzupassen, bevor man die Kontrolle verliert und die vorhandene Kraft darauf zu verwenden, alle Verbindungen zu kappen. Ein schmaler Grat. Unterbricht man zu früh, gewinnen die Gegner die Oberhand zurück. Reagiert man zu spät, setzt man sich selbst sowie die lebendigen Gefäße einem deftigen Risiko aus: Mentale Retardierung, geistige Ausfälle, sind dabei noch die harmlosere Konsequenz. Schlimmstenfalls unterzieht man sich samt den Beteiligten einer Exmagifizierung. Kurzschlussprinzip. Je mehr einbezogene Personen, desto schwieriger ist es, die Fassung zu wahren. Insbesondere, wenn man magieunbegabte Körper nutzt. Für sie besteht keine Möglichkeit, der Fremdbeeinflussung eigenständig entgegenzuwirken.

Obwohl ich mit dem Effekt rechnete, kehrte sich das Verhältnis von emittierter zu absorbierter Kraft zu plötzlich um. Die Waagschalen kippten ohne Vorwarnung und leerten sämtliche Energie über mir aus – in Verbindung mit einer weiteren Negativkomponente, was mir allerdings erst aufging, als es längst zu spät war.

Die Kontrolle entglitt mir, wie ein zappelnder Fisch den kalten Händen eines Eisanglers. Auf bestem Weg zu versagen. Zusammen mit dieser Erkenntnis zersprang die Realität in tausend Scherben.

Ich verlor den Halt. Vom rostigen Geländer, aus dem zerrupften Vogelkörper und damit aus dieser vermaledeiten Welt.

# drittes Kapitel

 

Als zu ihm durchdrang, was geschah, riss ein Adrenalinstoß Leonard aus seinem Dämmerzustand. Dieser Zauber ging von ihm aus, wurde aber nicht durch ihn gewirkt. Er war alt. Älter als er und … bitter. Wie Seifenlauge. Die Magie prickelte und brannte unter der Haut. Ein Fremdkörper, auch wenn sie ihn vom stillen Grau befreite.

Angestrengt stemmte er sich auf die Knie und wischte die Reste der öligen Masse von den Augen. Weiße Flammen züngelten aus seinen Fingern und verschlangen gierig die dunklen Flecken. Panisch zuckte er zurück. Woher kam … nein, besser, was war das überhaupt? Die Hitze brannte unangenehm, versengte jedoch nicht die Haut. Erst nach einigen quälend langen Schrecksekunden besann er sich darauf, die Lenkung der Energie selbst zu übernehmen. Das war sein Körper und er gestattete nichts und niemandem, ihn als Medium oder Speicher zu missbrauchen.

Er verstärkte seine Defensive und zeichnete drei Mal mit der Linken die Linien der Wasserrune in die Luft. Zumindest ein Teil der wütend knisternden Flammen erlosch und gab die Sicht auf seine Kollegen frei.

Hendrik und Laurent waren zwar wieder aufgetaucht, lagen jedoch reglos am Boden. Die Ärmel ihrer Uniformen hingen zerfetzt von den Schultern, darunter klafften kreuz und quer mehrere Schnitte. Nic und Hélène schienen hingegen unversehrt und im Begriff aufzuwachen. Lediglich Jordi saß halbwegs aufrecht da. Die Hände vorm Bauch verschränkt starrte er auf den nassen Asphalt.

»Alles in …« Noch während er neben ihm in die Knie ging, stellte der Magier fest, dass er sich den Satz sparen konnte. Nichts war in Ordnung. Seine Augen glänzten, sein Körper glühte, wie bei einem Fieberanfall. Sobald Leonard seine Arme aus der verkrampften Haltung löste, fingen auch sie an zu brennen. Anders als bei ihm schlug die Haut an den bloßliegenden Stellen vereinzelt kleine Blasen.

»Oh, nicht doch … « Sich hektisch nach der Ursache für die Energieschleuse umschauend, nahm er den Menschen mit in seine Schutzkreise.

Nichts.

Erst als er erneut die Rune zeichnete, ließ das Flackern nach. Außerdem manifestierte sich, dicht hinter Jordi, aus Funken die Silhouette eines Vogels in der flimmernden Luft. Wie die Visualisierung eines geborstenen Schutzsiegels oder … die Lichtgestalt eines Dämons? Das Pendant zu ihren Gegnern?

»Es reicht! Hör auf damit!«, herrschte er das Wesen an. Brachte das überhaupt etwas? Für einen Augenblick schien es, als ringe die Kreatur darum, sich in der Luft zu halten.

 

*

 

›Ich kann nicht!‹ Mein Kontakt in ihre Welt war so schwach, dass ich es nicht fertigbrachte, seine Gedanken zu erreichen. Davon, eine materielle Gestalt anzunehmen, konnte erst recht keine Rede sein. Ich hing in einem unkontrollierten Wechsel zwischen den Dimensionen fest. Nicht mehr dort und noch nicht woanders, kurz davor, im Halbäther zerteilt zu werden.

Meine hastig aufgestellte Rechnung beinhaltete einen gravierenden Fehler: Ich war noch nicht lange genug zurück. Die Anisychea polte meinen Organismus auf Unbeständigkeit. Verdammte Wanderkrankheit. Die vergangenen Wochen voller permanenter Weltenwechsel sorgten für Instabilität. Unter gewöhnlichen Voraussetzungen hätte mein Plan vielleicht gelingen können. Aber so? Hmpf. Ich hatte mich maßlos überschätzt. Als ob die Risiken, einen wehrlosen Menschen als Potenzialverstärkung zu nutzen, nicht groß genug waren! Leonard konnte sich wenigstens befreien. Im Gegensatz zu Jordi.

Wenn es nicht gelang, den Energiefluss zu unterbrechen, würde er entweder verbrennen oder ich zog ein Stück von ihm mit in mein Verderben. Den Teil, zu dem die mentale Verbindung bestand. Sein Körper hingegen blieb, wo er war. Nur das, was wir berühren, beziehen wir in den Wechsel ein. Wo und wie auch immer er diesmal enden sollte. Der Magier hatte recht, das musste aufhören.

Trotz der unweigerlich zur Verfügung stehenden Energie blieb es ein Ding der Unmöglichkeit, irgendeinen Zauber in ihrer Gegenwart zu wirken. Dabei wäre es so einfach, das Chaos zu beenden.

›Komm schon, Leo! Denk nach!‹

Ein Bann reichte. Oder eine simple Magieblockade. Hauptsache schnell, denn lange hielt ich dem Sog des Weltengefüges nicht mehr stand.

 

*

 

»Adversum …«, murmelte Jordi. Leonard riss den Blick von der feurigen Schauergestalt los und beugte sich zu ihm hinunter. »Was …?«

»… Nigrum. Unterbrich …«, mehr brachte er nicht heraus. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und immer wieder fielen ihm die Augen zu.

Natürlich! Wenn er eine Blockade aufstellte, brach die Verbindung aus Mangel an Energiezufuhr zusammen. Da er sich dabei mitbeeinträchtigte, entstand für einen kurzen Moment sogar ein magischer Nullpunkt. Das sollte definitiv reichen, den Menschen zu separieren.

»Beeil dich«, presste Jordi hervor. Seine Finger schlossen sich krampfhaft um das Amulett an seinem Schlüsselbund. Die meisten Zauber darin entluden sich in rasender Geschwindigkeit. Vermutlich war es allein dem gespeicherten Kraftspender zu verdanken, dass er überhaupt bei Bewusstsein blieb.

 

*

 

War es möglich, dass …? Konnte Jordi mich hören?

Leos Blockade setzte sämtlichen Gedankengängen ein Ende. Mit einem gleißenden Blitz riss der Energiestrom ab. Gleichzeitig erloschen die Flammen um meine Kollegen und das Weltengefüge schloss den Riss, den ich dank meines grenzenlosen Leichtsinns verursacht hatte.

Mitten in diesen Vorgang zu geraten, machte die Situation für mich allerdings nur übler. Wenige Dinge sind wirklich unbeschreiblich, aber das gehört eindeutig dazu.

Im höherdimensionalen Raum verfügt man nicht über Körper oder Stimme. Zu schreien vermochte ich auf eine gewisse Weise dennoch – und es war besser, dass es für menschliche Ohren unhörbar in der Unendlichkeit verhallte.

 

*

 

Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber was sollte das bringen? Die Verzweiflung verschaffte sich nicht in Form von Schallwellen Luft. Zusammen mit dem Wissen um einen weiteren unwiderruflich begangenen Fehler auf dem Berg aus Schuld hakte sie sich an einer Ereigniskette fest, verwoben in einen ellenlangen Lebensteppich. Das Gefühl gehörte nicht ihm, trotzdem nahm Jordi es beklemmend deutlich wahr. Von der anderen Seite. Millisekunden, bevor er alleine in seinem Kopf zurückblieb.

Es hatte sich nicht angefühlt, wie Telepathie das sonst zu tun pflegte. Das waren keine portionierten Häppchen mentaler Kommunikation oder die spröden Brocken versehentlich geteilter Gedanken. Eher glich es einem willkürlichen Sturm, der Einzelheiten aufwirbelte. Solche, die man nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Hässliche Folgen schlechter Moral und falscher Entscheidungen.

Die Kälte kroch ihm unter die Kleider und verursachte schmerzhafte Gänsehaut auf den verbrannten Armen. Um ihn herum herrschte wieder das Pariser Dämmerlicht. Na gut, vielleicht kapitulierten auch lediglich seine Augen. Was für ein Horrortrip!

»Schau mich an! Komm schon!«

Nic? Ja, das war Nic. Aber er sprach nicht mit ihm. Seine Stimme klang entfernt. Dennoch klopfte ihm jemand auf die Schulter. Eine Pranke mit Silberring am Zeigefinger. Leonard.

»Du hast es überstanden.«

Überstanden? Woher kam dann diese Leere?

Einen Moment wünschte er sich sehnlichst das Feuer zurück, bevor ihm klar wurde, dass das nicht seinem Empfinden entsprach. Es war lediglich ein Nachhall von … von dem, womit derjenige sich herumschlug, für dessen Magie sein Hirn bis eben die Schleuse gespielt … Moment! Wie konnte er das überhaupt wissen?

»Wo ist er?« Seine Stimme klang belegt.

»Er?« Verständnislosigkeit breitete sich auf Leonards Miene aus. Sie hatten ihn nicht erkannt? Dabei war es so offensichtlich! »Wenn du deinen Funkenvogel meinst, der ist zusammen mit den Flammen verglüht.«

Oh nein, ganz sicher nicht! Abgehauen, das war er. Mal wieder.

»Von wegen …«

Eine derart waghalsige Aktion traute sich nur einer.

Hélène betrachtete ihn mitleidig und machte mit beschwichtigender Geste einen Schritt auf ihn zu. »Hier ist er auf jeden Fall nicht mehr«, beteuerte sie sanft. Als redete sie mit einem Kind, das von Monstern unter seinem Bett erzählte.

Jordi schenkte ihr keine Beachtung. Umständlich kämpfte er sich auf die Beine und ließ seinen Blick an den Fassaden entlangschweifen.

»Das war eine Drecksidee, weißt du das?«, rief er zu den Nebelschwaden nach oben und musste über sich selbst lachen. Die verwirrten Gesichter seiner Kollegen machten es nicht besser. Was für ein Bild gab er wohl ab? Rußverschmiert das vermeintliche Nichts anbrüllend? Er sollte es ihnen erklären. Dabei hatte er selbst keinen Beweis. Nur das Gefühl der Gewissheit.

Sich die Haare raufend betrachtete er die qualmenden Aschehaufen, die einmal ihre Gegner gewesen waren. Fünf Dämonen, von denen nichts als wirbelnde Rauchfäden blieb. Sein unsteter Blick huschte zwischen ihnen hin und her, bis er fand, wonach er suchte: eine graue Feder.

»Ich bin nicht wahnsinnig geworden«, erklärte er nüchtern und streckte dem hilflos dreinblickenden Leonard seinen Fund entgegen. »Grünes Feuer. Vor dem weißen, meine ich. Die Flammen waren grün, oder?«

Keine Antwort. Stattdessen blickte Team Zeta sich betreten an. Lag er doch daneben? War das alles Einbildung gewesen? Nein. So falsch konnte er nicht liegen.

»Oder?« Der fordernde Tonfall überraschte ihn selbst.

Leonard nickte schließlich. »Ja, aber … Jordi, du bist gerade fast draufgegangen. Du …« Auf seine roten Hände deutend, brach er den Satz ab. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nicht nur die um ihn. Sie betraf genauso die beiden bewusstlosen Hunter und den vor Angst um Hendrik bleichen Nicolai.

An Jordi ging all das vollkommen vorbei. Adrenalin ließ die Schmerzen in den Hintergrund treten und die Müdigkeit weichen.

»Wusste ichs doch …«, murmelte er, ließ die Feder sinken und drehte sich suchend um die eigene Achse. »Ich hoffe, du hast einen wirklich, wirklich guten Grund dafür, einfach zu verschwinden!«

 

*

 

»Hab ich«, entgegnete ich und drückte mich von der Wand ab, die mir seit dem Auftauchen den notwendigen Halt bot. Sein Leben, mein eigenes und die Tatsache, dass mich Jeans Schicksal noch immer zu verfolgen schien. Der Fluch des Beta-Teamleiters. Langsam fing ich wirklich an, daran zu glauben – so albern diese Vorstellung auch war.

Sie lebten. Alle. Wie lange ich es mir damit wohl schönreden konnte? Es gelang mir ja nicht einmal, Jordi in die Augen zu sehen. Telepathie ist sowohl der Weg in andere Köpfe als auch die Pforte zu den eigenen Gedanken. Normalerweise gelangt nur hindurch, was ich für richtig erachte. Zum Zeitpunkt des Risses war der Energiestrom bloß nicht die einzige Verbindung gewesen, die bestehen blieb. Der Gedankentransfer wurde ebenso aufrechterhalten. Da Jordi, im Gegensatz zu dem Magier, nicht über eine mentale Blockade verfügte, hatte ihm der Kontrollverlust diverse Teile meines Gedächtnisses offengelegt. Das Schlüsselamulett rettete da auch nichts mehr.

Beim Blick in sein Kopfgeschehen wurde mir speiübel. Er war quer durch meine Erinnerungen der vergangenen Jahrhunderte geschlittert. Abscheulich, wie sie waren, schwebte eine nicht unerhebliche Zahl davon in seinem Kopf umher. Ein zusammenhangloser Flickenteppich, dafür aber derart detailreich und lebendig, dass der Ekel mir die Kehle zuschnürte.

Nur ein paar Minuten.

Mehr Zeit war für ihn nicht vergangen. Für mich fühlte es sich anders an.

Nur – ein paar – Minuten.

Der Gedanke tröstete mich darüber hinweg, was nun unweigerlich bevorstand.Im Gegensatz zu mir blieb Jordi völlig gelassen. Die fröhlich-oberflächliche Maskerade gelang ihm zwar nicht gänzlich, ansonsten wirkte er aber absolut gefasst. Beinahe beruhigt über mein Auftauchen.

»Du hast ein einmaliges Timing.« Sein Vorhaben, zufrieden die Arme zu verschränken, scheiterte mit schmerzverzerrter Miene.

»Meistens«, entgegnete ich, bemüht mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Kreislauf drauf und dran war in Streik zu treten. Jeder Schritt in dieser Welt fühlte sich unfassbar falsch an. Mir blieb nur nicht die Zeit, mich damit auseinanderzusetzen. Es gab wesentlich Wichtigeres.

Auffordernd streckte ich ihm die Hand entgegen. Ein stummes Angebot die Wunden zu heilen – und vermutlich die einzige Chance, sein Gedächtnis weitestgehend rückstandslos zu bereinigen. Das hätte ich schon in Tokio tun sollen. Ein zweites Mal beging ich den Fehler bestimmt nicht. Erst recht nicht bei derartigen Ausmaßen.

Zaudernd senkte er den Blick auf meine Finger. Keine Ahnung, ob er das Zittern bemerkte, das ich mühsam zu unterdrücken versuchte. Als er den Kopf wieder hob, zierte ein wissendes Grinsen das müde Gesicht.

»Das wirst du nicht mal mir lassen, oder?« Er ahnte es. Diesbezüglich schien alles beim Alten.

»Nein.« Wehe, er brach eine Diskussion vom Zaun. ›Wag es und ich streiche den gesamten Abend aus deinem Gedächtnis!‹ Mir war absolut gleichgültig, ob er die Drohung hörte.

Überraschenderweise blitzte kein Trotz in seinen Augen auf. Dort stand nur die Furcht, die sich bei dem Wissen breitmachte, einen Teil seiner Erinnerungen einzubüßen. Diese Angst, die ihn so vehement verfolgte.

Vergeblich versuchte er, die Ruhe zu bewahren oder sie zumindest gegen ein aufgesetztes Duplikat ihrer selbst auszutauschen. Zwecklos, das wusste er so genau wie die Tatsache, dass er es unsäglich bereuen würde zuzugreifen – und schlug ein.

 

**

 

»Achtzig.« Eine Zahl, wie jeden Abend in die Tasse schlechten Kaffees gemurmelt. Diese braune Brühe, die genauso trostlos schmeckte, wie sich der Alltag hier drinnen gestaltete.

»Ja.«

Sie saßen abseits der anderen. Die beiden Spinner, die man in Ruhe ließ, damit sie einen selbst nicht störten. Gerade gut genug, um mit ihnen während der Hofgänge eine Zigarette zu rauchen oder bei den Diensten in den Gemeinschaftsräumen zusammenzuarbeiten.

In ›La Santé‹ saßen für gewöhnlich nur Untersuchungshäftlinge und zu Kurzzeitstrafen verurteilte Täter ein. Abgesehen von denen, die das Officium Iustitia hier unterbrachte: die Sträflinge der paranormalen Gesellschaft Frankreichs, festgesetzt im letzten Gefängnis inmitten der Hauptstadtmauern. Nahe genug, dass die sie überwachende Instanz bequem von ihrem luxuriösen Büro aus agieren konnte. Im Gegensatz zu ihnen waren die Häftlinge der Monotonie zwischen blauen Stahltüren, eierschalengelben Wänden und blankliegenden Rohren ausgeliefert, umzingelt von Gittern, Beton und einfältigen Unwissenden. Eine trostlose Welt, eingefasst in den erdrückenden Rahmen jahrhundertealter Kalksteine.

»Und mit jedem Tag zweifele ich mehr daran, dass wir es je erfahren werden.« Die wässrig-blauen Augen des Hexers starrten über die Tische hinweg zu der vergitterten Scheibe, hinter der das Tageslicht der Dämmerung wich.

Sein Gegenüber lachte auf, ehe er einen Schluck Kaffee nahm. Es klang nach verdrängter Unsicherheit. »Der Galgenvogel wird sich schon blicken lassen, sobald es ihn wieder in die Gegend verschlägt.«

»Du redest dir das weiterhin ein?«

»Ja. Allein weil ihn genug Fragen beschäftigen, über die das Officium aus Bequemlichkeit hinwegsieht. Da ist unsere Gesellschaft nicht besser als die der Menschen. Hauptsache, ihr System funktioniert. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Zu wenige hinterfragen es.«

Zweifelsohne. Dafür waren sie beide das beste Beispiel.

# viertes Kapitel

 

»Der Nächste, bitte!«

Einen Stift gegen sein Cognacglas schlagend, verschaffte Doc sich Gehör. Musste dieses Geklingel sein? Mein Schädel dröhnte ohnehin schon genug. Am liebsten hätte ich mich ins Bett verkrümelt, aber der Luxus war keinem von uns vergönnt. Leonard bestand auf eine medizinische Überprüfung, was ihm als diensthabendem Teamleiter selbstverständlich zustand.

»Jordi, du bist dran.«

»Hetz mich nicht, Medizinmann«, beschwerte er sich im überheblichen Tonfall eines verwöhnten High-Society-Sprösslings, erhob sich gemächlich und schlenderte feixend über Docs tadelnde Miene zur Tür. »Wir sitzen auch schon eine Ewigkeit hier.«

Hélène verdrehte hinter seinem Rücken die Augen. Sie, Nic, Laurent, Leo und Hendrik hatten die Prozedur bereits überstanden. Nach Scherzen war ihnen trotzdem nicht zumute. Der seltsame Vorfall ließ keinen von uns los. Nicht weiter verwunderlich, dass sich sämtliche Gespräche um die Schatten von Montmartre drehten.

Die vier überlebenden Dämonen standen unter Quarantäne. Selbst nach der Festnahme blieben sie jener Trance verfallen, der schon der Frackträger und die Blondine nach dem Müllcontainer-Crash erlegen waren. Was wir auch anstellten, es gelang nicht, sie aufzuwecken. In diesen ominösen Standby-Modus versetzt, starrten sie apathisch vor sich hin. Keine magische Ursache auszumachen. Befragungen konnten wir demnach vorerst vergessen. Wer die letztendlich durchführen sollte, lag in Henrys Ermessen. Bisher hatte er den Fall offiziell noch keinem Team zugeteilt. Daran, dass er die Sache von Schicht zu Schicht weiterwandern ließ, glaubte allerdings niemand von uns. Ich verzichtete mit Vergnügen. Mir war nicht danach, mich mit dem Chef oder Leo auseinandersetzen zu müssen und Erklärungen abzugeben. Zumindest nicht heute. Der magische Fehltritt schrie allerdings nach Rechtfertigung. Ich konnte froh sein, dass Leo mich bisher nicht vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt hatte. Noch standen wesentlich wichtigere Fragen im Raum.

Das Rätsel um die neun Schatten fing mit den Personalien an, erstreckte sich über ihre Motive bis hin zum von ihnen verursachten Magieaufkommen. Warum seltene Elementardämonen? Und viel wichtiger: Woher kam das definitiv von außen beeinflusste Potenzial? Von Natur aus reichte keiner von ihnen über Stufe sieben hinaus. Die Zauber aus der Gasse hingegen entsprachen mindestens Stufe vier. Ein Ding der Unmöglichkeit. Das hatte nichts mit einer Verstärkung zu tun, wie ich sie verwendete. Eher sah es nach den Folgen eines Tranks aus. Bloß was für einer? Mir fielen einige ein, die bei falscher Anwendung Zustände von Aggressionen oder Apathie auslösten, aber keiner davon hob das magische Potenzial an, schon gar nicht um drei volle Stufen. Doc würde sie untersuchen müssen, sobald er mit uns fertig war.

»Wenn du was findest, fresse ich einen Besen«, murmelte Jordi, während er mit einer formvollendeten Verbeugung den Durchgang zum Behandlungszimmer öffnete.

»Du wirst dir was anderes zum Abendbrot suchen müssen.« Gadault schmunzelte. »Alle Heilzauber haben einwandfrei gewirkt. Bisher weist keiner von euch ein Defizit auf.«

Bevor er die Tür hinter sich zuzog, tauschte er einen beredten Blick mit Leo. Der erhob sich räuspernd. Mit einer Geste forderte er die Kollegen auf, es ihm gleichzutun.

»Schönen Feierabend.«

Die zwei Worte funktionierten besser als das Läuten der Schulglocke in einer Klasse voller Zehnjähriger. In Windeseile leerte sich der Raum. Vermutlich Richtung Küche, soweit ich verstand, was Nic und Hélène von sich gaben. Hendrik und Laurent schoben sie vor sich her, bevor einer der beiden auf den Gedanken kam, Widerspruch einzulegen.

Ein unmissverständlicher Rausschmiss. Da hatte ich den Salat. Im Schneidersitz blieb ich auf dem Tisch neben den Beweisstücken hocken. Zwischen meinen Fingern drehte sich, ohne dass ich sie berührte, eine Petrischale, befüllt mit der ölig-grauen Masse, die zu einem der toten Schattenwesen gehörte. Ein lebloser Rest Dämon, plattgedrückt zwischen zwei Glashälften.

Leo betrachtete die Probe einen Moment, ehe er anfing zu sprechen: »Du hast richtig Scheiße gebaut vorhin.«

Die direkte Anschuldigung ließ mich zusammenfahren. So heftig, dass ich um ein Haar das Glas fallenließ.

»Ich weiß«, gab ich zu und legte es beiseite, bevor ich das Ding in einen Scherbenhaufen verwandelte. Der Magier stützte sich neben mir gegen den Tisch und verschränkte die Arme.

»Warum?« Er schien nicht verärgert. Eher … interessiert.

»Weil mir nichts anderes eingefallen ist. Und ich mich übel verschätzt habe.«

»Du kannst mir nicht erzählen, dass dir die Risiken nicht bewusst waren. So blauäugig bist du nicht.«

»Will ich nicht.« Das kaufte mir ohnehin keiner ab.

»Also hast du dich und uns absichtlich in Gefahr gebracht? Was hast du übersehen? Warum hat es nicht funktio–«

»Es hat funktioniert«, grätschte ich forsch dazwischen. Fehler hin oder her. Ja, wir waren Kollegen, andererseits bekleideten wir den gleichen Dienstrang. Schuldig war ich ihm die Rechenschaft vielleicht, verlangen konnte er sie nicht.

Den Dämpfer nahm er gelassen hin. »Nur knapp.«

»Das Risiko war’s wert.« Schönrederei, aber ich schob den Gedanken weit nach hinten. »Der Tod hatte sowieso schon an eure Türen geklopft.« Es war einfach zu verlockend, die Sache von der Warte aus zu betrachten. Sie wurde dabei in ein herrlich harmloses Licht gerückt. Und umging ganz nebenbei diesen sinnfreien Beta-Fluch-Aberglauben.

Leonard neigte den Kopf zur Seite. »Was es zu beweisen gilt. Dass sie ihr erstes Opfer getötet haben, unterstützt deine Theorie vielleicht. Oder die Tatsache, dass sie anscheinend auf Blutjagd gegangen sind. Aber das ist alles nur –«

»Spekulation?«, beendete ich mit freudlosem Lachen den Satz. »Was wird das hier? Hat Doc dich beauftragt, mir ein paar psychologische Eignungsfragen zur Beurteilung der Diensttauglichkeit zu stellen? Oder redest du um den heißen Brei herum, weil es tabu ist, nach den Zaubern zu fragen, die sogar unter uns verrufen sind?«

Anscheinend traf ich zumindest mit einer der beiden Vermutungen ins Schwarze. Seine mentalen Barrieren verstärkten sich unwillkürlich, dabei legte ich es gar nicht darauf an sie zu umgehen.

»Nenn mir einen Schwarzmagier, der nicht neugierig wäre«, verteidigte er sich halbherzig. »Trotzdem muss man die Finger von dieser Magie lassen. Egal wie groß der Reiz ist, es zu versuchen.«

»Natürlich«, setzte ich zynisch hinterher. »Habe ich aber nicht. Und ihr lebt noch. Jetzt drehen wir uns im Kreis.«

»Scheint so.«

»Sind wir dann fertig?«

Es war nicht der Magier, der auf meine Frage antwortete. Gadault streckte den Kopf aus der Tür, geschäftig die Brille mit dem Laborkittel säubernd.

»Nein.« Seine gute Laune war nicht verflogen. Auch die freundliche Miene ließ nichts davon erahnen, dass er drauf und dran war, den Splint einer verbalen Granate zu ziehen. »Nur fürs Protokoll: Wer hat Jordis Wunden geheilt?«

Leonard wies mit dem Daumen in meine Richtung. Allein beim Gedanken daran biss ich die Zähne zusammen. Seltsam, dass mich ausgerechnet da mein schlechtes Gewissen einholte. Das pflegte es doch sonst nicht zu tun.

Doc runzelte die Stirn und legte eine Kunstpause ein, in der es mir nicht gelang, weiterhin still sitzenzubleiben. Also ließ ich die Beine baumeln und umklammerte die Kunststoffkante des Tisches, bis die Knöchel weiß hervortraten.

›Von wegen du findest nichts …‹

Erneut schlingerten seine Finger mit dem Kittelzipfel über die Lesehilfe. Fünfmal rechtsherum, dreimal linksherum.

Frische Erinnerungsmanipulationen lassen sich in den ersten Stunden durchaus nachweisen. Man braucht nur zu wissen, wonach man suchen muss. Doc ist zwar kein Magier, aber dank genügend Erfahrung in der Lage, dergleichen festzustellen.

»Nur du?« Prüfend spähte er durch das polierte Glas. Ich nickte, während ich meine Schuhe einer intensiven Musterung unterzog.

Quietschend schloss sich die Tür. Leonard blickte ihm nach, griff das Thema aber nicht auf.

»Kannst du mir versprechen, dass so was nicht wieder vorkommt?«, wollte er stattdessen wissen.

Noch ein Nicken. Darauf legte ich es kein weiteres Mal an. In einen Dimensionsriss zu geraten war katastrophal genug. Diesen hatte ich obendrein verursacht. Wandernde mögen an andere Grenzen gewöhnt sein, was Universen und Dimensionszahlen angeht, aber auch für uns ist irgendwo Schluss. Die kurze Zeit, die ich verschwunden blieb, kam mir vor wie ein halbes Leben. Vielleicht bedeutete sie ein ganzes. In der baufälligen Gasse hatten Panik, Sorge und Ekel die Oberhand behalten. Jede Minute Ruhe trug jetzt hingegen zu dem Gefühl bei, nicht hierherzugehören. Wie ein Fremdkörper in der materiellen Realität, permanent gequält von einem einzigen Gedanken: Weg hier. Die Narbe im Weltengefüge hinterließ Spuren. Der Riss schien nicht nur zwischen den Ebenen, sondern genauso in meinem Inneren zu existieren. Als ob ein Teil von dort, wohin es mich gezogen hatte, mit dieser Gegenwart verwoben blieb. Oder umgekehrt. Kein vollkommen unbekanntes Gefühl. Der erste Sprung in eine Zwischendimension verursacht ein ähnliches Phänomen, verbannte er uns doch dazu, von da an regelmäßig die Universen zu wechseln. Welche Folgen die Angelegenheit von heute nach sich ziehen würde, konnte ich noch nicht einschätzen. So falsch, wie es sich anfühlte, vermutlich keine guten und im besten Fall nichts Dauerhaftes. Ich beschloss, das Verlangen, aus dieser Welt zu verschwinden, zu ignorieren, solange ich konnte.

Dem Gegrübel hing ich noch nach, als Jordi wieder in den Raum polterte. Offensichtlich machte ich, abwesend und mit Grabesmiene zu Boden starrend, einen reichlich beunruhigenden Eindruck. Sowohl Doc als auch er steuerten umgehend in meine Richtung. Letzterem vertrat Leonard den Weg. Mit resoluten Worten schob er ihn in den Flur und wies ihn an, bei den anderen zu warten. Gadault hingegen baute sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor mir auf.

»Um dich mache ich mir die meisten Sorgen.«

Ich schaute an ihm vorbei, hinter Jordi her.

»Ich werd’s überleben. Ist mit ihm alles in Ordnung?«

»Der ist fit wie eh und je. Keine paranormalen Indizien, abgesehen von deinen Heilzaubern.«

Mir fiel der sprichwörtliche Stein vom Herzen. Na ja, gefühlt war es eher ein halbes Gebirge.

 

Während Doc die Daten des Medi-Checks abglich, nahm ich die Collage in Augenschein, die gegenüber des Schreibtischs die halbe Wand bedeckte. Das Konstrukt stellte die komplette und ausführliche Version seiner Mehrweltentheorie dar. Zeichnungen, Gleichungen sowie jede Menge Diagramme verteilten sich zwischen Linien und Pfeilen. Darunter fanden sich Textauszüge und Zeitungsartikel. Auf einem blauen Notizzettel in der Mitte prangten die Worte Zeitverlauf, Berechnungsstrategie, Alterungsprozess.

Nach einer Weile ließ er das Klemmbrett sinken und verlegte sich darauf, meinem kreuz und quer über die Mindmap springenden Blick zu folgen. Das erfasste nicht mal ein Viertel dessen, was –

»Ich bin nicht begeistert von der Aktion.«

Davon war auszugehen. Mit ausladender Ja-und-weiter-Geste drehte ich mich zu ihm um. Die hochgezogenen Augenbrauen setzten der unverhohlen präsentierten Kritik die Krone auf.

»Ich spare mir an dieser Stelle die Predigt über Dienstvorschriften. Vorsätzliche Gefährdung der Leben von Kollegen ist ein Suspendierungsgrund. Nimm es zur Kenntnis, Beta-One.«

Dem gab ich mit einem Nicken statt, dankbar mir nicht noch mehr Moralgesülze anhören zu müssen. Nicht mal über meine vermutlich katastrophalen Werte verlor er ein Wort. Stattdessen leerte er genüsslich seinen Cognac und zog die Schuhe aus.

»Das meiste habe ich mir inzwischen zusammengereimt. Bis zu einem gewissen Punkt. Warum hast du die Kontrolle verloren? Das ist es doch, was passiert, wenn das Kreieren solcher lebendigen Gefäße misslingt.« Suchend klopfte er seine Taschen ab, schien aber nicht fündig zu werden und förderte infolgedessen einen Kugelschreiber aus einer der Schubladen zu Tage.

»Fluktuierende Kompensation.« Mit dem Daumen wies ich auf die Übersicht.

Mathias blickte verwundert von mir zur Collage und auf das Klemmbrett vor sich. »Das erklärt zumindest diese Daten. Kann es sein, dass die Funkengestalt nur als eine Art Visualisierung diente? Weil du gar nicht hier war’st?«

Mit finsterer Miene schob ich die Hände in die Hosentaschen und ließ ihn rätseln. Gadault hielt das nicht davon ab, weitere Spekulationen anzustellen. »Was wiederum nur möglich ist, wenn irgendeine Verbindung hierher bestehen bleibt«, sinnierte er. Die Brille hatte inzwischen den Weg in seine Finger gefunden. »Wie ein Energiestrom. Oder … Telepathie?«

Richtig kombiniert.

»So kam Jordi also auf die Blockade. Du hast die Idee in seinen Kopf gepflanzt. Ihn konntest du erreichen, im Gegensatz zu Leo. Demnach haben wir es mit einem Riss zu tun, verursacht durch einen unkontrollierten Dimensionswechsel während der magischen Energiemehrung.«

Ich konnte die Rädchen in seinem Kopf förmlich rattern hören. Er versuchte, die Tragweite eines Geschehens zu erfassen, der ich mir selbst nicht bewusst war. Erneut blätterte er durch die Unterlagen.

»Wie lange? Ich meine … wohin? Wie …?«

Seinen forschenden Blick nicht minder ernst erwidernd, schüttelte ich den Kopf. ›Lass es.‹

Seufzend verdrehte er die Augen. »Na schön. Fürs Erste. Konntest du den Adversum Nigrum nicht selbst wirken?«

»Vom höherdimensionalen Raum aus?«, warf ich amüsiert ein. »Ohne Körper? An einen Energiefluss gekettet, der durch den Umweg über einen Menschen geleitet wird? Unmöglich. Die Gegenströmung war viel zu groß, um etwas auszurichten.«

»Was vermutlich in ähnlicher Weise für die Gedankenübertragung gilt.«

›Bravo, Doctor Watson!‹

Er schnaubte abfällig »Hast du dich deshalb an Jordis Erinnerungen vergriffen?«

Mürrisch verzog ich das Gesicht. Was für eine hässliche Formulierung.

»Zieh keine Grimassen. Er erinnert sich fast an nichts von dem, was zwischen der Schlüsselformel und Leos Einschreiten vorgefallen ist. Feuer und Schmerzen, mehr hast du ihm nicht gelassen. Was es auch war, dass du ihm unbedingt wegnehmen musstest.«

Das schürte mit großem Erfolg meine Gewissensbisse. Fremde Erinnerungen zu löschen war eine Sache. Das Gedankengut von Freunden zu fälschen eine völlig andere.

»Immerhin hast du ihm keine alternative Wahrheit ins Hirn gestempelt. Noch habe ich ihn übrigens nicht informiert. Ich wollte erst wissen, was dahintersteckt. Allerdings ist es unglaublich feige, deinen Teampartner hinter seinem Rücken zu manipulieren.«

»Hab ich nicht«, presste ich hervor. Der helle Raum mit den vollgestopften Apothekerschränken wirkte plötzlich abweisend und kalt. Genau wie sein Besitzer.

»Sondern?«

Wie konnte in einem einzelnen Wort derart viel Verachtung stecken? Langsam begann meine Ruhe zu schwinden. Sie wich einem Haufen wütender Verwünschungen und Rechtfertigungen, von denen zum Glück keine den Weg nach draußen fand. Weder verbal noch mental. Ich war einfach zu müde. Statt zu explodieren, nahm ich Mathias gegenüber Platz. Die Rollhocker waren zwar nicht sonderlich bequem, aber allemal besser, als weiterhin stehenzubleiben.

»Wir reden hier von Jordi, Doc.« Das klang sarkastischer als beabsichtigt. »Er hat es geahnt. Wie jedes Mal. Und war schlau genug, nicht zu diskutieren.«

Das Wort freiwillig wagte ich dann doch nicht in den Mund zu nehmen.

»Er hat der Manipulation zugestimmt? Davon weiß er jetzt nur nichts mehr.«

»Nein.« Seiner Meinung nach hatte ich lediglich die Wunden geheilt. Alles andere war mit den Erinnerungen an mein Gedächtnis ausradiert worden. »Und dabei belassen wir es.« – ›Bitte.‹

Irgendwann musste ich sonst Rede und Antwort stehen. Wie bei Smoky. Im Unterschied zu Tokio ging es hier allerdings um mehr, als einen einzelnen Fall, um mehr als einen leichtsinnigen Fehltritt.

Gadault rieb sich nachdenklich die Nasenwurzel. Im Grunde war das wenig anders als die Geheimniskrämerei, die Henry, er und Jean über meine vier Jahre in Tokio bezüglich Team Beta an den Tag gelegt hatten. Bevor er mir Vorwürfe machte, sollte er erstmal im eigenen Garten Unkraut jäten.

»In Ordnung.«

Ich konnte es mir also sparen, Drohungen von mir zu geben oder ihm irgendwelche Versprechen abzuringen. Schön. Damit war die Angelegenheit hoffentlich vom Tisch. Ich hatte die Diskussionen unfassbar satt.

# fünftes Kapitel

[Inzwischen dürfte es Dienstag sein, 18. März 2008]

 

Nachdem Doc zu Leo ins Labor zurückkehrte, nahm ich die Tür Richtung Flur. Besonders weit kam ich nicht: In einen der Schwingstühle versunken wartete die nächste Katastrophe, mit ausgestreckten Füßen und einer halbvollen Tasse in der Hand.

Während mein Magen sich zu einem Knoten zusammenzog, machte sich meine Gesichtsfarbe gemeinsam mit sämtlicher Fassung aus dem Staub.

»Hat er dich dienstfähig geschrieben?«, fragte Jordi in bester Smalltalk-Manier und hielt mir den Tee entgegen. Was sollte das werden? Gute Miene zum bösen Spiel? Nahm dieser Albtraum heute gar kein Ende?

Mechanisch schloss ich erst die Tür und griff dann nach dem dampfenden Gebräu. Er hatte gelauscht. Ich kam weder dazu eine Antwort zu geben, noch in seine Gedanken zu sehen.

»Van … lass den Telepathenscheiß.«

Na prächtig. Entweder hatte er wirklich nicht den Hauch einer Ahnung oder spielte hervorragendes Theater. Die Ungewissheit darüber zerfraß den letzten Rest meiner Nerven wie Säure. Ich wartete auf das Donnerwetter, die Vorwürfe und Fragen, die ich nicht beantworten wollte. Doch nichts passierte. Bevor meine Beine den Dienst versagten, ließ ich mich an der Wand nach unten rutschen, wo kalter Linoleumboden genügend Sitzfläche bot. Die Arme auf die angezogenen Knie gestützt, rührte ich mich eine ganze Weile nicht vom Fleck. Die Tasse schaukelte dabei bedenklich über meinen Schuhen. Hätte ich sie nicht vorsichtshalber mit beiden Händen festgehalten, wären meine Socken wahrscheinlich einer Schwarzteedusche zum Opfer gefallen.

Jordi verschränkte sichtlich amüsiert die Arme hinter dem Kopf und sank noch ein Stück tiefer in die Polster. Er schien recht zufrieden damit, die Angelegenheit ungeklärt im Raum stehenzulassen.

»Henry hat uns den Fall zugeteilt«, informierte er mich stattdessen, als handelte es sich um eine belanglose Nebensächlichkeit. »Die Sache läuft ab jetzt als SET-Ermittlung.«

Ohne alle Fakten zu kennen?

Wenn du das mal nicht bereust, alter Mann.

Immerhin blieb mir für heute Abend eine Chefetagen-Unterredung erspart. Jordi nutzte meine Schweigsamkeit aus, um mit weiteren Infos aufzuwarten: »Amélie meinte, bisher habe keine mentale Prüfung der Schatten etwas Brauchbares geliefert. Anscheinend ergibt nichts in ihren Köpfen irgendeinen Sinn.«

»Ich weiß.« Mein heiseres Flüstern ließ ihn argwöhnisch innehalten. In der Hoffnung auf Besserung nippte ich am Tee. »Sie haben die ganze Zeit trieb- und instinktgesteuert gehandelt.« Ein ordentlicher Schluck Whisky wäre vermutlich effektiver gewesen, als das heiße Gesöff.

»Du meinst bei dem Angriff? Da wirkten sie eher wie … ferngesteuert.«

Mir war weder eine geistige noch eine direkte magische Kontrolle in Form eines Banns oder Fluchs aufgefallen, was wiederum für die Trank-Theorie sprach.

»Wir brauchen Blut- und Urinproben.« Ohne den Zusammenhang meiner Überlegungen entlockte die Feststellung ihm nur fragende Blicke. »Doc sollte sie auf eingenommene Substanzen prüfen.«

»Ein paranormaler Dopingtest?«

Der Vergleich war gar nicht so falsch.

»Kann man so sagen.« Selbst wenn es nur dazu gut war, eine Möglichkeit auszuschließen.

Mehr ließ sich heute ohnehin nicht ausrichten. Eine Weile verfielen wir beide in nachdenkliches Schweigen. Ausreichend Zeit, meinen Kopf aufzuräumen und das schlechte Gewissen an die Kandare zu legen. Man sollte meinen, dass ich inzwischen professioneller damit umging, von einer Pechgrube in die nächste zu stolpern. Ja, Konjunktiv. De facto gastierte die Fehlerbilanz des heutigen Tages in den oberen Rängen der letzten fünfzig Jahre. Unerfreulich, aber nicht zu ändern. In nächster Zeit sollte ich eindeutig kürzertreten.

Ich gähnte und schloss die Augen. Nur für einen Augenblick, nur ganz kurz …

 

Jordi weckte mich, indem er mir unsanft gegen die Zehen trat. Blinzelnd schaute ich zu ihm hoch und registrierte mit schlaftrunkener Verzögerung die ausgestreckte Hand. Ein Gähnen unterdrückend ließ ich mich auf die Füße ziehen. Trotz der noch immer warmen Tasse waren meine Finger im Gegensatz zu seinen die reinsten Eiszapfen.

»Doc ist eben los, um unsere vier Freunde zu untersuchen«, informierte er mich. »Sollen wir auf ihn warten?«

»Der meldet sich schon«, verneinte ich und wandte mich zum Gehen. Er folgte mir mit einem Schulterzucken. Noch immer konnte ich kein Anzeichen von Ärger erkennen. Alles schien absolut normal. Genau wie seine nächste Frage:

»Und jetzt?«

Sollte ich mich daran machen, die Konsequenzen meiner Fehler auszubügeln. Angefangen bei dem Schlüsselamulett, das aus seiner Jacke baumelte. Kurzerhand schnappte ich mir den Talisman und wich aus, bevor er meinen Ärmel zu fassen bekam.

»Hey! Gib den gefälligst zurück!« Der kindische Protest verhallte angesichts meines spottenden Lachens. Empörung? Worüber? Von mir hatte er das Ding doch erst bekommen. Aber gut zu wissen, dass es seinen Stellenwert nicht eingebüßt hatte.

»Sobald die Zauber aufgeladen sind«, übte ich mich in Beschwichtigung, löste den Karabiner vom Schlüsselring und warf ihm das Bündel Türöffner zu. Die Lederschlaufe mit ihren Anhängern war alles, was ich brauchte. So weit sich das beurteilen ließ, hatte seit der Auseinandersetzung mit White King niemand daran herumgewerkelt. Gut so, das sollte ruhig meine Angelegenheit bleiben.

»Darf ich Zuschauer spielen?«

Von der unerwarteten Frage aus dem Konzept gebracht, wich meine Belustigung irritierter Verständnislosigkeit. Wozu? Ein Amulett aufzuladen war absolut unspektakulär.

»Meinetwegen?«

Zufrieden stiefelte er Richtung Aufzug und ließ mich rätseln, was er sich davon versprach, einen Schleier der Normalität über die Nachwirkungen dieses Einsatz-Desasters zu breiten. Bevor ich dazu kam, ihm auf den Zahn zu fühlen, verkündete das leise Bing, dass der Lift hinter der unscheinbaren Tür zum Stehen gekommen war.

 

Mit gebührendem Abstand beobachtete Jordi das Prozedere am Küchentisch. Ein Kreis aus Knochenmehl, Mistelbeeren und Tannenrinde umringte das Amulett auf der alten Holzplatte. In der Luft hing der penetrante Geruch nach Liebstöckel und hinterließ ein pelziges Gefühl auf der Zunge.

Hexenwerk stellt die sicherste Methode dar, naturgegebene Magie zu verstärken. Solche, wie sie im Holunderholz und den Steinen steckte. Mehr blieb nicht zu tun: Futter für die darin gespeicherten Zauber schaffen, den Vorrat auffüllen und versiegeln. Abgesehen von der Erneuerung der Dissimulatio und dem übrigen Schnickschnack.

Die notwendigen Formeln verloren sich als Flüstern im Raum und brachten die Lederschlaufe zum Zucken, bis sie sich wie eine wütende Schlange unter meinen Fingern wand. Die vom Zirkel gebündelt zurückprallende Kraft erweckte den kleinen Gegenstand scheinbar zum Leben. Obwohl ich die Fersen fest auf die Dielen und die Arme auf den Tisch stemmte, hatte ich Mühe, das Ding im Zentrum der Energiesammlung zu halten. Sobald ich verstummte und den Pulverkreis auseinanderwischte, flaute die Bewegung ab.

»Igitt.« Immerhin traute Jordi sich jetzt näher als drei Schrittlängen heran. »Du hast geraspeltes Skelett an den Fingern. Und ich will lieber nicht wissen, woher das stammt.«

Feixend rieb ich mir die Hand an den Jeans sauber. »Du meinst wohl eher von wem.«

Mit spitzen Fingern angelte er nach seinem Schlüsselanhänger und ließ es sich nicht nehmen, ein übertrieben-angewidertes Würgen samt herausgestreckter Zunge von sich zu geben. Ich musste lachen. Über sein Gealber hinweg wäre mir um ein Haar der verglimmende Hoffnungsschimmer in seinen Gedanken entwischt. Enttäuschung darüber, dass der Versuch, verlorene Erinnerungen mit entsprechender Konfrontation zu Tage zu fördern, ergebnislos geblieben war. Er legte es darauf an, derselben Magie zu begegnen, für die er vor ein paar Stunden die lebendige Schleuse spielen musste.

Vergeblich. Bei unsauberen, ungeübten Löschungen kommt es zwar vor, dass ihre Überbleibsel Dinge wie Albträume oder Déjà-vus auslösen, die Erinnerungen wieder zum Vorschein bringen vermochte das jedoch nicht. Auch wenn jede Gedächtnismanipulation – je nach Sorgfalt des Ausführenden mal mehr mal weniger starke – Spuren zurücklässt. Sie verblassten erst mit der Zeit, wenn das echte Vergessen seinen Mantel ausbreitete. Anders lag die Sache, wenn man zu spät versuchte, daran herumzupfuschen.

---ENDE DER LESEPROBE---